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Fortsetzung von Mr. Fairlie's Aussage

Brauche ich zu sagen, was mein erster Eindruck war, als ich auf die Karte meines Besuchers blickte? Gewiß nicht. Da meine Schwester einen Ausländer geheiratet hatte, gab es nur einen einzigen Schluß, zu dem ein Mann kommen konnte, der bei vollem Verstande war. Der Graf kam natürlich, um Geld von mir zu borgen.

»Louis,« sagte ich, »glaubst du, daß er gehen würde, wenn du ihm fünf Schillinge gäbst?«

Louis sah ganz entrüstet aus. Er überraschte mich unbeschreiblich, indem er erklärte, meiner Schwester Gemahl sei superb gekleidet und sehe wie ein Bild des Wohlstandes aus. Unter diesen Verhältnissen veränderten sich meine ersten Eindrücke. Ich nahm es jetzt für ausgemacht an, daß der Graf sich ebenfalls in ehelichen Schwierigkeiten befände und daß er komme, um mir dieselben aufzubürden.

»Hat er gesagt, was ihn herführt?« fragte ich.

»Graf Fosco sagte, er sei gekommen, Sir, weil es Miß Halcombe nicht möglich gewesen, Blackwater Park zu verlassen.«

»Bringe ihn herein,« sagte ich mit Ergebung.

Des Grafen Erscheinung erschreckte mich zuerst wirklich. Seine Persönlichkeit war von so großen Verhältnissen, daß ich förmlich erbebte. Ich war überzeugt, daß er den Fußboden erschüttern und meine Kunstschätze umstürzen werde. Er that weder das eine noch das andere. Sein Wesen war auf eine charmante Weise ruhig und unbefangen – und er hatte ein bezauberndes Lächeln. Mein erster Eindruck von ihm war im höchsten Grade günstig. Es spricht dies nicht sehr lobend für meinen Scharfblick, wie die Folgen beweisen werden, aber ich gestehe es dessenungeachtet.

»Erlauben Sie mir, mich ihnen vorzustellen, Mr. Fairlie,« sagte er, »ich komme von Blackwater Park und habe die Ehre und das Glück, der Gemahl der Gräfin Fosco zu sein. Lassen sie mich zum ersten und letzten Mal Gebrauch von diesem Umstande machen, indem ich Sie bitte, mich nicht als einen Fremden zu betrachten. Ich bitte Sie, sich nicht stören zu lassen – bitte, bleiben sie ruhig sitzen.«

»Sie sind sehr gütig,« erwiderte ich; »ich wollte, ich wäre kräftig genug, um aufstehen zu können. Bitte, nehmen sie Platz.«

»Ich fürchte, Sie sind heute leidend,« sagte der Graf.

»Wie gewöhnlich,« sagte ich; »ich bin nichts weiter, als ein Paquet Nerven, die man angekleidet hat, daß sie wie ein Mensch aussehen.«

»Sie sehen mich in Verwirrung,« sagte er, »auf mein Ehrenwort, Mr. Fairlie, ich bin verwirrt in ihrer Gegenwart.«

»Es macht mich sehr unglücklich, das zu hören. Darf ich fragen, warum?«

»Bitte, folgen sie meinem Gedankengange,« fuhr der Graf fort, »Ich, der ich selbst ein Mann von feinen Gefühlen bin, sitze hier in Gegenwart eines Mannes von ebenfalls seinen Gefühlen. Ich bin mir bewußt, daß ich diese Gefühle verwunden werde, indem ich von häuslichen Ereignissen rede, die sehr betrübender Natur sind, was ist die unvermeidliche Folge hievon? Ich habe mir bereits erlaubt, sie Ihnen anzudeuten – Sie sehen mich verwirrt.«

War es in diesem Augenblicke, daß ich zu ahnen begann, er werde mich langweilen? Ich glaube fast.

»Ist es durchaus nothwendig, jetzt von diesen unangenehmen Dingen zu reden?« fragte ich. »Muß ich sie wirklich hören?

Er zuckte mit den Achseln und blickte mich auf eine unangenehm prüfende Weise an. Mein Instinct sagte mir, daß ich besser thun würde, indem ich die Augen schlösse. Ich folgte meinem Instincte.

»Bitte, machen sie mir ihre Mittheilung mit Vorsicht,« bat ich ihn. »Ist irgend jemand todt?«

»Todt!« rief der Graf mit unnöthiger ausländischer Heftigkeit aus. »Mr. Fairlie, Ihre nationale Ruhe flößt mir Grauen ein. In des Himmels Namen, was habe ich gesagt oder gethan, daß Sie veranlaßte, mich für den Boten des Todes anzusehen?«

»O bitte, empfangen Sie meine Entschuldigungen,« erwiderte ich. »Ich mache es mir in solchen betrübenden Fällen zur Regel, stets das Schlimmste vorauszusehen. Unaussprechlich erleichtert, zu hören, daß Niemand todt ist. Ist Jemand krank?«

»Das macht einen Theil meiner schlimmen Nachrichten aus, Mr. Fairlie. Ja, es ist Jemand krank.«

Bin wirklich sehr bekümmert. Welche von ihnen ist es?«

»Zu meinem großen Kummer, Miß Halcombe. Vielleicht waren Sie einigermaßen hierauf vorbereitet? Vielleicht ließ schon Ihre liebende Besorgnis Sie dies fürchten, als Sie fanden, daß Miß Halcombe weder kam, noch Ihnen zum zweiten Male schrieb?«

Ich zweifle nicht, daß zu einer oder der anderen Zeit meine liebende Besorgnis mir diese traurige Befürchtung eingeflößt hatte, aber in dem Augenblicke war der Umstand gänzlich aus meinem erbärmlichen Gedächtnisse entschwunden. Indessen sagte ich, um mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Ja. Ich war sehr erschüttert. Es war so überaus uncharakteristisch für eine so robuste Persönlichkeit, wie die unserer lieben Marianne, krank zu sein, daß ich nur annehmen konnte, es müsse ihr irgend ein Unfall begegnet sein. Sie war vielleicht mit dem Pferde oder von der Treppe gestürzt, oder etwas derartiges.

»Ist die Sache ernstlich?« fragte ich.

»Ernstlich – ohne allen Zweifel,« entgegnete er, »doch nicht gefährlich, wie ich von ganzem Herzen hoffe. Miß Halcombe hat sich unglücklicherweise einem kalten, durchnässenden Regen ausgesetzt; die darauf erfolgte Erkältung war sehr heftiger Natur und ist jetzt in Fieber ausgeartet.«

Als ich das Wort Fieberhörte und mich in demselben Augenblicke erinnerte, daß der gewissenlose Mensch, der zu mir sprach, eben Blackwater Park verlassen, war mir's zu Muthe, als ob ich ohnmächtig werden müßte.

»Gerechter Gott!« sagte ich, »ist es ansteckend?«

»Bis jetzt noch nicht,« antwortete er mit einer abscheulichen Gelassenheit. »Ich habe dem angenommenen Arzte meinen besten Beistand bei der Beobachtung der Krankheit zu leisten gesucht und darf Ihnen persönlich die Versicherung geben, daß das Fieber nichts Ansteckendes hatte, als ich die Kranke zum letzten Male sah.«

Seine Versicherung! Ich war nie in meinem Leben entfernt, über etwas versichert zu sein. Er sah zu gelb aus, als daß ich ihm hätte glauben können. Er sah aus wie eine personificirte westindische Epidemie. Er war groß und dick genug, um Typhusfieber tonnenweise in sich zu tragen. Ich beschloß augenblicklich, ihn mir vom Halse zu schaffen.

»Sie werden die Güte haben, einen Kranken zu entschuldigen,« sagte ich, »aber eine lange Unterhaltung verschlimmert stets meinen Zustand. Darf ich Sie bitten, mich genau von dem Zwecke zu unterrichten, dem ich die Ehre Ihres Besuches zu verdanken habe?«

Ich hoffte inbrünstig, daß dieser ungemein deutliche Wink ihn aus seinem Gleichgewicht werfen und aus dem Zimmer treiben würde. Aber er saß nur umso fester. Er wurde jetzt doppelt feierlich, würdevoll und vertraulich. Er hielt zwei seiner abscheulichen Finger empor und gab mir noch einen seiner unangenehm durchdringenden Blicke.

»Der Zweck meines Besuches«, fuhr er unerschüttert fort, »ist ein zweifacher. Ich komme erstens um Ihnen mit aufrichtigem Bedauern mein Zeugnis in Bezug auf die beklagenswerthen Uneinigkeiten zwischen Sir Percival und Lady Glyde abzulegen. Ich bin Sir Percivals ältester Freund; ich bin – durch Heirat – mit Lady Glyde verwandt und bin ein Augenzeuge von allem, was sich in Blackwater Park zugetragen hat. In diesen drei Eigenschaften spreche ich mit Autorität und mit aufrichtiger Betrübnis. Sir, ich unterrichte Sie hiemit, als das Haupt von Lady Glyde's Familie, daß Miß Halcombe in dem kürzlich an Sie gerichteten Schreiben nichts übertrieben hat. Ich bestätige, daß das von dieser verehrungswürdigen Dame vorgeschlagene Hilfsmittel das einzige ist, welches Sie gegen die Greuel öffentlicher Bloßstellung schützen kann. Eine zeitweilige Trennung des Ehepaares ist die einzige friedliche Lösung dieser Schwierigkeit. Trennen Sie sie für jetzt, und sobald alle Ursache zu Zwistigkeiten beseitigt, verpflichte ich mich, Sir Percival zur Vernunft zu bringen. Lady Glyde ist unschuldig, ist tief beleidigt, aber gerade deshalb ist sie (ich sage es mit tiefer Beschämung) Ursache von Spannung, solange sie unter dem Dache ihres Gemahls bleibt. Kein anderes Haus als das Ihrige kann Lady Glyde mit Schicklichkeit aufnehmen, und ich fordere Sie daher auf, es ihr zu öffnen!«

Aeußerst trocken. Im Süden von England tobte ein eheliches Hagelwetter, und ein Mensch mit einem Fieber in jeder Falte seines Rockes forderte mich auf, aus dem Norden herbeizueilen, um mir meinen Antheil an dem Schauer abzuholen. Ich versuchte ihm dies deutlich darzustellen, wie ich es hier gethan habe. Der Graf senkte ganz kaltblütig den einen seiner schauerlichen Finger, hielt den anderen nach wie vor empor und sagte:

»Folgen Sie gütigst meinem Gedankengange, Sie haben den ersten Zweck meines Besuches gehört. Der zweite besteht dann, das zu thun, was Miß Halcombe's Krankheit sie verhindert, selbst zu thun. In allen schwierigen Fallen zieht man im Blackwater Park meine ausgebreiteten Erfahrungen zu Rathe und es geschah dies auch in Bezug auf ihren interessanten Brief an Miß Halcombe. Ich begriff augenblicklich, warum sie Miß Halcombe hier zu sehen wünschten, ehe Sie einwilligten, Lady Glyde hierher einzuladen. Sie haben vollkommen Recht, Sir, wenn Sie zögern, die Damen zu empfangen, bis Sie die Versicherung empfangen, daß der Gemahl nicht seine Autorität geltend machen und seine Frau von Ihnen zurückfordern wird. Ich bin hierin ganz ihrer Ansicht; und auch darin, daß so zarte Erklärungen, wie sie aus dieser Schwierigkeit entspringen, nicht wohl schriftlich erledigt werden können. Meine Gegenwart hier (die mit großer persönlicher Unbequemlichkeit verbunden) ist ein Beweis von meiner Aufrichtigkeit, was die Erklärungen selbst betrifft, so versichere ich Sie, ich – Fosco – der ich Sir Percival viel besser kenne, als Miß Halcombe ihn kennt – auf mein Ehrenwort, daß er diesem Hause nicht nahe kommen soll, solange seine Frau sich darin befindet. Seine Angelegenheiten sind sehr verwirrt. Bieten Sie ihm Hilfe an unter der Bedingung, daß Lady Glyde ihre Freiheit erhält. Ich verspreche Ihnen, daß er die seinige auf diese Weise erkauft mit beiden Händen ergreifen und mit aller Schnelligkeit nach dem Festlande zurückkehren wird. Ist Ihnen dies klar? Ganz gewiß. Haben sie mir Fragen vorzulegen? ich bin hier, um sie zu beantworten.«

Er hatte bereits so viel gesagt, daß ich seine liebenswürdige Aufforderung ausschlug.

»Ich danke herzlich,« entgegnete ich. »Ich fühle mich sehr erschöpft. In meinem Gesundheitszustande muß ich dergleichen Dinge für ausgemacht annehmen. Erlauben Sie mir, dies auch bei der gegenwärtigen Gelegenheit zu thun.«

Er stand auf. Ich dachte, er wolle gehen. Nein. Er hatte noch mehr zu sprechen.

»Einen Augenblick,« sagte er, »nur noch einen Augenblick, ehe ich mich verabschiede. Ich bitte, Sie auf eine dringende Notwendigkeit aufmerksam machen zu dürfen. Dieselbe ist folgende, Sir: Sie müssen nicht daran denken, mit der Einladung an Lady Glyde zu warten, bis Miß Halcombe wieder hergestellt ist. Miß Halcombe genießt die Pflege des Arztes, der Haushälterin zu Blackwater Park und einer erfahrenen Krankenwärterin. Dies sage ich Ihnen und zugleich, daß die Unruhe und Besorgnis um ihre Schwester Lady Glyde's Gemüth und körperliches Befinden bereits dermaßen angegriffen hat, daß ihre Anwesenheit im Krankenzimmer vollkommen nutzlos wäre. Ihre Stellung ihrem Gemahl gegenüber wird täglich beklagenswerther und gefährlicher. Falls Sie Ihre Nichte noch länger in Blackwater Park lassen, so riskiren Sie eine öffentliche Bloßstellung, welche Sie und wir Alle die Verpflichtung haben, im Interesse der Familie zu vermeiden. Ich rathe Ihnen daher von ganzem Herzen, die Verantwortlichkeit eines Verzuges von sich abzuwerfen, indem Sie Lady Glyde auffordern, augenblicklich hierher zu kommen. Thun Sie Ihre Pflicht und was sich dann immer zutragen möge, so kann Niemand Ihnendie Schuld davon beilegen. Ich spreche nach meinen umfassenden Erfahrungen und biete Ihnen meinen freundschaftlichen Rath an. Nehmen Sie ihn an – ja oder nein?«

Ich sah ihn an, indem jede Linie meines Gesichtes meine Verwunderung über seine unbegrenzte Frechheit und den erwachenden Entschluß ausdrückte, Louis zu klingeln und ihm die Thür zeigen zulassen. Es ist völlig unglaublich, aber vollkommen wahr, daß mein Gesicht nicht den geringsten Eindruck auf ihn zu machen schien.

»Sie zögern?« sagte er. »Mr. Fairlie! ich begreife dieses Zögern. Sie wenden ein, daß Lady Glyde weder körperlich noch geistig sich in einem Zustande befindet, um allein die Reise von Hampshire hierher zu unternehmen. Ihre eigene Jungfer ist, wie Sie wissen, von ihr entfernt worden, und unter der übrigen Dienerschaft zu Blackwater Park gibt es Niemanden, der geeignet wäre, um von einem Ende Englands bis zum anderen mit ihr zu reisen. Sie wenden abermals ein, daß sie nicht gut in London bleiben kann, um sich auszuruhen, weil es sich nicht wohl paßte, daß sie in einem öffentlichen Gasthause übernachtete, wo sie vollkommen fremd ist. In einem Athem lasse ich beide Einwendungen zu und im nächsten beseitige ich sie beide. Als ich mit Sir Percival nach England zurückkehrte, war es meine Absicht, mich in der Umgegend von London niederzulassen. Diese Absicht habe ich soeben glücklich ausgeführt. Ich habe in dem Stadtviertel St. John's Wood auf sechs Monate ein kleines möblirtes Haus gemiethet. Haben Sie die Güte, dem Programme, welches ich entworfen habe, Ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Lady Glyde reist bis London – eine kurze Station – ich selbst empfange sie an der Eisenbahnstation, führe sie in mein Haus, welches zugleich das Haus ihrer Tante ist, um auszuruhen und zu übernachten; sobald sie sich erholt hat, begleite ich selbst sie an die Station – sie reist bis hierher und ihre eigene Kammerjungfer (die sich augenblicklich unter Ihrem Dache befindet) empfängt sie am Wagenschlage. Auf diese Weise wird ihre Bequemlichkeit sowohl, wie die Schicklichkeit berücksichtigt und Ihre Pflicht – die Pflicht der Gastfreundschaft, der Theilnahme und der Beschützung – von Anfang bis zu Ende glatt und leicht für Sie gemacht. Ich fordere Sie voll Herzlichkeit auf, Sir, meine Bemühungen im geheiligten Interesse der Familie zu unterstützen. Ich rathe Ihnen ernstlich zu schreiben und der unglücklichen Dame, deren Sache ich heute führe, die Gastfreundschaft Ihres Hauses (und Herzens) anzutragen und den Brief mir zur Bestellung zu übergeben.«

Es war die höchste Zeit, irgend einen verzweifelten Entschluß zu fassen und ebenfalls die höchste Zeit, Louis kommen zu lassen, damit er das Zimmer durchräuchere.

In dieser äußersten Schwierigkeit kam mir ein unschätzbarer Gedanke, welcher sozusagen zwei lästige Fliegen mit einer Klappe schlug. Ich beschloß, mich dadurch, daß ich das Gesuch dieses widerlichen Ausländers erfüllte, indem ich sofort das von ihm gewünschte Billet schriebe, mich sowohl von des Grafen langweiliger Beredsamkeit, wie von Lady Glyde's langweiligen Bekümmernissen zu befreien. Es hatte nicht die geringste Gefahr, daß die Einladung angenommen würde, denn es war im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß Lady Glyde Blackwater Park zu verlassen einwilligte, solange ihre Schwester dort krank lag. Wie es möglich war, daß dies sehr willkommene Hindernis des Grafen diensteifrigem Scharfblicke entgangen, konnte ich nicht begreifen. Meine Angst, daß er dies noch jetzt einsehen möchte, falls ich ihm Zeit zur Ueberlegung ließe, stachelte mich in dem erstaunlichen Maße auf, daß ich mich bezwang, aufrecht zu sitzen, die Schreibmaterialien dicht neben mir zu ergreifen und den Brief mit einer Geschwindigkeit abzufassen, als ob ich ein ordinärer Abschreiber gewesen wäre. »Liebe Laura, bitte, komme sobald es Dir gefallt, verkürze Dir die Reise, indem Du in London im Hause Deiner Tante schläfst. Bedaure zu hören, daß die gute Marianne krank ist. Herzlich der Deine.« Ich reichte dem Grafen diese Zeilen, indem ich den Arm weit ausstreckte – dann sank ich in meinen Sessel zurück und sagte: » Entschuldigen Sie mich – ich bin gänzlich erschöpft, ich bin zu nichts weiterem fähig, wollen Sie sich ausruhen und unten frühstücken? Grüße an Alle und meine Theilnahme und so weiter. Guten Morgen.«

Er hielt abermals eine Rede – der Mann ist vollkommen unerschöpflich. Ich schloß meine Augen und suchte so wenig wie möglich zu hören. Ich hörte endlich seine Stimme sich langsam von mir entfernen, aber so groß er auch war – ihnhörte ich nicht. Er hatte das negative Verdienst, vollkommen geräuschlos zu sein. Ich weiß weder, wann er die Thür öffnete, noch wann er sie schloß. Ich wagte nach einem Zwischenraum der Stille die Augen zu öffnen und – er war fort.

Ich klingelte Louis und zog mich in mein Badezimmer zurück. Laues, durch aromatischen Essig gestärktes Wasser für mich und reichliche Räucherung des Zimmers waren offenbar die zu empfehlenden Vorsichtsmaßregeln, und ich wandte sie natürlich an. Es freut mich, sagen zu können, daß dieselben sich wirksam erwiesen. Ich genoß meine gewöhnliche Siesta, wonach ich frisch und kühl erwachte. Meine ersten Fragen galten dem Grafen, waren wir ihn wirklich los geworden? Ja – er war mit dem Nachmittagszuge abgereist. Hatte er gefrühstückt, und was? Nichts als Fruchttörtchen mit Sahne. Welch eine Verdauung! Erwartet man noch fernere Aufschlüsse von mir? Ich denke, hier bis an die mir vorgezeichneten Grenzen gekommen zu sein. Die erschütternden Ereignisse, welche sich später zutrugen, liegen, wie ich so glücklich bin, sagen zu können, nicht innerhalb meiner Erfahrungen. Ich that Alles in der besten Absicht. Man muß mich nicht für ein beklagenswerthes Unglück verantwortlich machen, das unmöglich vorauszusehen war. Es hat mich völlig daniedergestreckt; ich habe mehr dadurch gelitten als sonst irgend Jemand. Mein Kammerdiener Louis (der mir wirklich auf seine ungebildete Art ergeben ist) meint, ich werde mich nie vollkommen wieder davon erholen. Ich muß aus Billigkeit gegen mich selbst wiederholen, daß es nicht meine Schuld gewesen und daß es mich gänzlich niedergebeugt und mir das Herz gebrochen hat. Mehr kann ich nicht sagen.

Aussage der Elisa Michelson, Haushälterin zu Blackwater Park

Man fordert mich auf, genau anzugeben, was ich über den Fortgang von Miß Halcombe's Krankheit und über die Umstände weiß, unter welchen Lady Glyde Blackwater Park verließ, um nach London zu reisen.

Der Grund für diese Aufforderung ist, daß man meines Zeugnisses im Interesse der Wahrheit bedarf. Als Witwe eines Geistlichen (aber durch Unglück auf die Notwendigkeit zurückgeführt, eine Stelle anzunehmen ) habe ich gelernt, die Rechte der Wahrheit über alle anderen Rücksichten zu stellen. Ich füge mich daher einer Bitte, welche zu erfüllen ich andernfalls, um mich nicht an höchst betrübenden Familienangelegenheiten zu betheiligen, gezögert haben würde.

Ich kann mit Bestimmtheit kein Datum angeben aber ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich sage, daß Miß Halcombe's Krankheit in der ersten Woche des Juli begann. An dem Morgen, von dem ich jetzt spreche, erschien Miß Halcombe nicht am Frühstückstische. Nachdem die Herrschaften eine Viertelstunde auf sie gewartet hatten, schickten sie das Oberstubenmädchen zu ihr hinauf, welches aber ganz erschrocken wieder aus der Stube gestürzt kam. Ich begegnete ihr auf der Treppe und ging sogleich in Miß Halcombe's Zimmer, um zu sehen, was es gäbe. Die arme Dame war nicht im Stande, es mir zu sagen. Sie ging mit einer Feder in der Hand, phantasirend und in heftigem Fieber in der Stube auf und ab.

Lady Glyde war die erste, die aus ihrem Schlafzimmer herbeieilte. Sie war so furchtbar bestürzt, daß eine Frage an sie vergebens gewesen wäre. Graf Fosco und seine Gemahlin, welche gleich nach ihr heraufkamen, waren beide äußerst dienstfertig und gütig. Die Frau Gräfin half mir, Miß Halcombe in ihr Bett zu legen und Seine Gnaden der Herr Graf blieb im Wohnzimmer, und nachdem er sich seinen Medicinkasten hatte bringen lassen, mischte er einen Trank und eine kühlende Waschung für ihren Kopf, damit keine Zeit verloren würde, bis der Arzt käme, wir kühlten ihren Kopf mit der Waschung, konnten sie aber nicht überreden, die Medicin zu nehmen. Sir Percival schickte einen Reitknecht zu Pferde an den nächsten Arzt ab, welcher Mr. Dawson zu Oak Lodge war.

Mr. Dawson kam nach weniger als einer Stunde an. Er war ein achtbarer, ältlicher Mann, der in der ganzen Umgegend bekannt war, und wir waren sehr erschrocken, als er den Anfall einen höchst ernsten nannte. Seine Gnaden der Herr Graf unterhielt sich sehr freundlich mit Mr. Dawson und sprach seine Ansichten mit einer verständigen Unbefangenheit aus. Mr. Dawson frug – nicht sehr höflich – ob der Rath des Herrn Grafen der Rath eines Arztes sei und als Seine Gnaden ihm sagte, es sei der Rath eines Mannes, welcher die Medicin aus Liebhaberei studirt, entgegnete er, daß er nicht gewohnt sei, Konsultationen mit Dilettanten-Aerzten zu halten. Der Graf lächelte mit echt christlicher Milde und verließ das Zimmer. Doch ehe er ging, sagte er mir, falls man seiner im Verlaufe des Tages bedürfe, würde er im Boothause beim See zu finden sein. Er blieb den ganzen Tag bis Abends sieben Uhr, wo man zu Tische ging, fort, vielleicht wollte er das Beispiel geben, Alles im Hause so ruhig wie möglich zu halten.

Miß Halcombe verbrachte eine sehr schlimme Nacht, während welcher das Fieber abwechselnd kam und ging und gegen Morgen, anstatt sich zu legen, schlimmer wurde. Da in der Nachbarschaft keine Krankenwärtern, zu finden war, übernahm Ihre Gnaden die Frau Gräfin und ich diese Pflicht, indem wir einander ablösten. Lady Glyde war unweise genug, darauf zu bestehen, mit uns aufzubleiben. Sie war viel zu nervenschwach und bei zu schlechter Gesundheit, um die Besorgnis um Miß Halcombe mit Ruhe zu ertragen. Sie weinte und ängstigte sich – zwei Schwachheiten, die sich durchaus nicht für Krankenstuben eignen.

Sir Percival und der Graf kamen am Morgen, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Sir Percival schien mir (wahrscheinlich aus Kummer über Miß Halcombe's Krankheit) sehr verwirrt und unruhig. Der Herr Graf dagegen bewies eine sehr angemessene Fassung und Theilnahme. Er hielt seinen Strohhut in der einen und ein Buch in der anderen Hand und ich hörte ihn zu Sir Percival sagen, er werde wieder nach dem Boothause gehen, um zu studiren. »Laß uns alle mögliche Ruhe im Hause halten,« sagte er, »laß uns nicht im Hause rauchen, mein Freund, jetzt da Miß Halcombe krank ist. Geh' du deiner Wege und ich will meiner Wege gehen, wenn ich studire, bin ich am liebsten allein. Guten Morgen, Mrs. Michelson.«

Sir Percival war nicht höflich genug, mich mit derselben höflichen Aufmerksamkeit zu grüßen. In der That die einzige Person im ganzen Hause, welche mir auf dem Fuße einer Dame in zurückgekommenen Verhältnissen begegnete, war der Graf, Sein Benehmen war das eines wahren Edelmannes: er war rücksichtsvoll gegen Alle. Sogar das junge Frauenzimmer, (Fanny hieß sie) welches Lady Glyde bediente, stand nicht zu tief unter seiner Beachtung. Als Sir Percival sie fortschickte, war der Herr Graf (der mir eben seine allerliebsten kleinen Vögel zeigte) auf das Freundlichste besorgt, zu wissen, was aus ihr geworden, wo sie den Tag zubringen werde, bis sie Blackwater Park verlassen könne und dergleichen mehr. Es ist hauptsächlich in solchen zarten kleinen Aufmerksamkeiten, daß sich die Vorzüge aristokratischer Geburt am deutlichsten zeigen.

Miß Halcombe's Zustand besserte sich nicht, und die zweite Nacht war wo möglich noch schlimmer als die erste. Mr. Dawson kam mit regelmäßiger Beständigkeit. Die praktischen Pflichten des Pflegens wurden noch immer von der Frau Gräfin und mir getheilt, während Lady Glyde darauf bestand, mit uns aufzusitzen, obgleich wir Beide sie auf das Dringendste baten, sich etwas Erholung zu gönnen. »Mein Platz ist an Mariannes Bette,« war ihre einzige Antwort, »und ob ich krank bin oder wohl – nichts soll mich bewegen, sie aus den Augen zu verlieren.«

Gegen Mittag sah ich den Grafen (welcher zum dritten Male früh des Morgens ausgegangen war) in den Flur kommen, und zwar dem Anscheine nach in der besten Laune. Sir Percival steckte zu gleicher Zeit den Kopf durch die Thür der Bibliothek und sagte mit großem Eifer zu seinem hohen Freunde:

»Hast du sie gefunden?«

Ein zufriedenes Lächeln zeichnete tausend Grübchen in Seiner Gnaden großem Gesichte, aber er gab keine Antwort. In demselben Augenblicke wandte Sir Percival den Kopf um, sah, daß ich auf die Treppe zuging und blickte mich auf höchst ungezogene, zornige Weise an.

»Komm' hier herein und erzähle mir das Ganze,« sagte er zum Grafen. »Wenn man Weiber im Hause hat, kann man stets sicher sein, sie auf den Treppen zu sehen.«

»Mein lieber Percival,« sagte der Graf gütig, »Mrs. Michelson hat ihre Pflichten. Sie sehen angegriffen aus, Mrs. Michelson. Es ist wirklich Zeit, daß Sie und meine Frau Hilfe in der Pflege bekommen. Es haben sich Sachen zugetragen, welche die Gräfin Fosco nöthigen werden, entweder morgen oder übermorgen nach London zu reisen. Sie wird Früh abreisen und Abends zurückkehren und wird zu ihrer Ablösung eine Krankenwärterin mitbringen, welche vorzügliche Eigenschaften als solche besitzt. Sie ist meiner Frau als eine Person bekannt, auf die man sich unbedingt verlassen kann. Bitte, sprechen Sie hierüber nicht zu dem Arzte, ehe sie da ist; denn er wird eine Krankenwärterin meiner Wahl jedenfalls mit scheelem Auge ansehen. Sobald sie aber im Hause erscheint, wird sie für sich selber sprechen und Mr. Dawson wird genöthigt sein, zuzugeben, daß man keine Entschuldigung haben würde, falls man sich nicht ihrer bediente. Lady Glyde wird dasselbe sagen.

Ich ging die Treppe hinauf. Es beschämt mich aufrichtig, bekennen zu müssen, daß ich bei dieser Gelegenheit einer eitlen Neugier unterlag, welche mich wißbegierig über die Frage machte, die Sir Percival von der Thür aus an seinen Freund gerichtet hatte. Wen sollte der Graf während seiner Morgenstudien im Parke gefunden haben? Ein weibliches Wesen, nach Sir Percivals Ausdrücken zu urtheilen. Ich traute dem Grafen keine Unschicklichkeit zu – dazu kannte ich seinen moralischen Charakter zu gut. Die einzige Frage, die ich mir wiederholte, war: hatte er sie gefunden?

Am folgenden Tags schien Miß Halcombe sich ein wenig zu erholen. Am Morgen darauf reiste die Frau Gräfin mit dem ersten Zuge nach London und ihr hoher Gemahl begleitete sie mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit zur Station.

Es war jetzt Miß Halcombe's Pflege mir ganz allein überlassen und zugleich die Aussicht, da ihre Schwester trotz aller Ueberredung nicht von ihrem Bette weichen wollte, zunächst auch Lady Glyde in Pflege zu bekommen.

Der einzige Umstand von Wichtigkeit, welcher sich im Verlaufe des Tages zutrug, war ein abermaliger Wortstreit zwischen dem Grafen und dem Arzte.

Als Se. Gnaden von der Eisenbahnstation zurückkehrte, kam derselbe in Miß Halcombe's Wohnzimmer hinauf, um sich, wie gewöhnlich, nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ich ging hinaus, um mit ihm zu sprechen, da Lady Glyde sowohl, wie Mr. Dawson in dem Augenblicke bei der Kranken waren. Der Herr Graf legte mir viele Fragen in Bezug auf die Behandlung und die Symptome vor. Ich sagte ihm, daß die Behandlung die sei, welche man mit dem Ausdrucke »salinisch« bezeichne, und daß die Symptome zwischen den Fieberanfällen allerdings auf eine zunehmende Schwäche und Erschöpfung hindeuteten. Gerade, als ich dieses letzten Umstandes erwähnte, trat Mr. Dawson aus dem Schlafzimmer.

»Guten Morgen, Sir,« sagte Se. Gnaden, indem er höchst leutselig auf den Doctor zuging. »Ich fürchte sehr, daß Sie noch immer keine Besserung in den Symptomen gefunden haben?«

»Ich finde im Gegentheil eine entschiedene Besserung,« sagte Mr. Dawson.

»Sie bestehen also noch immer auf Schwächung in diesem Fieberanfalle?« fuhr Se. Gnaden fort.

»Ich bestehe auf einer Behandlung, welche ich durch Berufserfahrungen gerechtfertigt finde,« sagte Mr. Dawson.

»Erlauben Sie mir eine Frage,« sagte der Graf. »Sie leben in einiger Entfernung, Sir, von den gigantischen Mittelpunkten wissenschaftlicher Thätigkeit: von London und Paris. Haben Sie nicht davon gehört, daß man die schwächende Wirkung des Fiebers dadurch wieder gut zu machen sucht, daß man den erschöpften Patienten durch Rum, Wein, Ammonium oder Chinin stärkt?« Ist diese neue Ketzerei der höchsten medicinischen Autoritäten je bis zu Ihren Ohren gedrungen oder nicht?«

»Sobald ein praktischer Arzt mir diese Frage vorlegt, werde ich das Vergnügen haben, ihm dieselbe zu beantworten,« sagte der Doctor, indem er die Thür öffnete, um hinaus zu gehen. »Sie sind kein praktischer Arzt und werden mich entschuldigen, wenn ich Ihnennicht darauf antworte.«

Ihro Gnaden die Frau Gräfin kehrte an demselben Abende wieder zurück und brachte die Krankenwärterin aus London mit. Man sagte mir, daß der Name dieser Person Mrs. Rubelle sei. Ihr Aussehen und ihr unvollkommenes Englisch belehrten mich, daß sie eine Ausländerin sei.

Ich habe mich stets bemüht, eine menschenfreundliche Nachsicht für Ausländer zu fühlen. Deshalb erwähne ich hier nichts darüber, daß Mrs. Rubelle mir als eine kleine, steife, listige Person von ungefähr fünfzig Jahren auffiel, mit einer dunklen Hautfarbe und wachsamen, hellgrauen Augen, noch daß ihr Anzug, obgleich derselbe aus der einfachsten schwarzen Seide bestand, für eine Person in ihrer Stellung von unpassend schwerem Stoffe und mit unnöthig geschmackvollem Besatze verziert war. Ich will bloß erwähnen, daß ihr Wesen – wenn nicht gerade unangenehm steif – aber doch auffallend ruhig und zurückhaltend war; daß sie viel umherblickte und sehr wenig sprach und daß sie das Abendessen ausschlug (was vielleicht sonderbar war, aber doch nicht verdächtig?) obgleich ich selbst sie mit der größten Höflichkeit einlud, dieses Mahl in meinem Zimmer mit mir zu theilen.

Auf des Grafen besonderen Wunsch wurde bestimmt, daß Mrs. Rubelle ihre Pflichten nicht eher beginnen solle, als bis der Arzt sie am nächsten Morgen gesehen und seine Zustimmung gegeben habe. Lady Glyde schien sehr dagegen, daß die neue Wärterin zu Miß Halcombe gelassen würde. Ich wagte die Bemerkung: »Mylady, wir sollten nicht voreilig in unserem Urtheile über untergeordnete Personen sein – namentlich, wenn dieselben aus fremdem Lande kommen.« Lady Glyde seufzte bloß und küßte Miß Halcombe's Hand, welche auf der Bettdecke ruhte. Kein sehr vernünftiges Benehmen in einer Krankenstube und mit einer Patientin, die man so wenig als möglich aufregen sollte. Aber die arme Lady Glyde verstand nichts vom Krankenpflegen, wie ich zu meinem Bedauern gestehen muß.

Am folgenden Morgen wurde Mrs. Rubelle in das Wohnzimmer geschickt, um von dem Arzte in Augenschein genommen zu werden, wenn er durch dasselbe in Miß Halcombe's Schlafzimmer gehen würde.

Anstatt daß der Arzt aber zu uns herauf kam, ließ man mich zum Arzte rufen.

Mr. Dawson erwartete mich allein im Frühstückzimmer.

»In Betreff dieser neuen Wärterin, Mrs. Michelson, ...« sagte der Doctor.

»Ja, Sir?«

»... Höre ich, daß die Frau jenes dicken alten Ausländers, der sich fortwährend in meine Angelegenheiten mischt, sie mit aus London gebracht hat. Mrs. Michelson, der dicke alte Ausländer ist ein Quacksalber.«

»Wissen Sie, Sir,« sagte ich entrüstet, »daß Sie von einem Edelmann sprechen?«

»Bah! Er ist nicht der erste Quacksalber, der einen Titel besessen hätte. Die bestehen aus lauter Grafen – zum Henker mit ihnen!«

»Er würde nicht der Freund von Sir Percival Glyde sein, Sir, wenn er nicht der höchsten Aristokratie angehörte.«

»Schon gut, Mrs. Michelson, nennen Sie ihn, wie Sie wollen und lassen Sie uns wieder auf die Wärterin zurückkommen. Ich habe bereits Einwendungen gegen sie gemacht.«

»Ohne sie gesehen zu haben, Sir?«

»Jawohl, ohne sie gesehen zu haben. Sie mag die beste Wärterin von der Welt sein, aber sie ist nicht die Wärterin meiner Wahl. Ich habe diese Einwendung gegen Sir Percival als den Herrn des Hauses gemacht. Aber er sagt, wir müßten's mit der Frau versuchen, nachdem Lady Glyde's Tante sich die Mühe genommen, sie aus London zu holen. Das ist eigentlich billig und ich kann nicht wohl Nein sagen. Aber ich habe es zur Bedingung gemacht, daß sie augenblicklich fortgeschickt wird, sowie ich Ursache finde, unzufrieden mit ihr zu sein. Jetzt, Mrs. Michelson, fordere ich Sie auf, die Wärterin während der ersten paar Tage scharf zu beobachten und danach zu sehen, daß sie Miß Halcombe keine Medicin gibt, die ich nicht verordnet habe. Dieser ausländische Edelmann, für den Sie solche Bewunderung hegen, stirbt vor Sehnsucht, seine Quacksalbereien (unter anderen auch den Magnetismus) an meiner Patientin zu versuchen und eine Wärterin, die seine Frau hergebracht hat, mag nur zu bereit sein, ihm zu helfen. Verstehen Sie mich? Gut, dann können wir hinauf gehen. Ist die Wärterin da? Ich will mit ihr sprechen, ehe sie in's Krankenzimmer geht.«

Als ich Mrs. Rubelle dem Arzte vorstellte, schien sie weder durch seine zweifelhaften Blicke noch durch seine scharfen Fragen im Geringsten verlegen zu werden. Sie antwortete ihm mit großer Ruhe in gebrochenem Englisch und obgleich er alles that, um sie verwirrt zu machen, verrieth sie so weit doch nicht die kleinste Unwissenheit über ihre Pflichten.

Wir gingen alle in's Schlafzimmer. Mrs. Rubelle blickte die Kranke sehr aufmerksam an; verbeugte sich gegen Lady Glyde und nahm dann ruhig in einem Winkel Platz, bis man ihrer bedürfen würde. Mylady schien erschrocken über das Eintreten der fremden Wärterin. Niemand sprach, aus Besorgnis, Miß Halcombe, die schlummerte, aufzuwecken – ausgenommen der Doctor, der sich flüsternd erkundigte, wie sie die Nacht zugebracht habe. Ich antwortete leise, »ziemlich wie gewöhnlich«, worauf Mr. Dawson hinausging. Lady Glyde folgte ihm, vermuthlich um mit ihm über Mrs. Rubelle zu sprechen.

Indem ich mich der mir von Mr. Dawson gegebenen Warnung erinnerte, beobachtete ich Mrs. Rubelle während der ersten drei bis vier Tage sehr scharf. Ich trat zu wiederholten Malen leise und plötzlich in's Zimmer, ertappte sie aber nie bei irgend einer verdächtigen Handlung. Lady Glyde, welche sie ebenso aufmerksam beobachtete, wurde ebenfalls nie etwas gewahr. Ich bemerkte nie, daß die Medicinflaschen vertauscht waren; ich sah Mrs. Rubelle nie ein Wort zu dem Grafen sprechen, noch den Grafen zu ihr. Sie behandelte Miß Halcombe unbestritten mit Sorgfalt und Umsicht. Die arme Dame schwankte zwischen einer Art schläfriger Erschöpfung, die halb Ohnmacht und halb Schlummer war, und Anfällen von Fieber hin und her, die mehr oder weniger von Geistesverwirrung begleitet waren. Mrs. Rubelle war außerordentlich wenig mittheilsam über sich selbst und auf eine zu entschiedene Weise unabhängig von dem Rathe erfahrener Leute, welche die Pflichten eines Krankenzimmers kannten – aber niemals fanden weder Lady Glyde noch Mr. Dawson den Schatten einer Ursache, unzufrieden mit ihr zu sein.

Der nächste Umstand von Wichtigkeit, welcher sich im Hause ereignete, war eine kurze Abwesenheit des Grafen, der in Geschäften nach London gerufen wurde. Er reiste am vierten Tage (glaube ich) nach Mrs. Rubelle's Ankunft ab und sprach beim Abschiede sehr ernstliche Worte zu Lady Glyde in Rücksicht auf Miß Halcombe.

»Vertrauen Sie Mr. Dawson noch ein paar Tage länger, wenn Sie wollen,« sagte er. »Falls sich aber dann noch keine Besserung spüren läßt, da lassen Sie sofort geschickten ärztlichen Beistand aus London kommen, den dieser Maulesel von einem Doctor annehmen muß, ob er nun will oder nicht. Ich sage dies im Ernste, auf mein Ehrenwort und aus dem Grunde meines Herzens.«

Se. Gnaden sprach mit tiefem Gefühle. Die Nerven der armen Lady Glyde waren in dem Grade erschüttert, daß sie ganz erschrocken vor ihm schien. Sie zitterte an: ganzen Körper und ließ ihn gehen, ohne ein einziges Wort zu erwidern. Sie wandte sich zu mir, als er fort war, und sagte: »O, Mrs. Michelson, mir bricht das Herz um meine Schwester. Glauben Sie, daß Mr. Dawson sich täuscht? Er sagte mir heute Morgen selbst, es sei keine Gefahr mehr da.«

»Mit aller Achtung vor Mr. Dawson,« sagte ich, »würde ich doch an Ew. Gnaden Stelle nicht des Herrn Grafen Rath vergessen.«

»Lady Glyde wandte sich plötzlich und mit einem Ausdrucke der Verzweiflung von nur ab, den ich mir nicht zu erklären vermochte.

» SeinenRath!« sagte sie zu sich selbst. »Gott helfe uns – seinenRath!«

Der Graf blieb wohl beinahe eine Woche von Blackwater Park abwesend.

Sir Percival schien in manchen Beziehungen den Verlust seines Freundes zu empfinden und auch sehr gedrückt zu sein über die Krankheit und Sorge im Hause. Er kam und ging und wanderte dann fortwährend in den Anlagen umher. Seine Erkundigungen nach Miß Halcombe und seiner Gemahlin (deren schwankende Gesundheit ihm aufrichtige Besorgnis zu verursachen schien) waren unausgesetzt. Ich glaube, sein Herz war sehr erweicht.

Ihro Gnaden die Frau Gräfin, die jetzt die einzige Gesellschaft für Sir Percival unten war, vernachlässigte ihn einigermaßen, wie es mich dünkte. Oder vielleicht vernachlässigte er sie. Ein Fremder hätte fast vermuthen können, daß diese Beiden, jetzt, wo sie allein waren, einander förmlich auswichen.

Im Verlaufe der nächsten Tage schien es uns allerdings allen, als ob Miß Halcombe sich ein wenig erholte. Unser Zutrauen zu Mr. Dawson erwachte wieder; er versicherte Lady Glyde, daß er selbst vorschlagen würde, noch einen Arzt herbeizurufen, sobald er nur den Schatten eines Zweifels in sich erwachen fühlte.

Die einzige von uns, der diese Worte keine Beruhigung zu sein schienen, war die Gräfin. Sie sagte heimlich zu mir, daß sie sich nach Mr. Dawson's Reden nicht über Miß Halcombe's Zustand beruhigen könne und daß sie voll Besorgnis der Rückkehr ihres Mannes entgegensehe, um dessen Meinung zu hören. Diese Rückkehr sollte, wie sie seine Briefe unterrichteten, in drei Tagen stattfinden. Der Herr Graf und die Frau Gräfin unterhielten während der Abwesenheit des ersteren einen regelmäßigen täglichen Briefwechsel.

Am Abend des dritten Tages bemerkte ich eine Veränderung an Miß Halcombe, die mich ernstlich besorgt machte. Mrs. Rubelle bemerkte dieselbe ebenfalls, wir sagten indessen nichts davon zu Lady Glyde, die, völlig von Erschöpfung überwältigt, auf dem Sopha im Wohnzimmer eingeschlafen war.

Mr. Dawson machte seinen Abendbesuch später als gewöhnlich. Sowie er seiner Patientin ansichtig wurde, sah ich, daß sich sein Gesicht veränderte. Er sah sowohl verlegen als erschrocken aus. Es wurde ein Bote nach seiner Wohnung geschickt, um seinen Arzneikasten zu holen, desinficirende Vorkehrungen wurden im Zimmer angewandt und es wurde ihm auf seine eigene Anordnung im Hause ein Bett gemacht. »Ist das Fieber ansteckend geworden?« flüsterte ich ihm zu. »Ich fürchte es,« entgegnete er, »doch werden wir morgen Früh besser im Stande sein, darüber zu urtheilen.«

Auf Mr. Dawson's eigenen Befehl wurde Lady Glyde über diese beunruhigende Veränderung in Unwissenheit gelassen. Er selbst verbot ihr aus Rücksicht für ihre Gesundheit, diesen Abend zu uns in's Schlafzimmer zu kommen. Sie versuchte, sich dem zu widersetzen, aber es unterstützte ihn seine ärztliche Autorität und er gewann die Oberhand.

Nächsten Morgen um elf Uhr wurde einer der Bedienten mit einem Briefe an einen Arzt in London abgeschickt, mit dem Befehle, den neuen Doctor mit dem nächstmöglichen Zuge mitzubringen. Eine halbe Stunde nachdem der Bote fort war, langte der Graf wieder in Blackwater Park an.

Die Gräfin brachte ihn sogleich herein, um die Kranke zu sehen. Ich sah in diesem Verfahren durchaus nichts Unpassendes. Dennoch aber protestirte Mr. Dawson gegen seine Anwesenheit im Zimmer, aber ich konnte deutlich wahrnehmen, daß der Doctor selbst zu sehr beunruhigt war, um bei dieser Gelegenheit ernstlichen Widerstand zu bieten.

Die arme kranke Dame kannte niemanden mehr von denen, die sie umgaben. Sie schien ihre Freunde für Feinde anzusehen. Als der Graf sich ihrem Bette nahte, heftete sie ihre Augen, die bisher wild umhergewandert waren, mit einem so furchtbaren Stieren des Entsetzens auf sein Gesicht, daß ich es bis zu meiner letzten Stunde nicht vergessen werde. Der Graf setzte sich neben ihr nieder, fühlte ihren Puls und ihre Schläfe, betrachtete sie sehr aufmerksam und wandte sich dann mit einem solchen Ausdrucke von Entrüstung gegen den Doctor um, daß dieser einen Augenblick bleich vor Zorn und Bestürzung dastand – bleich und völlig sprachlos.

Dann wandte sich Se. Gnaden zu mir.

»Wann fand diese Veränderung statt?« fragte er.

Ich gab ihm die Zeit an.

»Ist Lady Glyde seitdem im Zimmer gewesen?«

Ich sagte ihm, daß sie nicht dagewesen. Der Arzt habe es ihr gestern Abend ausdrücklich untersagt und den Befehl heute Morgen wiederholt. »Hat man Sie und Mrs. Rubelle mit der ganzen Größe des Unheils bekannt gemacht?« war seine nächste Frage.

Ich entgegnete, wir wüßten, daß die Krankheit eine ansteckende sei. Er unterbrach mich, ehe ich noch ein Wort hinzufügen konnte.

»Es ist Typhus,« sagte er.

In der Minute, welche unter diesen Fragen und Antworten verging, erholte Mr. Dawson sich wieder und wandte sich mit seiner gewohnten Festigkeit zum Grafen.

»Es ist keinTyphus,« sagte er scharf. »Ich protestire gegen diese Einmischung, Sir. Ich habe nach meinen besten Kräften meine Pflicht gethan. Man hat nach einem Arzte in London geschickt. Mit ihm will ich über die Art des Fiebers consultiren und mit sonst niemandem. Ich bestehe darauf, daß Sie das Zimmer verlassen.«

»Ich betrat dieses Zimmer, Sir, im heiligen Interesse der Menschlichkeit,« sagte der Graf, »und will es in demselben Interesse abermals betreten, falls die Ankunft des Arztes sich verzögert. Ich sage Ihnen nochmals, daß das Fieber sich in Typhus verwandelt hat. Falls diese unglückliche Dame sterben sollte, will ich es vor einem Gerichtshofe bezeugen, daß Ihre Unwissenheit und Hartnäckigkeit ihren Tod herbeigeführt haben.«

Ehe noch Mr. Dawson antworten und der Graf uns verlassen konnte, öffnete sich die Thür des Wohnzimmers und Lady Glyde erschien auf der Schwelle.

»Ich mußund willhereinkommen,« sagte sie mit ungewohnter Festigkeit.

Anstatt sie aufzuhalten, trat der Graf in's Wohnzimmer und machte Platz für sie; in der Ueberraschung des Augenblicks vergaß er offenbar die dringende Nothwendigkeit, Lady Glyde zu zwingen, sich in Acht zu nehmen.

Zu meiner Verwunderung bewies Mr. Dawson mehr Geistesgegenwart. Er hielt Mylady beim ersten Schritte, den sie dem Bette zu that, zurück.

»Ich bedaure aufrichtig,« sagte er. »Ich fürchte, das Fieber ist ansteckend. Bis ich mich aber vom Gegentheil überzeugt habe, bitte ich Sie inständigst, nicht in's Zimmer zu kommen.«

Sie kämpfte einen Augenblick, dann sanken plötzlich ihre Arme zu ihren Seiten nieder und sie fiel vorwärts. Sie war in Ohnmacht gefallen. Die Gräfin und ich nahmen sie dem Doctor ab und trugen sie in ihr Zimmer. Der Graf ging uns voran und wartete dann im Corridor, bis ich wieder herauskam und ihm sagte, daß sie wieder zu sich gekommen sei. Ich kehrte zum Doctor zurück, um ihm auf Lady Glyde's Befehl zu sagen, daß sie ihn augenblicklich sprechen müsse. Er ging sofort, um Mylady's Aufregung zu beruhigen und sie von der Ankunft des Arztes, die in wenigen Stunden erfolgen müsse, in Kenntnis zu setzen. Sir Percival und der Graf waren zusammen unten und ließen sich von Zeit zu Zeit nach dem Befinden der Damen erkundigen. Zwischen fünf und sechs Uhr langte zu unserer großen Erleichterung der Arzt an.

Er war ein jüngerer Mann als Mr. Dawson, aber sehr ernst und entschlossen, was er von der vorherigen Behandlung dachte, kann ich nicht sagen; aber es fiel mir auf, daß er mir und Mrs. Rubelle weit mehr Fragen vorlegte, als dem Doctor, und daß er nicht mit vieler Aufmerksamkeit anhörte, was Mr. Dawson sagte, während er die Patientin betrachtete. Nach diesen meinen Bemerkungen begann ich zu argwöhnen, daß der Graf von Anfang an in Bezug auf die Krankheit Recht gehabt hatte und diese Vermuthung wurde natürlich bestätigt, als Mr. Dawson nach einigem Verzuge die eine wichtige Frage that, welche zu lösen der Arzt aus London geholt worden war.

»Was halten Sie von dem Fieber?« fragte er.

»Es ist Typhus,« entgegnete der Arzt, »Typhus ohne den geringsten Zweifel.«

Mrs. Rubelle faltete ihre dünnen braunen Hände und sah mich mit einem bedeutsamen Lächeln an.

Nachdem der Arzt uns einige Anweisungen in Bezug auf die Pflege der Kranken gegeben und versprochen hatte, daß er nach Verlauf von fünf Tagen wiederkommen werde, zog er sich mit Mr. Dawson zurück, um sich mit ihm zu besprechen. Er wollte in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit von Miß Halcombe's Genesung keine Meinung aussprechen, da es, wie er sagte, in dem gegenwärtigen Stadium der Krankheit unmöglich sei, mit Bestimmtheit zu urtheilen.

Die fünf Tage vergingen uns in großer Besorgnis.

Die Gräfin Fosco und ich lösten Mrs. Rubelle abwechselnd ab, denn Miß Halocmbe's Zustand wurde immer schlimmer und erforderte unsere äußerste Sorgfalt. Es war eine sehr, sehr schwere Zeit. Lady Clyde (welche, wie Mr. Dawson sagte, die fortwährende Spannung über den Zustand ihrer Schwester aufrecht erhielt) erholte sich auf wunderbare Weise und bewies eine Festigkeit und Entschlossenheit, die ich ihr nimmer zugetraut hätte. Sie bestand darauf, täglich drei oder viermal Miß Halcombe mit eigenen Augen zu sehen, indem sie versprach, nicht zu nahe an das Bett zu treten. Mr. Dawson gab seine Erlaubnis hiezu mit großem Widerstreben; er sah wohl ein, daß es nutzlos sein würde, ferner mit ihr darüber zu streiten. Sie kam jeden Tag und hielt ihr Versprechen mit großer Selbstverleugnung.

Am fünften Tage kam der Arzt wieder und gab uns einige Hoffnung. Er sagte, der zehnte Tag, von dem angerechnet, an welchem der Typhus zuerst aufgetreten sei, werde wahrscheinlich den Erfolg der Krankheit entscheiden und versprach uns für diesen Tag seinen dritten Besuch. Die Zwischenzeit verging wie vorher – ausgenommen, daß der Graf eines Morgens abermals nach London reiste und Abends wieder zurückkehrte.

Am zehnten Tage erlöste die barmherzige Vorsehung unser ganzes Haus von aller ferneren Angst und Sorge. Der Arzt gab uns die Versicherung, daß Miß Halcombe völlig außer Gefahr sei.

»Sie bedarf jetzt keines Arztes mehr, – Alles was sie jetzt noch braucht, ist sorgfältige Aufsicht und Pflege.«

Die Wirkung dieser guten Nachricht auf die arme Lady Glyde war zu meinem Bedauern förmlich überwältigend. Sie war zu schwach, um diese heftige Reaction zu ertragen und in ein paar Tagen darauf verfiel sie in einen Zustand von Schwäche und Abgespanntheit, welcher ihr nicht gestattete, ihr Zimmer zu verlassen. Ruhe und später vielleicht eine Luftveränderung waren die einzigen Mittel, die Mr. Dawson für sie empfehlen konnte. An demselben Tage, an welchem sie sich in ihr Zimmer zurückziehen mußte, hatten der Graf und Mr. Dawson wieder einen Wortwechsel und diesmal war derselbe so ernster Art, daß Mr. Dawson das Haus verließ.

Ich war nicht gegenwärtig, aber ich hörte später, daß der Streit über die Nahrung entstand, welcher Miß Halcombe bedürfe, um sich nach der Erschöpfung des Fiebers wieder zu kräftigen. Mr. Dawson war jetzt noch weniger als vorher geneigt, sich unberufenen Ansichten zu fügen; und der Graf (ich begreife nicht warum) verlor alle Selbstbeherrschung und verhöhnte den Doctor wiederholt über sein Versehen in Bezug auf das Fieber, als dasselbe sich in Typhus verwandelt hatte. Die unglückselige Geschichte endete damit, daß Mr. Dawson an Sir Percival appellirte und drohte, (da Miß Halcombe jetzt außer Gefahr sei) Blackwater Park ganz zu verlassen, falls nicht dem Grafen von diesem Augenblicke an entschieden alle weitere Einmischung untersagt werde. Sir Percivals Antwort hatte nur dazu gedient, die Sache noch zu verschlimmern und Mr. Dawson hatte in Folge der unerhörten Behandlung, die ihm vom Grafen Fosco zu Theil geworden, das Haus verlassen und am folgenden Morgen seine Rechnung eingesandt.

Wir waren also jetzt ohne ärztlichen Beistand. Obgleich wir in Wirklichkeit um denselben nicht mehr benöthigt waren, so hätte ich doch, falls meine Autorität für etwas gegolten hätte, aus dem einen oder anderen Viertel von London wieder einen Arzt herzugerufen.

Doch schien Sir Percival die Sache nicht in diesem Lichte zu sehen. Er sagte, es werde früh genug sein, einen neuen Arzt zu holen, falls Miß Halcombe einen Rückfall bekäme. Inzwischen sei ja der Graf da, den wir in kleineren Schwierigkeiten um Rath fragen könnten. Ich blieb dessenungeachtet ein wenig ängstlich. Außerdem schien es mir nicht ganz billig, Lady Glyde die Abwesenheit des Arztes zu verhehlen, wie wir es thaten. Ich gebe zu, daß es eine wohlgemeinte Täuschung war – denn ihr Zustand war nicht der Art, daß sie neue Besorgnisse hätte ertragen können.

Ein zweiter Umstand, der sich an demselben Tage zutrug und mich unbeschreiblich überraschte – ein Umstand, der mir unbegreiflich war, vergrößerte noch um ein Bedeutendes das Gefühl der Unruhe, das jetzt auf meinem Gemüthe lastete.

Ich wurde zu Sir Percival in die Bibliothek beschieden. Der Graf, welcher bei ihm war, als ich eintrat, erhob sich augenblicklich und ließ uns allein im Zimmer. Sir Percival war so höflich, mich zum Sitzen aufzufordern, und redete mich dann zu meinem Erstaunen folgendermaßen an:

»Ich habe über eine Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen, Mrs. Michelson, über die ich schon seit einiger Zeit meinen Entschluß gefaßt hatte, wenn nicht Kummer und Krankheit in's Haus eingezogen wären. Mit wenigen Worten: ich fühle mich bewogen, den hiesigen Haushalt sofort aufzugeben, indem ich das Haus selbst natürlich, wie sonst, Ihrer Aufsicht übergebe. Sobald Lady Glyde und Miß Halcombe im Stande sind zu reisen, müssen beide Damen eine Luftveränderung genießen. Meine Verwandten, der Graf und die Gräfin Fosco, werden uns schon vorher verlassen und eine Wohnung in der Umgegend von London beziehen. Mein Zweck, indem ich seine Gäste mehr in diesem Hause empfange, ist, so sparsam wie möglich zu leben. Ich werde die Pferde verkaufen und sofort die ganze Dienerschaft entlassen; es ist meine Absicht, daß das Haus morgen um diese Zeit von einem Rudel unnützer Leute befreit sei.«

Ich hörte ihm wie angewurzelt vor Erstaunen zu.

»Wollen Sie damit sagen, Sir Percival, daß ich die Hausbedienung, die unter meiner Aufsicht steht, entlassen soll, ohne ihr, wie üblich, einen Monat vorher zu kündigen?« fragte ich.

»Allerdings, wir werden wahrscheinlich Alle, ehe ein Monat verflossen ist, das Haus verlassen haben und ich beabsichtige durchaus nicht, eine Menge von Bedienten hier in Müßigkeit zu erhalten.«

»Wer soll die Küche besorgen, Sir Percival, solange Sie noch hier bleiben?«

»Margaret Porcher kann kochen und braten – behalten Sie sie hier, wozu brauche ich einen Koch, wenn ich keine Mittagsgesellschaften zu geben beabsichtige?«

»Die Person, welche Sie eben genannt haben, Sir Percival, ist die allerunverständigste von allen Stubenmädchen –«

»Behalten Sie sie, sage ich Ihnen, und lassen Sie eine Frau aus dem Dorfe kommen, die das Aufwaschen besorgt. Es muß und soll eine augenblickliche Einschränkung in meinen Ausgaben stattfinden. Ich habe Sie nicht rufen lassen, damit Sie mir Einwendungen machen, Mrs. Michelson. Sie werden morgen die ganze faule Bande von Hausdienern – die Horcher ausgenommen – entlassen. Die Horcher hat die Constitution eines Pferdes und wie ein Pferd soll sie arbeiten.«

»Sie werden mich entschuldigen, Sir Percival, wenn ich Sie daran erinnere, daß die Dienerschaft ihren Lohn für einen Monat haben muß, falls ich ihr nicht einen Monat vorher aufsage.«

»Geben Sie ihn ihr! Ein Monatslohn erspart mir eines Monats Verschwendung in der Bedientenstube.«

Diese letzte Bemerkung enthielt eine höchst beleidigende Verleumdung gegen mein Haushaltungssystem. Christliche Rücksicht für Lady Glyde's und Miß Halcombe's hilflose Lage und auf die ernstlichen Beschwerlichkeiten, die aus meiner Abwesenheit für sie erwachsen konnten, hielten mich allein davon ab, sofort mein Amt niederzulegen. Es hätte mich in meinen eigenen Augen heruntergesetzt, wenn ich hiernach die Unterredung noch einen Augenblick länger hätte dauern lassen.

»Nach dieser letzten Bemerkung, Sir Percival, habe ich nichts weiter zu sagen. Ihre Befehle sollen erfüllt werden.« Mit diesen Worten machte ich eine kalte Verbeugung und ging aus dem Zimmer.

Am folgenden Tage ging die ganze Dienerschaft ab. Sir Percival selbst lohnte die Reitknechte und Stallleute ab und schickte sie mit allen Pferden, ein einziges ausgenommen, nach London. Die einzigen Personen, welche zurückblicken, waren Margaret Porcher, ich und der Gärtner. Dieser Letztere wohnte jedoch in seinem eigenen Hause und er mußte nach dem einenim Stalle zurückgebliebenen Pferde sehen.

An dem Tage, an welchem alle Diener das Haus verlassen, wurde ich abermals zu Sir Percival beschieden.

Ich fand wieder den Grafen Fosco bei ihm. Doch blieb der Graf diesmal bei der Unterredung anwesend und half Sir Percival seine Pläne entfalten.

Der Gegenstand, auf den sie jetzt meine Aufmerksamkeit lenkten, bezog sich auf die gesunde Luftveränderung, von der wir Alle große Vortheile für Lady Glyde's und Miß Halcombe's Genesung hofften. Sir Percival sagte, daß beide Damen wahrscheinlich (in Folge einer Einladung von Frederick Fairlie Esquire) den Herbst zu Limmeridge in Cumberland zubringen würden. Er sei jedoch der Ansicht und der Graf (welcher hier das Wort nahm und bis zu Ende der Unterredung behielt) stimmte hierin mit ihm überein, daß es von großem Vortheile für sie sein würde, wenn sie, ehe sie nach dem Norden aufbrächen, erst auf eine Weile das milde Klima von Torquay genössen. Man wünsche daher ernstlich, an diesem Orte eine Wohnung zu miethen, welche alle Bequemlichkeiten und Vortheile bieten würde, derer die Damen so sehr bedürften; doch sei die Schwierigkeit die, eine erfahrene Person zu finden, welche im Stande sei, eine Wohnung zu wählen, wie sie ihrer bedurften. In dieser dringenden Lage wünschte der Graf – in Sir Percivals Auftrage – zu hören, ob ich etwas dawider habe, den Damen meinen Beistand zu leisten, indem ich selbst in ihrem Interesse die Reise nach Torquay machte.

Ich konnte bloß wagen, auf die ernste Unangemessenheit meiner Abreise von Blackwater Park bei der Abwesenheit aller Diener mit Ausnahme von Margaret Porcher hinzudeuten. Aber Sir Percival sowohl wie der Graf erklärten, daß sie die Unbequemlichkeit im Interesse der kranken Dame sehr gern ertragen wollten. Ich machte dann den achtungsvollen Vorschlag, daß man an einen Hausagenten in Torquay schriebe; aber man erinnerte mich daran, daß es eine Unvorsichtigkeit sein würde, ein Haus zu miethen, das man nicht vorher gesehen habe. Man sagte mir außerdem, daß die Gräfin (welche andernfalls selbst die Reise nach Devonshire gemacht haben würde) ihre Nichte in ihrem gegenwärtigen Zustande nicht verlassen könne, und daß Sir Percival und der Graf Geschäfte mit einander hätten, die sie nöthigten, in Blackwater Park zu bleiben. Kurz, es wurde mir klar gemacht, daß, falls ich die Sache nicht übernähme, Niemand anders da sei, dem man sie anvertrauen könne. Unter diesen Verhältnissen konnte ich bloß Sir Percival ankündigen, daß meine Dienste Miß Halcombe und Lady Glyde zu Gebote stünden.

Es wurde darauf ausgemacht, daß ich am nächsten Morgen abreisen, den darauf folgenden Tag mich mit Untersuchung der passendsten Häuser in Torquay beschäftigen und am dritten mit meinem Berichte zurückkehren sollte. Se. Gnaden schrieb ein Memorandum für mich, das die verschiedenen Erfordernisse angab, welche das von mir zu miethende Haus besitzen mußte, und Sir Percival fügte eine Anmerkung in Bezug auf die pecuniäre Grenze bei.

Meine eigene Ansicht, als ich diese Instructionen durchlas, ging dahin, daß in keinem Badeorte in ganz England eine Wohnung zu finden sei, wie die, welche hier beschrieben war; und daß man sie, selbst wenn man sie zufälligerweise entdeckte, nimmer für irgend welchen Zeitraum unter den mir vorgeschriebenen Bedingungen erhalten würde. Ich machte beide Herren auf diese Schwierigkeit aufmerksam, aber Sir Percival schien dieselbe nicht einzusehen. Es war nicht meine Sache, den Punkt zu bestreiten, und ich sagte nichts weiter; aber ich war fest überzeugt, daß das Geschäft, in welchem man mich fortschickte, so mit Schwierigkeiten behaftet war, daß es mir schon, ehe ich abreiste, als hoffnungslos erschien.

Vor meiner Abreise überzeugte ich mich indessen, daß Miß Halcombe Fortschritte in der Genesung machte. Doch drückte sich in ihrem Gesichte eine schmerzliche Sorge aus. Sie schickte Lady Glyde liebevolle kleine Botschaften, daß sie bereits wieder ganz wohl sei und sie nur bitte, sich nicht zu früh anzustrengen. Ich überließ sie der Sorgfalt von Mrs. Rubelle. Als ich an Lady Glyde's Thür klopfte, sagte man mir, daß sie noch immer in einem sehr traurigen Zustande der Schwäche und Abspannung sei; es war die Gräfin, die mich hievon unterrichtete und welche zur Zeit ihrer Nichte in ihrem Zimmer Gesellschaft leistete.

Sir Percival und der Graf gingen zusammen auf dem Wege zur Wohnung des Parkhüters spazieren, als ich abfuhr.

Der Erfolg meiner Reise nach Torquay war genau der, welchen ich vorausgesehen hatte. Es war in dem ganzen Orte keine Wohnung zu finden, wie ich sie zu miethen beauftragt war, und der Preis, den man mir zu bieten gestattet, war viel zu niedrig, als daß man mir die Wohnung dafür gelassen hätte, selbst wenn sie gefunden worden. Ich kehrte am dritten Tage nach Blackwater Park zurück und benachrichtigte Sir Percival, welcher mir an der Thür begegnete, daß meine Reise eine vergebliche gewesen. Er schien zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um sich um das Mißlingen meines Auftrages zu bekümmern, und seine ersten Worte unterrichteten mich, daß sogar in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit sich eine große Veränderung im Hause zugetragen habe.

Der Graf und die Gräfin Fosco hatten Blackwater Park verlassen und ihre neue Wohnung in St. John's Wood bezogen.

Als ich Sir Percival zu fragen wagte, ob Lady Glyde in Abwesenheit der Gräfin jetzt Jemanden habe, der ihr aufwartete, erwiderte er, sie habe Margaret Porcher und fügte dann hinzu, daß man eine Frau aus dem Dorfe habe kommen lassen, um die Arbeit in der Küche zu verrichten.

Ich war wirklich entrüstet über diese Antwort – es lag eine so grelle Ungeschicklichkeit darin, eine untere Stubenmagd in einem Vertrauensposten bei Lady Glyde anzustellen. Ich ging sofort hinauf und traf die Margaret auf dem Schlafstuben-Vorsaal. Man hatte ihrer Dienste nicht bedurft (natürlich nicht); ihre Herrin habe sich am Morgen wohl genug befunden, um ihr Bett zu verlassen. Ich erkundigte mich zunächst nach Miß Halcombe, erhielt jedoch eine so verdrießliche, unverständliche Antwort, daß ich dadurch um nichts klüger wurde. Ich enthielt mich einer Wiederholung meiner Frage, um mich nicht etwa einer impertinenten Antwort auszusetzen. Es war für eine Person in meiner Stellung in jeder Beziehung passender, mich sofort zu Lady Glyde zu begeben.

Ich fand, daß Mylady sich allerdings während der letzten drei Tage bedeutend erholt hatte. Obgleich noch immer matt und nervenschwach, war sie doch im Stande, sich ohne Hilfe zu erheben und mit langsamen Schritten in ihrem Zimmer umher zu gehen. Sie hatte den Morgen eine Besorgnis um Miß Halcombe gefühlt, da sie durch niemanden Nachrichten von ihr erhalten. Mir erschien dies als ein höchst tadelnswerter Mangel an Aufmerksamkeit von Mrs. Rubelle, doch sagte ich nichts, sondern blieb bei Lady Glyde und half ihr Toilette machen. Als sie damit fertig war, verließen wir zusammen das Zimmer, um zu Miß Halcombe zu gehen.

Im Corridor trafen wir Sir Percival. Er sah aus, als ob er uns dort erwartet habe.

»Wohin gehst du?« sagte er zu Lady Glyde.

»Nach Mariannens Zimmer,« antwortete sie.

»Es mag dir vielleicht eine Täuschung ersparen,« bemerkte Sir Percival, »wenn ich dir sage, daß du sie dort nicht finden wirst.«

»Daß ich sie nicht finden werde?«

»Nein. Sie hat gestern mit Fosco und seiner Frau das Haus verlassen.«

Lady Glyde erbleichte, daß es zum Erschrecken war, und lehnte sich an die Wand, indem sie in tiefem Schweigen ihren Gemahl anblickte.

Ich selbst war so überrascht, daß ich kaum wußte, was ich sagen sollte. Ich frug Sir Percival, ob er wirklich damit sagen wolle, daß Miß Halcombe Blackwater Park verlassen habe.

»Ganz gewiß,« entgegnete er.

»In ihrem Zustande, Sir Percival! und ohne Lady Glyde von ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen!«

Ehe er noch eine Antwort geben konnte, erholte Mylady sich wieder etwas und sprach.

»Unmöglich!« rief sie mit lauter, erschrockener Stimme, indem sie sich ein paar Schritte von der Wand entfernte, »Wo war der Arzt? Wo war Mr. Dawson, als Marianne fortging?«

»Wir bedurften Mr. Dawson's nicht und er war nicht hier,« sagte Sir Percival. »Er verließ uns aus eigenem Antrieb, was hinlänglichen Beweis liefert, daß sie wohl genug war, um die Reise zu machen. wie du mich angaffst! Wenn du mir nicht glauben willst, daß sie fort ist, so sieh' selbst nach.«

Sie nahm ihn beim Worte, und ich folgte ihr. Es war niemand in Miß Halcombe's Zimmer außer Margaret Porcher, die dort aufräumte. Und es war niemand in den Fremdenstuben und im Toilettenzimmer. Sir Percival erwartete uns wieder im Corridor. Als wir das letzte Zimmer, in dem wir nachgesucht hatten, verließen, flüsterte Lady Glyde mir zu: »Gehen Sie nicht fort, Mrs. Michelson! Um Gotteswillen, verlassen Sie mich nicht!«

»Ehe ich noch ein Wort der Erwiderung sagen konnte, war sie schon draußen im Corridor und sprach mit ihrem Gemahl.

»Was soll dies bedeuten, Sir Percival! Ich bestehe darauf – ich bitte und flehe Sie an, mir zu sagen, was es bedeuten soll!«

»Es bedeutet,« entgegnete er, »daß Miß Halcombe gestern Morgen wohl genug war, um aufzusitzen und sich ankleiden zu lassen, und daß sie darauf bestand, die Gelegenheit zu benutzen und Fosco nach London zu begleiten.«

»Nach London!«

»Ja, auf der Durchreise nach Limmeridge!«

Lady Glyde wandte sich zu mir.

»Sie sahen Miß Halcombe zuletzt,« sagte sie. »Fanden Sie, daß sie aussah, als ob sie im Stande sein würde, in vierundzwanzig Stunden eine Reise anzutreten?«

» MeinerAnsicht nach nicht, Mylady.« Sir Percival wandte sich jetzt seinerseits ebenfalls zu mir.

»Haben Sie, ehe Sie abreisten,« sagte er, »zu der Wärterin geäußert, Miß Halcombe sehe weit wohler aus, oder haben Sie das nicht gesagt?«

»Die Bemerkung habe ich allerdings gethan, Sir Percival.

Er wandte sich wieder zu Mylady.

»Vergleiche die eine von Mrs. Michelson's Ansichten ruhig mit der anderen,« sagte er, »und versuche, vernünftig und klar über die Sache zu denken. Glaubst du, daß, falls sie nicht wohl genug gewesen wäre, wir riskirt hatten, sie reisen zu lassen? Sie hat drei zuverlässige Leute um sich – Fosco, deine Tante und Mrs. Rubelle, die ausdrücklich zu dem Zwecke mitreiste. Sie nahmen ein ganzes Coupé und machten auf dem einen langen Sitze ein Lager für sie, falls sie sich vom Aufsitzen ermüdet fühlen sollte. Heute setzen Fosco und Mrs. Rubelle mit ihr die Reise nach Cumberland fort.«

»Warum geht Marianne nach Limmeridge und läßt mich hier allein?« sagte Mylady.

»Weil dein Onkel dich nicht aufnehmen will, ohne vorher mit deiner Schwester gesprochen zu haben,« entgegnete er. »Hast du den Brief vergessen, den er ihr zu Anfang ihrer Krankheit schrieb? Man zeigte ihn dir doch – du lasest ihn und solltest dich dessen entsinnen.«

»Ich erinnere mich.«

»Warum wunderst du dich dann darüber, daß sie dich verlassen hat? Dich verlangt's, nach Limmeridge zurückzukehren, und deine Schwester ist hingereist, um dir deines Onkels Erlaubnis hiezu nach seinen eigenen Bedingungen zu verschaffen.«

Die Augen der armen Lady Glyde füllten sich mit Thränen.

»Marianne hat mich noch niemals verlassen,« sagte sie, »ohne mir Lebewohl zu sagen.«

»Sie würde dir auch diesmal Lebewohl gesagt haben,« entgegnete Sir Percival, »hätte sie nicht für dich und für sich selbst gefürchtet. Sie wußte, daß du suchen würdest, sie zurückzuhalten und daß du sie durch Thränen betrüben würdest. Hast du sonst noch Einwendungen zu machen? Dann mußt du hinunter kommen und mir deine Fragen im Eßzimmer vorlegen. Diese ewigen Quälereien langweilen mich. Ich muß ein Glas Wein haben.«

Er verließ uns plötzlich.

Seine Manier während dieser ganzen seltsamen Unterhaltung war vollkommen verschieden gewesen von dem, was sie gewöhnlich war. Er schien alle Augenblicke fast ebenso aufgeregt und ängstlich, wie seine Gemahlin selbst. Ich hätte mir nimmer gedacht, daß er so leicht außer Fassung zu bringen gewesen wäre.

Ich versuchte Lady Glyde zu überreden, in ihr Zimmer zurückzukehren; doch war dies nutzlos. Sie blieb im Vorsaale stehen und hatte das Aussehen, als ob sie von einem panischen Schrecken ergriffen sei.

»Es ist meiner Schwester etwas zugestoßen!« sagte sie.

»Bitte, bedenken Sie, Mylady, welche erstaunliche Energie Miß Halcombe besitzt,« sagte ich. »Sie ist wohl im Stande, eine Anstrengung zu machen, der andere Damen in ihrer Lage nicht gewachsen wären.«

»Ich muß Mariannen nachreisen,« sagte Mylady mit demselben erschrockenen Blicke. »Ich muß mit meinen eigenen Augen sehen, daß sie gesund ist. Kommen Sie! Kommen Sie mit mir zu Sir Percival hinunter.«

Ich zögerte, aus Furcht, daß meine Gegenwart als eine Zudringlichkeit angesehen werden mochte; ich wagte Mylady dies vorzustellen, aber sie war taub gegen mich. Sie hielt meinen Arm fest genug, um mich zu zwingen, sie hinunter zu begleiten, und hing sich mit all der wenigen Kraft, die ihr noch blieb, an mich, als ich die Thür des Eßzimmers für sie öffnete.

Sir Percival saß am Tische vor einer Caraffe Wein. Als wir eintraten, führte er das Glas an seine Lippen und leerte es in einem Zuge. Da ich bemerkte, daß er mich zornig anblickte, indem er es wieder niedersetzte, versuchte ich, eine Entschuldigung für meine Anwesenheit im Zimmer zu machen.

»Denken Sie etwa, daß hier Geheimnisse vorgehen?« rief er plötzlich aus, »da irren Sie sich – es ist hier nichts, das Ihnen oder sonst irgend Jemandem verhehlt würde.« Nachdem er diese seltsamen Worte mit lauter, strenger Stimme ausgesprochen, fragte er Lady Glyde, was sie von ihm wolle.

»Wenn meine Schwester im Stande ist, zu reisen, so bin ich es ebenfalls,« sagte Mylady mit größerer Festigkeit, als sie noch bisher gezeigt hatte. Ich bitte dich, mir zu erlauben, ihr sofort mit dem Nachmittagszuge nachzureisen.«

»Du wirst bis morgen warten müssen,« entgegnete Sir Percival, »und dann, wenn ich dich nicht vom Gegentheil unterrichte, kannst du reisen. Ich will deshalb mit der Abendpost an Fosco schreiben.«

»Wozu wolltest du an Graf Fosco schreiben?« frug sie im größten Erstaunen.

»Um ihm zu sagen, daß er dich mit dem Mittagszugs erwarten möge,« sagte Sir Percival. »Er wird dich an der Station empfangen und dich von da mitnehmen, damit du die Nacht im Hause deiner Tante in St. John's Wood schläfst.«

Lady Glyde's Hand fing heftig auf meinem Arme zu zittern an – ich begriff nicht warum.

»Es ist nicht nöthig, daß Graf Fosco mich auf der Station abholt,« sagte sie, »ich will die Nacht lieber in London bleiben.«

»Du kannst die ganze Reise nach Cumberland nicht in einem Tage machen, und ich will nicht, daß du allein in ein Hotel gehst. Fosco hat deinem Onkel das Anerbieten gemacht, dich in seinem Hause zu empfangen, und dein Onkel hat es angenommen. Da, da ist ein Brief von ihm an dich. Ich hätte ihn dir heute Morgen hinaufschicken sollen, aber ich vergaß es. Lies ihn und sieh, was Mr. Fairlie selbst dir darüber schreibt.«

Lady Glyde blickte den Brief einen Augenblick an und reichte ihn dann mir hin.

»Lesen Sie ihn,« sagte sie mit matter Stimme, »ich weiß nicht, was mir fehlt – ich kann ihn nicht selbst lesen.«

Das Billett war so kurz und theilnahmlos, daß ich darüber erstaunte. Falls mich mein Gedächtnis nicht täuscht, enthielt es nichts als folgende Worte:

»Liebste Laura – bitte, komm, sobald es dir gefällt, verkürze die Reise, indem du in London im Hause deiner Tante schläfst. Bedaure zu hören, daß die gute Marianne krank ist. Herzlich der deine, Frederick Fairlie

»Ich möchte lieber nicht dorthin gehen – ich möchte die Nacht lieber in London bleiben,« sagte Mylady eifrig. »Schreibe nicht an Graf Fosco! Bitte, bitte schreibe nicht an ihn!«

Sir Percival nahm nochmals die Weincaraffe zur Hand und füllte sein Glas, aber mit solchem Ungeschick, daß er es umstieß und den Wein über den Tisch hingoß. Er stellte das Glas wieder auf, füllte es und leerte es mit einemZuge. Ich begann, nach seinem Wesen und Aussehen, zu fürchten, daß ihm der Wein zu Kopf steige.

»Bitte, schreibe nicht an Graf Fosco,« bat Lady Glyde dringender denn je.

»Ich möchte wissen, warum nicht!« rief Sir Percival mit einem plötzlichen Zornesausbruchs aus, der uns Beide erschreckte, »wo kannst du wohl mit größerer Schicklichkeit die Nacht in London zubringen, als in dem Hause deiner Tante? Frage Mrs. Michelson.«

Das vorgeschlagene Arrangement war so ohne Frage das richtigste und passendste, daß ich durchaus nichts dagegen einwenden konnte. So sehr ich auch in anderen Beziehungen mit Lady Glyde sympatisirte, ihre ungerechten Vorurtheile gegen Graf Fosco konnte ich nicht theilen. Weder das Billett ihres Onkels noch Sir Percivals zunehmende Ungeduld schienen den geringsten Eindruck auf sie zu machen. Sie weigerte sich immer wieder, die Nacht in London zu bleiben und wiederholte ihre Bitten an ihren Gemahl, doch nicht an den Grafen Fosco zu schreiben.

»Hör' auf!« sagte Sir Percival, indem er uns unhöflich den Rücken zuwandte. »Ich habe es nun einmal so bestimmt und damit Punctum. Du sollst bloß thun, was Miß Halcombe bereits vor dir gethan –«

»Marianne!« wiederholte Mylady in verwirrtem Erstaunen, »Marianne hätte in Graf Fosco's Hause die Nacht zugebracht?!«

»Ja, sie schlief dort vergangene Nacht, um nicht die ganze Reise mit einem Male zu machen. Und du sollst ihrem Beispiele folgen und thun, was dein Onkel dir sagt. Du sollst morgen Abend in Fosco's Hause ausruhen, um die Reise zu verkürzen, wie deine Schwester gethan hat. Mache mir nicht zu viele Einwendungen, oder du wirst es noch dahin bringen, daß ich es bereue, dich überhaupt fortzulassen!«

Er sprang auf und ging schnell durch die offene Glasthür auf die Veranda hinaus.

Sobald wir Beide wieder oben angelangt waren, that ich mein Möglichstes, um Mylady zu beruhigen. Ich erinnerte sie daran, daß Mr. Fairlie's Briefe an Miß Halcombe das vorgeschriebene Verfahren nothwendig machten. Sie stimmte hierin mit mir überein und gab sogar zu, daß beide Briefe genau in dem eigenthümlichen Geiste ihres Onkels geschrieben seien – aber ihre Sorge um Miß Halcombe und ihre unbegreifliche Angst vor einer Nacht in Graf Fosco's Hause in London blieben ungeachtet all meiner dringenden Gegenvorstellungen, dieselben. Ich hielt es für meine Pflicht, gegen Lady Glyde's ungünstige Meinung von Sr. Gnaden zu protestiren.

»Mylady werden mir verzeihen, daß ich mir die Freiheit nehme,« bemerkte ich zum Schlusse, »aber des Grafen unausgesetzte Güte und Aufmerksamkeit gleich vom Anfang von Miß Halcombe's Krankheit an verdienen wirklich unser ganzes Zutrauen und die größte Achtung. Selbst Sr. Gnaden ernstliche Entzweiung mit Mr. Dawson war ganz und gar seiner Sorge um Miß Halcombe zuzuschreiben.«

»Welche Entzweiung?« frug Mylady mit einem plötzlichen Ausdrucke des Interesses.

Ich theilte ihr die unglücklichen Umstände mit, unter welchen Mr. Dawson sich zurückgezogen hatte.

Mylady stand heftig und allem Anscheine nach durch das, was ich ihr erzählt, doppelt beunruhigt auf.

»Dies ist schlimmer noch, als ich gedacht hatte!« sagte sie, indem sie in höchster Bestürzung im Zimmer auf und ab ging. »Der Graf wußte, daß Mr. Dawson nimmermehr in Mariannes Reise willigen würde, und beleidigte ihn absichtlich, um ihn aus dem Hause zu schaffen.«

»O Mylady! Mylady!« sagte ich in vorstellendem Tone.

»Mrs. Michelson!« fuhr sie heftig fort, »keine Worte werden mich überzeugen, daß meine Schwester sich mit ihrer Zustimmung im Hause und in der Gewalt jenes Mannes befindet. Mein Entsetzen vor ihm ist der Art, daß nichts, was Sir Percival sagen oder mein Onkel schreiben konnte, mich bewegen sollte – falls ich bloß meine eigenen Gefühle zu berücksichtigen hätte – unter seinem Dache zu schlafen. Aber meine Angst der Ungewißheit um Mariannen gibt mir den Muth, ihr zu folgen, wohin es auch sei – ja selbst bis in Graf Fosco's Haus.«

Ich hielt es hier für recht zu erwähnen, daß Miß Halcombe nach Sir Percivals Angabe bereits nach Cumberland abgereist sein müsse.

»Ich wage es nicht zu glauben!« entgegnete Mylady. »Ich fürchte, sie ist noch immer in jenes Mannes Hause. Falls ich mich täusche – falls sie wirklich schon auf dem Wege nach Limmeridge ist – bin ich entschlossen, morgen Nacht nicht unter Graf Fosco's Dache zu schlafen. Die liebste Freundin, die ich, nächst meiner Schwester, in der Welt besitze, wohnt nahe bei London. Sie haben mich und Miß Halcombe doch von Mrs. Vesey sprechen hören? Ich werde an sie schreiben und ihr sagen, daß ich die Nacht in ihrem Hause zubringen will. Ich weiß nicht, wie ich dem Grafen ausweichen soll, aber zu ihr will ich fliehen, sollte meine Schwester bereits nach Cumberland abgereist sein. Alles, worum ich Sie bitte, ist, daß sie Sorge tragen, daß mein Brief an Mrs. Vesey sicher heute Abend nach London abgeht. Ich habe Grund, mich nicht auf die Posttasche zu verlassen. wollen sie mein Geheimnis bewahren und mir hierin helfen? Es wird vielleicht die letzte Gefälligkeit sein, um die ich sie je ersuchen werde.«

Ich zögerte, ich fürchtete beinahe, daß Myladys Geist durch die kürzlich ausgestandenen Sorgen und Leiden ein wenig zerrüttet sei. Doch endete ich damit, daß ich auf eigene Gefahr hin einwilligte. Ich danke Gott – wenn ich bedenke, was sich später ereignete – ich danke Gott, daß ich Lady Glyde weder diesen noch irgend einen anderen Wunsch versagte, den sie während dieses letzten Tages ihres Aufenthaltes in Blackwater Park aussprach.

Sie schrieb den Brief und übergab ihn mir. Abends trug ich ihn selbst in's Dorf und that ihn in den Briefkasten.

Wir hatten während des ganzen übrigen Tages Sir Percival nicht wieder zu Gesicht bekommen. Ich schlief auf Lady Glyde's Wunsch in dem Zimmer neben dem ihrigen, und die Thür zwischen beiden Zimmern blieb offen stehen. Mylady blieb spät auf, indem sie beschäftigt war, Briefe zu lesen und zu verbrennen und aus ihren Auszügen und Schränkchen kleine Gegenstände, die ihr Werth waren, herauszunehmen, als ob sie nicht erwarte, je nach Blackwater Park zurückzukehren. Ihr Schlaf war sehr unruhig: sie schrie mehrere Male laut auf. Ich war sehr bekümmert um sie.

Der folgende Tag war schön und sonnenhell. Sir Percival kam nach dem Frühstück zu uns herauf und benachrichtigte uns, daß der Wagen um ein Viertel vor zwölf Uhr vor der Thür sein werde – der Zug, mit dem wir nach London gehen wollen, hielt zwanzig Minuten nach zwölf bei unserer Station an. Er sagte, er sei genöthigt, auszugehen, fügte aber hinzu, daß er vor ihrer Abreise zurück zu sein hoffe. Falls er aber durch irgend einen Zufall hieran verhindert würde, so sollte ich sie nach der Station begleiten. Sir Percival gab uns diese Instruction, indem er sehr hastig sprach und fortwährend aufgeregt im Zimmer auf und ab ging. Mylady blickte ihm aufmerksam nach, wohin er ging. Er sah sie nicht ein einziges Mal an.

Sie hielt ihn zurück, als er aus der Thür gehen wollte, indem sie ihm die Hand hinreichte.

»Ich werde dich nicht mehr sehen,« sagte sie sehr deutlich; »hier scheiden wir – vielleicht auf immer, willst du versuchen, mir zu vergeben, Percival, so von Herzen, wie ich dir vergebe?«

Es zog sich eine furchtbare Blässe über sein Gesicht, und große Schweißperlen standen ihm auf der kahlen Stirn. »Ich werde zurückkommen,« sagte er und eilte nach der Thür, als ob die Worte seiner Frau ihn hinausgesagt hätten.

Ich wollte der armen Dame ein paar trostreiche, christliche Worte sagen, aber es lag etwas in ihrem Gesichte, als sie ihrem Manne nachblickte, bis er die Thür hinter sich geschlossen hatte, das mich umstimmte und zu schweigen bewog.

Zur bestimmten Zeit fuhr der Wagen vor. Mylady hatte Recht: Sir Percival kam nicht zurück.

Es ruhte keine Verantwortlichkeit auf mir und doch war ich unruhigen Geistes. »Es ist doch Myladys freier Wille,« sagte ich, als wir durch das Thor fuhren, »daß Sie jetzt nach London reisen?«

»Ich würde hingehen, wohin man wollte, um die furchtbare Ungewißheit zu enden, die ich in diesem Augenblicke erdulde!« entgegnete sie.

Sie hatte es dahin gebracht, daß ich fast ebenso unruhig und besorgt um Miß Halcombe geworden, wie sie selbst. Ich wagte, sie um eine Zeile der Nachricht zu bitten, falls in London Alles gut ginge. Sie antwortete:

»Sehr gern, Mrs. Michelson.«

»Ich fürchte, Mylady schliefen schlecht in der Nacht,« bemerkte ich nach einer kleinen Weile. »Ja,« sagte sie, »ich wurde durch furchtbare Träume gestört.« »Wirklich, Mylady?« Ich dachte, sie sei im Begriffe, mir ihre Träume zu erzählen; aber nein; als sie das nächste Mal wieder sprach, war es, um eine Frage zu thun. »Haben Sie den Brief an Mrs. Vesey mit eigener Hand in die Post gethan?«

»Ja Mylady«.

»Sagte Sir Percival gestern, daß der Graf Fosco mich an der Station in London empfangen werde?«

»Ja, Mylady.«

Sie seufzte schwer auf, als ich diese letzte Antwort gab, und sagte nichts weiter.

Wir kamen kaum zwei Minuten vor Abgang des Zuges auf der Station an. Der Gärtner, welcher uns gefahren hatte, sah nach dem Gepäcke, während ich Myladys Billett besorgte. Es wurde bereits zur Abfahrt gepfiffen, als ich zu Mylady auf den Perron zurückkehrte. Sie sah sehr seltsam aus und preßte plötzlich die Hand auf's Herz, wie wenn sie ein heftiger Schmerz oder Schreck durchfahren hätte.

»Ich wollte, Sie kämen mit mir!« sagte sie, mich hastig beim Arme ergreifend, als ich ihr das Billett übergab.

Wäre noch Zeit dazu gewesen und hätte ich den Tag vorher gefühlt, was ich jetzt fühle, so würde ich meine Vorbereitungen getroffen haben, um sie zu begleiten, selbst wenn ich dadurch genöthigt worden wäre, Sir Percival auf der Stelle meine Dienste aufzukündigen. So aber wurden ihre Wünsche mir zu spät bekannt, um ihnen zu willfahren. Sie schien dies selbst einzusehen und wiederholte ihren Wunsch nicht. Der Zug hielt vor dem Perron. Sie gab dem Gärtner, ehe sie in den Waggon stieg, ein Geschenk für seine Kinder und reichte mir auf ihre einfache, herzliche Weise die Hand.

»Sie sind sehr freundlich gegen mich und meine Schwester gewesen,« sagte sie, »sehr freundlich, da wir Beide freundlos waren. Ich werde mich ihrer dankbar erinnern, solange ich mich noch an irgend etwas werde erinnern können. – Adieu – und Gott segne Sie!«

Sie sprach diese Worte in einem Tone und mit einem Blicke, daß mir darüber die Thränen in die Augen traten – sie sprach sie, als ob sie mir auf immer Lebewohl sagte.

Sie schauderte zusammen, als sie sich in den Wagen setzte. Der Schaffner schloß die Thür. »Glauben sie an Träume?« flüsterte sie mir durch's Fenster zu. »Meine Träume in der vorigen Nacht waren solche, wie ich sie noch nie gehabt habe und das Entsetzen derselben verfolgt mich noch immer.«

Es wurde gepfiffen, ehe ich noch etwas erwidern konnte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Ihr weißes, ruhiges Gesicht sah mich an – schaute mich noch einmal durch's Fenster kummervoll und feierlich an – sie winkte mit der Hand – und ich sah sie nicht mehr.

Gegen fünf Uhr an demselben Nachmittage machte ich einen kleinen Gang durch den Garten. Sir Percival war, soviel mir bekannt, noch nicht zurückgekehrt, und ich brauchte daher keinen Anstand zu nehmen, mich in den Parkanlagen sehen zu lassen.

Als ich um die Ecke des Hauses bog und den Garten sehen konnte, war ich überrascht, eine fremde Person darin spazierengehen zu sehen. Es war eine Frau, die langsam, den Rücken mir zugewendet, dem Pfade entlang ging und Blumen pflückte.

Als ich näher herankam, hörte sie mich und wandte sich um.

Mein Blut erstarrte mir in meinen Adern. Die fremde Person im Garten war Mrs. Rubelle.

Ich konnte mich weder rühren noch sprechen. Sie trat so gelassen, wie immer, mit den Blumen in der Hand zu mir heran.

»Was gibt es, Madame?« frug sie ganz ruhig.

»Sie hier?« sagte ich mühsam. »Nicht in London! Nicht in Cumberland?«

Mrs. Rubelle athmete mit einem Lächeln maliciösen Mitleids den Duft ihrer Blumen ein.

»Gewiß nicht,« sagte sie. »Ich habe Blackwater Park keinen Augenblick verlassen.«

Ich sammelte Muth und Athem zu einer zweiten Frage.

»Wo ist Miß Halcombe?«

Mrs. Rubelle lachte mir diesmal gerade in's Gesicht und antwortete:

»Miß Halcombe, Madame, hat Blackwater Park ebenfalls nicht verlassen.«

Miß Halcombe hatte Blackwater Park nicht verlassen!

Als ich diese Worte hörte, hätte ich gern die sauren Ersparnisse von vielen Jahren darum gegeben, wenn ich vier Stunden früher gewußt hätte, was ich jetzt wußte.

Mrs. Rubelle stand ruhig da und machte sich mit ihren Blumen zu schaffen, als ob sie erwarte, daß ich etwas sagen werde.

Ich konnte nichts sagen. Ich dachte an Lady Glyde's erschöpfte Kräfte und schwache Gesundheit und zitterte bei dem Gedanken an den Augenblick, wo der Schlag dieser Entdeckung auf sie fallen würde. Meine Befürchtungen für die gute Dame ließen mich ein paar Minuten völlig verstummen. Nach Verlauf derselben blickte Mrs. Rubelle seitwärts von ihren Blumen auf und sagte: »Hier kommt Sir Percival von seinem Ritte zurück, Madame.«

Er kam auf uns zu, indem er grimmig mit der Reitpeitsche in die Blumen hieb. Als er nahe genug herangekommen war, um mein Gesicht zu sehen, stand er still, schlug mit der Peitsche an seine Stiefeln und brach in ein rauhes, widriges Lachen aus.

»Nun, Mrs. Michelson,« sagte er, »sind Sie endlich dahinter gekommen?«

Ich erwiderte nichts, und er wandte sich gegen Mrs. Rubelle.

»Wann ließen Sie sich im Garten sehen?«

»Vor ungefähr einer halben Stunde, Sir. Sie sagten, ich könne meine Freiheit haben, sobald Lady Glyde nach London abgereist ist.

»Ganz recht.« Er wandte sich dann wieder zu mir. »Sie können's nicht glauben, wie?« sagte er spöttisch. »Hier! kommen Sie mit und sehen Sie es selbst.«

Er ging voran bis zur Vorderseite des Hauses. Ich folgte ihm und Mrs. Rubelle mir. Nachdem wir durch die eisernen Thore gegangen, stand er still und wies mit der peitsche auf das unbewohnte Centrum des Gebäudes.

»Da!« sagte er, »sehen Sie nach den Fenstern der ersten Etage hinauf. Sie wissen die alten Elisabethischen Schlafzimmer? Miß Halcombe befindet sich in diesem Augenblicke sicher und gemüthlich in dem besten derselben. Führen Sie sie hinein, Mrs. Rubelle, (Sie haben doch Ihren Schlüssel?) führen Sie Mrs. Michelson hinein, damit ihre eigenen Augen sie überzeugen, daß diesmal keine Täuschung stattfindet.«

Der Ton, in welchem er zu mir sprach, und die wenigen Minuten, die verflossen waren, seit wir den Garten verlassen, halfen mir, mich wieder zu sammeln. Da ich die Grundsätze und Erziehung einer gebildeten Dame besaß, konnte ich natürlich über mein weiteres Verhalten keinen Augenblick im Zweifel sein. Meine Pflicht gegen mich selbst wie gegen Lady Glyde verboten mir, im Dienste eines Mannes zu bleiben, der uns Beide auf so schnöde Weise hintergangen hatte.

»Ich muß um Erlaubnis bitten, Sir Percival,« sagte ich, »ein paar Worte allein mit Ihnen sprechen zu dürfen. Ich werde danach bereit sein, mit dieser Frau zu Miß Halcombe zu gehen.«

Mrs. Rubelle, auf welche ich mit einer leichten Kopfbewegung hingedeutet hatte, ging mit ihrer gewohnten Gelassenheit der Hausthür zu.

»Nun,« sagte Sir Percival scharf, »was gibt's jetzt?«

»Ich wünsche Ihnen anzukündigen, Sir, daß ich das Amt, welches ich augenblicklich in Blackwater Park bekleide, hiemit niederlege.«

Er betrachtete mich mit einem seiner finstersten Blicke und fuhr wüthend mit den Händen in die Taschen seines Reitrockes.

»Warum?« sagte er, »ich möchte wissen, warum?«

»Es steht mir nicht zu, Sir Percival, eine Meinung über das abzugeben, was sich in diesem Hause zugetragen hat. Ich wünsche Niemanden zu beleidigen, sondern bloß zu bemerken, daß ich es nicht mit meiner Pflicht gegen Lady Glyde und gegen mich selbst vereinbar halte, länger in Ihren Diensten zu bleiben.«

»Ist es mit Ihrer Pflicht gegen mich vereinbar, dazustehen und geradezu Verdacht auf mich zu werfen?« schrie er auf seine allerheftigste Art. »Ich seh' schon, wo Sie hinaus wollen. Sie haben sich Ihre eigene gemeine, hinterlistige Ansicht über eine unschuldige Täuschung gebildet, die zu ihrem eigenen Besten gegen Lady Glyde begangen worden. Es war durchaus nothwendig für ihre Gesundheit, daß sie sofort eine Luftveränderung genösse – und Sie wissen so gut wie ich, daß sie nimmer gegangen wäre, solange sie Miß Halcombe noch hier wußte. Sie ist zu ihrem eigenen Besten getäuscht worden, und Jeder mag das wissen. Gehen Sie, wenn Sie wollen, aber nehmen Sie sich in Acht, wie Sie mich und meine Angelegenheiten verlästern, sobald Sie einmal aus meinem Dienste sind. Sagen Sie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, oder es soll Ihnen schlimm ergehen! Sehen Sie Miß Halcombe selbst und überzeugen Sie sich, ob sie nicht in dem einen Theile des Hauses so gute Pflege genossen hat, wie in dem anderen. Denken Sie an des Doctors eigene Worte, daß Lady Glyde sobald wie möglich eine Luftveränderung genießen müsse. Denken Sie an alles dies und dann wagen Sie es, etwas gegen mich und mein Verfahren zu sagen!«

Er entlud sich dieser Worte mit einer wahren Wuth, wobei er auf und ab ging und mit der peitsche in der Luft umher hieb.

Doch konnte nichts, was er sagte, meine Meinung über die Reihe abscheulicher Unwahrheiten schwankend machen, welche er am gestrigen Tage in meiner Gegenwart gesprochen, noch in meinen Gefühlen über die grausame Täuschung, durch welche er Lady Glyde von ihrer Schwester getrennt hatte, eine Aenderung bewirken. Ich behielt diese Gedanken natürlich für mich, aber ich war entschlossen, meine ausgesprochene Absicht auszuführen.

»Solange ich in Ihren Diensten bin, Sir Percival,« sagte ich, »hoffe ich hinlänglich meine Pflicht zu kennen, um mich nicht um Ihre Beweggründe zu bekümmern. Sobald ich aber Ihren Dienst verlassen haben werde, denke ich meine Stellung gut genug zu kennen, um nicht über Dinge zu sprechen, die mich nichts angehen –«

»Wann wollen Sie fort?« unterbrach er mich.

»Ich möchte gehen, sobald es Ihnen nur paßte, Sir Percival.«

»Ich werde morgen Früh das Haus ganz und gar verlassen und kann heute Abend mit Ihnen abschließen. Falls Sie auf irgend Jemanden Rücksichten zu nehmen wünschen, so können Sie es für Miß Halcombe thun. Mrs. Rubelle's Zeit ist heute abgelaufen und sie hat Ursache, zu wünschen, schon heute Abend in London zu sein. Falls Sie gleich abgehen, so wird kein lebendes Wesen da sein, um nach Miß Halcombe zu sehen.«

Ich hoffe, es ist unnöthig zu sagen, daß es nicht in meiner Natur lag, Lady Glyde und Miß Halcombe in einer Lage zu verlassen, wie die, in der sie sich jetzt befanden. Nachdem ich mir erst entschieden von Sir Percival die Versicherung hatte geben lassen, daß Mrs. Rubelle sofort abreisen werde, falls ich ihre Stelle übernähme und ferner seine Erlaubnis erhalten, Mr. Dawson zu seiner Patientin zurückzurufen, gab ich bereitwillig meine Zustimmung, in Blackwater Park zu bleiben, bis Miß Halcombe meiner Dienste nicht länger bedürfen würde. Es wurde ausgemacht, daß ich Sir Percivals Advocaten eine Woche vorher davon benachrichtigte, sobald ich fortzugehen wünschte, und daß derselbe die nothwendigen Anstalten treffen solle, eins Stellvertreterin für mich einzusetzen.

Sir Percival, schon im Begriffe zu gehen, wandte sich noch einmal nach mir um.

»Weshalb verlassen Sie meinen Dienst?« fragte er. Diese Frage war nach dem, was soeben zwischen uns vorgegangen, so merkwürdig, daß ich kaum wußte, was ich darauf erwidern sollte.

»Denken Sie an dies: ich weiß es nicht, weshalb Sie fortgehen«, fuhr er fort. »Sie werden aber vermutlich einen Grund dafür angeben müssen, wenn Sie eine neue Stelle antreten wollen. Was ist Ihr Grund? Das Auseinandergehen der Familie? Ist es das?«

»Ich habe nichts Entschiedenes dagegen, Sir Percival, dies als den Grund –«

»Schon gut! Das ist alles, was ich wissen wollte. Wenn man sich also bei Ihnen erkundigt, so ist das der Grund, den Sie selbst dafür angegeben haben. Sie gehen ab in Folge des Auseinandergehens der Familie.«

Er wandte sich wieder um, ehe ich noch ein Wort erwidern konnte und ging mit schnellen Schritten, den Anlagen zu. Sein Wesen war ebenso sonderbar wie seine Reden.

»Selbst Mrs. Rubelle's Geduld war erschöpft, als ich mich an der Hausthür zu ihr gesellte.

»Endlich!« sagte sie, indem sie mit ihren mageren Achseln zuckte. Sie ging voran in den bewohnten Theil des Hauses, dann die Treppe hinauf und öffnete mit ihrem Schlüssel die Thür am Ende des Corridors, welcher zu den alten Elisabethischen Zimmern führte – eine Thür, die noch nie geöffnet worden, solange ich in Blackwater Park gewesen. Die Zimmer selbst waren mir wohl bekannt, da ich sie zu verschiedenen Gelegenheiten von der anderen Seite des Hauses aus betreten hatte. Mrs. Rubelle stand an der dritten Thür in der alten Gallerie still, überreichte mir den Schlüssel zu derselben sowie den Schlüssel zur Verbindungsthür und sagte mir, ich würde Miß Halcombe in diesem Zimmer finden. Ehe ich hineinging, erachtete ich es als zweckmäßig, ihr zu verstehen zu gebe», daß man ihrer Aufwartung nicht mehr bedürfe, und benachrichtigte sie mit wenigen kurzen Worten, daß die Pflege der kranken Dame hinfort gänzlich mir anheimfalle.

»Ich freue mich es zu hören, Madame,« sagte Mrs. Rubelle. »Ich sehne mich sehr danach, zu gehen.«

»Werden sie heute abreisen?« fragte ich, um meiner Sache gewiß zu sein.

»Jetzt, da Sie die Pflege übernommen haben, Madame, werde ich in einer halben Stunde den Ort verlassen. Sir Percival hat die Güte gehabt, den Wagen und den Gärtner zu meiner Disposition zu stellen. Ich werde ihrer in einer halben Stunde bedürfen, um nach der Station zu fahren. Ich habe in Erwartung dessen bereits eingepackt. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Madame.«

Sie machte einen flinken Knix und ging die Gallerie entlang, wobei sie eine Melodie vor sich hinsummte. Ich sage es mit aufrichtiger Dankbarkeit, daß dies das letzte war, was ich von Mrs. Rubelle sah.

Als ich in's Zimmer trat, fand ich, daß Miß Halcombe schlief. Ich betrachtete sie mit Besorgnis, während sie in dem finsteren, hohen, altmodischen Bette dalag. Jedenfalls hatte sich ihr Zustand, dem Aussehen nach zu urtheilen, nicht verschlimmert, seit ich sie zuletzt gesehen, und ich muß zugeben, daß, soviel ich sehen konnte, man sie nicht vernachlässigt hatte. Das Zimmer war traurig, staubig und finster; aber das Fenster (welches auf den einsamen Hof an der Hinterseite des Hauses hinausging) war geöffnet, um die frische Luft einzulassen, und Alles, was geschehen konnte, um die Stube wohnlich zu machen, war gethan worden. Die ganze Grausamkeit des von Sir Percival ausgeübten Betruges war auf die arme Lady Glyde gefallen. Das Einzige, worin er oder Mrs. Rubelle Miß Halcombe schlecht behandelt, war, soviel ich bemerken konnte, der Umstand, daß sie dieselbe versteckt hatten.

Ich schlich mich wieder hinaus, während die kranke Dame noch in sanftem Schlummer lag, um dem Gärtner meine Weisungen zu geben. Ich bat ihn, nachdem er Mrs. Rubelle werde nach der Station gebracht haben, bei Mr. Dawson vorzufahren und ihn mit meiner Empfehlung zu bitten, zu mir zu kommen. Ich wußte, daß er meinet wegen kommen würde, sobald er erfuhr, das Graf Fosco das Haus verlassen.

Im Verlaufe der Zeit kehrte der Gärtner zurück und sagte, der Doctor befinde sich selbst nicht wohl, wolle aber womöglich am folgenden Morgen zu mir kommen.

Als er seine Botschaft ausgerichtet, war er im Begriffe zu gehen, aber ich hielt ihn zurück, um ihn zu bitten, die Nacht in einem der leeren Schlafzimmer zu wachen, damit ich ihn rufen könne, falls irgend etwas vorfallen sollte. Er begriff vollkommen, wie ungern ich die ganze Nacht allein in diesem einsamsten Theile des verlassenen Hauses zubringen würde, und willigte bereitwillig ein, zwischen acht und neun Uhr wiederzukommen. Er kam pünktlich, und ich hatte alle Ursache, mir zu der Vorsicht Glück zu wünschen, die mich ihn hatte bestellen lassen. Noch vor Mitternacht brach Sir Percivals seltsame Wuth auf die heftigste und beunruhigendste Weise aus und wäre nicht der Gärtner da gewesen, um ihn zu besänftigen, fürchte ich mich, zu denken, was hätte geschehen können.

Er war während des ganzen Nachmittags und Abends mit unstetem, aufgeregtem Wesen im Hause und im Garten umhergewandert, nachdem er, wie mir's schien, bei seinem einsamen Diner eine übermäßige Menge Wein getrunken. Ich hörte seine Stimme im neuen Flügel des Hauses laut und zornig ausrufen, als ich, gerade, ehe ich zu Bett gehen wollte, einen Gang durch die Gallerie machte. Der Gärtner lief augenblicklich zu ihm hinunter, und ich schloß schnell die Verbindungsthür, damit der Lärm nicht bis zu Miß Halcombe dringen und sie wecken möge. Es währte eine gute halbe Stunde, ehe der Gärtner zurückkam. Er meinte, sein Herr sei gänzlich von Sinnen – nicht durch die Aufregung vom Weine, wie ich vermuthet hatte, sondern durch eine Art Furcht oder Geistesangst, die wir uns auf keine Weise erklären konnten. Er hatte Sir Percival in dem Flur gefunden, wo er heftig auf und ab ging, indem er mit jedem Anzeichen der leidenschaftlichsten Wuth schwor, er wolle keine Minute länger in einem solchen alten Kerker, wie es sein eigenes Haus sei, bleiben und die erste Station seiner Reise sofort mitten in der Nacht antreten. Er hatte den Gärtner, als dieser sich ihm genähert, mit Flüchen und Drohungen hinausgetrieben und ihm befohlen, augenblicklich anzuspannen und den Wagen vor die Thür zu bringen. Eine Viertelstunde später war Sir Percival zu ihm in den Hof gekommen, auf den Wagen gesprungen und, indem er das Pferd zum Galop gepeitscht, sei er im Mondenlichte mit kreideweißem Gesichte davongefahren. Der Gärtner hatte dann gehört, wie er dem Parkthorhüter zugeschrieen und auf ihn geflucht hatte, weil er nicht schnell genug herausgekommen, um das Thor zu öffnen, und dann, wie die Räder im rasenden Laufe wieder weiter gerollt – worauf Alles still geworden – und weiter wußte er nichts.

Ein paar Tage später hatte der Stallknecht aus dem alten Wirthshause zu Knowlesbury – unserer nächsten Stadt – den Wagen wieder zurückgebracht. Sir Percival hatte dort angehalten und war später mit dem Bahnzuge weiter gereist – wohin, konnte der Mann uns nicht sagen. Sir Percival Glyde und ich sind einander nicht mehr begegnet, seit jener Nacht, wo er wie ein ausbrechender Uebelthater aus seinem eigenen Hause entfloh, und es ist mein inbrünstiges Gebet, daß wir einander auch nie wieder begegnen mögen.

Mein eigener Antheil an dieser traurigen Familiengeschichte naht jetzt seinem Ende.

Man hat mir gesagt, daß die Einzelheiten in Bezug auf Miß Halcombe's Erwachen und auf das, was sich zwischen uns zutrug, als sie mich an ihrem Bette sitzen fand, für den Zweck meiner gegenwärtigen Aussage nicht von Wichtigkeit sind. Es wird genügen, wenn ich hier erwähne, daß sie selbst sich der Art und Weise unbewußt war, auf welche man sie von dem bewohnten Theile des Hauses nach dem unbewohnten geschafft hatte. Sie mußte zur Zeit in einem tiefen Schlafe gewesen sein, ob derselbe aber ein natürlicher oder künstlich herbeigeführter, war sie nicht im Stande zu sagen, während meiner Abwesenheit in Torquay und der aller Diener vom Hause (mit Ausnahme von Margaret Porcher), war die heimliche Wegschaffung Miß Halcombe's von einem Theile des Hauses zum anderen bewerkstelligt worden. Mrs. Rubelle hatte (wie ich entdeckte, da ich mich im Zimmer umsah) Mundvorräthe und sonstige Erfordernisse, während der wenigen Tage ihrer Gefangenschaft mit der kranken Dame oben gehabt. Sie hatte sich geweigert, die Fragen zu beantworten, welche Miß Halcombe ihr natürlicherweise vorlegte, doch hatte sie die letztere in anderer Beziehung weder mit Unfreundlichkeit noch Vernachlässigung behandelt. Die Schande, sich zu einem so abscheulichen Betruge hergegeben zu haben, ist die einzige, welcher ich Mrs. Rubelle mit Gewissenhaftigkeit anklagen kann.

Man verlangt keine Einzelheiten von mir (und es ist dies eins große Erleichterung für mich) über die Wirkung der Nachricht von Lady Glyde's Abreise auf Miß Halcombe oder der weit traurigeren Nachrichten, welche wir nur zu bald darauf in Blackwater Park erhielten. Ich bereitete sie in beiden Fällen so zart und sorgfältig wie möglich darauf vor, indem ich nur in dem letzteren den Rath des Arztes als Leitung hatte, da Mr. Dawson während mehrerer Tage zu unwohl gewesen, um zu kommen, als ich zu ihm geschickt. Es war eine traurige Zeit, an die zu denken mich noch jetzt betrübt. Die kostbaren Segnungen religiösen Trostes, durch welche ich Miß Halcombe aufzurichten suchte, wollten lange nicht bis in ihr Herz eindringen; aber ich hoffe und glaube, daß sie endlich doch Platz darin gefunden. Ich verließ sie nicht, bis sie völlig wiederhergestellt war. Der Zug, mit dem ich jenes unglückselige Haus verließ, war derselbe, der auch sie fortführte, wir trennten uns mit sehr traurigen Gefühlen in London. Ich ging zu einer Verwandten in Islington. und Miß Halcombe reiste nach Cumberland zu Mr. Fairlie.

Ich wünsche hiemit meine eigene feste Ueberzeugung auszusprechen, daß in den soeben von mir mitgetheilten Ereignissen durchaus kein Tadel irgend einer Art auf den Grafen Fosco fällt. Man sagt mir, daß ein furchtbarer Verdacht gehegt und über Sr. Gnaden Betragen sehr ernste Betrachtungen angestellt werden. Doch bleibt mein Glaube an des Grafen Unschuld völlig unerschüttert. Falls er sich mit Sir Percival vereinigte, um mich nach Torquay zu schicken, so that er dies in einem Irrthum befangen, für den er als Fremder nicht getadelt werden kann. Falls er dazu beitrug, daß Mrs. Rubelle nach Blackwater Park kam, so war es sein Unglück und nicht seine Schuld, wenn diese Ausländerin schlecht genug war, sich an einem Betruge zu betheiligen, den der Herr des Hauses erdachte und ausführte. Ich protestire im Interesse der Moralität dagegen, daß leichtfertigerweise und unverdientermaßen das Verhalten des Grafen Fosco in Frage gezogen werde.

Zweitens wünsche ich, mein aufrichtiges Bedauern darüber auszusprechen, daß ich nicht im Stande bin, mich genau des Datums zu erinnern, an welchem Lady Glyde Blackwater Park verließ, um nach London zu reisen. Ich höre, daß die genaue Angabe des Tages, an welchem diese beklagenswerthe Reise unternommen wurde, von der größten Wichtigkeit ist und habe mein Gedächtnis deshalb auf das Gewissenhafteste angestrengt; aber leider vergeblich. Ich kann mich nur noch entsinnen, daß es gegen Ende Juli war. Ich wünsche von ganzem Herzen, ich hätte es mir damals notirt oder daß meine Erinnerung an das Datum noch so lebhaft wäre wie meine Erinnerung an das Gesicht der armen Dame, als es mich zum letzten Male kummervoll durch's Wagenfenster anblickte.

 

Aussage der Hester Pinhorn, Köchin im Dienste des Grafen Fosco.

(Nach ihrer eigenen Aussage niedergeschrieben.)

Ich bedaure, sagen zu müssen, daß ich nie weder lesen noch schreiben gelernt habe. Ich habe mein Lebelang schwere Arbeit zu thun gehabt und mir stets einen guten Ruf bewahrt. Ich weiß, daß es sündhaft und gottlos ist, etwas zu sagen, was nicht wahr ist, und ich will mich aufrichtig vorsehen, so etwas bei dieser Gelegenheit zu thun. Ich will Alles sagen, was ich weiß, und den Herrn, der dies aufschreibt, ergebenst gebeten haben, meine Sprache zu berichtigen, während er schreibt.

Während dieses letzten Sommers war ich zufälligerweise (und ganz ohne meine Schuld) einige Zeit ohne Stelle; dann hörte ich, daß man in Numero 5°, Forest Road, St. John's Wood, eine Köchin suche. Ich nahm die Stelle auf den Versuch an. Der Name meines Herrn war Fosco. Meine gnädige Frau war eine Engländerin. Er war ein Graf und sie eine Gräfin. Als ich hinkam, hatten sie ein Mädchen, das die Stubenarbeit that. Sie war nicht besonders reinlich oder ordentlich, aber sonst war weiter nichts Böses an ihr. Ich und sie waren die einzige Dienerschaft im Hause.

Ich war noch nicht lange in meiner neuen Stelle gewesen, als das Stubenmädchen zu mir in die Küche kam und mir sagte, es werde Besuch vom Lande erwartet. Dies war die Nichte meiner gnädigen Frau und es wurde das Schlafzimmer in der ersten Etage für sie hergerichtet. Meine gnädige Frau sagte mir, daß Lady Glyde (so hieß ihre Nichte) eine schwache Gesundheit habe und daß ich mich im Kochen danach einrichten möge. Sie sollte am folgenden Tage eintreffen oder vielleicht den Tag darauf oder auch noch später. Alles was ich weiß, ist, daß es allerdings nicht lange währte, bis Lady Glyde ankam und zwar verursachte sie uns gleich bei ihrer Ankunft einen schönen Schrecken! Ich weiß nicht, auf welche Art der Herr sie in's Haus brachte. Aber mich dünkt, es war Nachmittags, daß sie ankamen, und das Stubenmädchen öffnete ihnen die Hausthür und führte sie in die Wohnstube. Ehe sie noch lange wieder unten bei mir in der Küche gewesen, hörten wir oben ein Specktakel und ein tolles Klingeln und die Stimme meiner gnädigen Frau, die um Hilfe schrie.

Wir rannten Beide hinauf und da sahen wir die Dame auf den, Sopha liegen, mit todtenbleichem Gesichte und geballten Händen und den Kopf auf eine Seite herunter hängend. Sie hatte einen plötzlichen Schrecken gehabt, sagte meine gnädige Frau, und der Herr sagte, es seien Zufälle und Confusionen. Ich lief hinaus, um den nächsten Doctor zu Hilfe zu rufen. Die nächsten Doctoren waren Goodricke und Garth, die Zusammen prakticirten und im ganzen St. John's Wood einen guten Ruf haben.

Mr. Goodricke war zu Hause und kam gleich mit mir.

Die arme, unglückliche Dame fiel immer aus einer Ohnmacht in die andere, daß sie ganz erschöpft und so machtlos wurde, wie ein neugeborenes Kind. Dann legten wir sie in's Bett. Mr. Goodricke ging nach Hause, um Medicin zu holen und kam in weniger als einer Viertelstunde wieder zurück. Außer der Medicin brachte er noch ein Stückchen hohlen, Mahagoniholzes mit, das wie eine Trompete geformt war, und nachdem er eine kleine Weile gewartet, hielt er es mit einem Ende auf das Herz der Dame und mit dem anderen an sein Ohr, worauf er dann aufmerksam zu horchen schien. Als er damit fertig, war sagte er zu meiner gnädigen Frau, die auch im Zimmer war: »Dies ist ein sehr schlimmer Fall,« sagte er, »ich empfehle Ihnen, sogleich an Lady Glyde's Angehörige zu schreiben.« Da sagte meine gnädige Frau zu ihm: »Ist es ein Herzleiden?« und er antwortete: »Ja und von der gefährlichsten Art.« Er erklärte ihr genau, worin die Krankheit bestände, was ich aber nicht verstehen konnte. So viel aber weiß ich, daß er nämlich damit schloß: er fürchte, weder er noch sonst ein Doctor werde im Stande sein, ihr zu helfen.

Meine gnädige Frau fand sich ruhiger in diese schlimme Nachricht, als der Herr. Er war ein dicker, großer, sonderbarer, ältlicher Mann, der sich Vögel und weiße Mäuse hielt und mit ihnen schwatzte, als ob sie Christenkinder gewesen wären. Er schien furchtbar ergriffen. »Ach! die arme Lady Glyde! Die arme, liebe Lady Glyde!« schrie er immer los, indem er m der Stube umher marschirte und seine fetten Hände rang. Für eine Frage, die meine gnädige Frau über die Aussicht auf die Genesung der armen Dame an den Doctor richtete, that er wenigstens fünfzig. Als er sich endlich zufrieden gab, ging er in den kleinen Hintergarten hinaus, wo er lumpige kleine Blumensträuße pflückte und mich dann bat, sie hinauf zu tragen und das Krankenzimmer damit aufzuputzen. Als ob das helfen konnte! Ich denke mir, er muß zu Zeiten ein bißchen närrisch im Kopfe gewesen sein. Aber er war kein schlechter Herr: er besaß eine ungeheuer höfliche Zunge und hatte ein lustiges, unbefangenes, schmeichelndes Wesen. er gefiel mir viel besser als meine gnädige Frau, wenn es je eine harte Person gegeben hat, so war sie es.

Gegen Nachtzeit erholte sich die Dame ein wenig. Sie rührte sich jetzt im Bette und blickte verwirrt im Zimmer umher. Sie mußte, als sie noch gesund war, eine hübsche Dame gewesen sein, mit blondem Haar und blauen Augen und so weiter. Sie hatte eine sehr unruhige Nacht, wenigstens sagte dies die gnädige Frau, welche die Nacht allein bei ihr wachte. Ich ging bloß einmal hinein, ehe ich zu Bette ging, um zu fragen, ob ich noch etwas thun könne und hörte, daß sie auf unruhige, verwirrte Weise mit sich selber sprach. Sie schien so gern mit Jemand sprechen zu wollen, der irgendwo fern von ihr war. Das erste Mal konnte ich den Namen nicht verstehen und als sie ihn zum zweiten Male aussprach, klopfte gerade der Herr, wie gewöhnlich den Mund voll Fragen und in der Hand einen seiner bettelhaften Blumensträuße, an die Thür.

Als ich am folgenden Morgen hineinging, war die Dame abermals völlig erschöpft und lag in einer Art matten Schlafes da. Mr. Goodricke brachte seinen Kompagnon, Mr. Garth, mit, um sich mit ihm zu berathen. Sie sagten, wir dürften sie auf keinen Fall aus ihrer Ruhe stören. Ich hörte sie am anderen Ende des Zimmers eine Menge Fragen an meine gnädige Frau thun: welcher Art früher der Gesundheitszustand der Dame, wer ihr Arzt gewesen und ob sie je lange an gestörter Gemüthsruhe gelitten. Ich erinnere mich, daß meine gnädige Frau »Ja« zu der letzten Frage sagte; worauf Mr. Goodricke Mr. Garth, und Mr. Garth Mr. Goodricke ansah und Beide den Kopf schüttelten. Sie schienen der Ansicht, daß die Gemüthsunruhe mit dem Unheil im Herzen der Dame zu thun haben müsse. Sie war dem Ansehen nach nur ein sehr schwaches Wesen, die arme Dame! und konnte, wie mir schien, nie besonders kräftig gewesen sein.

Etwas später an demselben Morgen erholte sich die Dame plötzlich und war dem Anscheine nach viel wohler. Ich wurde nicht wieder zu ihr hineingelassen – noch das Stubenmädchen – damit sie nicht, wie sie sagten, durch fremde Gesichter beunruhigt würde, was ich von ihrem Befinden erfuhr, hörte ich von meinem Herrn. Er war in wunderbar vergnügter Laune über diese Veränderung und sah vom Garten aus in seinem großen weißen Hut mit umgekrämptem Rande – er wollte gerade ausgehen – durch's Küchenfenster hinein. »Meine gute Frau Köchin,« sagte er, »Lady Glyde befindet sich wohler. Ich fühle mich jetzt etwas ruhiger und will einen schönen sonnigen kleinen Sommerspaziergang machen, um meine großen Glieder etwas zu strecken. Was machen Sie da? Eine schöne Fruchtpastete zum Diner? Machen Sie nur recht viel Kruste, gute Frau, recht viel kruspelige Kruste, die so schön im Munde schmilzt und krümelt.« Das war so seine Art. Er war über Sechzig und liebte Zuckerbäckerei, denk' sich Einer!

Der Doctor kam Nachmittags wieder und sah selbst, daß die Dame wohler aufgewacht war. Er verbot uns mit ihr zu sprechen oder sie zu uns sprechen zu lassen, weil sie möglichst ruhig bleiben und möglichst viel schlafen müsse. Sie schien übrigens nie besonders zum Sprechen geneigt, wenn ich sie sah, ausgenommen m der Nacht, wo ich aber nicht verstehen konnte, was sie sagte – sie schien zu sehr erschöpft, um deutlich zu sprechen. Mr. Goodricke war lange nicht so beruhigt ihretwegen, als mein Herr. Er sagte nichts, als er herunter kam, außer daß er gegen fünf Uhr wieder vorkommen werde. Ungefähr um diese Zeit (ehe mein Herr noch wieder nach Hause gekommen war) wurde heftig m der Schlafstube geklingelt; meine gnädige Frau kam auf den Vorsaal herausgelaufen und rief mir zu, schnell zu Mr. Goodricke zu laufen und ihm zu sagen, daß die Dame ohnmächtig geworden sei.

Ich hatte kaum meinen Hut aufgesetzt und mein Tuch umgebunden, als der Doctor glücklicherweise schon, wie er versprochen hatte, selbst ankam.

Ich begleitete ihn die Treppe hinauf. »Lady Glyde schien sich ganz wie gewöhnlich zu befinden,« sagte die gnädige Frau zu ihm an der Thür; »sie wachte und blickte auf eine sonderbare, verwirrte Weise um sich, als ich sie plötzlich etwas wie eine Art kleinen Schrei ausstoßen hörte, worauf sie augenblicklich ohnmächtig wurde.« Der Doctor trat an's Bett und beugte sich zu der kranken Dame herab. Er wurde plötzlich sehr ernst, als er sie anblickte und legte seine Hand auf ihr Herz.

Die gnädige Frau sah ihm gespannt in's Gesicht. »Doch nicht todt?« sagte sie flüsternd, indem sie vom Kopf bis zu den Füßen zu zittern anfing.

»Ja,« sagte der Doctor sehr ernst. »Todt. Ich fürchtete schon gestern, als ich ihr Herz untersuchte, daß es sehr plötzlich kommen werde.« Die gnädige Frau trat vom Bette zurück und zitterte immer mehr. »Todt!« flüsterte sie vor sich hin, »todt! so plötzlich! Was wird der Graf sagen!« Mr. Goodricke rieth ihr, hinunter zu gehen und sich zu fassen zu suchen.

»Sie haben die ganze Nacht gewacht,« sagte er, und ihre Nerven sind angegriffen. Diese Frau,« sagte er, womit er mich meinte, »diese Frau kann in der Stube bleiben, bis es mir möglich sein wird, den notwendigen Beistand zu schicken.« Meine gnädige Frau that, was er ihr sagte.

»Ich muß den Grafen darauf vorbereiten,« sagte sie, ich muß den Grafen mit großer Vorsicht darauf vorbereiten.«

Und mit den Worten verließ sie uns, noch immer am ganzen Körper zitternd.

»Ihr Herr ist Ausländer,« sagte Mr. Goodricke, als die gnädige Frau hinausgegangen war. »versteht er etwas vom Registriren des Todesfalles?«

»Das kann ich nicht sagen, Sir,« erwiderte ich, »aber vermuthlich nicht.«

Der Doctor überlegte einen Augenblick und dann sagte er: »Ich thue dergleichen sonst nicht, aber in diesem Falle mag es den Familien möglicherweise Unannehmlichkeiten ersparen, wenn ich den Tod dieser Dame selbst registrire. Ich werde in einer halben Stunde am Districtsbureau vorbeigehen und kann es dann leicht besorgen. Sagen Sie, wenn Sie so gut sein wollen, daß ich es übernommen habe.«

»Ja, Sir,« sagte ich.

»Sie haben nichts dagegen, hier zu bleiben, bis ich Ihnen die geeignete Person dazu herschicken kann?« sagte er.

»Nein, Sir,« sagte ich, »ich will so lange bei der armen Dame bleiben. Es konnte wohl weiter nichts gethan werden, Sir, als gethan worden ist?«

»Nein,« sagte er, »nichts. Sie muß schon lange, ehe ich sie sah, bedeutend gelitten haben; ihr Zustand war bereits hoffnungslos, als ich hergerufen wurde.« Er ging.

Ich blieb dann bis zu dem Augenblicke, wo Mr. Goodricke Jemand schickte, am Bette sitzen. Die Frau, welche er schickte, hieß Jane Gould. Sie schien mir eine respectable Frau zu sein. Sie machte weiter keine Bemerkung, außer daß sie sagte, sie verstehe, was sie zu thun habe und sie habe schon viele Todte eingelegt.

Wie mein Herr die Nachricht ertrug, als er zuerst von dem Tode der Dame hörte, ist mehr, als ich sagen kann, denn ich war nicht gegenwärtig. Als ich ihn aber wiedersah, hatte er wirklich ein furchtbar ergriffenes Aussehen. Er saß ruhig in einem Winkel, seine fetten Hände hingen auf seine dicken Knies herab, sein Kopf tief auf der Brust und seine Augen stierten in's Leere. Er schien nicht so sehr betrübt, über das, was sich zugetragen, als erschrocken und verblüfft.

Meine gnädige Frau besorgte Alles, was zur Beerdigung nothwendig war. Es muß eine Masse Geld gekostet haben; der Sarg besonders war prachtvoll anzusehen. Der Gemahl der todten Dame war, wie wir hörten, fort in der Fremde. Aber meine gnädige Frau, die ja ihre Tante war, kam mit ihren Angehörigen auf dem lande (in Cumberland glaube ich) überein, daß sie dort mit ihrer Mutter in einem Grabe beerdigt werde.

Mein Herr reiste nach Cumberland, um selbst als Leidtragender dabei zu sein. Er sah prächtig aus in seiner tiefen Trauer, mit seinem großen feierlichen Gesichte, seinem langsamen Gange und breiten Creppbande, das muß wahr sein!

Zum Schlusse muß ich als Antwort auf mir vorgelegte Fragen hinzufügen:

  1. Daß weder ich noch das Stubenmädchen je gesehen haben, daß mein Herr selbst Lady Glyde Medicin gegeben hätten.
  2. Daß er meines Wissens nie allein bei Lady Glyde im Zimmer war.
  3. Daß ich nicht im Stande bin, zu sagen, was der Dame, wie meine gnädige Frau nur gesagt, bei ihrer Ankunft im Hause den plötzlichen Schrecken verursacht hatte, weder mir noch dem Stubenmädchen ist die Ursache hievon je erklärt worden.

Obigem habe ich nichts weiter hinzuzufügen. Ich bekräftige als christliche Frau mit meinem Eide, daß dies die Wahrheit ist.

(Unterzeichnet-)

Hester Pinhorn -/- ihr Zeichen.

 

Aussage des Arztes

»An den Registrator des engeren Districts, in welchem der untengenannte Tod stattfand.

»Ich bezeuge hiemit, daß ich Lady Glyde, welche an ihrem letzten Geburtstage einundzwanzig Jahre alt wurde, in ihrer Krankheit behandelte; daß ich sie am 28. Juli 1850 zuletzt gesehen, daß sie an selbigem Tage zu Nr. 5 Forest Road, St. John's Wood starb und daß die Ursache ihres Todes

 

Ursache des Todes Dauer der Krankheit
Aneurismna. Unbekannt.

 

(Unterzeichnet:)

 

Alfred Goodricke,
M. R. C. S. Eng. 3. S. A.

Adresse: Croydon Gärten,
St. John's Wood.

 

Aussage der Jane Gould.

Ich war die Frau, welche von Mr. Goodricke geschickt wurde, um an den irdischen Ueberresten einer Dame, welche in dem Hause, das in der vorstehenden Bescheinigung namhaft gemacht worden, gestorben, zu thun, was recht und nothwendig war. Ich fand die Leiche in der Obhut der Köchin Hester Pinhorn. Ich blieb bei der Todten und bereitete dieselbe zur gehörigen Zeit für das Grab vor; später war ich anwesend, als man den Sarg, ehe er fortgefahren wurde, niederschraubte. Nachdem dies geschehen und keinen Augenblick früher, erhielt ich, was mir zukam und verließ dann das Haus. Falls Jemand Erkundigungen einzuziehen wünscht, so bitte ich, daß man sich deshalb an Mr. Goodricke wende. Er hat mich länger als sechs Jahre gekannt und wird bezeugen, daß man sich darauf verlassen kann, daß ich die Wahrheit sage.

(Unterzeichnet:)

Jane Gould.

 

Noch eine Aussage.

Zur

Erinnerung

an

LAURA

Lady Glyde

Gemahlin des Sir Percival Glyde, Baronet,
zu Blackwater Park, Hampshire,
und
Tochter des weiland Philipp Fairlie Esqre,
zu Limmeridge House, in diesem Kirchspiel.

Geboren den 27 sten März 1829.

Vermählt den 23 sten December 1849.

Gestorben den 23 ten Juli 1850.


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