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Die Aussage von Frederick Fairlie Esq re zu Limmeridge House.

Die Art und Weise, wie man sich Mr. Fairlie's Aussage und andere Aussagen verschaffte, welche in Kurzem folgen werden, bildet den Gegenstand einer Erklärung, welche in einem späteren Theile der Erzählung erscheinen wird.

Es ist das große Unglück meines Lebens, daß man mich nicht in Ruhe lassen will. Wozu plagt man mich? Verwandte, Freunde und Fremde – Alle vereinigen sich, um mich zu plagen. Ich frage mich und frage meinen Diener Louis fünfzigmal des Tages: was habe ich gethan? Keiner von uns Beiden weiß es.

Die letzte Plage, mit der man mich verfolgt hat, ist die, daß man von mir verlangt, diese meine Aussage niederzuschreiben. Ist nun wohl ein Mensch in meinem beklagenswerthen Zustande von Nervenschwäche im Stande, Aussagen zu schreiben? Wenn ich diese außerordentlich vernünftige Einwendung mache, so sagt man mir, daß gewisse sehr ernste Begebenheiten in Bezug auf meine Nichte sich mit meiner Wissenschaft zugetragen haben und ich deshalb die geeignete Person bin, dieselben zu beschreiben. Falls ich mich weigere, droht man mir mit Folgen, an die ich nicht denken kann, ohne mich vollkommen niedergeschmettert zu fühlen. Durch den traurigen Zustand meiner Gesundheit und betrübende Familiensorgen geschwächt, ist mir aller Widerstand unmöglich. Ich will versuchen (mit Protest) mir so viel wie möglich ins Gedächtnis zurückzurufen und soviel ich kann (ebenfalls mit Protest) niederzuschreiben; und wessen ich mich nicht erinnere oder was ich nicht schreibe, muß Louis sich für mich und statt meiner erinnern und niederschreiben.

Man verlangt, daß ich mich der Data erinnere. Gerechter Himmel! Ich habe das in meinem ganzen Leben noch nicht gethan.

Ich habe Louis gefragt. Er ist doch nicht ein ganz so großer Esel, wie ich bisher geglaubt. Er erinnert sich ungefähr bis auf einen oder zwei Tage des Datums des Ereignisses, und ich erinnere mich der Personen. Das Datum war entweder der fünfte, sechste oder siebente Juli, und der Name (meiner Ansicht nach ein unbeschreiblich ordinärer) war Fanny.

Am fünften, sechsten oder siebenten Juli lag ich in meinem gewöhnlichen Zustande, in meinem Ruhesessel, von meinen Kunstschätzen umgeben und auf einen ungestörten Vormittag hoffend, weil ich aber auf einen ruhigen Vormittag hoffte, kam natürlich Louis herein. Er hatte die Güte, mich zu benachrichtigen, daß »ein junges Frauenzimmer« draußen sei, das mich zu sprechen wünsche. Dann fügte er mit der unerträglichen Geschwätzigkeit von Dienern hinzu, daß es Fanny sei.

»Wer ist Fanny?«

»Lady Glyde's Jungfer, Sir.«

»Was will Lady Glyde's Jungfer von mir

»Sie hat einen Brief, Sir –«

»Nimm ihn ihr ab.«

»Sie weigert sich, ihn irgend Jemandem als Ihnen selbst zu geben, Sir.«

»Wer schickt den Brief?«

»Miß Halcombe, Sir.«

Sowie ich Miß Halcombe's Namen hörte, ergab ich mich. Es ist meine Gewohnheit, mich Miß Halcombe stets ohne Widerrede zu ergeben. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß dies Lärm spart.

»Laß Lady Glyde's Jungfer hereinkommen, Louis. Halt! Knarren ihre Schuhe?«

Ich war gezwungen, diese Frage zu thun, denn knarrende Schuhe erschüttern meine Nerven stets für den Rest des Tages.

Louis erklärte entschieden, daß ich mich auf ihre Schuhe verlassen könne – und er führte sie herein. Ihre Schuhe knarrten in der That nicht. »Sie haben einen Brief für mich von Miß Halcombe? Haben Sie die Güte, legen Sie ihn auf den Tisch, aber stoßen Sie nichts um. Wie befindet sich Miß Halcombe?«

»Ganz wohl, ich danke, Sir.«

»Und Lady Glyde?«

Ich erhielt keine Antwort. Das junge Frauenzimmer fing an zu weinen. Ich schloß meine Augen und sagte zu Louis:

»Versuche zu erfahren, was sie meint.«

Louis versuchte und das junge Frauenzimmer versuchte, und es gelang ihnen, sich einander in dem Grade zu verwirren, daß mich die Dankbarkeit verpflichtet, zu gestehen, daß sie mich wirklich amusirten. Ich denke, das nächste Mal, wenn ich in gedrückter Laune bin, lasse ich sie Beide wieder zu mir kommen.

Doch erwartet man hoffentlich nicht von mir, daß ich wiederhole, was meiner Nichte Kammerjungfer zur Erklärung ihrer Thränen vorbrachte und wie mein Schweizer Kammerdiener dies in's Englische übertrug?

Mir ist, als ob sie damit angefangen hätte, mir (durch Louis) zu erzählen, daß ihr Herr sie aus dem Dienste ihrer Herrin entlassen habe. Nach ihrer Entlassung sei sie in's Wirthshaus gegangen, um dort die Nacht zuzubringen. Zwischen sechs und sieben Uhr sei Miß Halcombe zu ihr gekommen, um ihr Adieu zu sagen, und habe ihr zwei Briefe gegeben – einen an mich und einen an einen Herrn in London. Sie habe beide Briefe sorgfältig in ihren Busen gesteckt. Sie sei sehr unglücklich gewesen, als Miß Halcombe sie wieder verlassen. Kurz vor neun Uhr habe sie gedacht, sie wolle eine Tasse Thee trinken. Gerade, als sie den Topf gewärmt (ich schreibe die Worte auf Louis Verantwortung, welcher sagt, er weiß, was sie bedeuten) – gerade, als sie den Topf gewärmt, habe sich die Thür geöffnet und sie sei wie angedonnert gewesen, als sie Ihro Gnaden die Frau Gräfin in's Zimmer habe treten sehen. Ich schreibe den Titel, welchen meiner Nichte Kammerjungfer meiner Schwester beilegte, mit einem Gefühle wahren Hochgenusses. Meine arme liebe Schwester ist ein widerwärtiges Geschöpf, das einen Ausländer geheiratet hat. Um jedoch wieder zur Jungfer zurückzukommen: die Thür öffnete sich und Ihro Gnaden die Frau Gräfin trat herein, und das junge Frauenzimmer war wie angedonnert. Höchst merkwürdig!

Ich muß wirklich ein wenig ausruhen, ehe ich fortfahre, wenn ich ein paar Minuten mit geschlossenen Augen gelegen haben werde und Louis meine armen Schläfen mit etwas Eau de Colognegebadet hat, mag ich im Stande sein, meine Aufgabe fortzusetzen.

Ihro Gnaden die Frau Gräfin erklärte ihr unerwartetes Erscheinen im Wirthshause, indem sie zu Fanny sagte, sie bringe ihr noch ein paar kleine Aufträge, welche Miß Halcombe in ihrer Eile vergessen habe. Das junge Frauenzimmer war sehr gespannt, diese Aufträge zu hören, aber Ihro Gnaden war ganz außerordentlich rücksichtsvoll dabei (sieht meiner Schwester nicht im Geringsten ähnlich) und sagte: »Unsere Aufträge können warten, bis sie sich gestärkt haben. Kommen Sie; wenn Sie durchaus nicht anders wollen, so werde ich den Thee machen und eine Tasse mittrinken.« Das Mädchen trank den Thee und dann – ihrem eigenen Berichte zufolge – feierte sie die außerordentliche Gelegenheit dadurch, daß sie in fünf Minuten zum ersten Male in ihrem Leben wie todt in Ohnmacht fiel.

Als sie nach ungefähr einer halben Stunde wieder zu sich kam, lag sie auf dem Sopha, und es war Niemand bei ihr außer der Wirthin. Die Gräfin, der es zu spät wurde, war fortgegangen, sowie sie gesehen, daß das Mädchen sich erholte, und die Wirthin war dann so freundlich gewesen, ihr zu helfen, sich in's Bett zu legen. Sobald sie allein geblieben, habe sie nach den Briefen in ihrem Busen gefühlt, die auch beide dort gewesen, obgleich in einem sehr zerknitterten Zustande. Sie habe in der Nacht Schwindel gefühlt, sei aber am Morgen wohl genug gewesen, um abreisen zu können. Sie hatte den Brief an den Herrn in London auf die Post und jetzt den anderen an mich in meine Hände gegeben, wie man ihr befohlen hatte. Dies sei die einfache Wahrheit und obgleich sie sich für keine absichtliche Nachlässigkeit tadeln könne, so fühlte sie sich doch sehr beunruhigt und sehr des Rathes bedürftig.

»Und worauf läuft alles dies hinaus?« fragte ich.

»Es ist unnöthig zu sagen, daß es mir im Verlaufe der Zeit gelang, mich mit dem eigentlichen Zwecke des Berichtes der Kammerjungfer bekannt zu machen. Ich entdeckte, daß es sie beunruhigte, durch den Gang der Ereignisse verhindert zu sein, jene nachträglichen Aufträge entgegenzunehmen, mit welchen Miß Halcombe die Gräfin an sie abgeschickt hatte. Sie fürchtete, daß diese Aufträge von größter Wichtigkeit für das Interesse ihrer Herrin gewesen seien, doch hatte ihre Furcht vor Sir Percival sie abgehalten, noch spät Abends nach Blackwater Park zurückzukehren um sich darüber zu unterrichten, und Miß Halcombe's ausdrücklicher Befehl, auf keinen Fall am nächsten Morgen den Zug zu verfehlen, hatte sie verhindert, noch den folgenden Tag im Wirthshause zu warten. Sie war in größter Sorge, daß das Unglück ihrer Ohnmacht nicht noch das zweite Unglück, daß ihre Herrin sie für nachlässig hielte, zur Folge haben möge, und sie wolle mich ergebenst bitten, ihr zu sagen, ob ich ihr rathe, Miß Halcombe ihre Erklärungen und Entschuldigungen hierüber zu schreiben und sie zu bitten, ihr brieflich jene Aufträge zu geben, falls es noch nicht zu spät dazu sei.

»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Sir, wenn Sie die Güte haben wollten, mir zu sagen, was ich thun muß?« sagte das junge Frauenzimmer.

»Lassen Sie die Sachen, wie sie sind,« sagte ich. »Ich lasse die Sachen stets, wie sie sind. Jawohl. Ist das Alles?«

»Wenn Sie denken, Sir, daß ich mir eine Freiheit herausnähme, wenn ich schriebe, so würde ich es natürlich nicht wagen. Aber ich wünsche sehr, Alles zu thun, was in meiner Macht liegt, um meiner Herrin treue Dienste zu leisten –«

Die Leute der niederen Klassen wissen nie, wann es Zeit ist zu gehen. Sie bedürfen hierin stets der Hilfe von ihren Vorgesetzten. Es schien mir hohe Zeit, daß ich dem jungen Frauenzimmer diese Hilfe leistete und ich that dies mit zwei verständigen Worten:

»Guten Morgen!«

Es knarrte an diesem merkwürdigen Mädchen, entweder auswendig oder inwendig, plötzlich etwas. Louis sagt, daß sie knarrte, indem sie knixte. Louis meint, es sei ihr Schnürleibchen gewesen.

Sobald man mich allein gelassen, hielt ich ein kleines Schläfchen – ich bedurfte dessen wirklich sehr. Als ich wieder aufwachte, bemerkte ich den Brief dieser lieben Marianne. Hätte ich nur die entfernteste Ahnung gehabt von dem, was derselbe enthielt, so würde ich ihn gewiß nicht geöffnet haben. Da ich aber, unglücklicherweise für mich, frei von allem Argwohn bin, las ich den Brief. Er streckte mich für den Rest des Tages darnieder.

Nichts stellt meiner Meinung nach den hassenswerthen Egoismus der Menschen in ein so auffallend abstoßendes Licht, als die Behandlung, welche in allen Classen der Gesellschaft unverheirateten Leuten von den verheirateten zu Theil wird. Ich bin so rücksichtsvoll, unvermählt zu bleiben, und mein armer lieber Bruder Philipp ist so rücksichtslos, sich zu verheiraten, was thut er, wie er stirbt? Hinterläßt mir seine Tochter! Sie ist ein liebes Mädchen, aber sie ist eine furchtbare Verantwortlichkeit. Ich thue mein Bestes für die mir von meinem Bruder hinterlassene Verantwortlichkeit; ich verheirate meine Nichte nach unendlich viel Wirthschaft und Schwierigkeit mit dem Manne, den ihr Vater ihr bestimmt hat. Sie veruneinigt sich mit ihrem Manne, und die Sache hat unangenehme Folgen Was macht sie mit diesen Folgen? Sie übermacht sie mir .

Es ist ganz unnöthig zu sagen, daß Mariannes Brief Drohungen für mich enthielt. Alle möglichen Greuel sollten auf mein unglückliches Haupt fallen, falls ich zögerte, meiner Nichte und ihren Unannehmlichkeiten Limmeridge House als Zuflucht anzubieten.

Ich habe bereits erwähnt, daß mein gewöhnliches Verfahren bei solchen Gelegenheiten darin besteht, mich Mariannen zu fügen und auf diese Weise Lärm zu sparen. Diesmal aber waren die voraussichtlichen Folgen ihres außerordentlich rücksichtslosen Vorschlages so bedenklicher Art, daß sie mich zögern ließen. Welche Sicherheit hatte ich, falls ich Lady Glyde eine Zuflucht im Limmeridge House anbot, daß nicht Sir Percival, in einem Zustande heftigen Zornes gegen mich, ihr hierher folgen würde? Ich sah, daß mit einem solchen Verfahren ein wahres Labyrinth von Sorgen und Unannehmlichkeiten für mich verknüpft war, und beschloß daher, erst ein wenig hinzuhorchen, wie man sagt. Ich schrieb demzufolge an die gute Marianne und bat sie, erst allein herzukommen, um die Sache mit mir zu besprechen. Falls sie dann meine Einwürfe zu meiner vollkommenen Zufriedenheit beseitigen könne, so versichere ich sie, daß ich unsere liebe Laura mit dem größten Vergnügen wieder aufnehmen werde – widrigenfalls jedoch nicht. Demzufolge schickte ich meinen Brief mit umgehender Post ab. Ich gewann hiebei jedenfalls Zeit – und, o, mein Gott! das ist gleich ein großer Gewinn.

Am dritten Tage brachte die Post mir einen höchst impertinenten Brief von einem Menschen, der mir völlig unbekannt ist, Er gab sich als den activen Compagnon unseres Geschäftsführers an – des guten, halsstarrigen, alten Gilmore – und benachrichtigte mich, daß er kürzlich durch die Post einen Brief erhalten, dessen Adresse von Miß Halcombe's Hand geschrieben. Da er jedoch das Couvert geöffnet, habe er zu seinem Erstaunen in demselben nichts als ein Stück leeren Briefpapiers gefunden. Dieser Umstand sei ihm so verdächtig erschienen (weil derselbe in seinem unruhigen Advocatengeiste sofort die Idee erweckte, daß Spitzbüberei dabei im Spiele gewesen), daß er augenblicklich an Miß Halcombe geschrieben, jedoch keine Antwort von ihr erhalten habe. Anstatt nun wie ein vernünftiger Mann zu handeln und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen, war sein nächstes lächerliches Verfahren, wie er dies selbst bewies, daß er mich belästigte, indem er an mich schrieb, um mich zu fragen, ob ich etwas von der Sache wisse, wozu mich auch noch beunruhigen, wenn er selbst schon beunruhigt war? Ich schrieb ihm einen Brief dieses Inhaltes, und es war dies einer der schärfsten, die ich je geschrieben habe.

Mein Brief brachte die von mir beabsichtigte Wirkung hervor: ich hörte nicht wieder von dem Advocaten. Dies war vielleicht nicht sehr zum Verwundern. Aber es war jedenfalls ein bemerkenswerther Umstand, daß ich keinen zweiten Brief von Mariannen erhielt und daß sich keine Warnungszeichen von ihrer Ankunft wahrnehmen ließen. Es war überaus beruhigend und angenehm, daraus zu schließen, daß meine verheirateten Verwandten wieder ausgesöhnt seien. Fünf Tage ungestörter Ruhe, köstlicher, einsamer Glückseligkeit, stellten mich ganz wieder her. Am sechsten Tage – entweder dem fünfzehnten oder sechzehnten Juli – hatte ich gerade angefangen, mit meinen Münzen zu coquettiren, als plötzlich Louis, mit einer Karte in der Hand, in's Zimmer trat.

»Wieder ein junges Frauenzimmer?« sagte ich. »Ich will sie nicht sehen. In meinem Gesundheitszustands sind mir junge Frauenzimmer im höchsten Grade nachtheilig. Nicht zu Hause!«

»Es ist ein Herr diesmal, Sir.«

Ein Herr war allerdings etwas anderes. Ich blickte auf die Karte.

Gerechter Himmel! der ausländische Gemahl meiner widerwärtigen Schwester, Graf Fosco!


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