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Sechzehntes Kapitel.

Auf den warmen, sonnigen Frühling war ein kühler, regnerischer Sommer gefolgt und die jungen Mädchen konnten ihr beliebtes Croquetspiel nur selten vornehmen, mußten auch oftmals ihre hübschen Spaziergänge aufgeben. Besonders ungünstig war die Witterung für die Kurgäste, die in reicher Anzahl in das Städtchen gekommen waren, die herrliche Harzluft zu genießen.

Else bedauerte lebhaft, daß die Mutter nicht soviel im Freien sein konnte, wie es für sie nötig war, diese tröstete sie jedoch mit der Aussicht, daß der Sommer und der Herbst noch lang seien, da könne das Wetter noch zehnmal umschlagen.

Eines Sonntagnachmittags hatten sich alle zu einem Spaziergange gerüstet, die Sonne schien, und fröhlich wanderte die kleine Gesellschaft, Suse eingeschlossen, den Bergen zu, als plötzlich ein Gewitter heraufkam und unsre jungen Freunde zur eiligen Rückkehr zwang. Es folgte nun ein so heftiger, lang anhaltender Regenguß, daß der Spaziergang für heute aufgegeben werden mußte. Seufzend begaben sich die jungen Mädchen in den kleinen Saal, sich durch gesellschaftliche Spiele die Zeit zu vertreiben. Sie waren bald so vertieft, daß sie den schlanken jungen Mann nicht sahen, der durch den Garten in das Haus schritt.

Eine Weile später trat Fräulein Reuter mit ihm in den Saal. »Ich bringe hier einen jungen Herrn, der dir, liebe Elisabeth, nicht unbekannt sein dürfte,« sagte sie freundlich.

Liesel starrte ihn einen Augenblick an, dann überzog Purpurröte ihr Gesicht, und mit den Worten: »Hans, mein lieber, lieber Bruder,« flog sie in seine Arme.

Erstaunt sahen alle zu, so hatte ihr trauriges Gesicht noch nie gestrahlt, so lebhaft war sie noch nie gewesen, und neugierig sahen die Mädchen den jungen Mann an, mit dem Fräulein Reuter sie nun bekannt machte. Sie fanden sämtlich, daß er dem Bilde der verstorbenen Mutter viel mehr glich, als Elisabeth. Das war derselbe freundliche Ausdruck in den Augen, derselbe lächelnde Mund, und alle waren sich nach den ersten zehn Minuten im stillen einig, daß Hans Ehrhard ein reizender Mensch sei.

»Wann bist du gekommen, Hans, daß ich gar nichts davon erfahren habe?« fragte Elisabeth, als sie Hand in Hand neben einander saßen.

»Gestern Abend, Schwesterchen, und auf meinen ausdrücklichen Wunsch ist dir keine Mitteilung zugegangen. Du weißt, ich liebe Ueberraschungen.«

Er streifte mit einem lächelnden Blick die rosigen Mädchengesichter und wandte sich an Fräulein Reuter, mit der er eine Unterhaltung anfing. Bald darauf erhob sich die alte Dame. »Sie haben Ihrer Schwester gewiß viel zu erzählen, Herr Ehrhard,« sagte sie, »Elisabeth, führe deinen Bruder in mein Zimmer, da können Sie nach Herzenslust mit einander plaudern.«

Dankbar nahmen die Geschwister das Anerbieten an und zogen sich zurück, und die jungen Mädchen tauschten nun lebhaft ihre Meinungen über den jungen Herrn Ehrhard aus, die sehr zu seinen Gunsten ausfielen.

Elisabeth war den ganzen Abend, auch nachdem der Bruder gegangen war, heiterer als sonst und nahm mit mehr Freude als gewöhnlich an den Spielen der Freundinnen teil.

In der folgenden Woche traf Gerd ein, mit allgemeinem Vergnügen begrüßt, denn den fröhlichen Studenten hatten alle gern, und wie viele gemeinsame Interessen gab es zu erörtern.

Am Montag fuhr er nach Magdeburg, Alfred zu holen, und alle waren freudig überrascht, als sie den Jüngling sahen. Wohl war er noch immer zart und blaß, das Schlaffe, Hinfällige war jedoch von ihm gewichen, und er fühlte sich nach eigener Aussage frisch und gesund. Die Pastorin wollte ihren Augen nicht trauen, sollte ihr Mutterherz doch noch zur Ruhe um ihr Schmerzenskind kommen? Sie pflegte ihn nun, als müsse sie Versäumtes nachholen. Alfred behauptete zwar lächelnd, er bedürfe so sorgsamer Pflege nicht mehr, Suse erklärte ihm jedoch, je kräftiger er werde, desto mehr könne er auch leisten, und so nahm er sie dankbar an.

Es war dem Blinden eine große Freude, noch einigemal mit Maria zu musizieren und sie in seine Studien einzuweihen. Mit großem Verständnis ging sie darauf ein, und als er eines Tages sagte: »Sie sollten Ihre Idee, sich im Zeichnen auszubilden, aufgeben und sich dem Studium der Musik widmen, Marie!« war diese selbst erstaunt, daß ihr der Gedanke nicht schon früher gekommen war.

Als sie ihn der Tante mitteilte, entgegnete diese: »Ich habe schon oft daran gedacht, mein liebes Kind, wollte dich aber nicht beeinflussen, und fürchte auch, daß dein ohnehin so zarter Körper den Anstrengungen des Studiums nicht gewachsen ist.«

»O, Tantchen, was Alfred kann, sollte ich doch auch können?«

»Wir wollen es abwarten, mein Liebling: du hast noch Zeit dich zu entschließen; es kommt ja auch in erster Linie darauf an, was deine Eltern dazu sagen.«

Gerhard war schon verschiedene Mal in Wallnitz gewesen, sich den kleinen Kranken anzusehen und ihn zu untersuchen. Er hatte ausführlich darüber an einen sehr berühmten Spezialarzt in Bonn berichtet und auf dessen Rat mit der Massagekur begonnen, erst in längeren Zwischenpausen, dann aber ging er täglich hinüber.

Der arme Kleine litt natürlich heftige Schmerzen, und nur Gerds Versicherung, wenn er ganz stille halte, könne er in ein paar Wochen ebenso fröhlich umherspringen, wie Bruder Karl, vermochte ihn, sich nicht zur Wehr zu setzen. Der arme Kleine – es war so rührend zu sehen, wie er standhaft seine Schmerzen ertrug und jedem sagte: »Wenn ich artig bin, kann ich laufen und springen wie Karlchen.«

Die Eltern litten mit ihm, und fast bereute es der Müller, seine Einwilligung zu dieser schmerzhaften Kur gegeben zu haben, und ohne Gerds frische Zuversicht hätte er sicherlich Einhalt geboten.

Gerd war sehr erfreut, in Hans Ehrhard einen so liebenswürdigen Verkehr zu finden, und da die beiden jungen Männer täglich zusammenkamen, konnte es nicht ausbleiben, daß sie bald Freundschaft mit einander schlossen. Hans mit seinem ruhigen, festen Charakter ergänzte den lebhaften, feurigen Gerd aufs vorteilhafteste, und Pastor Winter war sehr erfreut über diesen Verkehr, nachdem er den jungen Mann näher kennen gelernt hatte.

Inzwischen waren die großen Ferien angebrochen und Fräulein Reuter reiste mit ihren beiden Nichten und Wally ab. Elisabeth wurde von ihrem Bruder heimgeholt, und Else kam das liebe Haus plötzlich so tot und still vor, daß sie den ganzen ersten Abend mit einer nicht zu erwehrenden Traurigkeit kämpfte.

Am nächsten Morgen aber, als die Sonne gar lustig in ihr Stübchen schien, war auch sie von Herzen froh und freute sich der schönen, ungebundenen Ferienzeit. Sie verbrachte mit der Mutter morgens und nachmittags mehrere Stunden im Walde und freute sich mit dieser des trauten Beisammenseins.

Am Abend erschien Suse, um die Geheimrätin und Else für den Sonntag einzuladen. »Aber für den ganzen Tag, liebe Frau Geheimrat,« bat sie, »Sie bleiben nach der Kirche bei uns zum Mittagessen und sollen nach demselben auch Ihre Ruhe nicht entbehren. Mutter läßt Sie recht sehr darum bitten.«

Die Geheimrätin sagte dankend zu, nicht allein, weil sie Elses bittenden Blick sah, sondern weil sie sich selbst gar wohl unter den lieben Pfarrbewohnern fühlte.

»Ich will morgen einen schönen Napfkuchen backen,« flüsterte Suse der Freundin beim Abschiede zu.

»Ich möchte dir wohl einmal zusehen.«

»Das kannst du haben, Prinzeßchen, mußt dich aber gleich nach 10 Uhr einstellen.«

Else versprach dies und ging am nächsten Morgen mit der Mutter Erlaubnis zur Pfarre.

Suse kam ihr fröhlich entgegen, zwei weiße Küchenschürzen über dem Arm. »Hier,« sagte sie, Else eine reichend, »mein Assistent muß ebenso gerüstet sein, wie ich; nun komm in die Speisekammer, Prinzeßchen.«

Voller Erstaunen sah diese, wie Suse alles Erforderliche zusammenholte und abwog. »Willst du deine Mama gar nicht um Rat fragen?«

Suse sah sie verblüfft an, dann lachte sie. »Du meinst, ich weiß nicht genau Bescheid?«

»Es scheint mir doch furchtbar viel Mehl für so wenig Milch.«

»Man sieht, daß du nie die Entstehung eines Napfkuchens beobachtet hast,« entgegnete Suse heiter und schob einen Sessel herbei. »Da setze dich, Else, und nun paß auf. Hier hast du die Schüssel, ich gebe dir die abgewogene Butter, die du zu Sahne zu rühren hast.«

»Geht denn das überhaupt?«

»Freilich, aber nicht so ungestüm, sieh, so – immer hübsch gleichmäßig und ruhig, ich werde inzwischen das Gewürz zubereiten.«

Else fand das Rühren sehr mühselig und sie fragte: »Du, Suse, kann man denn statt Butter nicht gleich Sahne nehmen, das wäre doch sehr viel einfacher?«

»Nein, einzige Else, Butter muß es schon sein.«

»Merkwürdig, erst wird aus der Sahne Butter gemacht, und nun soll diese wieder Sahne werden, das verstehe nun einer.«

Suse lachte heiter. »Ach, Elslein, du machst mir viel Spaß.«

»Ja, siehst du, Suschen, mir sind solche Beschäftigungen böhmische Wälder.«

Jetzt ward die Thür geöffnet und Gerd sah herein. »Ich habe gehört, Suse, die Prinzessin von der Tann soll hier sein? Ah – da sitzt sie in ihrer ganzen bezaubernden Hoheit auf ihrem Thron.« Er trat rasch näher und beugte ein Knie vor dem jungen Mädchen: »Euer Durchlaucht gehorsamster Diener.«

»Laß die Faxen, Gerd, wir sind hier bei einer hochwichtigen Angelegenheit,« rief Suse und schob ihn beiseite, um sich nach dem Zustande der Butter umzusehen.

»Ich bin ganz deiner Meinung, Schwesterchen, das langsame Entwickeln einer Sache ist für einen zukünftigen Arzt von großem Interesse. Erlauben Sie aber, gnädiges Prinzeßchen, diese Verwandlung erfordert mehr Kräfte, als Ihren durchlauchtigen Händen innewohnt.«

Er entwand ihr die Kelle und wirtschaftete in einer Weise in der Butter herum, daß Suse entsetzt zu deren Rettung herbeistürzte.

»Um Himmelswillen, meine Butter, willst du sie zur Dekoration der Wände benützen? Sofort hörst du auf, oder ich binde dir gleichfalls eine Küchenschürze um.« Sie riß eine vom Haken und bemühte sich, sie dem Bruder umzubinden; dieser entwischte ihr jedoch und entfloh aus der Speisekammer. »Den wären wir glücklich los,« sagte sie, die Thür zuschlagend, »er ist ein ganz toller Junge, der sich vor Uebermut gar nicht zu lassen weiß. Sieh nur, wie er die Butter über die ganze Schüssel gezerrt hat, aber sie ist nun wirklich gut, wir können Zucker und Eier hinzuthun. Wie, kommt er schon wieder?« rief sie, als sich die Thür abermals öffnete. Es war aber Martha, die schüchtern näher trat.

»Kann ich nicht ein bißchen helfen, Suse?«

»Gewiß, Marthachen, komm nur her, du kannst Mandeln reiben, und ich will dich jetzt ablösen, Else, du bist an solche Arbeit nicht gewöhnt, du ermüdest zu schnell.«

Ohne weitere Unterbrechung wurde nun angerührt und gebacken, und Else war nicht weniger stolz als Suse, als der Kuchen vor ihnen stand und gar einladend und appetitlich duftete.

Am nächsten Tage blieb die Geheimrätin nach der Kirche in der Pfarre, und letztere konnte nicht begreifen, daß sie sich anfangs nicht glücklich in derselben gefühlt hatte; sie hätte jetzt Suse um ihre traute Heimat beneiden können, wenn sie nicht selbst ein liebes Mütterlein gehabt hätte. Sie gestand sich aber auch ein, daß sie seit Jahresfrist innerlich eine andre geworden sei, und sie nahm sich vor, ja immer auf dem rechten Wege zu bleiben.

Alle Bewohner des Pfarrhauses kamen ihr jetzt mit der größten Liebe entgegen und hatten ihre Freude an dem liebenswürdigen Mädchen.

»Suse,« sagte Gerd abends, als sie allein durch den Garten gingen, »was hat das Prinzeßchen so verändert?«

Suse dachte nach. »Ich denke, es ist Tante Helenes Einfluß und sorgfältige Erziehung,« sagte sie dann.

Gerd nickte. »Es ist wohl möglich, Thatsache ist, daß sie das reizendste Mägdlein ist, das meine Augen je geschaut haben.«

Suse sah an ihm vorüber. »Ich glaube, ich kann morgen die ersten Johannisbeeren zu roter Grütze pflücken; nicht wahr, Gerd, das ist doch immer noch dein Leibgericht?«

Er lachte hell auf, umfaßte sie und tanzte mit ihr den Gartensteig hinunter. »O Suse, du bist das prosaischste Mädchen unter dem Mond. Aber Schwesterlein, Schwesterlein, ich fürchte, du wirst dich nie verheiraten.«

»Rede doch nicht solche Dummheiten, Gerd, sondern laß uns ins Haus gehen, es versammeln sich sicher schon alle zur Abendandacht.«

Der Verkehr zwischen den Pfarrbewohnern und der Geheimrätin gestaltete sich immer freundschaftlicher, und Else lernte in dieser Zeit die Freundin erst recht schätzen und lieben. Sie sah dieselbe jetzt so recht im Familienkreise und bemerkte wohl, wie sie sich selbst vollständig vergaß und nur auf das Behagen jedes einzelnen Gliedes bedacht war. Wie wurde sie aber auch von allen geliebt, niemand konnte ohne sie fertig werden, und die Frage: »Wo ist Suse?« erklang wohl zwanzigmal des Tages. Sie hatte auch stets Zeit, die Interessen des Einzelnen zu teilen, und der Pastor hatte recht, wenn er lächelnd sagte: »Unsre Susanne ist unser Hausschatz.«

Else wollte ihr nachstreben, sie bedauerte nur, nicht auch einen so ausgedehnten Wirkungskreis zu haben, wie Suse, und um sich auch nützlich zu machen, übernahm sie kleine häusliche Geschäfte, wie z. B. die Bereitung des Kaffees und des Thees, und freute sich, als Dore ihre volle Anerkennung über ihre Geschicklichkeit aussprach.

Waren sie in der Pfarre, was oft geschah, so saß die Geheimrätin mit der Pastorin in der Laube mit einer Handarbeit beschäftigt, während das junge Volk fröhliche Spiele trieb. Oftmals brachte Gerd seinen Freund Hans mit, der ein sehr angenehmer Gesellschafter war.

Mit dem kleinen Kranken ging es leidlich. Die Schmerzen waren so groß nicht mehr, aber eine Besserung seines Gebrechens machte sich noch nicht bemerkbar. Elisabeth konnte die Leiden des Kindes kaum mit ansehen, sie war oft in so großer Aufregung, daß die Mutter ihr ernstliche Vorstellungen machte und ihr sagte, alles geschehe doch nur zum Besten des Kindes, sie solle mit ihnen vertrauen und hoffen.

»Suse,« sagte Gerd eines Tages, als er aus der Mühle heimkehrte, »kannst du das arme Ding, die Elisabeth nicht für acht Tage einladen? Sie quält sich mehr um den Kleinen, als ihrer eigenen Gesundheit zuträglich ist, es wäre wirklich ein Segen, wenn sie kurze Zeit entfernt würde.«

»Ich will mit Mutter sprechen, sie wird sicher nichts dagegen haben.«

Das Resultat dieser Besprechung war, daß Suse den Bruder am nächsten Tage begleitete, um die Freundin einzuladen und sofort mitzunehmen.

Die Eltern gaben gerne ihre Einwilligung, denn sie sahen mit Kummer, wie sehr die Tochter litt. Elisabeth weigerte sich nicht lange – es war ihr vielleicht eine Erleichterung, die Leiden des Kindes nicht sehen zu müssen.

Als Elisabeth acht Tage im Pfarrhaus weilte, kam Gerd eines Mittags in froher Erregung von Wallnitz heim. »Wo ist Elisabeth?« rief er Martha auf dem Flur zu.

»Im Garten.«

Gerd stürmte dorthin und fand das Mädchen allein in der Laube. »Hurrah, kleine Freundin!« rief er fröhlich, »der erste große Erfolg unsrer Kur ist erzielt. Ernstchen ist jetzt imstande, sich allein aufzurichten.«

Elisabeth sprang auf und starrte ihn ungläubig an. Er faßte ihre beiden Hände und schüttelte sie kräftig. »Es ist wirklich wahr, Liesel, o, ich freue mich unaussprechlich. Der kleine Junge selbst ist überglücklich, er muß mit Gewalt zurückgehalten werden, um diese ungewohnte Leistung nicht zu oft auszuführen.«

Elisabeth brach in Freudenthränen aus. »O, wie sollen wir Ihnen danken,« stammelte sie.

»So weit sind wir noch nicht, kleines Fräulein, dies ist der erste Schritt zur Besserung.«

»Ich möchte heim,« bat Liesel.

Gerd nickte. »Das haben wir alle erwartet, und Hans kommt heute nachmittag, Sie zu holen.«

Gerd brachte in Zukunft immer bessere Nachrichten aus der Mühle. Der kranke Rücken des Kindes war nun schon so kräftig, daß der Kleine sitzen konnte. Der junge Mann berichtete über jede Veränderung in dem Zustande seines Patienten an den ihm befreundeten Professor, auf dessen Rat nun ein paar Krücken für den kleinen Kranken angefertigt wurden.

Die ersten Versuche fielen schlecht aus, das Kind fühlte sich zu leicht ermüdet, allmählich aber konnte es gehen, und seine Freude war unbeschreiblich groß, als er sich selbständig durch die Zimmer zu bewegen vermochte. Zur Stärkung der Glieder hatte Gerd Fichtennadelbäder verordnet, die einen sehr wohlthätigen Einfluß auf den Kleinen ausübten.

Else und Suse nahmen lebhaft teil an den Vorgängen in der Mühle und legten sich oftmals die Frage vor: »Wird Elisabeth nun anders werden?«

»Ich glaube kaum,« sagte Suse; »sie neigt ein bißchen sehr zur Sentimentalität, darin hat Eva wirklich recht, und ich begreife vollkommen, daß diese beiden Charaktere nicht zusammen passen.«

»Eva nimmt sich aber jetzt sehr zusammen, um nicht unfreundlich gegen Liesel zu sein.«

»Ja, und es gelingt ihr auch. Sie ist ein Prachtmädel, du sollst sehen, Else, sie bahnt sich ihren Weg, denn was sie will, das führt sie auch durch.«

Else gab ihr recht, sie liebte Eva jetzt aufrichtig und freute sich auf ihre, sowie der andern Freundinnen Rückkehr von Herzen. So vergingen ihr die Ferien, die ihr zuerst wie eine kleine Ewigkeit vorgeschwebt hatten, unendlich schnell. Heute war der letzte Tag, und sie war mit Suse beschäftigt, die Zimmer Fräulein Reuters und der Freundinnen mit Blumen zu schmücken.

Es war ein Sonnabend, an dem alle, Elisabeth ausgenommen, eintrafen, um den Sonntag in Ruhe mit einander zu verbringen.

Mit wahrem Jubel wurden die Reisenden bewillkommt, wie schön war es doch, daß sie nun alle wieder beisammen waren, und was hatten sich die jungen Mädchen alles zu erzählen! Wohl wurden gar reichlich Briefe mit einander gewechselt, was sind aber die gegen den mündlichen Austausch!

Wallys Vater war gänzlich wiederhergestellt und in die Heimat zurückgekehrt. Das gräfliche Ehepaar hatte die Tochter nach Magdeburg geleitet, wo Fräulein Reuter sie in Empfang nahm. Am Sonntag kam auch Elisabeth, und am Montage begannen alle mit frischem Eifer die Stunden.

Nach drei Wochen waren Alfreds Ferien gleichfalls verflossen, und von Gerd begleitet, kehrte er nach Berlin zurück. Der letztere kam nach einigen Tagen wieder und konnte der sorgenden Mutter die tröstende Versicherung geben, daß ihr Liebling wohl geborgen und in den besten Händen sei. Die Ferien von Gerd und Hans währten bis tief in den Herbst hinein, und der erstere konnte solcherweise die Kur bei dem kleinen Ernst fortsetzen.

»Wenn der Junge bei meiner Abreise noch nicht laufen kann, nehme ich ihn mit nach Bonn,« pflegte er zu sagen, wenn von dem Kinde die Rede war.

Der Kleine ging jetzt mit seinen Krücken durch Haus und Garten und freute sich seiner zunehmenden Geschicklichkeit. Jeder blickte der kleinen Gestalt bewegt nach und pries den jungen Arzt, und die Mühlenarbeiter meinten, aus dem müsse noch einmal ein großer Herr werden, da er jetzt schon so gescheit sei und noch nicht einmal ausstudiert habe.

Gerd lachte, wenn ihm solche Reden zu Ohren kamen. Sein heiteres, freundliches Wesen gewann ihm vollends alle Herzen, und jung und alt freute sich, wenn er in Wallnitz erschien. Die Mühlenbewohner wußten nicht, wodurch sie ihm ihre Dankbarkeit beweisen sollten, und Herr Ehrhard sagte oftmals: »Wenn unser armer Junge sein Lebtag auch nur auf Krücken einhergehen sollte, so können wir Ihnen doch niemals vergelten, was Sie an ihm gethan haben.«

»Ich bitte Sie, Herr Ehrhard, auf zwei gesunden Beinen soll das Ernstchen einherlaufen, eher bin ich nicht zufrieden,« entgegnete Gerd.

Elisabeth befand sich noch immer in großer Erregung und Spannung wegen des zärtlich geliebten Brüderchens, und sie sah blaß und leidend aus, so daß jeder das innigste Mitleid mit ihr hatte.

»Ich begreife dich nicht, Liesel,« sagte Wally eines Tages, »du siehst doch, daß Ernstchen besser wird, du müßtest doch nun ebenso lustig sein, wie ich.«

Elisabeth schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht begreifen, Wally, wie es mich bewegt, wenn ich das Kind auf Krücken gehen sehe,« entgegnete sie.

»Sei nicht undankbar, Lisa,« rief Eva, »sondern danke Gott, wie deine Eltern es thun, daß das Kind so weit ist.«

Elisabeth seufzte und schwieg, und Eva verließ schnell das Zimmer, weil sie fühlte, daß ihre alte Ungeduld sie zu übermannen drohte.

Der Herbst kehrte in diesem Jahre frühzeitig mit rauhen Winden und häufigen Regengüssen ein, und die Geheimrätin dachte daran, Wildemann zu verlassen. Else fiel dieses Mal die Trennung von der Mutter besonders schwer, und die Geheimrätin behauptete, sie würde sich daheim ohne die sorgsame Pflege der Tochter gar nicht zurechtfinden.

»Nur ein halbes Jahr noch, Mamachen, und ich folge dir,« tröstete Else, »dann bleiben wir zusammen, und ich habe keine andern Pflichten mehr, als mein Mütterchen zu hegen und zu pflegen.«

Die Geheimrätin schob ihre Abreise immer noch hinaus, endlich aber trat schlechte Witterung ein, und sie trennte sich schweren Herzens von ihrem Töchterchen. Else konnte sich zuerst gar nicht daran gewöhnen, die liebe Mutter zu entbehren, allmählich aber fing sie an, sich auf das Wiedersehen am Weihnachtsfeste zu freuen.

Der November rückte ins Land und mit ihm Gerds Abreise. Die Frage, ob er den kleinen Ernst Ehrhard mit sich nehmen würde oder nicht, war noch immer nicht entschieden. Die Eltern des Kindes konnten sich nicht dazu entschließen, und Gerd wollte das Werk nicht halb ausgeführt lassen. Acht Tage waren noch Zeit bis zu seiner Abreise, bis dahin mußte die Entscheidung getroffen werden.

Elisabeth hatte keine Ruhe und Aufmerksamkeit für den Unterricht, sie dachte nur immer an das Brüderchen und dessen mögliche Abreise.

Es war an einem Sonnabendnachmittag, die Mädchen saßen arbeitend beisammen und waren eifrig in ihre Aufgaben vertieft. Nur Liesel entsank von Zeit zu Zeit die Feder, und sie sah träumerisch vor sich hin, da trat Sophie ein, sie zu Fräulein Reuter zu bescheiden.

Sie ging, blieb aber, als sie in Fräulein Reuters Zimmer trat, erstaunt auf der Schwelle stehen. Neben der alten Dame saßen ihre Mutter und Hans, und alle sahen sie ungemein froh und glücklich an.

»Nun Lisa, bist du sehr überrascht von dem unerwarteten Besuch? Komm näher, Kind und begrüße deine Mutter,« sagte Fräulein Reuter.

Elisabeth trat nun schnell näher und reichte Mutter und Bruder die Hand.

»Es ist doch nicht schlechter mit Erni, Mama?« fragte sie zitternd.

»Nein, Kind, im Gegenteil, es geht ihm so gut, daß er nicht mit nach Bonn zu reisen braucht.«

Elisabeth atmete tief auf. »Gott sei Dank,« sagte sie leise und sah fragend von der Mutter zum Bruder. »Ihr habt mir etwas zu sagen? Was ist es?«

»Ja, mein liebes Kind,« sagte Frau Ehrhard und zog die Tochter neben sich nieder, »ich habe soeben Fräulein Reuter gebeten, dich mit uns nach Hause fahren zu lassen, auf daß du dich mit uns unsres großen Glückes freust, denn Elisabeth, unser Ernstchen geht.«

»Geht,« wiederholte sie zweifelnd.

»Ja, Kind, er geht auf seinen eigenen gesunden Füßen.«

Das Mädchen stieß einen Freudenruf aus. »O Mama, ist das wirklich wahr?«

»Er hat schon vor drei Tagen die ersten kleinen Versuche gemacht, und seitdem ging es täglich besser, er ist heute sogar mit Papa bis zur Mühle gegangen, Hans hat ihn dann zurückgetragen, damit er sich nicht ermüde. Wir baten unsern jungen Freund, Herrn Winter, dir nichts davon zu sagen, und heute ließ ich es mir nicht nehmen, herzufahren und dir selbst diese Mitteilung zu machen. Du hast so viel um meinen kleinen Sohn gelitten, du armes Kind, daß ich die erste sein wollte, die dir diese Freudenbotschaft bringt.«

Sie zog die Tochter in ihre Arme und wollte sie küssen, Elisabeth aber riß sich gewaltsam los. Ein thränenloses Schluchzen kam über ihre Lippen. »Mama, ich verdiene deine Güte nicht,« stammelte sie, und plötzlich, als sie die Augen der Mutter groß und erstaunt auf sich gerichtet sah, sank sie zu ihren Füßen nieder und rief außer sich: »Stoß mich von dir, Mama, denn ich bin es ja gewesen, die das Kind unglücklich gemacht hat.«

Einen Augenblick herrschte dumpfes Schweigen nach diesem Bekenntnis, dann erhob sich Fräulein Reuter geräuschlos und verließ das Zimmer. Hans folgte ihr erschüttert: so gerne er der Schwester auch zur Seite gestanden hätte, in dieser schweren Stunde durfte kein dritter zwischen Mutter und Kind treten.

Frau Ehrhard sah einige Minuten wie gelähmt vor Schreck auf das knieende Mädchen; jetzt begriff sie alles, ihr scheues Zurückweichen vor ihren Zärtlichkeiten, den tiefen Gram um den Bruder, ihr stilles und gedrücktes Wesen, und sie wunderte sich, daß sie niemals auf diesen Gedanken gekommen war. Wie im Fluge ging ihr die Vergangenheit durch den Sinn. Zorn und Mitleid stritten um die Oberherrschaft in ihrem Herzen, sie sagte sich aber, daß dieser Augenblick entscheidend für ihrer beider Zukunft sei: jetzt oder nie konnte sie das scheue junge Herz gewinnen.

Leise legte sie die Hand auf das gesenkte Haupt: »Willst du dich mir jetzt anvertrauen, Elisabeth, wie ein Kind sich seiner Mutter anvertraut?«

Das Mädchen hob jäh den Kopf. »Verachtest du mich gar nicht, Mama?«

»Laß jetzt die Ueberschwenglichkeiten und sage mir alles, was dich drückt und quält, aber erst stehe auf und setze dich zu mir.«

»Laß mich erst mein Unrecht bekennen, Mama,« bat sie und begann stockend: »Als du vor sieben Jahren zu uns kamst, freute ich mich wohl auf dich, aber ich fürchtete mich auch, denn die alte Ursel im Dorfe hatte mir gesagt, ich sei ein gar weichliches Kind, es würde mir schlecht gefallen, denn Stiefmütter hätten oft eine rauhe Hand. Als du nun kamst und so ernst und strenge aussahest, floh ich scheu vor dir, wo ich nur konnte, und lebte mehr bei meiner toten Mutter auf dem Kirchhofe als bei dir. Als du mir den stundenlangen Aufenthalt an ihrem Grabe strenge untersagtest, glaubte ich in kindischem Unverstand, du gönntest der Toten die Liebe nicht, die mein Herz ausfüllte, und das trieb mich immer weiter von dir. Ich freute mich wohl, als dann die kleinen Brüder kamen, aber ich redete mir ein, daß du sie ja viel, viel mehr lieben müßtest als mich, und das machte mich oft trotzig und ungefügig. Und dann kam das große Unglück. Ich saß im Schulzimmer und arbeitete. Fräulein hatte mich auf eine Weile verlassen, und die Sonne schien so verlockend ins Fenster. Ich konnte nicht widerstehen, warf meine Bücher hin und lief in den Garten. An der Pforte, die in den Wald hinausführt, stand Ernis Wagen mit dem Kleinen, der schrecklich weinte; von Hanna, dem Mädchen, keine Spur. Ich nahm Erni heraus, ließ ihn tanzen und freute mich über sein fröhliches Lachen und Jauchzen. Da plötzlich, noch weiß ich heute nicht, wie es geschehen konnte, entglitt er mir, als ich ihn wieder in die Höhe schwenken wollte, und fiel zu Boden. Er schrie nur einmal leise auf, dann wurde er weiß und still, und ich glaubte, er sei tot. O, Mama, was ich auch verschuldet haben mag, in dem Augenblick habe ich es gebüßt. Ein namenloses Entsetzen ergriff mich, ich lief, wie verfolgt ins Haus und in die Schulstube. Niemand hatte mich gesehen, denn alle waren auf den Wiesen beschäftigt und du mit Karlchen in der Mühle. Als ich einen Augenblick bei meinen Büchern saß, kam Fräulein zurück, ich neigte mich tief über meine Arbeit, damit sie mein blasses, verängstigtes Gesicht nicht sehen sollte. Sie achtete jedoch nicht sonderlich auf mich, sondern vertiefte sich in ihre eigenen Bücher. Ich lauschte voller Angst auf jedes Geräusch im Hause. Ich hörte dich mit Karlchen zurückkehren, dann wurde alles wieder still; aber nun erscholl Hannas lautes Jammergeschrei, und es ward im Hause lebendig. Fräulein sah mich verwundert an und ging hinunter, um zu sehen, was es gäbe. Ich folgte ihr zitternd; ich wußte ja, daß mir jeder sagen würde: ›Erni ist tot!‹, ich mußte aber hinunter. In der allgemeinen Aufregung achtete niemand auf mich, und zitternd vor Angst verkroch ich mich, als ich Papas Zorn sah, wie er die arme Hanna aus dem Hause jagte. Sie hatte den Kleinen doch nur für Augenblicke verlassen, was würde er nun mit mir thun, wenn er erführe, daß ich das Kind getötet habe? Ich vermochte es nicht zu gestehen. Später, als Erni so jammervoll dalag, hätte ich oft gerne Papa oder dir ein Geständnis abgelegt, aber ich fürchtete, du würdest mich hassen und auch Papa und Hans würden mich nicht mehr lieben, und das war mehr, als ich ertragen hätte.

Was ich in diesen Jahren ausgestanden habe, kann ich keinem Menschen sagen. Ich zog mich immer mehr von dir und Papa zurück, eure unverdiente Liebe wurde mir zur Qual. Das einzige, was mir eine gewisse Erleichterung gewährte, war Erni zu dienen; dann aber wieder war es mir unmöglich, ihn leiden zu sehen, und ich war froh, als Papa mich hierher brachte. Ich bin in letzter Zeit oft nahe daran gewesen, dir ein Geständnis meiner Schuld abzulegen, Mama, wenn du so gut gegen mich warst, ich konnte es aber nicht. Nun ist es doch über mich gekommen, die Freude über Ernis Genesung war zu groß.«

»Thut es dir leid, gesprochen zu haben, Elisabeth?«

»Nein, Mama, ich bin die entsetzliche Bürde los, die mich fast zu Boden drückte, und ich fühlte, daß ich bei meiner Konfirmation nicht an Gottes Altar treten könnte, mit dieser Lüge im Herzen. Mache nun mit mir, was du willst, Mama, ich habe die strengste Strafe verdient, und wenn ihr mir alle eure Liebe entzieht, muß ich es tragen.«

»Deine Strafe hast du durch dein Schweigen schon hinlänglich empfangen, Elisabeth; ich glaube, wir hätten dich nicht empfindlicher strafen können, als du es selbst gethan hast. Weißt du aber wohl, Kind, daß du mit deinem Schweigen deinen Eltern bitteres Unrecht gethan hast? Ein Kind muß Vertrauen zu seinen Eltern haben und sofort zu ihnen kommen, wenn es ein Unrecht begangen hat. Wenn du kein Vertrauen zu mir hattest, so hättest du es zu deinem Vater sagen müssen, denn er hat dir stets nur die größte Liebe und Nachsicht bewiesen. Und nun den Kopf hoch, Elisabeth, sieh mich an. Meine Verzeihung will ich dir gewähren, und ich beklage nur von ganzem Herzen, daß ich dir nicht längst die Last von der Seele nehmen konnte, ich hätte es mit Freuden gethan. Und nun sage mir, Elisabeth, wird es mir nie möglich werden, deine Liebe zu gewinnen?«

»O, Mama, ich habe dich ja so innig lieb und wußte doch, daß ich deiner Güte so wenig wert war.«

»So soll es jetzt anders zwischen uns werden,« entgegnete Frau Mathilde und zog das Mädchen in ihre Arme, »ich will dir stets eine treue, liebevolle Mutter sein, und nicht wahr, du bringst mir rückhaltloses Vertrauen entgegen?«

»Ja, Mama,« flüsterte Elisabeth und schmiegte sich fest an sie, »hast du mich denn wirklich lieb – und jetzt noch, nachdem du weißt –«

»Sei still davon, Ernst ist, Gott sei gelobt, gesund geworden – und wir alle wollen ein neues Leben beginnen. Ich habe dich immer lieb gehabt, bin aber keine Natur, die ihre Gefühle äußern kann, und bin wohl viel schuld, daß ich dein weiches, liebebedürftiges Kinderherz nicht gewann. Nun ist aber die letzte Schranke zwischen uns gefallen, und ich danke Gott dafür von ganzem Herzen.« Sie küßte die Tochter und erhob sich. »Und nun komm zu Fräulein Reuter.«

Elisabeth erschrak. Was würde die verehrte Lehrerin, was Bruder Hans zu ihr sagen? Unwillkürlich schob sie ihre Hand in die der Mutter.

Diese sah freundlich auf sie nieder. »Du stehst unter meinem Schutz, Kind, sei unbesorgt,« sagte sie und führte sie in das Wohnzimmer, wo Fräulein Reuter mit Hans saß. »Ich bringe Ihnen hier meine Tochter, Fräulein Reuter, sie hat mir gestanden, welches Unrecht sie begangen hat, und ich habe ihr von Herzen vergeben. Ich bitte Sie nun herzlich, meiner Elisabeth auch ferner Ihre Liebe und Teilnahme zu erhalten.«

»Dieser Bitte bedarf es nicht erst,« entgegnete die alte Dame und zog das blasse Mädchen in ihre Arme. »Ich habe seit längerer Zeit geahnt, was dich drückt, mein armes Kind, und ich danke Gott, daß du endlich gesprochen hast.«

Auch Hans umarmte die Schwester und sah bewegt in deren traurige Augen. »Arme Lisa, was mußt du gelitten haben.«

»O Hans, hast du mich dennoch lieb?«

»Das wäre eine Bruderliebe, die sich so schlecht bewährte! Und nun wirst du endlich froh werden, Lisi?« Er zog die Schwester mit sich in die Fensternische und ließ sich von ihrem ganzen Leid erzählen, während Frau Ehrhard Fräulein Reuter den Sachverhalt mitteilte, dann aber drängte sie zum Aufbruch, und auch Elisabeth sehnte sich heim zum Vater und zum Brüderchen.

Sie ging noch einmal in die Klasse, sich von den Freundinnen zu verabschieden und teilte ihnen mit feucht schimmernden Augen mit, daß ihr Brüderchen genesen sei. – Jubelnd umringten sie die Mädchen und drückten ihr die Hände.

»Liesel, nun wirst du auch endlich froh, nicht wahr?« rief Wally.

Diese nickte ihr unter Thränen zu. »Fräulein Reuter wird euch alles erzählen, alles – und wenn ihr könnt, behaltet mich lieb.« Sie ging und einen Augenblick später kam der Wagen, sie mit Mutter und Bruder heimzuführen. Fräulein Reuter erzählte den jungen Mädchen, was wir bereits wissen, und fügte zum Schlusse hinzu: »Elisabeth hat ja sehr unrecht gegen ihre Eltern gehandelt, da diese ihr aber verzeihen, ist es nicht an uns, ihr den Fehler nachzutragen, und ich hoffe, daß ihr sie Mittwoch mit der größten Herzlichkeit empfangen werdet.«

Das versprachen die Mädchen und redeten noch viel über die abwesende Freundin.

»Tante,« sagte Eva, »ich kann mich gar nicht in Elisabeths Charakter hineindenken. Wie kann man nur nicht den Mut haben, ein begangenes Unrecht einzugestehen?«

»Du hättest ihn freilich, meine Eva, und ich lobe das; bei Elisabeths scheuem Charakter begreife ich es aber, hoffe jedoch sehr, daß ihre Leidenszeit ihr auch zur Segenszeit geworden ist und daß sie in derselben das rechte Vertrauen zu ihren Eltern und die Liebe zu ihrer Mutter gefunden hat. Ich denke, sie soll nun in eurem Kreise ein fröhliches, heiteres Mädchen werden.«

»Ja, Tante, es wäre ein Segen, wenn sie ihre Sentimentalität ablegen wollte,« rief Eva.

»Dafür wollen wir nach Kräften sorgen,« fügte Wally hinzu. »Das erste nach ihrer Rückkehr ist, daß sie als Mitglied unsres Bundes feierlich aufgenommen wird. Sie darf sich jetzt nicht mehr weigern. Nicht wahr, Tantchen, wir dürfen große Vorbereitungen treffen?«

Die alte Dame gab bereitwillig ihre Zustimmung, und die jungen Mädchen berieten nun eifrig, wie sie dieses Fest am würdigsten begehen könnten.

Gerd wurde ins Vertrauen gezogen, und die Beratung fiel zu allgemeiner Zufriedenheit aus. Der junge Mann ging nach Wallnitz hinüber, Herrn Ehrhard mit Frau und Sohn zum Mittwoch abend zu Fräulein Reuter einzuladen, um Elisabeths feierlicher Aufnahme in den Bund beizuwohnen. Hans begleitete ihn zurück und bat die jungen Mädchen, ihn der Ehre teilhaftig werden zu lassen, als Ritter einzutreten.

Dieselbe ward ihm gerne bewilligt und Wally rief: »Meine Kreuze kommen doch alle an den Mann, nun habe ich nur noch eins, wem könnten wir das stiften?«

»Wißt ihr was?« sagte Suse, »Edmund ist freilich noch ein Junge, er wünscht aber brennend aufgenommen zu werden.«

»Ja, er hat auf dem Konzert so wundervoll Flöte geblasen,« rief Wally, »er hat sich wirklich sehr verdient um den Bund gemacht,« und auch die übrigen waren einverstanden. Endlich brach der mit Sehnsucht erwartete Tag an. Gegen Abend fuhr der Wagen aus Wallnitz vor, und nach frohem Willkommensgruß begaben sich die Reisenden ins Haus. Elisabeth wurde aufs herzlichste von den Freundinnen empfangen und im Triumphe die Treppe hinauf in ihr Zimmer geführt.

Voller Staunen blieb sie vor der Thür stehen. Eine Guirlande von Fichtenzweigen umgab sie und in der Mitte prangte die Inschrift: »Willkommen dem jüngsten Mitglied des silbernen Kreuzbundes.« Gerührt umarmte sie die Freundinnen. »Wie gut ihr gegen mich seid,« sagte sie, »wie soll ich euch je meine Dankbarkeit und Liebe beweisen?«

»Indem du recht lustig mit uns wirst, Liesel,« rief Wally.

Gegen sieben Uhr erschienen die geladenen Pfarrbewohner und bald ging es zu Tische.

Nach dem Essen begaben sich alle in den Saal, den die jungen Mädchen mit Pohls Hilfe ebenfalls mit Tannengrün hübsch geschmückt hatten, und Gerd hielt eine schwungvolle Rede, in der er noch einmal die hohe Bedeutung des Bundes hervorhob und auf die Wichtigkeit des Abends hinwies. Wally brachte sodann das bekannte Lederkästchen hervor, in dem Kreuz und Kette für Elisabeth lagen. Eva legte es ihr um, und Wally rief: »Siehst du, Liesel, ich habe schon im Sommer für diesen großen Augenblick gewirkt. Papa hat die Kette für dich anfertigen lassen, und damit du alles so haben sollst wie wir, hat Mamachen dir auch einen Vers geschrieben.« Sie nahm eine zierliche Karte aus dem Karton und las:

»Die traut'ste Heimat nennst du dein.
O, lerne hoch sie halten.
Bring Jugendlust und Freud' hinein,
Laß Frohsinn stets drin walten.
Sei du das Sonnenlicht daheim,
So wird in dir auch Frieden sein.«

Elisabeth drückte unter Thränen Wallys Hand. »Wie lieb von deiner Mama, aber ein Sonnenstrahl kann ich nie sein. Dazu habe ich zu Schweres durchgemacht.«

Wally schlug in komischem Entsetzen die Hände zusammen. »Nun hört nur. Spricht sie nicht gerade, als ob sie fünfzig Jahre alt sei und mindestens dreimal an gebrochenem Herzen gestorben wäre?«

Alle lachten fröhlich, und auch Elisabeth mußte einstimmen. Nun wurden auch Hans und Edmund dekoriert; der erstere dankte im Namen der neu aufgenommenen Bundesglieder für das Vertrauen, das ihnen durch die Aufnahme erwiesen sei, und fügte hinzu, daß sie sich desselben stets würdig erzeigen würden.

Dann wurden Spiele arrangiert, die älteren Herrschaften begaben sich in das Nebenzimmer und sahen aus der Ferne dem lustigen Treiben zu. Niemand wußte, wer zuerst das Wort »Tanzen« ausgesprochen hatte, es wurde aber mit Jubel aufgenommen, und da Fräulein Reuter ihre Erlaubnis gab, drehten sich bald mehrere Paare im Reigen. Die alte Dame ließ sich sogar erbitten, einige Tänze zu spielen, und frohe Lust blitzte aus den Augen der jungen Menschen.

Selbst Elisabeth, die erst wenig getanzt hatte, wurde von der allgemeinen Lust mit fortgerissen, und mit stiller Freude sahen ihre Eltern, wie sich ihr blasses Gesicht rötete und ihre Augen zu strahlen begannen, wie die der andern Mädchen.

Der Müller nickte seiner Frau glücklich zu. »Nun wird alles gut, Mutter,« sagte er, »unsre beiden lieben Kinder sind genesen; du sollst sehen, unsre Lisi wird nun ein ganz munteres Mädchen.«

Da stand plötzlich Wally vor ihm und machte einen zierlichen Knix.

»Nun, Komteßchen, was soll's?«

»Es soll eine Aufforderung zum Tanz sein,« entgegnete sie lachend.

»Um Himmelswillen, Komteßchen, ich habe seit meiner Hochzeit nicht mehr getanzt,« rief er in aufrichtigem Schreck.

»Thut nichts, so etwas verlernt sich nicht,« versetzte Wally eifrig, »hören Sie nur den himmlischen Walzer, den Tante Helene spielt, glauben Sie, daß ich zusehen will, wenn alle tanzen? Ach, Papa Ehrhard, Sie werden einer Dame doch keinen Korb geben?«

Er erhob sich unschlüssig. »Aber Komteßchen, wenn Sie mich anblicken, werden Sie doch einsehen, daß ich nicht mehr tanzen kann?«

»Nein, gar nicht,« beharrte sie und zog ihn mit sich in den Saal, »ich habe im Gegenteil immer gehört, daß dicke Leute ganz wundervoll tanzen sollen.«

Der Müller war in seiner Jugend ein vorzüglicher Tänzer gewesen, und er wunderte sich, wie gut es noch ging, und Wally war entzückt. Nun wollten aber alle Mädchen mit »Papa Ehrhard« tanzen, und obgleich Wally erklärte, er sei ihr Tänzer, den sie sich mit Not und Mühe erobert, so that er ihnen doch den Willen und tanzte mit jeder einmal herum. Dann zog er sich ins Nebenzimmer zurück und sank auf seinen Stuhl: »Ist das eine Arbeit,« rief er und trocknete seine Stirn, »ich glaube, ich komme den ganzen Abend nicht wieder zu Atem.«

Pastor Winter lachte herzlich, erhob sich und ging in den Saal. Wally hatte Fräulein Reuters Platz eingenommen und wollte gerade einen lustigen Galopp spielen, Pastor Winter sagte aber: »Wißt ihr wohl, Kinder, daß es fast zehn Uhr ist? Ihr thut gut, jetzt ein ruhiges Spiel zur Abkühlung vorzunehmen, dann wollen wir heimgehen.«

»O Herr Pastor –« »Lieber Herr Pastor –« er war aber unerbittlich, und unter tiefem Bedauern, daß der hübsche Abend so schnell verflossen sei, trennte man sich bald darauf.

Als Elisabeth sich zur Ruhe legte, dankte sie Gott, daß die Last von ihrem Herzen genommen war und sie ebenso ruhig und sorglos schlafen durfte, wie die lieben Freundinnen. Ob sie wohl je das Sonnenlicht daheim sein könnte? Wie hübsch mußte es sein! Sie wollte es versuchen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.

Es hätte schon Frühling werden müssen, und doch lag die Erde noch in starrem Eisschlaf; es schien, als wollte der gestrenge Herr Winter sein Regiment noch lange nicht abtreten. Die Sonne leuchtete wohl hell und warm, aber ein eisiger Nordost jagte über die Berge, und sie vermochte somit nichts auszurichten, sie konnte die Eis- und Schneedecke nicht durchdringen. Die Sonnenstrahlen alle schienen sich heute vereinigt zu haben, um das Kirchlein droben auf dem Berge in eine wahre Flut von Licht zu tauchen. Sie huschten durch die Fenster und umgaben die vielen hellen und dunklen Köpfe der andächtig in den Betstühlen sitzenden Kinder wie mit einem Glorienschein. Hier fielen sie auf ein tief gesenktes Köpfchen, dort in ein von heiliger Andacht erhobenes junges Antlitz und hier in ein thränenüberströmtes.

Es war Palmsonntag und die jungen Christen hatten sich um ihren Hirten geschart, der ihnen soeben eine ernste, liebevolle Mahnung mit auf den Lebensweg gegeben. Sein Text war gewesen: »Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst.« Er entließ die jungen Seelen, die er in treuer Liebe geleitet und geführt, und er bat sie mit beweglichen Worten, nie zu vergessen, was sie ihrem Herrn in dieser heiligen Stunde gelobt hätten.

Nach der Konfirmation knieten die jungen Christen vor dem Altar nieder, um zum ersten Male das heilige Abendmahl zu empfangen. Zuerst die Knaben. Da finden wir zwei liebe Bekannte: Fritz und Konrad, die gerne mit den Schwestern zusammen konfirmiert werden wollten und nun schon seit acht Tagen in Wildemann weilten; als letzten der Knaben bemerkten wir den Pilzfriedel.

Nun kamen die Mädchen an die Reihe. Pastor Winters Antlitz war bewegt, als sein Blick auf unsre sechs jungen Freundinnen fiel, und bewegt klangen die Worte, die er zu ihnen sprach. Nach dem Segen reichte er allen die Hand, und sie gingen vom Altar hinab zu ihren Stühlen, wo die Angehörigen sie empfingen, sie segnend und beglückwünschend in die Arme zu schließen. Bewegt sanken die Kinder an die treue Vater- oder Mutterbrust, und die ernsten Vorsätze, die in dieser schönen Zeit von ihnen gefaßt worden waren, wurden still aufs neue gelobt.

Am bewegtesten war wohl Else. Weinend schmiegte sie sich an den Onkel, der allein zu der Einsegnung gekommen war, da die ungünstige Witterung der Geheimrätin zu ihrem größten Kummer die Reise nicht gestattete. Else entbehrte die treue Mutter aufs schmerzlichste, die Trostworte des Onkels vermochten sie kaum zu beruhigen. Unter leise verhallenden Orgelklängen verließen die Andächtigen die Kirche, und jedes Elternpaar führte sein Kind in das eigne traute Heim.

Wie schön ist doch der Konfirmationstag! Mit welcher Liebe wird doch so ein junges Menschenkind umfaßt, und mit welcher Liebe umfaßt es selbst wieder Gott und die Menschen. Das Herz ist ihm so voll von hohen, heiligen Gedanken und Vorsätzen, es meint, diesen Tag und das Gelübde, das es soeben abgelegt hat, nie vergessen zu können. Wohl ihm, wenn es sich treu bewährt, wenn es das Wort nie vergißt: Liebe Gott über alles! Wer in steter Gemeinschaft mit seinem Gotte lebt, der wird niemals vom rechten Wege abweichen, ob das Schicksal ihn auf die Höhen des Lebens führt oder in die Tiefen, in Armut und Sorgen – alles muß ihm zum Segen gereichen, wenn er es mit gläubigem, kindlichem Vertrauen aus Gottes Vaterhand entgegennimmt.

Fräulein Reuter hatte um die Gunst gebeten, die Eltern ihrer lieben Zöglinge zum Mittagessen bei sich zu sehen; auch die ganze Pastorenfamilie war gebeten zu kommen, denn die Freundinnen wollten diesen Tag noch zusammen verleben. Die Pastorin hatte ein Mädchen zur Hilfe in die Villa geschickt, und als alle dorthin kamen, war die Tafel im Saal auf das hübscheste gedeckt.

Ehe man zu Tische ging, hatten die jungen Mädchen noch eine Ueberraschung. Trine kam mit Christel und Friedel, um den jungen Herrschaften Glück zu wünschen. Dann zog sie ein ziemlich umfangreiches Packet unter ihrem Tuch hervor und legte es auf den Tisch.

»Wir wollen uns doch gern mal dankbar bezeigen,« sagte sie. »Die Fräulein sind immer so gut gegen uns gewesen, daß wir's ihnen unser Lebtag nicht vergessen können, und da wollten wir doch auch mal etwas thun. ›Mutter‹, sag' ich, ›für so feine Fräuleins muß man auch was Feines nehmen‹, und da die Wolle, die Mutter vergangenen Sommer gesponnen hat, so sehr schön war, haben wir, ich und Christel, Strümpfe daraus gestrickt.« Sie schlug das Papier auseinander und sah mit gerechtem Stolz auf die feinen, weißen Strümpfe, die zu tragen sich selbst das Komteßchen nicht zu schämen brauchte.

Die jungen Mädchen bewunderten die Gabe denn auch gebührend, dankten Trine und Christel aufs herzlichste und sandten auch Großmutter den besten Dank.

»Ach,« sagte Trine, »die Fräuleins denken doch gewiß mal an uns, wenn sie die Strümpfe tragen. Wir werden Sie nimmer vergessen, und es ist bei uns ein großes Grämen, daß Sie fortgehen.«

»O Trine, ich bleibe ja hier,« sagte Suse tröstend.

»Und ich bin auch in der Nähe,« setzte Elisabeth hinzu.

»Ja, das ist auch ein Glück,« entgegnete Trine, »es wäre sonst auch gar so einsam bei uns. Wir leiden ja keine Not mehr, dafür haben ja die Fräuleins gesorgt, es war aber immer ein Fest für uns, wenn wir ihre lieben freundlichen Gesichter sahen.«

Nachdem sie den jungen Mädchen alles mögliche Gute für die Zukunft gewünscht, und Friedel sich für den Anzug bedankt hatte, den der Bund ihm bescherte, ging sie mit ihren Kindern. Es sei hier gleich bemerkt, daß Friedel nach Ostern als Müllerbursche bei Herrn Ehrhard eintrat. Er war öfter bei seinem Vater in Wallnitz gewesen, und da Herr Ehrhard Gefallen an dem kräftigen, aufgeweckten Burschen fand, bot er dem Vater desselben an, ihn in die Mühle zu nehmen. Christoph nahm das Anerbieten seines Herrn mit Freuden an, und Friedel war es wohl zufrieden, denn das große Mühlengetriebe hatte längst sein Interesse erregt, und er war stolz, in dasselbe eintreten zu dürfen.

Zum letztenmal versammelten sich nun alle in dem festlich geschmückten Saale zur gemeinsamen Mittagstafel. Mit der ernstesten Miene der Welt wartete Pohl auf, natürlich in seinem »Gräflichen«, dem zu Ehren er sich auch bemühte, eine würdevolle, steife Haltung anzunehmen. Nur als Wally ihrem alten Freunde beim Dessert zuraunte: »Ach Pohl, dies ist nun das letzte Mal,« zuckte es in seinem alten Gesicht, und er entgegnete seufzend: »Kann sein, Komteßchen, daß wir nochmal wieder zusammen essen, kann aber auch nicht sein.«

Graf Thalenhorst dankte Fräulein Reuter im Namen der anwesenden Eltern für die treue Liebe, die sie den ihr anvertrauten Kindern erwiesen hatte; zu gleicher Zeit sprach er auch Pastor Winter für die Mühe und Sorgfalt, die er mit Fräulein Reuter vereint an die Bildung der jungen Seelen verwandt hatte, seinen wärmsten Dank aus.

Pastor Winter dankte in Fräulein Reuters und in seinem Namen für das Vertrauen, welches die Eltern, und für die Liebe, die ihre Zöglinge ihnen entgegengebracht hatten, und er fügte hinzu, daß es ihnen beiden eine Freude gewesen sei, die jungen Mädchen zu unterweisen und zu erziehen, und sie entließen sie in der festen Hoffnung, daß der in ihre Herzen gestreute gute Same aufgehen und herrliche Früchte bringen würde.

In den Augen der Konfirmandinnen standen Thränen, und still im Herzen gelobten sie ihrem treuen Seelsorger, seine Lehren nie zu vergessen.

Nachmittags fuhren Müller Ehrhards heim. Liesel ward die Trennung von Fräulein Reuter und den Freundinnen sehr schwer, und nur die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen mit Eva und Maria tröstete sie, denn sie ging nach dem Feste zu Doktor Reuter nach Hamburg, um mit Eva zusammen das Seminar zu besuchen.

Am nächsten Morgen reisten Graf und Gräfin Thalenhorst mit Wally, und Doktor Bauer mit Else ab. Alle, auch Pastor Winter gaben den Scheidenden das Geleite zum Bahnhofe. Hier gab es nun unter den jungen Mädchen ein Umarmen und Küssen ohne Ende. In aller Eile wurden die Gelübde ewiger Treue erneuert, dann aber mahnte Graf Thalenhorst zum Einsteigen, und sie mußten sich losreißen, nachdem sie Fräulein Reuter schnell noch einmal umarmt hatten. Die Thüren wurden zugeschlagen, da stürzte Gerd plötzlich atemlos herbei, zwei Veilchensträuße in der Hand, die er den jungen Mädchen durch das Fenster reichte.

»O Gerd, Sie sind zu nett,« rief Wally.

Er verbeugte sich lachend. »Die kleinen Sträußchen sollten gestern schon hier sein, Komteßchen, ich habe sie aber soeben erst von der Post geholt.« Er beugte sich Else zu: »Vergessen Sie mich nicht, Fräulein Else,« flüsterte er und sprang hastig zurück, denn das Zeichen zur Abfahrt wurde gegeben.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Tücher wehten hin und her, und zwei thränenüberströmte Mädchengesichter beugten sich aus dem Fenster. »Lebt wohl, lebt alle wohl,« rief Wally.

Eine einsame Gestalt stand bei der Ausfahrt, den Hut in der Hand. »Das ist Pohl, lieber Pohl,« schluchzte das Komteßchen, und auch über sein altes Gesicht rannen langsam ein paar Thränen.

Er starrte dem Zuge nach, bis er verschwunden war, dann fuhr er mit dem Aermel über die nassen Augen: »Bist ein Narr, Alter,« schalt er sich, »zu greinen wie ein altes Weib. Kann mir aber nicht denken, wie wir's ohne das kleine Kind aushalten sollen.« Er seufzte und folgte seiner Herrschaft in respektvoller Entfernung zur Stadt. Da blieb sein Auge an der beweglichen Hedwig, Evas jüngerer Schwester, haften. »Kann sein, daß wieder andre schöne Zeiten kommen, kann aber auch nicht sein,« murmelte er, »muß sich erst zeigen, ob das Neue so gut ist, wie das Alte.«

Zu Hause angelangt, teilte Gerd seine übrigen Veilchensträuße aus, und Hans, der schon früh gekommen war, den Reisenden das Geleite zu geben, nahm der Schwester den ihren mit.

Doktor Reuters blieben bis nach dem Osterfeste in Wildemann und nahmen Elisabeth dann gleich mit in ihre neue Heimat. Die muntere Hedwig aber blieb zurück unter Tante Helenes Obhut, um von ihr erzogen zu werden. Fräulein Reuter wollte den Unterricht in der früheren Weise fortführen.

Außer Hedwig sollten Martha und ihre beiden kleinen Freundinnen an demselben teilnehmen, Apothekers Mariechen und Doktors Lenchen. Auch erwartete Fräulein Reuter noch zwei kleine Zöglinge, Töchter ihrer Freundin aus Braunschweig, Olga und Anna Lehnert. Da sich die alte Dame aber nicht mehr ganz kräftig fühlte, hatte sie eine junge Lehrerin engagiert, die den Unterricht mit ihr und Pastor Winter erteilen sollte. Leonore Roland war eine Waise, und Fräulein Reuter freute sich, dem jungen, schutzlosen Wesen eine stille, friedliche Heimstätte bieten zu können.

Eigentlich hatte Fräulein Reuter nicht die Absicht gehabt, abermals junge Mädchen ins Haus zu nehmen, ihr Bruder und ihre Schwägerin hatten sie aber flehentlich gebeten und ihr vorgestellt, daß aus ihrer kecken, zügellosen Hedwig nur unter ihrer Leitung etwas werden könnte, so daß sie schließlich nachgab. Dazu kam die Bitte der fortwährend kränkelnden Freundin, sich ihrer beiden Kinder anzunehmen, die bei ihrer zunehmenden Schwäche ganz auf die Dienstboten angewiesen seien. So hatte sie nachgegeben, und sie bereute es nicht, denn sie fühlte, daß es ihr gar einsam im Hause sein würde ohne jugendlich frische Stimmen. Im geheimen dachte sie auch an Evas Zukunft; vielleicht konnte diese einmal ein großes Pensionat anlegen und fand dann die Wege schon gebahnt; sie selbst fühlte sich zu alt dazu, aber für Evas frische junge Kraft war es ein Plan, der wohl einmal zur Ausführung gebracht werden konnte.

Die kleine Hedwig war sehr damit einverstanden, daß sie in Wildemann bei Tante Helene bleiben sollte; es war etwas neues, und das hatte für sie stets ungeheuren Reiz. Sie hatte schon intime Freundschaft mit Martha geschlossen – eigentlich mehr von ihrer, als von Marthas Seite – und sie setzte das schüchterne kleine Mädchen immer von neuem in Staunen durch ihre wunderbaren Erzählungen vom Hamburger Leben.

Das Osterfest war vorüber, und Doktor Reuters waren mit ihren Kindern und Elisabeth abgereist. Es war ganz still im Hause, und Fräulein Reuter saß am Fenster und blickte wehmütig in den einsamen Garten. Wie lieb hatte sie die sechs jungen Mädchen gehabt, die sie nun aus ihrer Obhut entlassen hatte! Würde sie auch ihre neuen Zöglinge so lieben können, und würden diese ihr auch so empfängliche Herzen entgegenbringen?

Da schlangen sich zwei weiche Arme um ihren Nacken und Hedwigs rosiges Gesicht tauchte vor ihr auf.

»Bangst du dich nach Eva und Marie, liebe Tante? Ich habe dich schon ganz schrecklich lieb und will alles thun, was du mir sagst. Und nicht wahr, du hast mich auch ein bißchen lieb, wenn ich auch manchmal wild und vorlaut bin? Eva sagt, bei dir muß man gut werden, und ich will ja so gerne.«

Fräulein Reuter drückte das Kind fest ans Herz und küßte den rosigen Mund. Gott sei Dank, sie hatte ein neues Arbeitsfeld vor sich, und sie wollte rüstig weiter arbeiten, schaffen und sorgen, Gott zur Ehre, den ihr anvertrauten jungen Seelen zum Segen!


Die jungen Leserinnen, welche die Personen dieser Geschichte liebgewonnen haben, werden gerne erfahren, daß ein weiterer Band in Vorbereitung ist, welcher den Titel führen wird:

»Komteß Wally. Neues vom Silbernen Kreuzbund.«

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