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Elftes Kapitel.

Endlich nahte die Weihnachtszeit, die liebe, selige, der alle Kinderherzen mit gleicher Sehnsucht und gleicher Freude entgegenschlagen. Es war ein echtes Weihnachtswetter, das heißt, der Schnee glitzerte auf den Dächern und lag wie ein krystallener Schmuck auf den majestätischen Tannen, welche die Zweige leicht unter seiner Last neigten. Die Nachmittagssonne leuchtete freundlich nieder auf die weiße Hülle, die auf Berg und Thal ruhte.

In zwei Tagen war heiliger Abend, da war es kein Wunder, daß die Augen der jungen Wanderer gar fröhlich leuchteten, die von dem Dörfchen Grünberg nach Wildemann marschierten. Wir erkennen in ihnen unsre jungen Freundinnen, und in den beiden schlanken Jünglingen Gerd und Alfred, die Arm in Arm neben den jungen Mädchen einherschritten. Sie kamen aus dem Schreiberschen Häuschen, wo sie alt und jung in reichem Maße beschert und fast überschwenglichen Dank geerntet hatten. Es war ihnen überdies die Genugthuung geworden, daß sie Christoph wiedersahen, der gerade jetzt vor Weihnachten aus der Klinik entlassen wurde und ihnen mit treuherziger Dankbarkeit die Hände gedrückt hatte.

Sein Antlitz war nicht mehr blaß und abgehärmt, und aus seinen Augen hatte die Freude der Wiederherstellung gesprochen.

Vor Fräulein Reuters Hause trennten sich die Freundinnen von den Jünglingen und den Kindern; auch Suse war für den Abend eingeladen, da Fräulein Reuter eine Bescherung mit ihren Zöglingen feiern wollte, denn am folgenden Tage reisten die jungen Mädchen heim.

Fröhlich eilten sie ins Haus, um der alten Dame ausführlich ihre Erlebnisse mitzuteilen. Welche Ueberraschung harrte aber ihrer. An Fräulein Reuters Seite saß ein stattlicher Herr, der sich bei dem Eintritt der jungen Mädchen erhob. Verdutzt und verlegen blieben diese stehen, nur Wally stieß einen Jubelruf aus, warf Else fast um und sprang in die Arme des Herrn, der sie zärtlich ans Herz drückte. »Papa, lieber, einziger Papa, wie ist es möglich, daß du schon hier bist?« rief sie.

»Ich hatte mir es so hübsch gedacht, mein Töchterchen zu überraschen, und bin mit einem früheren Zuge gefahren, traf meinen Wildfang aber natürlich nicht daheim.«

»O Papa, das hätte ich nur wissen sollen, aber die Bescherung hätte ich mir auch nicht können entgehen lassen.«

Der Graf lachte heiter. »Mache mich jetzt mit deinen Freundinnen bekannt, Kind,« sagte er.

»Rate, Papa, du mußt jede einzelne nach meinen genauen Beschreibungen kennen,« rief Wally und zog den Vater näher zu den Freundinnen.

Lächelnd ließ der Graf seine Blicke über die rosigen Mädchengesichter gleiten und sagte dann zu Maria: »Ich kann gar nicht irren, Sie sind Fräulein Maria?« Diese verneigte sich errötend, und der Graf riet zur allgemeinen Belustigung weiter. Er war jedoch nicht immer so glücklich, und es rief ein fröhliches Gelächter hervor, als er Else, die eine besonders vornehme Haltung angenommen hatte, für die unscheinbare Suse und diese wieder für Else hielt. Die letztere war innerlich tief gekränkt, ließ es sich jedoch nicht merken, dachte aber, Wally müßte ein schlechtes Bild von ihr entworfen haben.

»Morgen werde ich wohl das Vergnügen haben, die sämtlichen jungen Damen, Fräulein Suse ausgenommen, unter meinen Schutz zu nehmen?« fragte der Graf freundlich.

»Nicht wahr, Papa, das thust du gern?« rief Wally. »Ich denke es mir furchtbar interessant für einen Herrn, mit vier so hübschen jungen Mädchen zu reisen.«

Der Graf wandte sich Fräulein Reuter zu. »Mein Töchterchen macht hier ja wunderbare Studien,« sagte er scherzend, »und an zu großer Bescheidenheit scheint sie auch nicht zu leiden.«

»Einziger Papa,« rief Wally, ehe die alte Dame zu Worte kommen konnte, »Gerd sagt, Selbsterkenntnis sei eine schöne Tugend, und ich bin wirklich zu der Einsicht gekommen, daß ich unter Tante Helenes Scepter ein unwiderstehliches Geschöpf geworden bin.«

»So, so, wenn nur andre Menschen auch so denken, das scheint mir wichtiger als deine Selbsterkenntnis. Aber sage, Wildfang, willst du gar nicht wissen, wie es Mama und Walther geht?«

»Natürlich Papa, ich wundere mich, daß du mir noch gar nichts von ihnen gesagt hast.«

Der Graf lächelte und zog sein Töchterchen neben sich nieder, um ihr von der lieben schönen Heimat zu erzählen und von der Ungeduld der Mutter und des Brüderchens, ihren Wildfang erst wieder daheim zu haben.

Inzwischen scharten sich die übrigen jungen Mädchen um Fräulein Reuter und entwarfen ihr eine lebhafte Schilderung der soeben verlebten Feier. »Es freut mich, Kinder,« sagte sie, »daß die Freude und Dankbarkeit eurer Schützlinge euren Erwartungen entsprochen hat.«

»Ja,« sagte Else mit erhobener Stimme, »wirkliche Dankbarkeit findet man selten und deshalb thut sie dem Herzen um so wohler; meist neidet die Hefe des Volkes den Höhergestellten Glück, Ansehen und Reichtum.« Sie schielte nach dem Grafen hinüber; sollte er ihre wohlgesetzte Rede nicht gehört haben, die ihm nur beweisen sollte, mit welch hochgebildeten jungen Damen er zu thun habe?

Er hatte jedoch nur Augen für sein Töchterchen; in der jetzt zufällig eintretenden Pause hob er jedoch den Kopf, und als er Elses Augen auf sich gerichtet sah, fragte er: »Entschuldigen Sie, Fräulein Else, Sie haben mich etwas gefragt?«

Else errötete tief und stammelte verwirrt, daß sie nur im allgemeinen gesprochen habe. Sie fühlte unklar, daß sie sich lächerlich gemacht hatte, und sie bemerkte wohl, daß die Freundinnen nur mit Mühe das Lachen unterdrückten, ja, selbst um Fräulein Reuters Mund zuckte es verräterisch. Um dem verlegenen Mädchen zu Hilfe zu kommen, bat sie Eva und Maria, den Theetisch herzurichten, sie habe die Theestunde etwas früher angesetzt, damit seien gewiß alle einverstanden.

Die beiden Schwestern verschwanden, und der Graf begann nun eine Unterhaltung mit Fräulein Reuter, in die er auch die jungen Mädchen hineinzog. Die Theestunde vereinigte sie alle wieder, und unter zwanglosem Plaudern wurde das Mahl eingenommen. Heute fiel Eva die Aufgabe zu, den Thee herumzureichen; die Mädchen mußten dergleichen kleine Dienstleistungen wöchentlich umgehen lassen, denn Fräulein Reuter hielt sehr darauf, daß ihre Zöglinge auch lernten, anmutig am Kaffee- oder Theetisch zu präsidieren.

Nach beendetem Imbiß geleitete sie den Gast in das Wohnzimmer und bat dann geheimnisvoll lächelnd, sie ein Viertelstündchen zu entschuldigen.

»Nun kommt unsre Bescherung,« rief Wally, »ich bin furchtbar neugierig, was ich alles bekomme! Einziger Papa, hast du auch recht hübsche Geschenke mitgebracht?«

»Aber Kleine, es ist ja erst übermorgen Weihnachten,« neckte der Graf, »was willst du heute schon mit den Geschenken?«

»Ach, Papachen, ich wette, du hast die schönsten Geschenke für uns alle mitgebracht.«

»Kind, du setzest mich in arge Verlegenheit.«

»Das wäre das erste Mal,« rief Wally sorglos lachend, »ich kenne dich zu genau, Herzenspapa, und weiß bestimmt, daß du keine einzige von uns vergessen hast.«

Der Graf sah mit innigem Lächeln auf das kleine Mädchen herab, das sich mit so gläubigem Vertrauen an ihn schmiegte. »Kind, ich glaube, du bist seit Ostern kaum einen Zoll gewachsen,« sagte er, mit den dunklen Löckchen spielend.

»Nicht wahr, Papa? Ich weiß auch nicht, wie du zu solchem Liliputchen kommst. Nächstens können wir uns für Geld sehen lassen, als Riesenvater und Zwergenkind.« Da ertönte aber die Klingel, »hurra, jetzt geht es los.« Sie zog den Vater mit sich fort und lachend und schwatzend drängte sich die fröhliche Mädchenschar in den Saal.

Heller Lichterglanz strahlte ihnen von einer prächtig geschmückten Tanne entgegen, und einen Augenblick standen alle verstummt. Da tönten die weichen Klänge des Harmoniums an ihr Ohr, das Fräulein Reuter meisterhaft spielte, und still scharten sie sich um die geliebte Lehrerin, um in den Choral einzufallen, den sie spielte. Wally hatte den Vater eng umschlungen, und ihr Gesichtchen drückte die ganze Wonne aus, die ihr Herz empfand.

Als der Choral beendet war, forderte Fräulein Reuter ihre Zöglinge auf, ihre Plätze aufzusuchen und sich ihrer kleinen Gaben zu freuen. Das ließen sich die jungen Mädchen nicht zweimal sagen, jubelnd und lachend eilten sie zu der weißgedeckten langen Tafel, in deren Mitte der Tannenbaum stand, und auf der die Geschenke aufgebaut lagen. Jede fand ein gutes Buch und irgend eine Kleinigkeit von Fräulein Reuter; die eine erhielt eine hübsche Schleife, die zweite eine zierliche Schürze, die dritte ein Handarbeitstäschchen und so fort. Die Freude war groß, besonders da sich die jungen Mädchen auch untereinander kleine Geschenke gearbeitet hatten, die sie sich jetzt mit feierlichen oder scherzhaften Worten überreichten.

Große Heiterkeit erregte Evas Gabe an Suse; es war ein selbstangelegtes Kochbuch, praktisch eingeteilt, und jede Abteilung mit dem genauen Rezept eines Gerichtes versehen. Auf dem ersten Blatt stand mit schöner Frakturschrift Suses Name und die Jahreszahl, auf dem zweiten folgendes Gedicht, von Eva selbst verfaßt:

Die künft'ge Hausfrau muß
Dem Praktischen sich weihn,
Drum weih mit warmem Gruß
Ich heut dies Büchlein ein.
Bei mancher harten Nuß
Mög' es dir nützlich sein –
Recht innig warmen Kuß
Geb' ich dir obendrein.

Mög' dir ein langes Leben
Erblüh'n im Sonnenschein,
Dir gute Genien weben
Viel Glück und Lieb' hinein –
Ein Tröpfchen noch zulegen:
»Zufriedenheit« ich mein',
Und Gottes reichster Segen,
Er weih' dein Tagwerk ein.

»Du bist zwar noch lange keine Hausfrau, Suse,« rief Eva, während erstere in stummer Freude auf ihr Geschenk blickte, »aber ich dachte, ich könnte dich wohl so anreden, weil du dich doch nach deiner Einsegnung dem Hausstande widmen willst; nicht wahr, du nimmst mir doch diese Anrede nicht übel?«

»O Evchen,« rief Suse, und umschlang die Freundin freudestrahlend, »ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, es ist ein ganz reizender Gedanke von dir.«

»Ja, unsre Präsidentin übertrifft sich selbst,« rief Wally bewundernd aus, »und das hat sie in aller Heimlichkeit fertig gebracht und keinem Menschen ein Wort davon verraten. Wie hast du das nur angefangen, Eva, daß wir gar nichts davon bemerken konnten? Ich brächte keinen Reim zu stande.«

»Ein paar Knüttelverse bringt jedermann fertig, Wally, das ist keine Kunst,« entgegnete Eva lachend und wehrte der Kleinen, die das Gedicht durchaus noch einmal vortragen wollte. Aber Wally ließ sich nicht stören, mit vielem Pathos las sie es nochmals und strahlte vor Vergnügen, als ihr Vater der Freundin, die sie so lebhaft bewunderte, einige freundliche Worte über ihr hübsches Talent sagte. Auch Fräulein Reuter strich liebevoll über die blühende Wange der Nichte und sagte lächelnd: »Wenn wir in Zukunft um ein kleines Gelegenheitsgedicht verlegen sind, wissen wir ja, an wen wir uns zu wenden haben.«

Else allein zeigte keine laute Freude, sie fand, daß ungebührlich viel aus den kleinen einfachen Versen gemacht wurde, die hätte sie sicher auch fertig gebracht, aber Eva mußte ja natürlich wieder bewundert werden. Die jungen Mädchen achteten ihrer Mißstimmung nicht, die sie auch ziemlich zu verbergen wußte. Eilig trugen die jungen Mädchen ein verdecktes Tischchen herbei, das sie vor Fräulein Reuter niederstellten, die mit dem Grafen schon seit einiger Zeit im Gespräch auf dem Sofa saß und jetzt dem fröhlichen Treiben zusah.

»Was ist dies denn, Kinder?« fragte sie lächelnd.

»Du denkst doch nicht, Engelstantchen, daß du leer ausgehen sollst?« rief Wally, während Maria sorgsam die Umhüllung abnahm. Eine Menge reizender Handarbeiten kamen zum Vorschein, welche die jungen Mädchen heimlich für ihre geliebte Lehrerin angefertigt hatten. Fräulein Reuter bewunderte sie gebührend, sagte aber kopfschüttelnd: »Ich weiß nicht, Kinder, wann ihr das alles fertig gebracht habt, ihr seid doch nicht etwa nachts aufgeblieben?«

»Nein, nein, Tantchen, beruhige dich,« entgegnete Eva, »wir haben nicht gegen dein Verbot gehandelt, sondern eben nur jeden freien Augenblick benützt.«

»Nicht wahr, Tantchen, du bewunderst uns?« rief Wally, »es ist nicht zu sagen, was diese Hände alles seit dem Sommer fertig zu bringen wußten.« Sie besah seufzend ihre feinen Fingerchen, schmiegte sich dann an ihren Vater und sah ihn unruhig und fragend an.

»Was willst du, Töchterchen?« fragte er freundlich.

»Ach, Papa, Täuschungen sind sehr bitter im Leben, aber wenn man sich in seinem eigenen Vater –« Sie schrie auf vor Entzücken, denn in diesem Augenblick klopfte es, und der Knecht aus dem Kurhause trat mit der Meldung ein, daß der Koffer des Herrn Grafen da sei.

»Gestatten Sie, Fräulein Reuter, daß er hereingebracht wird? Ich glaube, ich darf Wally des Vergnügens nicht berauben, ihn mit ihren Freundinnen auszupacken.« Fräulein Reuter gab lächelnd ihre Zustimmung, und ein nach seinem Umfange sehr verheißungsvoller Koffer wurde in den Saal gebracht. Wally tanzte vor Vergnügen und klatschte in die Hände, und auch die Augen der übrigen jungen Mädchen leuchteten – was mochte er alles bergen?

Der Graf öffnete ihn. »So, Wally, diese Seite wird zuerst ausgepackt, aber vorsichtig, hörst du, Wildfang?«

Glühend vor Eifer machte sich die Kleine ans Werk, unterstützt von den Freundinnen, die bald in ebenso großen Eifer gerieten. Zuerst kam ein wunderschönes Theegedeck für vierundzwanzig Personen und ein feines Theeservice mit einem Begleitschreiben der Gräfin für Fräulein Reuter zum Vorschein. Im Triumph trugen die jungen Mädchen das reiche Geschenk der alten Dame zu, die zuerst vor Ueberraschung keine Worte finden konnte, ihrer Freude Ausdruck zu leihen.

»Mein teures Fräulein,« sagte der Graf, ihre Hand ehrfurchtsvoll an seine Lippen führend, »wir können Ihnen nie genug Dankbarkeit bezeigen, daß Sie unser Kind so liebevoll bei sich aufgenommen haben; nehmen Sie diese kleine Gabe als einen schwachen Beweis derselben auf.«

»Tantchen, du wirst einsehen, daß wir nach den Ferien eine große Theegesellschaft geben müssen, um dies Geschenk würdig einzuweihen,« rief Wally, die alte Dame stürmisch umarmend. »Jetzt laßt uns aber weiter auspacken, nun kommen wir an die Reihe.«

Sie hatte sich nicht geirrt, ein Karton kam zum Vorschein mit der Aufschrift: »Für die jugendlichen Vertreterinnen des silbernen Kreuzbundes.« Unter lautem Jubel wurde er geöffnet, doch verwundert schauten die Mädchen auf seinen Inhalt, er enthielt fünf gleiche kleinere Kartons. »Wir bekommen alle dasselbe,« jubelte Wally und nahm einen Karton nach dem andern heraus. »Wie reizend von dir, einziger Papa.«

»Kind, da mußt du dich bei deiner Mutter bedanken, es ist ihre Idee.«

.

Aus den Kartons kamen zierliche lederne Kästchen hervor. Die Mädchen sahen sich lachend an. »Wenn das so fortgeht, bleibt nichts übrig,« rief Wally und öffnete neugierig das ihre. Ein »Ah« der freudigsten Ueberraschung ertönte. Auf blauem Sammet lag eine feine, kunstvoll gearbeitete silberne Kette, ihr zur Seite eine kleine beschriebene Karte. Wally sah neugierig in die Kästchen der Freundinnen, ja, sie enthielten sämtlich dasselbe. »Wie einzig lieb von Mama,« rief Wally, »und denkt nur, ich habe ein Verschen dabei.«

»Ich auch – ich auch.«

»Wir tragen sie nach der Reihe vor, o, es ist ein himmlischer Spaß. Bitte, Eva, lies du den deinen zuerst.«

Errötend begann diese:

Ein starkes Herz, ein weicher Sinn,
Das ist die rechte Weise,
So geh durchs Erdenleben hin –
Oft eine schwere Reise.
Beug stets dein Herz vor Gott dem Herrn,
Von seiner Lieb' die Liebe lern.

»Reizend – Wunderhübsch –« erklang es, und Eva blickte bewegt auf die zierliche Handschrift und beschloß, diese Karte zu ihren teuersten Erinnerungen zu legen.

Jetzt kam Else.

Wohlthun trägt Zinsen, vergiß das nicht,
Lern gern mit der Armut verkehren,
Gott wird dir's lohnen im Himmelslicht,
Wird Freud' dir und Segen mehren.
Beug nur das Haupt in Demut fein,
So wirst du stets sein Kind auch sein.

Else kämpfte mit einer leichten Verlegenheit, und Wally sprach nur ihre innersten Gedanken aus, als sie rief: »Es ist gerade, als ob Mama die tiefsten Fältchen unsrer Herzen kennte. Suse, was hast du?«

»Ach, meines ist viel zu schön für mich, es ist gewiß in einen verkehrten Kasten gekommen,« entgegnete Suse in hilfloser Verlegenheit.

Ein heiteres Lachen antwortete ihr, und Eva nahm ihr die Karte aus der Hand und las:

Das Veilchen, das im Verborgenen blühet,
Erfüllt uns mit Freude und Wonne die Brust.
Ein Mädchen, das still für die Seinen sich mühet,
Gleicht dem, nur schaut man's mit größerer Lust.
Wohl ihm, dem solch Veilchen im Hause ersprießt,
Das täglich uns Frieden und Freude erschließt.

»Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen, das ist für unsre Suse, wie sie leibt und lebt,« rief Eva warm und küßte die verlegene Freundin.

»Ach,« sagte diese mit tiefem Atemzuge, »wenn deine Mutter mich sähe, Wally, würde sie mich gewiß nicht mit einem Veilchen vergleichen, dazu paßt Maria viel besser.«

»Was hast du denn, Mieze? Laß doch hören.«

»Bitte, Eva, lies du es für mich,« bat diese und schob ihre Karte der Schwester errötend in die Hand.

Eva las:

Dein sanftes Herz wird stets das Rechte finden,
Gott schütze dich, du liebes Mädchenbild.
Mit Rosen mög' er deinen Weg umwinden,
An seiner Hand dich führen lind und mild.
Der Sanftmut ist das Himmelreich zu eigen,
Zu ihr hin wird sich Gottes Liebe neigen.

Maria hatte Thränen in den Augen, Wally aber umschlang sie stürmisch und rief: »Besser konnte es gar nicht gesagt werden, Mieze, denn du bist ja, was die Frömmigkeit anbetrifft, unser leuchtendes Vorbild. Aber nun komme ich, hört nur, was Mamachen zu mir sagt:

Das Bächlein plätschert so hell und so klar
Durch Wiesen und Waldesschatten.
Es sei dein Leben so rein und so wahr,
Wie 's Bächlein in blumigen Matten.
Gott segne und schirme dein fröhliches Herz
Und hüt' es vor Kummer und bitterem Schmerz.

»Es ist einfach großartig,« rief Wally mit blitzenden Augen; »Kinder, denkt nur, wie entzückend, mich mit einem Bächlein zu vergleichen.« Sie sprang zu ihrem Vater und umschlang ihn zärtlich. »Einziger Papa, wie soll ich dir und Mama danken? Es ist doch zu reizend, so nette Eltern zu haben.«

Der Graf lachte und strich über die blühenden Wangen seines Kindes. »Ein Glück, Wally, daß du mit ihnen zufrieden bist,« sagte er scherzend.

Die andern jungen Mädchen traten nun auch hinzu, ihren Dank auszusprechen, und daß das gräfliche Paar das Rechte getroffen hatte, sah man an den freudestrahlenden Gesichtern.

»Willst du aber nicht weiter auspacken, Wally?« mahnte sie der Vater, »an der andern Seite des Koffers liegen die Gaben für Pohl und die beiden Mädchen.«

Neugierig eilten alle an den Koffer zurück, der unerschöpflich in seinen Ueberraschungen schien. Zwei fertige schwarze Kleider für Sophie und Mine kamen nun zum Vorschein, mehrere Schürzen und Taschentücher, und o Freude, ein schöner schwarzer Anzug für Pohl, eine schwarze Halsbinde fehlte nicht. Der Rock war bei näherer Besichtigung ein Frack; das gab ein fröhliches Gelächter, denn der Alte hatte bei dem Konzert eine gar zu wunderliche Figur gespielt.

»Das habe ich Papa geraten,« erklärte Wally eifrig. »Nun wollen wir aber alles hübsch aufbauen und sie dann rufen.«

Pohl und die Mädchen erschienen, letztere in einiger Verlegenheit, die jedoch bald unter der Bewunderung ihrer Geschenke schwand. Pohl hielt in stillem Entzücken seinen Frack in den Händen und sah ihn schmunzelnd an; ja, das war ein andres Ding, als sein alter, verschossener Hochzeitsfrack, man sah ihm gleich an, daß ihn ein gräflicher Schneider angefertigt hatte.

Da tauchte Wallys Schelmengesicht an seiner Seite auf und sie rief: »Nicht wahr, Pohl, wenn wir nun einmal wieder zusammen an der Kasse sitzen, können wir jetzt kecklich einen kleinen Tanz mit einander wagen?«

»Ja, ja, Komteßchen, ich denk', der ›Gräfliche‹ hält's aus,« entgegnete der Alte und strich glückselig über das feine glänzende Tuch.

»Ach, wie schön ist so ein Weihnachtsabend!« rief Maria, als Pohl und die Mädchen gegangen waren.

»Und übermorgen kommt erst der wirkliche!« rief Wally, »ach Papachen, wie ist das Leben doch schön!«

Der Graf schlang den Arm um sein Töchterchen und entgegnete, freundlich die frischen, frohen Mädchengesichter ansehend: »Gott erhalte euch noch lange euer Glück, ihr lieben Kinder; solltet ihr aber einmal ein weniger frohes Weihnachtsfest feiern, so vergeßt nicht, daß das wahre Glück und der größte Reichtum in unsrem eigenen Herzen ruht.«

Wally ergriff die Hand des Vaters und drückte sie stürmisch an die Lippen. »Du einziger Papa,« rief sie, »du glaubst nicht, wie lieb ich dich habe, am liebsten auf der ganzen weiten Welt.«

»Und die Mama?« fragte er lächelnd.

»Die habe ich auch furchtbar lieb und Walter auch, aber erst kommst du, Herzenspapa. Wenn ich dich plötzlich verlieren sollte, könnte ich auch nicht mehr leben.«

Es lag so viel Leidenschaft in ihrer ganzen Art und Weise, daß der Graf sie fast besorgt ansah. »Jedes Uebermaß ist schädlich, Wally,« sagte er liebreich, aber ernst, »lerne deine Gefühle bezwingen und den am meisten lieben, der dir mehr sein soll als Vater und Mutter. Und nun freue dich mit deinen Freundinnen, mein Liebling.« Er küßte ihre klare Stirne, wandte sich dann Fräulein Reuter zu und unterhielt sich mit dieser.

Am nächsten Morgen reisten die jungen Mädchen unter dem Schutze des Grafen ab. Die helle Freude leuchtete aus ihren Augen, ging es doch der teuren Heimat zu, die sie alle lange nicht gesehen hatten, und ihre Zungen waren geschäftig, sich die ganze Freude des Wiedersehens auszumalen. Eva und Maria trennten sich bald von ihrem liebenswürdigen Beschützer, der sie zu ihrem nach Hamburg fahrenden Zuge geleitete und sie der Obhut des Schaffners mit klingender Münze empfahl. Das war ein Herüber- und Hinüberwinken der vier Mädchen, bis sich der Hamburger Zug in Bewegung setzte und die Schwestern entführte.

Gegen zwei Uhr mittags erreichte der Graf mit den beiden jungen Mädchen Magdeburg, wo sie einen längeren Aufenthalt hatten. Der Graf ließ sich die Speisekarte reichen und forderte seine jungen Begleiterinnen auf, sich ein Menü zusammenzustellen. Unter vielem Lachen wurden sie endlich fertig und hatten eine Fleischsuppe gewählt, dann Gänsebraten mit Grünkohl und eingemachten Früchten, zum Nachtisch kleine Kuchen. Der Graf ließ Wein dazu bringen, und es schmeckte allen vortrefflich.

Zur größten Verlegenheit Elses und zum größten Ergötzen Wallys, bewiesen die Kellner der ersteren noch mehr Zuvorkommenheit als ihr.

»Der schlagendste Beweis, wie vornehm du aussiehst, Prinzeßchen,« raunte sie der Freundin schelmisch zu.

Else fühlte sich zwar sehr geschmeichelt, es war ihr aber doch unangenehm, die erste Rolle zu spielen.

Der Graf lächelte, als Wally ihm zurief: »Papa, merkst du denn nicht, daß man Else für deine älteste Tochter hält?«

»Das kann mir nur angenehm sein,« entgegnete er freundlich, »ich hoffe, noch öfter das Vergnügen zu haben, Vaterstelle an Fräulein Else zu vertreten.«

Diese dankte dem Grafen für seine Freundlichkeit und bat ihn, sie doch nicht Fräulein zu nennen, sie sei ja noch ein Schulmädchen.

Der Graf nickte ihr wohlwollend zu. »Das ist recht, liebes Kind, man weiß aber oft nicht, wie junge Damen über diesen Punkt denken. Was meint ihr aber, Kinder, wir haben noch zwei Stunden Zeit, wollen wir uns den Dom ansehen?«

»Ein herrlicher Gedanke, Papachen, natürlich sind wir bereit, nicht wahr, Else?« Diese war mit Freuden einverstanden, und sie brachen auf.

»Du nimmst es doch nicht übel, Papachen, wenn wir auf dem Wege dahin uns auch die hübschen Läden ansehen?« fragte Wally.

»Bewahre, Kind, thut euren Gefühlen keinen Zwang an; ich bin ja nur der Reisemarschall der jungen Damen und füge mich ganz ihren Wünschen,« entgegnete der Graf scherzend.

Die jungen Mädchen lachten und schritten Arm in Arm an seiner Seite durch die schönen breiten Straßen und bewunderten die Schaufenster, die nun zum nahe bevorstehenden Weihnachtsfeste eine Pracht und einen Reichtum entfalteten, welche das ganze Entzücken der jungen Mädchen hervorriefen. Else hatte zwar in Berlin jährlich die großartigen Weihnachtsausstellungen gesehen, jedoch nie eine solche Freude daran gehabt wie an diesem Gange. Ob es wohl die gräfliche Gesellschaft that? Sie legte sich darüber keine Rechenschaft ab, sie wünschte aber heimlich, daß diese interessante Reise noch lange kein Ende nähme.

Nach einer halbstündigen Wanderung langten sie auf dem freien Platze an, auf dem der im gotischen Stile erbaute Dom liegt. Mit ehrfürchtigem Staunen sahen sie zu dem ehrwürdigen alten Baudenkmale auf, das nahezu ein Jahrtausend an sich vorübergehen sah.

»Wenn wir doch hineingehen könnten,« sagte Wally, und ihr Wunsch sollte schneller erfüllt werden, als sie glaubte. Aus dem kleinen Hause des Küsters, das ganz in der Nähe liegt, kam eine Anzahl Personen, die ebenfalls das Innere des Domes zu sehen wünschten und den Küster aufgesucht hatten. Der Graf schloß sich mit seinen beiden Begleiterinnen der Gesellschaft an, und die jungen Mädchen hörten mit gespannter Aufmerksamkeit den ausführlichen Erklärungen des Mannes zu. Es gab viel Schönes und Altertümliches zu bewundern, und die Freundinnen hätten sicher Zeit und Stunde vergessen, wenn der Graf nicht an den Aufbruch gemahnt hätte. Noch voll von dem Gesehenen folgten sie ihm und tauschten lebhaft ihre Meinungen aus.

»Seht euch noch einmal um,« sagte der Graf, als sie den Domplatz überschritten hatten, »ihr findet an diesem ehrwürdigen Bau ein Erinnerungszeichen an Magdeburgs Schreckenstage. Seht, der Knopf der einen Spitze fehlt, er wurde von den Tillyschen Scharen heruntergeschossen, als sie 1631 Magdeburg zerstörten.«

Die Mädchen sahen gedankenvoll auf den Turm und Wally rief schaudernd: »Es war doch eine schreckliche Zeit, Papa, in der unerhörte Greuel geschahen.«

»Ja –« setzte Else hinzu, »man kann sich gar nicht vorstellen, daß in dieser schönen, freundlichen Stadt so viel Blut unschuldiger Menschen geflossen ist.«

Unter den interessantesten Gesprächen führte der Graf die jungen Mädchen nach dem Bahnhofe zurück, und sie setzten ihre Weiterreise fort.

Spät am Abend langten sie in Berlin an, und da das Hotel, in dem der Graf abzusteigen pflegte, nicht sehr weit von Elses mütterlicher Wohnung lag, fuhren sie erst dahin. Else verabschiedete sich auf das herzlichste von Wally und sprach dem Grafen in wohlgesetzten Worten, die sie sich schon während der ganzen letzten Stunde überlegt hatte, ihren Dank für seine freundliche Fürsorge aus, nicht ohne ihm zu versichern, es werde ihrer Mama eine Freude und Ehre sein, seine persönliche Bekanntschaft zu machen.

Der Graf lächelte. »Bitte, bitte, kleines Fräulein, beides ist ganz auf meiner Seite; empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer Frau Mutter, auf der Rückreise werde ich mir erlauben, ihr meine Aufwartung zu machen.«

»Adieu Else, grüß' deine Mama und Dore und laß dir recht viel schenken,« rief Wally.

Jetzt hielt der Wagen; der Portier des Hauses erschien, den Schlag zu öffnen, aber da stand auch schon Dore, die seit einer Stunde nach »unsrem Kinde« ausgeschaut hatte; sie wußte sich nicht zu fassen vor Ehrfurcht, als sie des Grafen ansichtig ward, und ihr altes Gesicht strahlte vor Wonne, als Wally ausrief: »Sieh Papa, das ist Geheimrats Dore, von der ich dir erzählt habe.« Sie knixte einmal über das andre und bemerkte in ihrem Eifer gar nicht, daß der Wagen mit den gräflichen Herrschaften davonfuhr, erst Elses Stimme riß sie aus ihrer Verzückung.

»Aber Dore, für mich hast du ja gar keine Augen und Ohren mehr, freust du dich denn nicht, daß ich da bin?«

»Na und ob,« rief die Alte und folgte dem jungen Mädchen die Treppe hinan zur mütterlichen Wohnung, »aber Elschen, es sah zu schön aus, als der Graf dir aus dem Wagen half, gerade als ob du eine Prinzessin wärst, und das Komteßchen war wieder gar zu lieb, denk' nur, Kind, sie hat sogar dem Grafen von mir erzählt.«

Else antwortete nicht; oben an der Treppe stand eine schlanke Frauengestalt, ein liebes, blasses Gesicht lächelte ihr entgegen. Mit einem Jubelruf sprang sie hinauf und in die Arme der geliebten Mutter.


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