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Dreizehntes Kapitel.

Seit einigen Wochen weilte Elisabeth nun in Fräulein Reuters Hause, und ihr Verhältnis zu Else war noch immer kein besseres geworden. Diese hatte zwar die offenen Feindseligkeiten aufgegeben, sprach jedoch nur das Notwendigste mit dem jungen Mädchen und kümmerte sich nicht weiter um sie. Fräulein Reuter bemerkte das wohl, mischte sich aber nicht hinein, da sie alles von der Zeit und dem Einflusse der übrigen jungen Mädchen erwartete.

Leider sah sie sich jedoch getäuscht, und sie mußte Wally und ihren Nichten recht geben, als diese ihr erklärten, ihre Schuld sei es nicht, daß sie mit Elisabeth nicht einen Schritt weiter kämen, ja, Wally behauptete allen Ernstes, Müllerliesel sei von einem undurchdringlichen Geheimnis umgeben.

Anfangs lachten die jungen Mädchen darüber, dann aber fanden es alle und gaben zu, daß die neue Genossin oft etwas »Wunderbares« in ihrem Wesen habe.

»Es ist das Heimweh, das sie plagt,« erklärte Eva, und sie gaben sich auch damit zufrieden, bis Maria eines Tages mitleidig sagte: »Nicht wahr, Lisa, du freust dich unbeschreiblich auf die Osterferien? Du hast sehr heftig Heimweh?«

Elisabeth schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich habe kein Heimweh,« entgegnete sie, »um nichts in der Welt möchte ich wieder nach Hause.«

Die Mädchen sahen sich bestürzt an, keine wagte jedoch eine weitere Frage, denn in Liesels blasses Gesicht trat wieder jener Ausdruck des inneren Leidens, den alle an ihr kannten.

»Ihre Stiefmutter behandelt sie gewiß abscheulich,« sagte Wally und alle Mädchen gaben ihr recht und verabscheuten die ihnen unbekannte Müllerin, bemitleideten das arme Mädchen, und erwiesen ihr Freundlichkeiten, wo sie nur konnten. Elisabeth nahm dieselben zwar dankbar an, ging aber selbst nicht aus sich heraus und schloß sich keiner in Freundschaft an. Die einzige, der sie etwas näher trat, war Eva, mit der sie viel zusammen arbeitete; ihre gemeinsamen Interessen gingen aber auch nicht über die Bücher hinaus, so viel Eva sich auch bemühte, das Vertrauen des seltsam verschlossenen Mädchens zu gewinnen.

Die Freundinnen waren sich untereinander einig, daß Elses Benehmen viel schuld an Liesels scheuem Wesen sei, und machten ihr gelegentlich auch wohl Vorwürfe, die Else jedoch heftig zurückwies. Was ging sie die Stimmung des Müllerkindes an? Es war einfach lächerlich, sie für dieselbe verantwortlich zu machen; dennoch hätte sie im Grunde gerne gewußt, weshalb Elisabeth so still und traurig war, und sie beobachtete dieselbe heimlich aufmerksamer, als die Freundinnen es thaten. Sollte ihre Unfreundlichkeit wirklich der Grund sein, wie die andern behaupteten? Es schmeichelte ihr, und sie fing an, ihrer Persönlichkeit immer mehr Wichtigkeit beizulegen; andernteils aber verdroß sie wieder, daß Elisabeth sich so gar nicht um ihre Freundschaft bewarb, im Gegenteil, sie ging ihr geflissentlich aus dem Wege und that nichts, rein gar nichts, sich ihr angenehm zu machen, und das wäre ihr, dem Müllerkinde, dem Geheimratstöchterchen gegenüber doch nur zugekommen.

Elisabeth beklagte sich niemals über Elses Betragen und so wußte niemand so recht, wie sich ihr Zusammenleben in ihrem Zimmer eigentlich gestaltete, denn Else verriet wohlweislich nichts davon. Sie konnte unmöglich den Freundinnen bekennen, daß sie nie ein Wort mit Elisabeth wechselte, ihr weder gute Nacht noch guten Morgen wünschte. Hätte letztere sich um ihre Teilnahme bemüht, so würde sie vielleicht eine herablassende Freundlichkeit gegen Elisabeth beobachtet haben, da jene sich jedoch scheu zurückzog, konnte sie sich nicht entschließen, das erste freundliche Wort an sie zu richten.

So standen die Dinge in Fräulein Reuters Hause, als Suse eines Morgens in der Frühstückspause sagte: »Um zwölf Uhr wird Martha erscheinen, um Tantchen und euch in höchst eigener Person zum Kaffee einzuladen. Sie feiert ihren Geburtstag, und da mein Kuchen besonders gut geraten ist, wünscht Mutter euch alle bei uns zu haben.«

»Das ist wirklich zu nett,« so klang es durcheinander. Wally fügte hinzu: »Doch einmal eine kleine Abwechslung, in einem andern Hause Kaffee zu trinken; ich finde, unser Leben schleicht zur Zeit unerlaubt langweilig dahin.«

»Vielleicht kann ich euch eine kleine Veränderung versprechen,« ließ sich Fräulein Reuters Stimme vernehmen, die unbemerkt in die Klasse getreten war.

»O Tantchen, sage es nur schnell,« bat Wally, »ich brenne vor Neugierde.«

Auch die übrigen Mädchen drängten sich um sie, und Fräulein Reuter sah lächelnd in die frohen, erwartungsvollen Mädchengesichter. »Eigentlich sollte ich es euch erst nach der Stunde sagen, aber ich glaube, meine Wally würde mir das nie vergeben, so hört denn: Ich habe heute morgen einen Brief von Elisabeths Vater erhalten, der mir schreibt, daß er die unbezwingliche Sehnsucht empfinde, sein Töchterchen wieder einen oder zwei Tage bei sich zu haben. Herr Ehrhard bittet mich nun sehr liebenswürdig und Frau Ehrhard fügt einige freundliche Zeilen hinzu, ihm zu gestatten, Sonnabend bei günstigem Wetter mit einem Schlitten hier sein zu dürfen, um uns sämtlich abzuholen. Was sagt ihr dazu?«

Einen Augenblick schwiegen die jungen Mädchen vor freudiger Ueberraschung, dann aber brach ein ungeheurer Jubel los.

Elisabeth war glühend rot geworden und erblaßte dann jäh; ihre Hand, die den kleinen Brief hielt, den Fräulein Reuter ihr gegeben, zitterte. Ein paar Thränen rannen über ihre Wangen, und schluchzend rief sie plötzlich aus: »Mein lieber, guter Vater, ich verdiene seine Liebe gar nicht.«

Fräulein Reuter zog sie sanft in ihre Arme. »Ich wußte wohl, daß mein kleines Liesel an Heimweh leidet,« sagte sie gütig, »aber nicht wahr, Kind, du freust dich nun und bist froh und heiter mit den andern.«

»Ja, Liesel, wir haben dich ja alle so gern,« rief Eva, und jede von den jungen Mädchen sagte ihr etwas Freundliches, Else ausgenommen, die zur Seite stand und finster und verdrießlich vor sich niedersah. Das fehlte auch gerade noch, daß diese Einladung kam, wie konnten sich nur die andern darüber freuen? Sie war fest entschlossen, nicht mitzufahren, denn sie trug wahrlich kein Verlangen danach, eine Mühle und deren Besitzer kennen zu lernen.

Die Stunde begann nun, und die jungen Mädchen nahmen sich sehr zusammen, um ihrer geliebten Lehrerin keinen Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben; dennoch verging ihnen die Unterrichtszeit schneckenhaft langsam, wie Wally sich ausdrückte und sie atmeten erleichtert auf, als sie endlich vorüber war.

»Gott sei Dank,« rief Wally, als Fräulein Reuter die Klasse verlassen hatte, »nun kann man doch nach Herzenslust schwatzen. Denkt nur, Kinder, welche Aussichten; heute nachmittag Kaffee und Kuchen in der Pfarre und Sonnabend und Sonntag Vorstellung in der Mühle. Es ist ein reizender Einfall von deinem Papa, Liesel.«

»Ob ich auch wohl mitkommen soll?« fragte Suse zweifelnd.

»Du bist ganz besonders angeführt, Suse,« erwiderte Elisabeth; »höre nur, was Papa schreibt: ›Meine Einladung für euch erstreckt sich noch besonders auf Pastor Winters freundliches Töchterchen. Nach deinen Schilderungen hat Mama sie ganz besonders in ihr Herz geschlossen und schon ihre sämtlichen Kochbücher herausgesucht und die besten Rezepte für deine kleine Freundin herausgeschrieben.‹«

Suse errötete vor Vergnügen: »Wie lieb von deiner Mama, Liesel,« sagte sie, »o, wie freue ich mich auf Sonnabend. Jetzt muß ich aber wirklich nach Hause,« fuhr sie fort, ihre Bücher zusammenpackend, »ich dachte, Martha sollte kommen, dann hätten wir zusammen gehen können.«

Plaudernd verließen sie das Schulzimmer und waren sehr erstaunt, sich auf dem Flur plötzlich dem kleinen Mädchen gegenüber zu befinden.

»Aber Martha, hier stehst du, statt ins Zimmer zu kommen?« rief Suse.

»Kleine schüchterne Martha, glaubst du, wir würden dich beißen?«

Eva und Wally hatten lachend ihre Hände ergriffen und zogen sie mit sich in Fräulein Reuters Zimmer, wohin auch die übrigen Mädchen folgten.

»Ah, da kommt ja unser Geburtstagskind! Gott segne dich, meine liebe Kleine, und schenke dir ein recht gesundes, glückliches Jahr.«

»Danke schön,« flüsterte Martha und sagte dann mit einem förmlichen Anlauf: »Mutter läßt vielmals grüßen, Tante Helene, und – ob du nicht heute nachmittag eine Tasse Kaffee bei uns trinken möchtest und – und deine – jungen – jungen – jungen – auch,« schloß sie glühend rot.

Ein helles, fröhliches Lachen antwortete ihr. »Welche Begriffsverwechslung,« rief Wally und drehte die verlegene Kleine herum, »seit wann sind wir denn Jungen, Martha? Sieh uns an und dann sage, ob wir Aehnlichkeit mit solchen haben.«

»Laß sie, du Unband,« wehrte Fräulein Reuter und zog Martha, die dem Weinen nahe war, zu sich heran. »Wir verstehen uns schon, mein Töchterchen, und ich für meine Person nehme die Einladung herzlich gern an und darf wohl auch für euch zusagen?«

»Ach ja, Tantchen, wir gehen alle schrecklich gern in eine Kindergesellschaft,« versicherte Wally mit einem schelmischen Blick auf Else.

»So grüße dein Mütterchen schön, Martha, und sage ihr, ich ließe für die freundliche Einladung danken und würde mich präcis um vier Uhr mit meinen jungen Mädchen einfinden.«

Martha nickte und atmete erleichtert auf; das war glücklich überstanden und hastig griff sie nach Suses Hand und drängte leise zum Aufbruch. Diese verabschiedete sich fröhlich und trat mit dem Schwesterchen den Heimweg an.

Martha war noch immer die alte kleine Schüchternheit, obgleich ihre Eltern alles mögliche thaten, ihr diese Untugend abzugewöhnen. Sie wurde jetzt soviel ausgeschickt, um für den Vater Bestellungen, für die Mutter Besorgungen zu machen.

Diese Botengänge waren die Qual in Marthas kleinem, sonst so glücklichem Leben, doch Pastor Winter, so leid ihm sein Töchterchen auch that, schüttelte den Kopf, wenn die mitleidige Mutter für das Kind bat.

»Es geht nicht, Regine,« sagte er mit mildem Ernst, »wir sind nicht immer da, unsre Hände über unser Kind zu halten, und je früher sie sich gewöhnt, auf ihren eigenen Füßen zu stehen, desto besser. Glaube mir, das gereicht ihr später zum Nutzen, wenn sie jetzt allmählich ihre Schüchternheit überwindet, und das kann sie nur, wenn wir sie soviel wie möglich mit fremden Menschen zusammenbringen.«

Damit blieb alles beim alten, nur an diesem Morgen hatte der Vater ihr erklärt, heute brauche sie weder für ihn, noch für die Mutter auszugehen, nur Tante Helene und die jungen Mädchen müsse sie selbst einladen. Niemand war froher gewesen, als Martha; zwar hatte ihr die Einladung schwer auf der Seele gelegen, doch die war nun auch glücklich überstanden, und sie hätte seelenvergnügt sein können, – weshalb war sie es denn nicht?

»Suse,« begann sie und faßte die Hand der Schwester fester, »bitte, sage es zu Hause nicht, daß ich – daß ich meine Bestellung so dumm ausgerichtet habe, die Jungen lachen mich sonst nur aus.«

»I bewahre, Marthchen, ich verrate gewiß nichts; im übrigen hast du alles ganz hübsch gesagt, nur ein einziges Wort ausgelassen, das ist gar kein Unglück, das kann jedem Menschen passieren.«

Martha sah ganz glücklich zu der Schwester auf. »Du bist immer so gut,« sagte sie dankbar.

Suse lachte. »Du bist ein liebes, kleines Närrchen, Martha, mit dem man gar nicht anders als gut sein kann.«

»Suse,« fuhr die Kleine nach einer Pause vertraulich fort, »fürchtest du dich gar nicht vor fremden Menschen?«

»Bewahre, weshalb sollte ich das? Sie sind ja auch nichts anderes und besseres als ich.«

Martha sah die mutige Schwester bewundernd an, dann seufzte sie tief. »Ich wollte, ich wäre wie du,« sagte sie bekümmert.

»Dann wärst du auch was rechtes,« entgegnete Suse lachend und fügte ernster hinzu: »Strebe lieber Mutter nach, oder Tante Helene, und eins laß dir sagen, Martha, denke nicht so viel an dich und deine Furchtsamkeit, sondern denke mehr an andre Menschen, dann sollst du sehen, geht es viel besser, und du weißt zuletzt gar nicht mehr, daß du dich gefürchtet hast. Und da sind wir daheim, spring zur Mutter, Marthachen, inzwischen lege ich Mantel und Bücher ab.« –

Präcis um vier Uhr erschien Fräulein Reuter mit ihren jungen Mädchen, die sich nach der ersten Begrüßung nach dem Geburtskinde umsahen, ihm Glück zu wünschen und kleine Gaben zu überreichen. Verlegen nahm sie die Kleine in Empfang und zog sich so schnell wie möglich in die Kinderstube zu den Geschwistern und den beiden kleinen Freundinnen zurück.

Nach dem Kaffee schlug Suse den Freundinnen ein gemeinschaftliches Spiel vor. Sie begaben sich alle in das geräumige Eßzimmer, riefen auch die Kinder und bald klang helles Lachen zu den beiden Damen herüber, die in traulichem Gespräch beisammen saßen; leise und gedämpft schollen die Töne von Alfreds Violine zu ihnen herunter, die er auf seinem Zimmer spielte.

Nachdem sich die Jugend eine Stunde vergnügt hatte, sagte Maria, Suses Hand ergreifend: »Weißt du, Suse, es ist doch traurig, daß Alfred so ganz ausgeschlossen ist, wenn wir spielen; können wir uns nicht jetzt mit unsrer Handarbeit zu deiner Mama und Tante Helene setzen und ihn holen? Du weißt, er mag es so gern, wenn wir uns recht heiter und lebhaft unterhalten.«

»Du gute Mieze,« entgegnete Suse gerührt, »ich möchte ihn auch wohl herunter bitten, weiß aber nicht, ob die andern mit dem Stillsitzen einverstanden sind.«

»Was habt ihr vor?« rief Wally herbeispringend und auch die übrigen drängten sich heran.

Schweigend hörten sie Marias Vorschlag und sahen sich an. Sie waren so sehr vergnügt, und nun sollten sie abbrechen, sich still hinsetzen und Handarbeiten machen? Wally griff in die Tasche, sie hatte die ihre natürlich vergessen, wer denkt daran bei einem lustigen Mädchenkaffee? Da drangen die weichen Töne der Violine voll zu ihnen, wie in sanfter, schwermütiger Klage verhallten sie. Das Mitgefühl der Mädchen für den Blinden, den sie alle liebten und verehrten, erwachte in ihnen. »Hol ihn, Suse, hol ihn, ihm ist eine Abwechslung heilsamer als uns, und wir wollen unser Bestes thun, ihn zu erheitern.«

Fröhlich zogen die jungen Mädchen den Blinden in ihren Kreis. Nach heiterer Unterhaltung trug er auf allgemeines Bitten mit Maria ein Musikstück vor.

Mit besonderer Aufmerksamkeit hörte Elisabeth zu; sie hatte den Blinden erst einmal spielen hören und bewunderte ihn aufrichtig; ihre Schüchternheit erlaubte ihr jedoch nicht, ihrer Bewunderung Ausdruck zu verleihen, und sie wich ihm geflissentlich aus. Sie selbst war ein Gegenstand des regsten Interesses für Martha. Suse hatte dem Schwesterchen erzählt, daß Elisabeth eben so schüchtern sei, wie sie, und das war der Kleinen höchst interessant, und sie beobachtete das Mädchen unablässig, wenn sie einmal mit den andern in der Pfarre erschien. Sie konnte jedoch nichts besonderes an Müllerliesel entdecken; sie war freilich stiller als die andern, und Gretchen behauptete, sie könne überhaupt nicht lachen, aber Martha dachte heimlich, wenn sie sich nur so benehmen könnte, wie Elisabeth Ehrhard, dann wollte sie froh sein.

Liesel hatte ihre eckigen Bewegungen noch nicht ganz verloren, sie stieß aber nichts mehr mit dem Ellbogen um, nahm ihre Kaffeetasse in die Hand und aß mit Messer und Gabel wie jeder gebildete Mensch und stand jedem mit wohlgesetzten Worten Rede, der sie ansprach. Ja, Müllerliesel war in ihrer scheuen Bescheidenheit das Ideal der kleinen Martha, dem nachzueifern sie sich eifrigst bemühte, während sie mit bewunderndem Entzücken auf das allezeit bewegliche und heitere Komteßchen blickte. Wie war es nur möglich, daß ein Mensch so viel lustige Einfälle haben konnte und was noch viel mehr sagen wollte, sie auch sogar zum Besten gab? Das begriff die Kleine nicht, hielt sich jedoch stets etwas zurück, denn sie bewunderte das Komteßchen lieber aus der Ferne, als in der Nähe, da sie sich nie sicher vor ihren Neckereien fühlte.

Als Alfred und Maria aufhörten zu musizieren, kehrten die Kinder zu ihrem Spiel zurück, und die jungen Mädchen setzten sich mit ihrer Handarbeit zu den Erwachsenen um den Tisch. Nur Wally legte die kleinen Hände müßig in den Schoß und behauptete, sie sei die ganze Woche so fleißig, daß ihr eine so kleine Ruhepause wohl zu gönnen sei.

Während der Unterhaltung trat der Pastor ins Zimmer und sagte, nachdem er alle freundlich begrüßt hatte: »Ich habe euch etwas mitzuteilen, das euch allen Freude bereiten wird, nämlich, daß in dem Dorfe eurer armen Weber diesen Winter die Not so groß nicht ist wie sonst. Ich erhielt heute einen Brief von meinem Amtsbruder, der mir diese Mitteilung macht und hinzufügt, daß dies mit euer Verdienst sei.«

Die Augen der jungen Mädchen leuchteten vor Freude. »O wie herrlich – wie schön – wie mich das freut,« und Wally rief: »Wir haben nun unverantwortlich lange nichts für unsern Bund gethan, wir müssen wirklich bald wieder an etwas Großes denken.«

Der Pastor drohte ihr lächelnd mit dem Finger. »Hast du schon wieder Lust, dich hören zu lassen?«

»Nein, durchaus nicht,« verteidigte sie sich lachend, »obgleich es ein unvergleichlich schöner Tag war; ich meine aber im Ernst, Herr Pastor, daß wir bald etwas veranstalten müssen.«

»Ja,« fügte auch Eva hinzu, »etwas bedeutendes haben wir lange nicht geleistet, denn wir können es doch unmöglich als solches rechnen, wenn wir irgend einer armen Frau eine kleine Speise hintragen, oder ihr ein paar Verse vorlesen.«

»Meine liebe Eva,« entgegnete der Pastor mit freundlichem Ernst, »unser Christenleben besteht aus tausenderlei kleinen Liebeswerken, die wir täglich, stündlich üben sollen, nicht aus großen bedeutenden Handlungen, und so soll es auch sein. Uebt euch im kleinen, so werdet ihr bereit sein, wenn Gott Großes von euch fordert. Und diese tägliche Uebung in der christlichen Nächstenliebe thut uns wohl allen not, oder meint ihr nicht, ihr lieben Mädchen, daß ihr sie nötig hättet? Beobachtet nur euer tägliches Leben und dann fragt euch, ob ihr immer die nötige Nachsicht, Demut, Freundlichkeit und Sanftmut habt, die Gott von uns verlangt? Ihr habt euch einen schönen Spruch für euern Bund erwählt: ›Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst‹; vergeßt aber niemals, Kinder, daß damit die echte, rechte Christenliebe gemeint ist. Mancher streut den Armen mit vollen Händen hin und ist doch weit entfernt, Gottes Kind zu sein, denn seinem Herzen fehlt die Liebe, die sanfte, langmütige, geduldige Liebe. Darum, wer andern wohlthun will, vergesse der Liebe nicht, denn mehr als mit allen Schätzen der Welt können wir ein trauriges, bekümmertes Herz durch freundlichen Zuspruch und herzliche Teilnahme aufrichten und trösten. Es ist nicht immer nötig, daß wir dazu in die Hütten der Armut gehen, wir finden oft in unsrer nächsten Umgebung Gelegenheit, diese Liebe zu bethätigen, freilich gehört dazu oftmals gar große Selbstüberwindung; wer aber nicht gegen seine eigenen Fehler und Schwächen zu Felde ziehen mag, erfüllt nicht das erste Wort des Spruches: ›Liebe Gott über alles‹ und kann demgemäß auch nicht das zweite im richtigen Sinne erfüllen; denn wessen Herz nicht von der rechten Gottesfurcht erfüllt ist, in dem wohnt auch nicht die wahre Liebe zu seinem Nächsten.«

Der Pastor hatte einigemal zu Else und Elisabeth hinüber gesehen, und auf beide hatten seine Worte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Else war dunkel erglüht und sah in tiefer Verlegenheit vor sich nieder, Elisabeth hingegen war sehr blaß und ihre Lippen zitterten, bei ihr stets ein Zeichen innerer Erregung.

Else hätte an diesem Abend wohl mit ihr gesprochen, als sie beide allein auf ihrem Zimmer waren, denn Pastor Winters Worte waren nicht ohne Eindruck auf sie geblieben, wenn Elisabeth ihr die Selbstüberwindung nur nicht so unendlich schwer gemacht hätte. Sie kam ihr aber gar nicht entgegen, nicht im geringsten, und es war so schwer, das rechte Wort und den rechten Augenblick zu finden. »Auch gut,« dachte sie erbittert, als Liesel sich schnell auskleidete, ins Bett stieg und das Gesicht nach der Wand drehte, »auch gut, braucht sie mich nicht, ich brauche sie gewiß nicht,« und mit noch mehr Trotz im Herzen als gewöhnlich suchte auch sie ihr Lager auf.

Am nächsten Morgen waren die Mädchen sehr erschrocken, als mildere Lüfte wehten, ja, Wally war geradezu empört über diesen Umschwung im Wetter.

»Tröste dich, Komteßchen,« sagte Maria, »du hast selbst gesagt, bis Sonnabend könne es noch dreimal schneien, tauen und frieren, und heute ist ja erst Donnerstag.«

»Ja, weißt du, Mieze, so wie ich es meine, muß es auch mit Extrapost gehen, aber es scheint sich ein recht beschauliches Tauwetter vorzubereiten.«

Der Tag ging indessen hin, ohne daß diese Befürchtung eintraf; in der Nacht jedoch erwachte Wally von einem leisen plätschernden Geräusch. Aufspringen und den Fenstervorhang in die Höhe reißen, war das Werk eines Augenblickes. Richtig, es regnete.

Voller Entrüstung eilte das Komteßchen in das Nebenzimmer. »Eva, Maria, denkt nur, es wird nichts aus unsrer Schlittenfahrt; ist es nicht abscheulich?«

»Um Himmelswillen, was ist los?« rief Eva, aus dem Schlafe fahrend, und Maria fragte zitternd:

»Wally, brennt es?«

»Ach was, brennen, es regnet Bindfaden, sage ich euch, soll man sich darüber nicht ärgern?«

Eva hatte inzwischen Licht angezündet und beleuchtete die kleine, weiß gekleidete Gestalt: »Ich bin zu Tode erschrocken,« seufzte Maria.

»Ich auch,« sagte Wally grollend.

Eva aber brach in ein heiteres Lachen aus. »O, Wally, was bist du doch für ein Kindskopf; bis Sonnabend kann es noch zweimal schneien und frieren, es ist ja immer noch Donnerstag.«

»Wenn du nichts dagegen hast, weise Minerva, so ist der Freitag bereits angebrochen, es hat soeben eins geschlagen.«

»Mach, daß du ins Bett kommst, Wally,« rief Maria, »sonst erkältest du dich und mußt hier bleiben, wenn wir Sonnabend fahren.«

Das half; schnell huschte die Kleine ins Bett zurück und nach kurzer Zeit lagen alle drei Mädchen wieder in dem tiefen, festen Schlaf der Jugend.

Am Freitage regnete es nun freilich nicht, es taute jedoch so heftig, daß die Schlittenpartie im wahrsten Sinne des Wortes zu Wasser wurde. Seltsamerweise ertrug Elisabeth die Enttäuschung am ruhigsten, Else abgerechnet, die froh war, daß nichts aus der Fahrt wurde.

Am Sonnabend traf eine Karte von Müller Ehrhard an Fräulein Reuter ein, auf der er das herzlichste Bedauern aussprach, daß ihnen die Freude nicht zu teil werden sollte, ihre lieben Gäste in Empfang zu nehmen, er bitte aber um die Erlaubnis, sobald das Wetter es gestatte, mit dem Schlitten erscheinen zu dürfen, um das Versäumte nachzuholen. Die jungen Mädchen bedauerten zwar lebhaft, daß nichts aus der Fahrt werden konnte, trösteten sich jedoch mit dem Gedanken, daß aufgeschoben nicht immer aufgehoben sei.


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