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Drittes Kapitel.

Am nächsten Nachmittage zog die ganze Gesellschaft auf die Berge.

Herrlicher Tannenduft umfing sie, die Sonnenstrahlen umspielten die hohen Stämme und zitterten auf dem weichen Moose, dunkelfarbige Eichkätzchen schwangen sich leichtfüßig von Zweig zu Zweig und lockten auch wohl die Knaben zur Verfolgung, die jedoch gewöhnlich schnell wieder als erfolglos aufgegeben ward. Fröhliches, heiteres Leben, wohin der Blick sich wandte.

Als ein besonders schöner Punkt erreicht wurde, erklärten die beiden führenden Damen einer Ruhepause zu bedürfen, und die ganze Gesellschaft lagerte sich.

»Tante, wir wollen doch nicht schon wieder nach Hause?« rief Fritz, als Fräulein Reuter nach einer Viertelstunde die Uhr zog. – »Für unsre Kräfte ist es für heute wohl genug, nicht wahr, liebe Frau Geheimrat?« wandte sie sich an diese.

»Ich glaube auch, es möchte sonst zu viel werden, wenigstens für mich. Sie sind, wie ich von den jungen Mädchen gehört habe, eine sehr gute Fußgängerin?«

»Ja freilich; obgleich ich 56 Jahre alt bin, nehme ich es doch noch mit manchem jungen Menschenkinde auf.«

»Für uns ist es aber doch entschieden noch zu früh, schon nach Hause zu gehen; dürfen wir nicht noch ein bißchen hier verbleiben und nachher einen andren Rückweg nehmen?« bat Fritz.

»Ach ja, bitte Tantchen, erlaube es,« bat auch Eva, »wir sind ja so gut bekannt hier, du kannst uns ganz unbesorgt zurücklassen.«

»Mir ist aber doch bange, Kind, daß ihr euch am Ende verirrt,« sagte die Geheimrätin.

»Sei doch nicht komisch, Mama,« rief Else, errötete aber unter Fräulein Reuters ernstem Blick, die sich dann freundlich der Geheimrätin zuwandte. »Sie brauchen sich nicht zu ängstigen, liebe Freundin, unsre Kinder kennen in der That die Wege ebensogut wie ich, und ich glaube, wir können ihnen die Freiheit gönnen, wenn sie versprechen, um sieben Uhr zu Hause zu sein.« Die Geheimrätin gab nur zögernd ihre Einwilligung.

»Was thun wir nun?« fragte Eva, nachdem die beiden Damen den Heimweg angetreten hatten. »Bleiben wir noch eine Weile hier oder gehen wir weiter?«

»Nur nicht still sitzen,« rief Fritz aufspringend, »davon habe ich nun wirklich genug.«

»Ich denke, es müßten hier herum Erdbeeren stehen«, rief Kon und hob die Nase in die Höhe, als wittere er sie.

»Ein großartiger Gedanke, Kon, ganz deiner würdig,« entgegnete Fritz, »kommt, laßt uns suchen!«

Die Mädchen waren schon auf einen freien Platz geeilt, wo kleines Gestrüpp stand und wo sie auch zu ihrer Freude die kleinen, leuchtend roten Früchte fanden. Für eine Weile verhielten sich alle ziemlich ruhig, nur freudige Ausrufe verkündeten von Zeit zu Zeit einen besonders reichen Fund. Sie liefen von Busch zu Busch und von Lichtung zu Lichtung, immer reichlicher zeigten sich die süßen Früchte.

Sie merkten in ihrem Eifer nicht, daß sie immer tiefer in den Wald eindrangen, bis Eva endlich erschrocken ausrief: »O wie tief steht schon die Sonne, nun aber nach Hause. Fritz, welcher Weg führt am schnellsten zu Thal, rechts oder links?«

Fritz sah sich um und statt der erlösenden Antwort mußte Eva bemerken, daß sich in des Knaben offenen Zügen eine Verlegenheit bemerkbar machte.

»Was man nicht weiß, kann man nicht verraten,« sagte er endlich lachend.

»Was – du willst doch nicht sagen, daß du den Weg nicht kennst?«

»Allerdings, gestrenge Minerva, ich rechne ganz auf deine unermeßliche Weisheit.«

»Laß jetzt den Unsinn, Fritz, und denke nach, in welcher Richtung Wildemann liegt.«

»Wenn eure Beratung beendet ist, so laßt es mich wissen,« sagte Kon, warf sich nieder und verzehrte seine letzten Erdbeeren, Maria setzte sich neben ihn und Wally umschlang Else, drehte sie im Kreise herum und rief lachend und jubelnd: »Verirrt, Else, verirrt, ist das nicht ein himmlisches Vergnügen?«

Nachdem Eva und Fritz übereingekommen waren, daß der Weg zur Rechten am schnellsten nach Hause führen müsse, brach die kleine Gesellschaft auf und schritt eilig und munter plaudernd vorwärts; als die Gegend aber gar nicht anfing, ihnen bekannt zu werden und es bereits stark dunkelte, wurde eines nach dem andern still, und Eva sah mit heimlicher Angst auf Wally, die jedoch versicherte, noch gar nicht müde zu sein. Nun traten sie auf eine Lichtung, von der drei schmale Forstwege, leider ohne Wegweiser, ihren Ausgang nahmen. Verlegen und unschlüssig sahen sich die Kinder an.

»Wenn wir nur wenigstens wüßten, in welcher Richtung Wildemann liegt,« sagte Fritz seufzend.

»Vor uns sicher nicht,« entgegnete Kon, »denn du erinnerst dich wohl, weiser Magister, daß Wildemann rings von Bergen eingeschlossen ist; nach meiner Berechnung muß es in östlicher Richtung liegen.«

Fritz dachte nach. »Du magst recht haben,« war das Resultat seiner Ueberlegungen, »also vorwärts!« kommandierte er.

Eine halbe Stunde wanderten die Kinder nun; als sich der Wald jedoch immer noch nicht lichtete, und die zunehmende Dunkelheit das Gehen nicht allein beschwerlich sondern auch gefährlich machte, stand Fritz still. »Dieses ziellose Umherlaufen nützt nichts«, sagte er, »ich schlage vor, wir ruhen erst eine Weile aus.«

»Ich kann auch nicht mehr,« erklärte Wally matt und sank ins Moos. Eva setzte sich zu ihr und legte ihr dunkles Köpfchen in ihren Schooß.

»Wally, liebe, süße Wally, werde nur nicht krank,« flehte sie ängstlich.

Ein schwaches Lächeln huschte über das blasse Gesicht. »Ich bin nur so müde, laßt mich nur einen Augenblick schlafen,« bat sie.

Fritz zog schnell entschlossen seinen Rock aus und wickelte mit Evas Hilfe Wally hinein. Kon folgte ohne Besinnen seinem Beispiele und warf den seinen Else und Marie zu, die wie ein paar Turteltäubchen aneinander geschmiegt am Boden kauerten.

»Wenn ihr euch nur nicht erkältet,« meinte Eva besorgt.

»Bah, wir sind Jungen,« antwortete Konrad und zog den Bruder beiseite. »Was meinst du, Magister, wäre es nicht ganz gut, wenn ich allein hinabstiege und euch Hilfe schickte?«

»Ich habe auch schon daran gedacht,« erwiderte Fritz, »es ist aber wohl besser, ich gehe.«

»Um Gottes willen, laß mich nicht mit den Mädels allein, ich gehe lieber drei Meilen, als daß ich ihren Jammer mit ansehe, und du weißt, ich laufe und springe schnell, wenn ich nur will.«

»Freilich,« gab Fritz zu, »du mußt dann aber deinen Rock wieder haben, Kon.«

»Ist nicht nötig, laß ihn nur den Mädels, sie klappern ja vor Frost, und ich laufe mich schon warm.« Er nickte dem Bruder zu und wollte sich auf den Weg machen, als ein leises Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte.

»Es ist hier etwas Lebendiges in der Nähe,« raunte er Fritz zu.

Fritz' ganzer Eifer war sofort geweckt. »Laß uns nachsehen!«

»Nein, du gehst zu den Mädels zurück, wenn sie etwas merken und wir sind beide nicht zur Stelle, giebt's ein Zetergeschrei.«

»Du kannst aber doch nicht allein –«

»Unsinn, hier giebt's keine Bären und Wölfe mehr,« lachte der Dicke und war im nächsten Augenblick in der Dunkelheit verschwunden. Fritz sah nach den Mädchen zurück, sie schienen noch nichts bemerkt zu haben, weder Kons Verschwinden, noch die Nähe eines unbekannten lebenden Wesens, sie saßen lautlos aneinander geschmiegt. »Die armen Dinger,« flüsterte Fritz vor sich hin und trat dicht an den Rand des Abhangs, wo Kon verschwunden war. Er lauschte angestrengt hinab, und nun vernahm er des Bruders gedämpfte Stimme und eine zweite, unbekannte. Am liebsten wäre er hinabgeklettert, der Gedanke an die Mädchen hielt ihn jedoch zurück.

Da drang Kons Stimme zu ihm herauf. »Heda, Fritz!«

»Soll ich kommen?«

»Nein, ich bringe aber Hilfe, du sollst gleich sehen, wen ich hier aufgelesen habe.«

Nun hörte Fritz zwei Menschen den Berg heraufklettern, und nach wenigen Augenblicken stand Konrad vor ihm und eine zweite gebückte Gestalt, die ein schweres Holzbündel auf dem Rücken trug.

»Es ist der Pilzfriedel,« rief Kon vergnügt, »ist das nicht famos?«

»Ja freilich, wie kommst du denn noch so spät hierher?«

»Ich bin sehr weit fortgewesen, um Holz zu sammeln, und hab' mich verspätet.«

»Wen habt ihr da?« rief Eva herüber.

»Den Pilzfriedel, nun hat auf einmal alle unsre Not ein Ende.«

Die Mädchen stießen einen Freudenruf aus und Else und Maria sprangen trotz ihrer Müdigkeit auf. »Kommt hierher, damit wir an eurer Beratung teilnehmen können,« bat Eva. »Wally schläft, ich möchte sie nicht vor der Zeit stören.«

»Kannst du uns den Weg zeigen, Friedel?«, fragte Fritz. »Du wirst schon gemerkt haben, daß wir uns heillos verirrt haben.«

Friedel nickte. »Es ist aber sehr weit bis Wildemann,« sagte er, »wir sind ganz nah bei unsrem Dorfe.«

»Dachte mir's wohl«, brummte Kon, während Else erschrocken ausrief: »O weh, was fangen wir an?«

»Es ist wohl am besten, die Herrschaften kommen mit mir,« sagte Friedel schüchtern, »von Grünberg führe ich Sie dann den nächsten Weg nach Wildemann.«

»Das ist ein gescheidter Gedanke, Friedel, vorwärts denn.«

»Wie weit ist es denn?« fragte Marie.

»Eine gute Viertelstunde,« lautete die Antwort.

»O weh, meine Füße,« seufzte Else.

Inzwischen bemühte sich Eva, Wally zu wecken, doch ohne Erfolg. Das zarte Mädchen war so vollständig erschöpft, daß sie sich nicht zu ermuntern vermochte. »Was thun?« fragte Eva ratlos.

Fritz zuckte die Achseln. »Liegen lassen können wir sie nicht, ich weiß keinen andern Ausweg, Kon, wir müssen das schlafende Komteßchen tragen,« schloß er mit verlegenem Lachen.

»Warum nicht gar,« brummte dieser, »aber meinetwegen, ich will's, ich bin der stärkste. Weshalb soll dieser ereignisreiche Tag nicht mit einer solchen aufopferungsvollen That enden? Nun zeige mir um Himmels willen, Eva, wie ich das feine Ding anfassen muß, damit ich mit meinen groben, ungeschickten Händen nichts zerbreche.«

Schnell entschlossen hatte der kleine Dicke zugegriffen, und langsam setzte sich der Zug in Bewegung; Friedel ging voran und warnte die ihm Folgenden, wenn Baumwurzeln den Weg versperrten oder eine Schlucht zur Seite gähnte.

Nachdem sie den Fuß des Berges erreicht hatten, führte der Weg über Wiesen an einem leise plätschernden Bache entlang, der durch das Dorf floß.

»Hier wohnen wir,« sagte Pilzfriedel und stand vor einem kleinen verfallenen Häuschen still. »Ich will hineingehen und Mutter sagen, daß die jungen Herrschaften hier sind.«

Er ging ins Haus, und die Mädchen sanken totmüde auf die kleine Bank vor dem Häuschen.

Nach einer Weile trat eine ärmlich gekleidete, blasse Frau vor die Thür. »Der Friedel sagt mir, die jungen Herrschaften wären da, die immer so gut gegen ihn gewesen sind. Ach, lieber Gott, was mögen Sie sich im finstern Walde gefürchtet haben. Wollen Sie ein Weilchen hereinkommen und sich ausruhen? Lieber Himmel, arm geht's ja bei uns her, daß sich Gott erbarm', Sie müssen halt fürlieb nehmen.«

Eine alte Frau mit schneeweißem Haar und gutem, freundlichem Gesicht war ihr gefolgt. »Mach' nicht so viel Umstände, Trine,« sagte sie, »natürlich kommen die jungen Herrschaften in die Stube und ruhen sich aus. Was ist mit dem kleinen Fräulein, es ist doch nicht krank?« fragte sie, auf Wally deutend, die auf Evas Schoß gebettet lag.

»Ach ja,« sagte diese seufzend, »sie ist sehr schwach und hat sich überangestrengt.«

»Komm' her, Trine, faß zu, trag' das Kind ins Haus und leg' es auf mein Bett.«

Die junge Frau gehorchte und unsre jungen Freunde folgten den beiden Frauen auf dem Fuße. Sie traten in eine niedrige Stube, die schwach von einer kleinen Oellampe erhellt wurde. Ein riesiger Kachelofen nahm einen ziemlich großen Platz in dem Stübchen ein; neben ihm stand ein altväterlicher Lehnstuhl, an der Wand ein Bett. Ein paar altersschwache Stühle und ein weißgescheuerter Tisch vervollständigten die dürftige, aber sehr reinlich gehaltene Einrichtung.

Zögernd waren die Kinder näher getreten, namentlich Else, die noch nie in ihrem Leben in einer so armseligen Hütte gewesen war; sie drängte sich fast ängstlich an Eva. Diese beachtete sie jedoch nicht, ihre ganze Sorge galt Wally, die blaß wie eine Leiche auf dem Bette lag.

»Gieb die Essigflasche her, Trine,« gebot die alte Frau.

Trine gehorchte, konnte aber nicht umhin, in einen Schwall von Wehklagen auszubrechen, als sie das weiße Gesichtchen sah. Aengstlich drängten sich die jungen Mädchen um das Lager und sahen den Bemühungen der alten Frau zu, die Wally das Gesicht mit Essig wusch, und alle jubelten auf, als die Freundin tief aufatmete und die dunklen Augen aufschlug. Maria küßte sie unter Thränen und auch die übrigen bezeigten lebhafte Freude.

»Christel, bist du da?« rief Friedels Großmutter, als sich ein zwölfjähriges Mädchen an der Thür zeigte. »Schnell, lauf und bringe ein Glas Milch. Das wird Ihnen gut thun, kleines Fräulein,« sagte sie dann zu Wally.

Diese sah mit großen verwunderten Augen um sich. »Wo bin ich in aller Welt?«

»Bei Pilzfriedels Großmutter,« erklärte Eva; »o Wally, ich habe mich halb zu Tode um dich geängstigt.«

»Ganz unnötig, Evchen; nach meiner Krankheit fiel ich stets in diesen wunderlichen Zustand, sobald ich mich überangestrengt hatte; halb ist es Schlaf, halb Betäubung. Wie bin ich denn hierhergekommen?«

»Die Jungen, Kon und Fritz, haben dich beide hergetragen.«

»Was, der Dicke auch?« Sie lachte belustigt auf. »Armer Kon, das mag dir sauer genug geworden sein.«

»Na, so ein dummes Ding, wie du bist, trägt man schon,« wehrte Kon ab.

»Hier, kleines Fräulein, trinken Sie,« sagte die Großmutter und reichte Wally ein Glas Milch.

»Wie gut Sie sind,« sagte diese mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit und trank. »Ach, das thut gut, ich glaube, nun kann ich auch nach Hause gehen.«

»Unsinn,« rief Fritz, »Friedel, Kon und ich gehen jetzt. Ruht euch nur alle aus, wir schicken euch einen Wagen.«

»Ja, können wir denn solange hierbleiben?« fragte Eva und sah sich um, doch die Großmutter und auch Friedels Mutter hatten das Zimmer verlassen.

Fritz nickte. »Ich habe mit Friedels Großmutter gesprochen, sie will euch hier behalten, bis der Wagen kommt, denn es ist gar nicht daran zu denken, daß Wally noch eine halbe Stunde geht.«

Eva nickte. »Du hast recht Fritz, ihr schreitet auch schneller aus und könnt Tante und Elses Mutter beruhigen.«

»Ach, geht nicht beide fort, Fritz,« bat Else, »ich fürchte mich zu Tode hier allein.«

»Unsinn, Else! Ihr seid doch zu viert, bist also nicht allein.«

»Das ist gleich, einer von euch muß hier bleiben,« beharrte Else, »wenn du gehen willst, laß wenigstens Kon hier, er macht uns ab und zu auch einmal lachen.«

Kon zog die Augenbrauen hoch. »So, also bis zum Harlekin bin ich schon herabgesunken? Aber meinetwegen!«

»So bleib', Kon, und beschütze die Mädels,« entschied Fritz.

Eva verzog die Lippen etwas spöttisch. »Ich weiß eigentlich nicht, vor welcher Gefahr uns Kon beschützen soll, wenn sich Else aber in seiner Gesellschaft sicherer fühlt, so laßt ihn bleiben.«

So blieb Kon und Fritz machte sich mit Friedel allein auf den Weg.

Nachdem die Knaben gegangen waren, herrschte einen Augenblick Schweigen in dem kleinen Raume; Wally lag still auf dem Lager und war sichtlich sehr angegriffen, Marie hatte sich zu ihr auf den Bettrand gesetzt und sah ebenfalls recht müde und ängstlich aus.

»Hu,« sagte Else und zog ihr leichtes Tuch fester um die Schultern, »mich friert, ich finde, es ist hier überhaupt gräßlich!«

»Setze dich in den Großmutterstuhl, da wirst du schon wieder warm werden,« riet Eva.

Else sah mit verächtlichen Blicken nach dem alten, vielfach geflickten Stuhl, dessen Schäden man sich bemüht hatte, mit einer weißen Decke zu verbergen. »Ehe ich mich auf den setze,« entschied sie, »bleibe ich lieber die ganze Zeit stehen; ich begreife Wally nicht, wie sie auf dem armseligen Bett liegen mag, in dem die alte Frau geschlafen hat. Brr – mich brächte keine Macht der Welt hinein.«

»Schäme dich, Else, dergleichen zu sagen,« rief Eva mit gedämpfter Stimme, »du lohnst die Gastfreundschaft der armen Leute schlecht.«

»Else thut, als ob sie eine Prinzessin wäre,« brummte Kon.

In diesem Augenblicke trat die Großmutter ein, mit ihrer Tochter und Christel, die auf einem Brett ein Schwarzbrot trug. »Die jungen Herrschaften müssen fürlieb bei uns nehmen,« sagte die alte Frau und stellte einen Topf mit schäumender Milch auf den Tisch. »Wir sind nur arme Leute, aber was wir haben, geben wir gerne.«

Trine füllte vier Tassen und stellte sie auf den Tisch. »Nun trinken Sie, die Milch ist gut; ach, wenn wir nur Butter zu dem Schwarzbrot hätten, die Herrschaften werden's so gewiß nicht essen.«

»Wenn man Hunger hat, schmeckt alles,« sagte Großmutter lächelnd und schnitt vier Scheiben von dem großen Brotlaib herunter.

Eva hatte den Geschwistern auffordernde Blicke zugeworfen, und alle drei traten freundlich dankend an den Tisch. »Wir sind allerdings hungrig und durstig, da wir seit Mittag nichts gegessen haben,« sagte sie, »das Brot sieht schön aus, wir werden es uns schon schmecken lassen.«

»Willst du nicht kommen, Else?«

»Nein, ich danke, ich bin nicht im stande, einen Bissen zu genießen.«

»Ach, dem Fräulein ist es gewiß nicht gut genug«, klagte Trine.

»O doch,« rief Marie eifrig, »es schmeckt sogar sehr gut, Else ist gewiß nur sehr müde, nicht wahr?«

»Ja,« tönte es einsilbig zurück.

»Wer nicht essen will, muß hungern,« sagte Eva ärgerlich.

»Habt ihr meine Existenz eigentlich ganz vergessen?« rief Wallys helle Stimme dazwischen, »glaubt ihr, daß ich zusehen will, wie ihr es euch wohl sein laßt?«

»Ach, das kranke Engelchen, ich dachte doch, es schliefe,« rief Trine und stürzte an den Tisch; Eva hatte aber schon ein Stück Brot ergriffen, die Großmutter die Milch und alle drei begaben sich an das Bett, selbst Christel schlich schüchtern näher und sah mit Staunen auf das zierliche Geschöpfchen, das sich in Großmutters Bett aufrichtete.

Mit freundlichem Dank nahm Wally die gebotenen Gaben in Empfang und biß mit dem besten Appetit in das Schwarzbrot. »Es schmeckt herrlich,« versicherte sie.

Else sah ihr voller Staunen, aber auch voller Neid zu, sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so hungrig und durstig gewesen wie augenblicklich, redete sich jedoch ein, bei so armen Leuten nichts genießen zu können, und in diesem Gefühl, vielleicht auch in einer Beimischung von Trotz, hatte sie die Aufforderung abgelehnt. Nun sah sie voller Verdruß, wie prächtig es den Freundinnen schmeckte, dazu sah die Milch so einladend aus und das Brot schien frisch und gut. Wer weiß, ob Else nicht doch noch geruht hätte, etwas zu genießen, wenn eine zweite Aufforderung an sie ergangen wäre, aber niemand kümmerte sich um sie.

»Ich fühle mich jetzt so kräftig, daß ich aufstehen kann,« sagte Wally, stieg vom Bette herunter und marschierte mit schelmischem Seitenblick an Else vorüber, die sich auf einen tannenen Bettstuhl gesetzt hatte, auf den geschmähten Großvaterstuhl zu, in den sie sich hineinschmiegte wie ein Kätzchen.

»Es ist doch erlaubt?« fragte sie lächelnd.

»O Fräulein, wenn Sie es nur bequem haben,« rief Trine und fügte neugierig hinzu: »Sie wohnen wohl da unten in Wildemann?«

»Ja,« entgegnete Eva, »wir sind bei Fräulein Reuter in Pension.«

»Von der haben wir schon viel Gutes gehört,« sagte die alte Frau.

»Die jungen Fräuleins sind wohl von weit her?« forschte die neugierige Trine weiter.

»Wir sind aus Hamburg, meine Schwester dort, mein Bruder und ich,« erklärte Eva, »meine Freundin hier ist von weither aus Ostpreußen –«

»Sie ist eine Grafentochter,« fiel Else ihr ins Wort; sie hatte nur auf den Augenblick gewartet, um sich mit Wallys Vornehmheit brüsten zu können, und sie konnte mit dem Eindruck, den ihre Worte auf die einfache Frau machten, zufrieden sein.

Trine faltete die Hände. »Eine Gräfin!« Und Christel riß Mund und Augen auf und starrte Wally so verwundert an, daß dieselbe in ein helles Lachen ausbrach und rief: »Du siehst mich ja an, als wäre ich ein Ungetüm, siehst du was Besonderes an mir, Christel?«

Das kleine Mädchen ward dunkelrot und kroch eilig hinter die Mutter, Kon aber sagte, auf Else deutend, mit dem größten Ernst: »O das ist noch gar nichts, das junge Fräulein dort ist noch viel vornehmer, sie ist die Prinzessin von und auf der Tann.«

»Aber Kon,« rief Eva lachend, Trine aber schlug die Hände in höchstem Staunen zusammen und rief: »Eine Prinzessin? Mutter, darum hat sie von unsrem Schwarzbrot nichts essen wollen!«

Else war zornig aufgesprungen. »Es ist abscheulich, von dir, Konrad, mich solcherweise lächerlich zu machen.«

Kon aber entgegnete in größter Gemütsruhe: »Hast du mich nicht zu deinem Hofnarren ernannt? Da mußt du dir meine Späße schon gefallen lassen.«

Else wandte sich entrüstet ab, und nur Marias Zureden gelang es, sie einigermaßen zu versöhnen; Eva erklärte unterdessen der bestürzten Trine, daß ihr Bruder gern Spaß treibe und die Freundin nur geneckt habe; sie heiße ganz einfach Else Kirchner. Dabei beruhigte sich Trines Gemüt, und die allgemeine Ruhe war wieder hergestellt.

»Nun sind Fritz und Friedel doch wohl schon angelangt?« meinte Eva.

Die Großmutter sah nach der Uhr. »Gewiß, Fräulein, der Wagen kann schon unterwegs sein.«

Die jungen Mädchen lauschten nun, und Konrad ging vor die Thür, um seine Ankunft zu melden. Es war nun ganz still im Zimmer, jedes hing den eigenen Gedanken nach; wie laut die alte Uhr tickte, und nun hörten auch die jungen Mädchen ganz deutlich die regelmäßigen Atemzüge Schlafender in der anstoßenden Kammer, deren Thür nur angelehnt war.

»O, da schläft jemand, und wir haben ganz laut gesprochen und gelacht,« sagte Marie bedauernd.

»Das thut nichts,« meinte Trine. »Die Kleinen schlafen doch, und der Christoph – du lieber Gott – dem mag's gut thun, wenn er mal einen Menschen lachen hört.«

Die jungen Mädchen sahen die Frau erschrocken an – wurde denn in dieser Kathe gar nicht gelacht? Freilich, armselig genug sah es darin aus, daß es einem vergehen konnte.

»Geht es Ihrem Manne noch immer so sehr schlecht?« fragte Wally, gegen ihre sonstige Art schüchtern und zaghaft.

»Ach, Fräulein, er liegt immer noch mit seinem Bein, und der Doktor und der Apotheker und die teuern Salben haben sehr viel Geld gekostet und helfen thut's doch nicht; 's ist rein, als wären wir von Gott verlassen.«

»Trine, versündige dich nicht,« mahnte die alte Mutter, »Gott hat noch keinen zu Schanden werden lassen, der an ihn glaubt, und er läßt auch uns nicht zu Schanden werden. Wenn seine Zeit kommt, wird er uns schon helfen, bis dahin heißt es fein geduldig sein. Nach Regen folgt allezeit Sonnenschein, so ist's auch mit uns Menschen; schickt Gott Leid, so schickt er auch Freud, nur immer stillhalten; 's ist allemal gut, wie er's macht.«

Ueber Trines gramdurchfurchtes Antlitz rannen langsam einige Thränen, sie nickte still vor sich hin, ehe sie antwortete: »Du hast recht, Mutter, wie immer, aber ich bin nicht wie du, ich kann nicht still halten; bei mir fährt's alleweil heraus, was ich an dummen, gotteslästerlichen Gedanken hab'! Ich mein' immer, er hätt' uns vergessen.«

Die Greisin schüttelte den Kopf. »Er sorgt für die Sperlinge unter dem Himmel, und er sollte uns vergessen? Nein, Trine, es kommen auch wieder bessere Zeiten, nur immer den Kopf hoch.«

Christel hatte sich zu der Großmutter geschlichen und schmiegte sich an sie; lächelnd strich die Greisin über das lichte Haar des Kindes und sagte: »Gelt, Christel, wir zwei glauben, daß die Sonne wieder scheint, wenn's auch oft nicht darnach aussieht?«

Und die Kleine nickte und sagte ernsthaft: »Großmutter, ich will so fromm werden wie du.«

»Recht so, Christel, das ist auch die rechte Weise, glücklich zu werden. Aber ich mein', ich hör' den Wagen.«

Die jungen Mädchen, die stumm und verwundert der Unterhaltung gelauscht hatten, sprangen auf; nun öffnete auch Kon die Thür und meldete den Wagen. Einen Augenblick später trat Fräulein Reuter über die Schwelle.

»Tante – du?«

»Liebe einzige Tante!«

»Tante, sei nicht böse, ich bin allein schuld, die dummen Erdbeeren –«

»Laß das jetzt, Konrad, wie geht es dir, Wally?«

»Ich bin munter, wie ein Fisch im Wasser; aber Herzenstantchen, wie blaß du bist, habt ihr euch sehr geängstigt?«

»Ach, Fräulein Reuter, wie geht es Mama?« rief Else.

»Wir haben uns natürlich sehr beunruhigt, auch ihre Mama, liebe Else, wir sind aber Gott dankbar, daß wir euch glücklich wieder haben. Und Ihnen, liebe Frau Weber, und Ihnen, Frau Schreiber, sind wir ungemein verpflichtet, daß Sie unsre Kinder so freundliche Aufnahme finden ließen. Sie sind in ihrer Nachtruhe von den jungen Gästen leider recht gestört worden.«

»Das thut nichts, Fräulein Reuter, es war gut, daß unser Friedel die jungen Herrschaften getroffen hat,« entgegnete die alte Frau Weber mit ihrer ruhigen Freundlichkeit, die so sehr gegen Trines hastiges Wesen abstach.

Nach wenigen Minuten waren alle reisefertig, und nach herzlichem Abschiede von den freundlichen Wirten stiegen unsre jungen Freunde in den Wagen.


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