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5. Der Kaiser in unsrer Gewalt!

Jawohl, Monsieur, es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich Frankreich gerettet! Das ist historisch wahr. Der verstorbene Baron Taylor, der den Hergang kannte, hätte Ihnen die Wahrheit dessen bestätigen können, was ich Ihnen nun erzählen werde. Aber ich bedarf keiner Zeugen, daß man meinem Worte glaube. Man kennt Brichanteau, er hat noch nie gelogen. Meine Lebensgeschichte mag erstaunlich scheinen, aber das Leben ist ein Traum, wie – wie – jener Spanier gesagt hat. Folgendermaßen trug sich also die Sache zu:

Es war in der letzten Periode der Belagerung. Man langweilte sich schrecklich in Paris. September, Oktober, November, Dezember, Januar, das war ein bißchen lang. Am Anfang hatte man sich gesagt: »Nur Geduld, wir werden entsetzt werden, wir werden den Feind unter unsern Mauern zerschmettern, der Norden regt sich, der Süden erhebt sich, in einigen Wochen ist alles vorbei; vertrauen wir nur auf das Vaterland, das stärkt, das erhebt.« Aber die Tage vergingen: es kam immer noch nichts, wir konnten nicht hinaus, wir schlichen an den Wällen herum, und wir langweilten uns. In sehr würdevoller Weise übrigens, indem wir wenig und schlecht aßen, schreckliches Brot, Pferdefleisch, allerlei Unappetitlichkeiten. Und dazu die Blattern und die Kälte. Es ist nicht zu leugnen, es war nicht sehr heiter. Ich tat, verstehen Sie, meine Pflicht gleich den übrigen. Ich stand Wache, ich tat Nachtdienst, und wenn das Bataillon die Befestigungen verließ – bei Gott, da glaubte ich, daß mein Chassepot mir den Weg nach Berlin öffnen würde und daß der König von Preußen nur auf der Hut sein möge.

Ich muß Ihnen bemerken, daß ich vom Beginn der Belagerung jeden zivilen Dienst abgelehnt hatte. Ich hatte Freunde in der Verwaltung. Potel, der Sänger an der Komischen Oper – ich sehe ihn noch mit seinem Käppi und dem dreifarbigen Band daran – hatte mir gesagt: »Willst du dem Überwachungskomitee des zehnten Arrondissements beitreten?« Er kannte mich, ich hatte in Laon mit ihm gespielt. Ich wies sein Angebot zurück. Die Überwachung war auf den Wällen. Ich wollte auf den Wällen sein. Und dann habe ich mich immer abseits von der Politik gehalten. Jawohl, mein künstlerisches und privates Leben ist frei von jeder Parteinahme dieser Art. So hatte ich es immer gehalten, so wollte ich es auch ferner halten. Aber ich stellte meine ganze Kunst, alle Kräfte meines Talentes in den Dienst der Vorstellungen, die für die Verwundeten oder für die Bataillonshilfskassen gegeben wurden. Man lehnte oft, zu oft, meine Mitwirkung ab, unter dem Vorwande, daß das sehr reichhaltige Programm schon festgestellt sei; aber ich neidete niemand diese Mitwirkung. Eines Abends während des Bombardements habe ich zwischen Delaunay und Frau Favart Verse zitiert, und ich will Ihnen nicht sagen, wer den größten Beifall erntete. Meine Bescheidenheit verbietet mir, es zu sagen. Aber ich schiebe obendrein dem Dichter alle Ehre zu. Ich hatte Verse von Victor Hugo vorgetragen.

Trotz alledem langweilte ich mich. Die Belagerung machte auf mich den Eindruck eines Stückes, das Längen hat. Ich sagte mir: »Wir brauchten mehr Handlung!« Wir waren im vierten Akt. Man fühlte, daß die Lösung, eine glückliche oder unglückliche, nahe war, aber der vierte Akt zog sich unerträglich in die Länge. Und ich zerbrach mir den Kopf, indem ich mir sagte: »Es müßte sich doch etwas tun lassen! Der Genius Frankreichs ist noch nicht zu Ende mit seiner Kraft!« Ich hatte, wie alle Welt, nach einer Erfindung gesucht, um dem Vaterlande zu nützen. Wie Paris befreien? Das war die Aufgabe. Meine Kollegin Andrésie, von den Bouffes, schlug vor, vergiftete Ringe anfertigen zu lassen, die mit einer unsichtbaren feinen Spitze versehen wären. Jede Pariserin sollte einen solchen patriotischen Ring tragen, und wenn die Preußen eindrängen, sollte jede Pariserin einem Deutschen die Hand drücken. Die kleine Nadel dränge durch die Haut, das tödliche Gift übte seine Wirkung. Wieviel Pariserinnen gäbe es in Paris? Das wäre leicht zu ermitteln. Nun, um so viel weniger Deutsche würde dann die deutsche Armee zählen.

Ein andrer, mein Freund Dubarol, von der Porte-Saint-Martin, sagte mir: »Ein Beil, ein Messer, eine Navaja, einen Lasso, ja, Brichanteau, einen mexikanischen Lasso wie in den ›Räubern der Savanne‹« (die Idee war mir nicht neu, wie Sie wissen), »und man werfe uns den Deutschen entgegen, Brust an Brust und Aug' in Auge!« Dubarol schlug auch vor, auf die preußischen Vorposten alle wilden Tiere des Zoologischen Gartens loszulassen. Da wir ohnehin keine Nahrung für sie hatten, hätte diese Idee uns einen doppelten Vorteil geboten: die wilden Tiere hätten in Paris keine Nahrungsmittel mehr gefressen, und sie hätten die Preußen außerhalb Paris gefressen. Die stets vorsichtige Regierung fand den Vorschlag jedoch zu weitgehend.

Auch ich war, wie ich gestehen muß, mit diesem zweifellos kühnen, aber nicht sehr praktischen Vorschlage nicht einverstanden. Ich wiederholte mir immer, daß es »noch andres geben« müsse – als eines Tages der Ausschnitt aus einer Provinzzeitung, der im Luftballon nach Paris gekommen war, in mir alle Fibern des Patriotismus und der Kunst erbeben machte. Ein kühner Mann, ein in Buenos Aires lebender Franzose, hatte, um den Boden des Vaterlandes verteidigen zu helfen, eine tapfere Legion, die argentinische Legion zusammengestellt, und diese wackeren Leute waren eben in Bordeaux angelangt, wo ihr Anführer, gewesener Unteroffizier der afrikanischen Armee, gewesener Oberst des Generals Lee während des Sezessionskrieges, sie organisierte. Er wollte mit ihnen zu der noch intakten Armee Bourbakis stoßen. Aber was mich in der Nachricht des Bordelaiser Blattes »La Victoire« mächtig ergriff und entflammte, das war folgendes: Da der gewesene Oberst nach seiner Landung die für seine Truppen notwendigen Uniformen nicht fertig auftreiben konnte, hatte er einem beschäftigungslosen Theaterdirektor seine Kostüme abgekauft, unter anderm auch die der »Drei Musketiere«; und unter der Kasake und dem Hut d'Artagnans zogen nun diese Tapfern aus, um vielleicht toller-, jedenfalls aber heldenhafterweise den Kugeln des Zündnadelgewehres die Stirn zu bieten.

Ah, dieser Zeitungsausschnitt! Die Möglichkeit vor sich zu sehen, ein Phantasiegebilde in Wirklichkeit umzusetzen, nicht nur zwischen gemalten Kulissen und Versetzstücken einer der Dumasschen Musketiere sein zu können, sondern in freier Luft, unter freiem Himmel, in einer wirklichen Schlacht! Das Vaterland verteidigen unter dem Filz und dem Federbusch der Verteidiger der Bastei Saint-Gervais! Der Gefahr Trotz bieten im Kostüm idealer Gestalten der Vergangenheit! Das befeuerte mich, berauschte mich, machte mich toll! Ich faßte einen Widerwillen gegen mein schwarzes Beinkleid mit der roten Borte, meinen Tuchrock, mein galoniertes Käppi, meinen wollenen Gürtel; ich sah mich mit dem Degen in der Faust die Pickelhauben spalten, und ich verlangte, ich sehnte mich mit aller Kraft, trotz geschlossener Tore, trotz Belagerung, trotz Bismarck, trotz dem Teufel, trotz allem, mich dort in Bordeaux den roten Kasaken der argentinischen Legion anzuschließen.

Wenn ein Mensch von meiner Willenskraft einen Gedanken faßt, führt er ihn aus. Von Paris nach Bordeaux zu gelangen, war nicht leicht. Aber ich wollte schon Mittel und Wege finden, um aus Paris hinauszukommen, wollte bis Rouen die Rolle eines Bauern spielen, der nach seinem Dorfe zurück will, wollte Havre erreichen – in Havre waren sie noch nicht, die Deutschen – und von dort zu Schiffe nach Bordeaux gehen. Ich wollte meinen Weg längs der Seine nehmen. Im Grunde war das der Plan Trochus, der vielberufene und verlachte Plan, den der Gouverneur nicht zur Ausführung brachte, weil die Delegation von Tours sich entschloß, auf Orleans zu operieren anstatt auf Rouen. Dies ist eine historische Tatsache, die einmal enthüllt werden wird. Ich teile sie Ihnen nebenbei mit.

Kurz, mein Plan war gut. Sollte ich ihn jemand anvertrauen? Ich erwog diese Frage und entschloß mich, da ich nun einmal hinaus wollte, damit auch zugleich eine nützliche Tat zu verbinden. Vielleicht hatte die Regierung, die Nachrichten und Instruktionen im Luftballon hinaussandte, eine Mission, die sie einem verläßlichen Mann anvertrauen wollte. Ich ließ durch einen einflußreichen Kollegen, einen Sozietär der Comédie Française, ein Mitglied der Regierung benachrichtigen, daß ich bereit sei, mich durch die feindlichen Linien zu schlagen, und je nach Wunsch einen geschriebenen oder mündlichen Befehl wo immer hinzutragen.

Mein einflußreicher Kollege stellte mich selbst dem Generalstabschef des Gouverneurs vor, der mich prüfend betrachtete, während ich mich unter seinem Soldatenblicke aufrichtete, wie ich es unter den feindlichen Kugeln getan hätte, und der zu mir sagte:

»Sie sind also entschlossen, mein Sohn?«

»Fest entschlossen, Herr General. Ich ersticke in Paris. Ich will in der Provinz kämpfen.«

»Sie wollen ein wenig frische Luft schöpfen, wie? Sie haben keinen schlechten Geschmack. Wir stecken alle in derselben Haut. Und Sie wollen der Regierung in Tours eine Botschaft überbringen?«

»Ja, Herr General, wenn ich nicht unterwegs getötet werde.«

»Aber wenn Sie eine geschriebene Botschaft bei sich tragen und man hält Sie an?«

»Dann verschlucke ich die Botschaft. Das ist das Abc des Handwerks.«

»Und wenn man Sie verhört?«

»Ich werde kein Wort sagen. Ich habe diese Rolle in ›Masséna, oder das Lieblingskind der Siegesgöttin‹ gespielt.«

»Oh, es gibt Mittel, um einen zum Sprechen zu bringen.«

»Herr General, und wenn man mich auf die Folter spannte, so soll kein Wort über meine Lippen kommen. Es gibt gewisse Geheimnisse, die von gewissen Männern ins Grab mitgenommen werden. Ich werde mich an Coconnas in der ›Königin Margot‹ erinnern. Die Rolle ist mir sympathisch. Ich hätte sie beinahe in Montparnasse kreiert.«

Ich schien dem Generalstabschef Vertrauen einzuflößen. Er sagte mir, ich solle morgen wiederkommen. Ich stellte mich mit militärischer Pünktlichkeit ein. Auf einem Papier, nicht größer als so, in gewöhnlicher Schrift beschrieben, beglaubigte man mich bei der dortigen Regierung und übergab mir außerdem eine chiffrierte Depesche sowie einen Passierschein für die französischen Vorposten. Der General sagte mir, daß man, da die Auskünfte über mich gut lauteten, mir die Mission anvertraue, die ich erbeten hatte. Wenn ich Tours erreichen konnte, so sollte ich dort sowohl das in gewöhnlicher Schrift beschriebene Papier als auch die chiffrierte Depesche abgeben, und die dortige Regierung sei beauftragt, mich zu entlohnen.

»O Herr General,« sagte ich rasch, als von Entlohnung die Rede war, »sprechen wir davon nicht, ich bitte Sie. Ich bin genügend belohnt durch Ihr Vertrauen und Ihre Achtung.«

»Gut. Aber haben Sie das nötige Taschengeld für die Reise?«

»Jawohl, Herr General. Das gemeine Metall ist nicht das Viatikum des Patrioten.«

Der General lächelte über diesen Ausspruch, der mir ganz ungesucht einfiel und den ich behalten habe; dann wünschte er mir glückliche Reise. Ich hatte nicht gewagt, ihm zu sagen, daß, wenn ich dem Vaterlande den Dienst erwies, den man von mir erwartete, es eine Belohnung gäbe, die den Ehrgeiz vieler Tapferen bildet, und die mich närrisch vor Stolz gemacht hätte. Aber ich wagte nicht nur nicht davon zu sprechen, ich wagte nicht einmal daran zu denken. Dekoriert! Ich, Brichanteau, Ritter des Ordens der Ehrenlegion! Das wäre zu herrlich gewesen. Nein, ich kann ehrlich sagen, daß ich nicht einmal daran dachte. Ich dachte nur daran, hinauszukommen, mich durch die Linien zu schleichen, frische Luft zu schöpfen, wie der General gesagt hatte, und zu der Legion der Musketiere von Buenos Aires zu stoßen.

Nun war die Frage: auf welcher Seite hinauskommen? Welches Tor wählen? Gegen Vincennes zu kannte ich den Weg wie meine Tasche: Nogent, Joinville, Champigny. Aber da stieß ich direkt auf die preußischen Linien, und ich hätte einen großen Umweg gegen Westen machen müssen. Gegen Saint-Denis ging es auch nicht leichter. Am leichtesten und direktesten war noch der Weg durch die Umgebung des Mont-Valérien, Saint-Cloud, die Wälder von Ville-d'Avray, Viroflay und dann in Gottes Hut durch die Normandie! Aber sollte ich bei Nacht hinaus? Sollte ich bei Tag hinaus? Eine Reihe von Fragen, die mir das Herz klopfen machten. Nicht aus Furcht, sondern aus Hoffnung. Des Nachts lief ich Gefahr, für einen Vagabunden gehalten und von einer Schildwache, vielleicht gar einer französischen, über den Haufen geschossen zu werden. Am Tage konnte ich meine Rolle als Bauer besser spielen und die Gefahr kommen sehen. Gut also, gehen wir bei Tage.

Ich hatte mir ein sehr einfaches Kostüm eines schlichten, in Paris eingeschlossenen Landmannes zusammengestellt. Nichts Groteskes. Nicht der Bauer des Café-Konzert, der von der Hochzeit des Peter Michel singt. Ebensowenig eine Brasseur-Rolle. Ein realistischer Bauer mit rasiertem Kinn, einem Tuchrock, einem dunkelblauen Kittel darüber und einem niedrigen runden Hut. Dazu einen Stock gegen etwaiges Gesindel, denn gegen die Preußen sich zu bewaffnen, war nutzlos. Meine Waffe war mein Gewissen.

Ich machte mich also auf den Weg. Ich nahm meinen Passierschein mit und trug in der Tasche gleich zwei Brotkügelchen zusammengerollt, mein Beglaubigungsschreiben und die Depesche für die Delegation in Tours. Ich ließ in Paris weder ein Liebchen noch einen Verwandten zurück. Mein Herz war damals gerade frei, und wäre ich auch verliebt gewesen, so hätte ich diese Neigung, Laune oder Leidenschaft, der Aussicht geopfert, meinem Vaterlande einen Dienst erweisen und mit den argentinischen Musketieren kämpfen zu können.

Ich schritt durch das Tor von Neuilly hinaus. Ein schöner Tag begünstigte meinen Marsch, den ich zuversichtlichen Schrittes antrat. Der Mont-Valérien, der von Zeit zu Zeit einen Schuß abfeuerte, schien meinen Abgang zu salutieren, gleich dem eines Schiffes. Die helle Wintersonne, der Pulverrauch in der klaren Luft, alles das schien mir von guter Vorbedeutung, und ich schritt energisch dahin, ohne mich selbst von den traurigen Spuren des Krieges bedrücken zu lassen – niedergeworfenen Bäumen, klaffenden Häuserfronten, eingestürzten Mauern – denen ich bei jedem Schritte begegnete. Um diese Trümmer zu rächen und wieder aufzurichten, zog ich eben jetzt aus, mit einer Mission betraut.

Alles ging vortrefflich durch die verwüstete Bannmeile, bis ich unsre Vorposten bei Sèvres passiert hatte. Ich erinnere mich noch, was mir der letzte Offizier der Mobilgarden sagte, dem ich meinen Passierschein vorwies und der ihn behielt, denn ich bedurfte seiner nicht mehr:

»Sie wissen wohl, daß ›sie‹ nicht mehr weit sind? Wie wollen Sie über die Seine kommen? Nehmen Sie sich in acht, es regnet blaue Bohnen!«

Wie ich über die Seine kommen sollte? Das wußte ich wahrlich selber nicht. Schwimmend? Unmöglich. Drüben angelangt, hätte ich mich an die Deutschen wenden müssen, um mich trocknen zu lassen. Daß ich in irgendeiner Uferhöhlung einen Kahn finden sollte, war nicht wahrscheinlich. Ich strich am Flußufer hin, indem ich mich, so gut es ging, hinter den blätterlosen Bäumen und Büschen verbarg, und sagte mir, daß ich wohl gleich am ersten Tage gezwungen sein würde, unverrichteter Dinge umzukehren. Ich hatte Hunger. Ich setzte mich an den Fuß einer Birke und aß ein Stück Brot – Belagerungsbrot – und trank etwas Wein aus meiner Flasche. Dieses Mahl in freier Luft war köstlich. ›Wenn die Pariser hier wären,‹ dachte ich mir, ›wie glücklich wären sie! Sie wären frei!‹

Nun, so sehr frei eben nicht. Die Seine da vor mir war nicht viel weniger als eine Mauer. Ich blickte auf sie, wie sie unter der Sonne hinfloß. Sie spiegelte die Häuser auf dem andern Ufer wider, wo vielleicht, wo zweifellos Preußen waren. Aber sie waren nicht zu sehen. Sie waren dort drinnen und rauchten oder spielten Karten. Einmal hörte ich aus weiter, weiter Ferne einen Operettenrefrain, eine Offenbachsche Melodie, die durch die Zweige herüberkam. Einer von ihnen spielte die »Schöne Helena« auf einem Piano, das noch nicht verbrannt worden war, um als Feuerungsmaterial zu dienen.

Wenn Sie wüßten, wie traurig mir die Offenbachsche Arie erschien! Ich hatte diese selbe Arie vor nicht langer Zeit im Theater von Mourmelon, im Lager von Chalons, unsern armen Soldaten vorsingen hören, die damals noch so fröhlich und zuversichtlich waren. Ah, sie rächen, auch sie rächen, unter der Kasake der Musketiere! Dieser Gedanke gab mir wieder Selbstvertrauen, und ich erwartete die Nacht, indem ich mir sagte, wie es in »Victorine« heißt, daß sie Rat bringt.

Die Nacht kam, eine sehr kalte Nacht – glücklicherweise ziemlich finster, trotz des vorangegangenen schönen Tages – und ich zitterte ordentlich vor Kälte am Flußufer. Ich fragte mich sogar, ob ich mich nicht wieder unsern Vorposten zuwenden und am nächsten Tage nach Paris zurückkehren sollte. Aber das hätte zu sehr an den »Rückzug in guter Ordnung« erinnert, von dem man uns in den Berichten immer erzählte; da ich einmal so weit war, so wollte ich ausharren. Ich war gut beraten, denn wenn ich umgekehrt wäre, so wäre der blaue Bohnenregen leicht ein französischer gewesen, und wer weiß, ob ich jetzt noch hier wäre.

Ich sagte mir: »Bleiben wir! Warten wir!« Ich hätte gerne mit den Füßen gestampft, um mich zu erwärmen, aber ich getraute mich nicht, Lärm zu machen. Das beste war, den Fluß entlang irgendein Haus zu suchen, wo ich den Morgen erwarten konnte. Und indem ich dieses Haus suchte, fand ich das Boot und den Fährmann, die mich ans andre Ufer brachten.

Das kam so. Ich sah vor mir etwas Hohes auftauchen, gleich einer Mauer, mit etwas Klaffendem, Durchlöchertem darüber, gleich einem Dach, in das eine Bombe eingeschlagen hat – ein Schuppen offenbar – und ich sagte mir: »Da haben wir ein Obdach für die Nacht!« Als ich den Schuppen betrat, regte sich etwas in meiner Nähe, und eine Stimme knurrte in französischer Sprache:

»Wer ist da?«

Instinktiv antwortete ich:

»Frankreich.«

Ich hätte, auf mein Wort, ebenso geantwortet, wenn man mich auf deutsch gefragt hätte.

Das, was sich gerührt hatte, kam näher. Es war irgendein Marodeur, der versuchte, während der Nacht einige Fische zu fangen, um sie dann sehr teuer in den Markthallen oder bei Brébant zu verkaufen. Eine jener Rothäute der Zivilisation, die von allem und von nichts leben und einen Seidenfaden auf einem Ei finden würden. Er hielt in diesem Schuppen hinter einem Haufen Ziegel und Stroh ein altes Boot versteckt, das er gelegentlich benutzte, auf die Gefahr hin, zehn Kugeln für eine durch den Kopf geschossen zu bekommen. Ich erfuhr dies alles, während ich mit ihm aus der Entfernung sprach, den Stock fest in der Hand, denn alles in allem mußte er wohl ein sauberes Früchtchen sein, mein neuer Freund!

Auf alle Fälle hatte er aber Mut. Er erklärte sich bereit, mich für zehn Franken ans andre Ufer überzusetzen. Das war geringe Entlohnung. Das leiseste Geräusch mit den Rudern konnte die Deutschen wecken, und das ganze Ufer hätte Feuer gegeben. Aber wer nichts wagt, gewinnt nichts. Wir warteten, bis die Nacht ganz finster geworden war. Ich goß meinem Fährmann ein Glas Wein ein, womit er gegen meine Feldflasche stieß, wir tranken auf das Wohl Frankreichs – denn er war vielleicht doch ein ganz wackerer Mann, dieser verdächtige Geselle – und dann: vorwärts!

Wir waren im Boote.

Nicht ein Stern. Ich dachte an Mordaunt in seinem Nachen im fünften Akt von »Zwanzig Jahre nachher«. Ich sagte mir, daß wir uns von dem helleren Grunde des Wassers gleich einem chinesischen Schattenspiel abheben müßten, und war jeden Augenblick darauf gefaßt, von einem Schuß getroffen zu werden. Ich hielt meine beiden Kügelchen in der Hand, um sie zu verschlingen, wenn ich dazu vor meinem Tode noch Zeit fand.

Aber es gibt einen Gott. Kein Schuß fiel. Sie schliefen, die Deutschen.

Mein Fährmann setzte mich drüben ab. Ich gab ihm zwölf Franken – zwei Franken Trinkgeld – und sagte:

»Lassen Sie mich wenigstens den Namen des Fremden wissen, der mir bei meiner Flucht geholfen hat!«

Er erwiderte:

»Was soll Ihnen mein Name? Ich heiße August!«

Wer er auch sei, dieser August, sein Name ist in meinem Herzen eingegraben und steht in unlöslicher Verbindung mit meinem heroischsten Abenteuer. Wo du auch atmest, August, wenn du noch lebst, sei gesegnet!

Ich war nun jenseits des Flusses, aber noch nicht am Ende meiner Fährlichkeiten. Ich zitierte mir das Wort Rysoors (das ist eine Rolle, die ich gerne spielen möchte!): »Nein, es ist nicht zu Ende, das Leid, es beginnt!« Und ich fühlte mich in Feindesland. Die Nacht, die Finsternis, die Stille, alles war mir feindlich. Das einfachste war, nicht von der Stelle zu gehen. Ich verhielt mich also still, in einem Graben zusammengekauert, auf der harten, gefrorenen Erde. Ja, vollständig gefroren.

Sobald der Tag graute, machte ich mich auf den Weg, um die Starrheit meiner Glieder zu vertreiben, wieder etwas Blut in meine Füße zu bringen. Ich ging geradeaus, nicht aufs Geratewohl, denn ich kannte den Weg, er führte nach Saint-Germain – als ich plötzlich (oh, sie war nicht lang, meine Odyssee!), als ob ich mit dem Kopf gegen eine verschlossene Tür gerannt wäre, mich unmittelbar vor einer deutschen Patrouille befand!

Ja, das war nicht mehr das » Qui vive?« meines Freundes August. Ich hörte das »Wer da?« und Flintenläufe richteten sich gegen meine Brust. Ein Korporal fragte mich etwas auf deutsch. Da ich nicht antwortete, faßte mich ein Soldat an der Schulter, und umgeben von den großen, rotbärtigen Kerlen, wurde ich zu einem sehr blonden, sehr mageren Offizier geführt, der mich durch sein Monokel ansah und sehr schlechter Laune schien, entweder weil er so früh hatte aufstehen oder weil er die Nacht in dem Häuschen hatte verbringen müssen, in dem er nun, sich die Füße wärmend, bei einer noch angezündeten Petroleumlampe saß.

Er sprach sehr gut Französisch, dieser Offizier, mit einem leichten Akzent, der ungefähr an den gascognischen Akzent erinnerte. Er fragte mich, was ich bei den deutschen Linien mache und woher ich komme.

Ich antwortete klar und bündig:

»Aus Paris.«

»Wie, aus Paris? Sie haben sich eingebildet, daß Sie aus einer belagerten Stadt hinauskommen werden?«

Da rief ich nun meine ganze Gestaltungskunst zu Hilfe und improvisierte, ich darf es sagen, einen normännischen Bauer, wie man ihn selten auf dem Theater gesehen hat. Ich fühlte, daß ich vortrefflich war. Ich stak förmlich in der Haut des Mannes. Ein Bouffé oder ein Paulin Ménier.

Habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich, während mich die Rotbärte nach dem Häuschen führten, rasch die zwei Papierkügelchen verschluckt hatte, die für die Delegation in Tours bestimmt waren? Das sind die Anfangsgründe der Kunst. Eins, zwei, vorbei! Und die Deutschen hatten nichts gemerkt. Ich dachte mir:

›Es ist aus mit deiner Depesche, Brichanteau! Wenn du nach Tours kommst, so ist's nichts mit der erhofften Belohnung!‹

Aber ich sagte mir, daß ich schließlich auch ohne die Papiere – an denen ich übrigens beinahe erstickt wäre, wie an zu großen Pillen – der Delegation noch genug Mitteilungen machen konnte, um meinen patriotischen Eifer zu beweisen.

Und dann war es mir in Wirklichkeit nicht um Belobungen zu tun, sondern um Hiebe. Ich wollte kämpfen, das war die Hauptsache. Kämpfen im Kostüm d'Artagnans. Alles andre war Beiwerk.

»Und warum haben Sie Paris verlassen?« fragte mich der Offizier in spöttischem Tone.

»Weil ich es nicht länger da aushielt.«

»Sie sind also kein Pariser?«

»Nein, Herr Offizier! Ich bin ein armer Bauer aus der Umgebung von Rouen – aus Saint-Pierre, ich weiß nicht, ob Sie Saint-Pierre kennen ,...«

»Nein, kenne ich nicht.«

»Dort wohnen also meine Eltern. Ich habe mich nach Paris geflüchtet, oder eigentlich ich hatte Geschäfte dort, Getreide zu verkaufen, und ich bin eingeschlossen worden, als die Belagerung anfing. Zuerst hab' ich mir gedacht: ›Bah, das wird nicht lange dauern! Wir werden befreit werden‹ (der Offizier lächelte, als ob ich etwas Komisches gesagt hätte); ›aber man hat uns nicht befreit, und ich konnt' es nicht länger aushalten, da drinnen zu bleiben, ohne die Meinen zu sehen. So bin ich denn hinaus, ich wollte lieber alles wagen, als da drinnen eingeschlossen zu bleiben wie meine Hühner im Hühnerstall. Das ist die reine Gotteswahrheit, Herr Offizier!«

Ich spielte, wie ich Ihnen schon sagte, meine Rolle großartig, obgleich die Bauern, die zweiten Komiker, wie Alain in der »Frauenschule«, nicht mein Fach sind. Aber ich habe schon Schwierigeres bewältigt! Die Gebärde, der Akzent, das Mienenspiel – alles war vollendet, alles, und der lange magere Offizier sah mir ins Weiße der Augen, während ich im Bauerndialekt zu ihm redete. Der Blick hätte mich auf der Bühne in Verwirrung versetzt, obgleich ich doch nicht so leicht aus der Fassung gerate. Er magnetisierte mich förmlich, der Kerl!

Jedoch ich blieb Herr meiner selbst, und ich sparte nicht mit meinem bäuerischen » dame« und » bédame«, Ei ja! Weiß Gott! um ihn zu betäuben.

»Sagen Sie einmal, mein Freund, wären Sie nicht etwa ein Emissär der Pariser Regierung?« fragte mich der Offizier endlich.

Ich überlegte sofort: »Brichanteau, wenn du das Wort ›Emissär‹ verstehst, bist du verloren!«

Ich stotterte: »Emi– Emi–, was heißt das, Herr Offizier?«

»Emissär. Spion, wenn Sie wollen.«

»Spion? Ich? O du mein grundgütiger Gott, ich Spion! Und wessen? Und für was?«

»Wie heißen Sie, vorerst einmal?«

»Bonnin, Jean Marie.«

Der Offizier schrieb den Namen in sein Notizbuch.

Der Name war mir sofort auf die Lippen getreten in Erinnerung an » François le Champi« und die Sand, die mich als »Claudius« in La Châtre gesehen hatte. Jean Bonnin. Den Namen würde ich nicht vergessen.

»Geboren?«

»In Saint-Pierre-du-Vauvray am 3. Dezember 1830.«

»Gut. Wir behalten Sie da und werden sehen, was die Untersuchung ergeben wird.«

Er gab den Soldaten einen Wink, sie faßten mich wieder an der Schulter und führten mich, ich weiß nicht, in welche elende Hütte, wo man mich einschloß, mich scharf bewachte und mir weder zu essen noch zu trinken gab. Ich blieb darin so ungefähr von fünf Uhr morgens bis gegen mittag; dann öffnete sich die Tür meiner Hütte, ein langer Schlingel von einem Deutschen sagte mir »Vorwärts!« und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Ein Zug Soldaten erwartete mich an der Tür.

Ich sah unwillkürlich auf die Zündnadelgewehre und dachte mir: ›Ei, ei, wenn die für dich geladen wären, mein alter Brichanteau!‹

Die Soldaten führten mich sodann durch die Straßen zu einem großen Wohnhaus, vor welchem mit schleppenden Säbeln ein ganzer Generalstab auf und ab spazierte. Es waren darunter ganz blaue Husarenoffiziere, andre ganz rot, und alte Offiziere, die ich an ihren Mützen und ihren Epauletten als Generäle erkannte. Einer von ihnen, ein kleiner, klug aussehender Kerl mit Brille und einem glattrasierten Gesichte, maß mich von oben bis unten, als man mich vor ihn führte, und fragte mich kurz – auch der in reinstem Französisch, der Halunke! –:

»Sie kommen aus Paris?«

»Ja, ich komme aus Paris.«

»Sie hatten Depeschen bei sich?«

»Ich, o du lieber Herrgott! Ich hatte gar nichts bei mir.«

»Wo haben Sie die Depeschen?«

»Ah, dame, bédame, wenn Sie sie suchen wollten, so würden Sie gehörig Ihre Zeit verlieren. Ich bin ein armer Teufel, der sich aus Paris hinausgeschlichen hat, weil er sein Weib, seine Kinder und seine Alten wiedersehen möchte. Das ist alles.«

»Sie sind verheiratet?«

»Ja.«

»Sie haben Kinder?«

»Drei.«

Ich log vielleicht nicht. Man kann nie wissen.

»Und Sie heißen Bonnin, geboren ,...«

»In Saint-Pierre-du-Vauvray am 3. Dezember 1830. Bonnin, Jean Marie, Sohn des Bonnin, Pierre Savinien.«

»Genug,« sagte der kleine Alte.

Er wandte sich gegen die Offiziere; sie sprachen eine kurze Weile leise miteinander, und ein kleiner roter Husar, über und über mit Gold galoniert, löste sich aus der Gruppe und gab dem Zug Soldaten ein Zeichen, der sich hierauf vor mir aufstellte.

Der ganze Generalstab sah zu.

Man bedeutete mir, mich gegen eine Mauer zu stellen, die mir im hellen Sonnenlicht ganz weiß erschien – wie ein ausgebreitetes Leintuch. Teufel! Das ging schief! Und, merkwürdig genug, ich gab mir von allem genau Rechenschaft.

Ich wußte, wo ich war. In Rueil. Ich erinnerte mich noch recht gut, dieses Haus gesehen zu haben, als ich eines Tages hierhergekommen war, um in einem Konzert zum Besten der städtischen Musikkapelle Verse zu sprechen. Ich erkannte die Straße. Ich sah die Landschaft dahinter, und in der Ferne erschien der Mont Valérien, der von Zeit zu Zeit ein Rauchwölkchen in die klare Luft hinaussandte.

Und dahinter sah ich im Geiste Paris, die Rue de Bondy, wo ich wohnte, das Theater Porte-Saint-Martin, das Gaîté, das Châtelet, das Konservatorium, aus dem ich hervorgegangen war, die Comédie Française, wohin ich hätte gelangt sein sollen ,... Mein ganzes Leben! Und mit alldem war's nun vorbei! Diese Leute da in ihren großen Mänteln, ihren dicken Stiefeln, den Pickelhauben auf dem Kopfe, würden dem nun ein Ende machen und: Adieu, Brichanteau! Vorhang! Es wird ausgelöscht.

Der Generalstab blieb unbeweglich. Ein Unteroffizier stellte mich an die Mauer, mit dem Gesicht gegen die Soldaten, und der lange, magere Offizier, der mich am Morgen ausgefragt hatte, und von dem ich nicht wußte, daß er da sei, kam nun zum Vorschein und zog den Säbel.

»Achtung! Fertig!«

Ich weiß nicht gewiß, ob er das sagte, aber ich glaube wohl. Ich kreuzte die Arme wie Laferrière in » La Barrière de Clichy« oder Alexandre in den »Kosaken«.

Der kleine rote, goldbetreßte Husar trat vor mich hin und sagte sehr höflich:

»Seine Exzellenz der Herr General fragt, ob Sie keine Eröffnung zu machen haben?«

»Nein,« erwiderte ich.

»Sie haben nichts zu sagen? Gar nichts?«

Eine Idee schoß mir durch den Kopf, eine tolle Versuchung. Ich hatte Lust, diesen Landsknechten zu zeigen, was eine Künstlerseele ist, und ich fühlte mich auf dem Punkte, auszurufen:

»Ich habe zu sagen, daß ich für das Vaterland sterbe, und mit dem Rufe: ›Es lebe Frankreich!‹«

Das war die einzige Antwort, die ein Mann geben konnte, der zu sterben bereit war. Aber warum sterben? Wenn ich dieser natürlichen, aber heroischen Regung nachgegeben hätte, so hätte ich aufgehört, Jean Marie Bonnin, der Bauer aus der Normandie, zu sein, und wäre wieder Sébastien Brichanteau geworden; aber ich hätte ein Dutzend Kugeln im Kopfe oder in der Brust gehabt.

Ich antwortete mutig:

» Dame, ich habe zu sagen, daß man, wenn möglich, meiner Frau und meinem Vater in Saint-Pierre-du-Vauvray zu wissen tue, daß ich sie habe wiedersehen wollen und daß mir das Unglück gebracht hat. Das ist alles.«

Der hübsche rote Husar kehrte zu dem kleinen Alten zurück. Mein Offizier vom Morgen hielt noch immer den Säbel erhoben. Die Soldaten hielten die Gewehre schußbereit. Ein reizendes Bild. Ich dachte mir: ›Wenn der Kerl da seinen Säbel senkt, so wird das allerliebst sein!‹ Und ich stellte mir die große, weiße, sonnenbeschienene Mauer ganz bespritzt von meinem Blute vor. Man hat in solchen Augenblicken seltsame Gedanken.

Dann dachte ich:

›Du wirst dich nicht der Legion von Buenos Aires anschließen, Brichanteau, und du wirst niemals, niemals in die Comédie Française kommen!‹

Das verdroß mich. Plötzlich ging der rote Husar, nachdem er mit dem General gesprochen hatte, wieder auf den Offizier zu, der die Soldaten kommandierte, und ich sah – sah undeutlich, denn von all diesem Hin und Her fing mir der Kopf an zu wirbeln, und es schwamm mir vor den Augen – daß die Soldaten »Gewehr bei Fuß« stellten. Der General machte zwei Schritte auf mich zu, sah mich nochmals scharf durch seine Brille an, dann wendete er mir den Rücken und entfernte sich mit seinem ganzen Gefolge.

»Sie sind ein furchtloser Mann,« sagte zu mir, immer sehr höflich, der rote Husar. »Sie werden nach Versailles geführt werden. Ihre Angelegenheit lohnt der Mühe, untersucht zu werden.«

»Meine Angelegenheit?«

»Jawohl. Sie sind vielleicht ein Geriebener. Wir werden ja sehen.«

Ich sah nur eines. Ich entging für jetzt der Exekution, und das Schicksal führte mich nach vielen Kreuz- und Querzügen wieder nach Versailles, meinem Geburtsort, zurück, wo ich, Gott sei Dank, wenig genug Andenken und Bekanntschaften zurückgelassen hatte, daß jemand in Jean Bonnin, normännischer Bauer – zweite Komikerrolle – den kleinen Sébastien erkennen sollte, der in der Avenue de Paris »Hölle« mit den Knaben gespielt hatte, oder den jungen Brichanteau, der als »Horatius« auf den Brettern des Theaters seiner Geburtsstadt debütiert hatte. Es war so lange her. 1849! Denken Sie nur!

Der Generalstab war also verschwunden, die Soldaten marschierten ab, und ich wurde wieder in meine Hütte gesteckt. Ich stieß ein »Uff!« der Erleichterung aus. Wie in einem fünften Akt, wenn die Tochter oder die Mutter oder der gutherzige Regierungsbeamte die Begnadigung des Verurteilten überbringt. Ich fand, daß derlei Gemütsbewegungen einem den Magen sehr hernehmen und daß ich gerne etwas essen möchte. In diesem Punkte waren die Deutschen nun sehr gemäßigt. Brot und Wasser. Ein Stückchen Wurst. Meine erste Mahlzeit richtete sie nicht zugrunde, und die Ausgabe, die ich verursachte, verringerte ihren Kriegsschatz nicht wesentlich. Aber man war nicht wählerisch, wenn man aus Paris herauskam, und das Essen schien mir würdig des Restaurants Maison d'Or in Paris. Nie, nie in meinem Leben habe ich mit besserem Appetit gegessen.

Ich verbrachte die Nacht in der Hundehütte und am andern Morgen wurde ich zu Fuß, mit gebundenen Händen wie Lesurques im letzten Bild des »Kurier von Lyon« nach Versailles eskortiert. Ich hatte die Freude, das Schloß von ferne zu sehen. Ich sah, daß die Straßen und Alleen meiner armen Vaterstadt von Pickelhauben wimmelten, und ich wurde ins Gefängnis gebracht, zu dem ich als Knabe so oft hingegangen war, um die Gefangenen herauskommen zu sehen, und dessen Eisentür mit den dicken Nägeln und dem schweren Klopfer ich so oft betrachtet hatte, ohne zu ahnen, daß eines Tages ,... Aber seien wir philosophisch, alles kann passieren.

Und hier, im Gefängnis von Versailles, entwarf ich einen Plan, der, wenn er gelungen wäre (und er konnte gelingen), das Vaterland gerettet und in jedem Falle, ich behaupte es fest, die Weltgeschichte in andre Bahnen gelenkt hätte.

Ich werde beweisen, was ich sage. Folgendermaßen trug sich die Sache zu:

Ich wurde vorerst in die Zelle eines Gefängnisses gesteckt. Sehr wohl. Ich kannte sie, die Gefängnisse. Ich habe Buridan und Latude gespielt. Ich hatte schon das Klirren der Riegel gehört und auf der Schwelle die finsteren Gesichter der Kerkermeister erscheinen gesehen. Aber im Gefängnis von Versailles waren die Riegel nicht von Bühnenmaschinisten angebracht, und die schweren Türen ähnelten den Türen aus bemalter Leinwand nicht sehr. Der Kerkermeister war ein deutscher Gendarmerieunteroffizier, und von Zeit zu Zeit führte man mich vor irgendeinen Zivilbeamten, der versuchte, mich zu dem Geständnis zu bringen, daß ich nicht Jean Bonnin heiße, kein normännischer Bauer sei und Paris mit »schlechten Absichten« verlassen habe. Mit dieser Bezeichnung belegten sie meine patriotischen Pläne.

Aber so schlau sie auch waren, die Polizeibeamten des Königs Wilhelm, es gelang ihnen nicht, mich meine Rolle vergessen zu machen. Ich war Jean Bonnin vom Scheitel bis zur Sohle, und, bédame, ich wollte nichts andres, als wieder in meine Heimat gelangen, und, jarnigué, Zum Henker! es lag mir nicht ein Deut an den Parisern, die mich mit ihrem Geschieße in der Nacht nicht schlafen ließen.

Nach einigen Tagen hörte meine Zellenhaft auf. Man gewährte mir die Gnade, mich täglich zwei Stunden in einer Art von Hof mit andern Gefangenen, lauter Franzosen, spazieren gehen zu lassen. Es waren darunter Soldaten und Marodeure, ein buntes Gemisch von allerlei Leuten, die da und dort im Umkreis von Paris von der deutschen Gewalt aufgegriffen worden waren. Wildschützen, die man im Verdacht hatte, im Mondlicht auf irgendeinen deutschen Ulanen geschossen zu haben. Freischärler, die sich für Deserteure ausgaben, und die vielleicht gleich mir eine Mission von General Trochu erhalten hatten. Arme Teufel, die eingesperrt worden waren, sie wußten nicht warum, weil sie obdachlos herumgestrichen waren und hier und da einen Kohlkopf aufgelesen hatten. Gärtner der Umgebung, manche von ihnen Veteranen aus dem Krimkrieg, die den requirierenden Soldaten trotzige Antworten gegeben hatten. Alle miteinander wütend über die Preußen, in sich hineinknurrend und da drinnen zusammengepfercht wie eine Herde wilder Tiere. Im ganzen dreißig bis vierzig Köpfe – siebenunddreißig, um genau zu sein. Junge und alte, aber ganze Kerle alle, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!

Zweimal am Tag traf sich die ganze Schar zu einem Spaziergang zwischen vier Mauern, unter der Aufsicht von Schildwachen mit geladenen Gewehren. Wir hörten die Kanonen des Mont Valérien, das Knattern des Gewehrfeuers, und manchmal, wenn das Schießen näher kam, sahen wir einander an und sagten leise:

»›Sie‹ fallen aus! ›Sie‹ kommen!«

Wenn wir in Paris sagten: »sie«, so meinten wir die Preußen. Außerhalb von Paris waren »sie« die Franzosen.

Im übrigen vergingen die Tage und die Wochen, und »sie« kamen nicht. Wir kannten einander nun schon alle, wie wir regelmäßig zu bestimmten Stunden zusammenkamen. Manchmal fehlte der eine oder der andre beim Spaziergang. Wir fragten die Schildwache in so gutem Deutsch, als wir aufbringen konnten, was aus dem Gefährten geworden sei. Keine Antwort. Sie hatten ihn vielleicht nach Deutschland, nach Spandau, ich weiß nicht wohin, zum Teufel geschickt; hatten ihn vielleicht an einer Mauer oder an einem Baum füsiliert. Dasselbe konnte heute oder morgen jedem von uns geschehen. Aber merkwürdig: wenn ein Gefangener ging, kam ein andrer. Man führte uns wieder irgendeinen Franzosen zu, der sich gegen die Gewalt aufgelehnt hatte, irgendeinen Marodeur, und wir waren immer wieder siebenunddreißig – wohl nur durch Zufall, glaube ich. Wären wir vierzig gewesen, so hätten wir uns vorgestellt, wir seien in der Akademie.

Siebenunddreißig handfeste Kerle beisammen, die sich nicht vor dem Teufel fürchteten, die wüteten, daß sie eingesperrt waren, die empört waren, Sauerkrautfresser zu Kerkermeistern zu haben, denen es in allen Gliedern juckte, wenn sie das Donnern der Kanonen und das Knattern der Gewehre hören mußten, ohne mitkämpfen zu können – das ist etwas, solche siebenunddreißig Männer, und ich sagte mir, daß man viel mit ihnen anfangen könnte und daß die Musketiere nur vier waren, als sie die Welt aufrührten.

Das Schicksal schien mir meine Pflicht vorgeschrieben zu haben, indem es mich, ein Versailler Kind, in einen Kerker meiner Vaterstadt sandte. Ich wußte, daß das Haus, in welchem ich das Brot des Gefangenen aß, unweit der Avenue de Paris gelegen war – genau zweihundertvierundsechzig Schritte davon, ich habe die Entfernung inzwischen gemessen, und ich konnte sie schon damals ziemlich richtig schätzen – ich wußte auch, daß sich in dieser Avenue de Paris die Präfektur befand, und daß dort, in dem Gebäude der Präfektur, niemand andrer wohnte, schlief, atmete als der König Wilhelm!

Ei, ei, dachte ich mir, das würde eine merkwürdige Änderung in dem Würfelspiel des Krieges hervorbringen, wenn der schlafende König von Preußen plötzlich, erwachend, sich in den Händen einiger entschlossener Franzosen sähe! Welch eine Vorstellung! Er schläft, der Sieger. Die Gefangenen wachen. Sie stürzen sich auf ihre Wächter, bemächtigen sich ihrer Waffen, knebeln oder töten die Schildwachen, sie sind frei und werfen sich auf die Präfektur, die durch die Gegenwart des Feindes entweiht wird. Ein mit den kaiserlichen Bienenemblemen verziertes Gitter verwehrt den Eingang. Es wird überklettert. Der vor dem Tore stehende Posten wird überwältigt und geknebelt. Ohne Zweifel gibt irgendeine deutsche Schildwache einen Alarmschuß ab; aber ehe jemand aus den benachbarten Kasernen herbeigeeilt sein kann, sind die Gemächer, in denen der Monarch schläft, besetzt, die Kämmerer, die Stabsoffiziere sind zu Gefangenen gemacht, und der alte König sieht an seinem Lager einen energischen Mann auftauchen, den Führer der Schar, der auf den Sprachlosen die Mündung eines deutschen Revolvers richtet, den er einem seiner Soldaten entrissen hat, und ihm zuruft:

»Kein Wort, keinen Laut, keine Bewegung, Sire! Sie sind unser Gefangener!«

Ha, sobald dieser Gedanke in meinem Gehirne zu keimen begann, versetzte er es in Fieber! In ein erhabenes Fieber! Mein Blut wallte siedend auf bei dem Gedanken an eine solche Tat, und ich bedauerte es nicht mehr, daß ich nicht zu der argentinischen Legion hatte stoßen können. Nein, ich bedauerte es nicht mehr. Das, was ich hier plante, was ich hier ins Werk setzen konnte – war es nicht weit Größeres als alles, was die Legionen vollführen konnten, die sich in der Provinz bildeten? Sie griffen die Werkzeuge an, die Untergeordneten, die Statisten. Ich, Brichanteau, ich schlug den Eindringlingen auf den Kopf. Es war des Himmels Fügung, daß ich in Rueil aufgegriffen und wie ein Räuber ins Versailler Gefängnis geworfen worden war. Das Schicksal zeigte mir klar meine Pflicht.

Den König von Preußen entführen wollen, das war Wahnsinn, werden die Weisen sagen. Ja, heute, bei kühlem Verstande scheint es Wahnsinn. Aber damals war es das nicht, war es Kühnheit. Es war dramatisch und im besten Sinne dramatisch. Ist das Theater nicht das Leben? Hätten Athos, Porthos, Aramis und d'Artagnan nicht beinahe den König von England befreit? Sie hätten Karl I. gerettet, wenn es die Weltgeschichte nicht anders gewollt hätte. Ich hatte noch nicht geschehene Weltgeschichte vor mir, einen augenblicklichen Stand der Tatsachen, der die Verwirklichung keiner Unmöglichkeit ausschloß. War einmal der König unser Gefangener, dann diktierte ich Seiner Majestät nach Gefallen meine Bedingungen. Ah, das war etwas andres als die bescheidenen Mitteilungen, die ich in Form eines Papierkügelchens der Delegation von Tours hätte überbringen sollen!

»Sie werden unverzüglich die Belagerung von Paris aufheben, Sire! – Gut. – Sie werden die Champagne räumen! – Gut. – Sie werden alle Besatzungen im Elsaß und in Lothringen nach Deutschland zurückbeordern! – Halt, kein Wort, keinen Laut, keine Bewegung, Sire! Sie sind in meiner Gewalt! Gut gespielt, König Wilhelm, aber nun ist die Stunde der Vergeltung da!«

Ich zog wohl in Betracht, daß, so tapfer auch eine Handvoll Leute wie siebenunddreißig Mann sein mögen, sie in kurzer Zeit von den die Präfektur umgebenden Deutschen umzingelt und überwältigt sein müßten. Aber wir hatten unsern Geisel, den kostbarsten aller Geisel – den König! Wir hielten die Mündungen unsrer Flinten, seiner Flinten auf ihn gerichtet. Und wir gaben ihn nicht eher heraus, als bis wir unsern Rückzug vollständig bewerkstelligt hatten, mit ihm als Gewähr unsrer Sicherheit in unsrer Mitte. Ja, wir behielten ihn, wir nahmen ihn mit in unsre Linien. Eine Bewegung eines seiner Soldaten, und es war um ihn geschehen. Ich rezitierte mir das stolze Wort, das ich in »Der Tod der Ehre« spreche, als ich im Begriffe bin, Don Pedro den Grausamen zu erdolchen: »Man tötet einen Schlafenden nicht!« Worauf ich erwiderte, wie im Drama: »Ich werde ihn aufwecken!« Jawohl. Und wenn wir infolge einer unvorhergesehenen Notwendigkeit, an die man in solchen Fällen immer denken muß, gezwungen wären, den König zu Bedingungen freizugeben, die weniger streng für ihn, weniger günstig für uns wären als die, die ich mir vorgesetzt hatte – so war doch unser äußerstes Minimum die Aufhebung der Belagerung und der Rückzug des Feindes auf fünfundzwanzig Meilen von Paris. Oh, in diesem Punkte und sollten wir gezwungen sein, dem König das Leben zu nehmen und das unsrige zu lassen, waren wir unerbittlich, war ich unerbittlich!

Und ich sah mich schon in einer dunkeln Nacht – wir mußten eine Nacht ohne Mondschein wählen, keine Lichter an der Rampe – ich sah mich schon an der Spitze von siebenunddreißig todesmutigen Gefangenen lautlos wie die Schatten zur Präfektur schleichen, nachdem wir unsern Wächtern die Waffen entrissen hatten; ich erblickte im Geiste die dramatische Szene: das Erklettern des Gitters, das Eindringen in die Gemächer der Präfektur und das Aus-dem-Schlafe-Auffahren Wilhelms unter dem vergoldeten Getäfel, das nun dem Vaterlande wiedererobert war. Und die Fahne! Wir hatten keine Trikolore, aber wir holten zum mindesten die schwarzweiße preußische oder die schwarzweißrote deutsche Fahne nieder, die auf der Präfektur flattern mußte. Das war genug. Ah, den schwarzen Adler im Hofe unter einem Schrei des Triumphes niederschleudern, während einer von uns (es mußte wohl unter all denen auch einer sein, der Klavier spielen konnte) auf dem Piano der Präfektur die Marseillaise spielte! Welche Trunkenheit in dem Gedanken!

Ich sage Ihnen, es war möglich, es war ausführbar. Es hätte mit einem Schlage alles geändert. Was nicht eingetroffen ist, scheint unsinnig, aber nicht unsinniger, ich versichere Ihnen, als was wirklich geschieht. Und ich sagte mir: »Es wird sein! Brichanteau, du wirst vielleicht nie in die Comédie Française kommen, aber du wirst einen Einschnitt in die Weltgeschichte machen!«

Nun aber konnte ich diesen Einschnitt nicht allein machen. Ich bedurfte der Mitarbeiter – ich sage nicht Mitschuldiger. Ich vertraute meinen Plan zuerst nur einem oder zweien meiner Gefährten an, die mir am meisten Vertrauen einflößten. Es konnte Spione unter uns geben. Ich schüttete mein Herz einem alten Zuaven aus dem Krimkriege aus, der nur von Schlachten und Wunden träumte, und der fortwährend wütend in seinen rötlich-grauen Bart hineinknurrte, daß er nicht einen Preußen niedergemacht habe.

Er sah mich zuerst verblüfft an und fragte mich, ob das ausführbar sei.

»Sich auf einen Wächter werfen, ihn knebeln und entwaffnen, ist das Abc der Kunst,« erwiderte ich. »Haben Sie denn nie ›Latude‹ oder ›Fünfunddreißig Jahre Gefangenschaft‹ gesehen?«

»Nein.«

Er war ganz unliterarisch. Aber er war rasch bereit: »Wenn es gilt, dreinzuschlagen, bin ich dabei, ich schlage drein! Ich habe den Malakoff erstürmt, das war wohl schwerer als eine Präfektur zu nehmen!« Das war nun allerdings nicht dasselbe. Nach dem Krimaner machte ich mich an den Wildschützen. Er gestand mir leise, daß er den Ulanen wirklich erschossen habe, weil der Kavallerist sich zu viel mit seiner Nichte zu schaffen gemacht habe. Wir sprachen leise über diese Dinge, manchmal in einem halb Pariser-, halb Soldatenjargon, damit die Wache uns nicht verstehe, wenn sie uns auch hörte. Und so warb ich langsam, einen nach dem andern, meine Anhänger. Ich enthüllte ihnen, was ich ausgedacht hatte. Ich ließ den Sieg vor ihnen erglänzen. Ich blendete sie mit dem Bilde ihres Ruhmes. Ich fragte sie:

»Wollt ihr?«

Alle antworteten: »Ja.«

Ich trug ihnen sodann strengstes Geheimnis auf, sagte ihnen, sie sollen abwarten, bis die Stunde gekommen sei. Sie würden rechtzeitig benachrichtigt werden.

»Haltet euch bereit! Ad augusta per augusta

Sie kannten Hugo nicht, aber sie erbebten unwillkürlich, was beweist, daß das Drama dem Menschen im Blute liegt.

Ich sagte jedem neuen Mitverschworenen: »Stummen Mund, festes Herz, verschwiegene Zunge, verborgenen Haß!« und wendete mich an den nächsten. Keine Weigerung. Mein Gedanke griff rasch um sich. Die Augen leuchteten auf, die Finger krümmten sich, als faßten sie schon den Lauf eines Gewehres.

Sie sagten alle:

»Wann Sie wollen!«

Ich erwiderte:

»Vertrauen. Geduld. Schweigen und Geheimnis!«

Ich wartete. Ich hatte zu Martineau, dem Wildschützen und zu dem alten Zuaven gesagt:

»Ihr werdet auf die erste Schildwache losspringen, sie knebeln, ersticken, erwürgen. Das ist eure Sache!«

Sie erwiderten:

»Soll besorgt werden und gut besorgt werden. Wir sind zu Ihrem Befehl.«

Eines Januarmorgens sagte mein Wächter, der Französisch sprach, lächelnd zu mir:

»Nun also, es ist vorüber. Wir haben keinen König von Preußen mehr!«

Das gab mir einen Stich. War mir das Schicksal zuvorgekommen? War der Sieger tot?

»Nein,« fuhr der Mann fort, »wir haben einen Deutschen Kaiser! Seine Majestät ist gestern im Spiegelsaale zum Kaiser proklamiert worden. He, he, Ihr Ludwig XIV. muß gelacht haben!«

Ich weiß nicht, ob Ludwig XIV. viel gelacht hat, aber in mir siedete der Zorn auf. Ich erinnerte mich an »Hernani«, vierter Akt, an den Monolog Karls V., und es schien mir, als protestierten die Kanonen des Mont Valérien gegen die Proklamation des Cäsars! Im übrigen änderte das an meinem Vorhaben nichts. Gar nichts. Statt einen König gefangenzunehmen, würde ich nun einen Kaiser gefangennehmen, das war alles! Wir wollten ihn in unsre Gewalt bekommen, den Kaiser! Er war nach wie vor der alte Wilhelm. Aber diese neue Herausforderung bestimmte mich, die Lösung zu beschleunigen. Waren wir alle eingeweiht? Alle. Waren wir alle bereit? Alle. In geheimnisvoller Stille – alles war genau festgestellt und von Ohr zu Ohr wiederholt worden – hatten wir mit wortlos ausgestreckter Hand uns zugeschworen, das Wagnis zu unternehmen, auf die Gefahr hin, dabei unser Leben zu lassen – was nicht viel war – und ich sagte mir:

»Nun ans Werk, Brichanteau!«

Worauf wartete ich? Ich sagte es Ihnen schon. Auf eine Nacht ohne Mond. Auf die Dunkelheit. Ich bedurfte der Dunkelheit. Ich sagte mir: »Morgen!« Auf morgen! Und ich stellte mir abermals die großartige Szene vor: das Knebeln der Schildwachen, der Posten erwürgt, erstickt, das Tor offen, die Straße, die Präfektur ,... Ich hätte es vollführt, wir hätten es vollführt. Wir waren alle zum äußersten entschlossen, alle Helden, Löwen. Ich hatte den Tag festgesetzt: den 19. Januar.

Aber sehen Sie, der Gouverneur von Paris wußte nichts von der Sache. Er versuchte einen letzten Ausfall: Buzenval. Wir hörten die Kanonade in unserm Gefängnis und unsre Herzen hüpften auf! ,... Der Kaiser von Deutschland war vermutlich dort dabei, irgendwo, wir wußten nicht wo. Er kehrte vielleicht diese Nacht gar nicht nach der Präfektur zurück, schlief vielleicht in irgendeinem Häuschen nahe dem Schlachtfelde, wenn er nicht etwa – ein schmeichlerischer Gedanke – von unsern siegreichen Truppen aus Versailles vertrieben worden war. Auf alle Fälle mußten wir den folgenden Tag abwarten. Wie war der Ausgang der Schlacht? War der Tag glücklich oder unglücklich für uns gewesen? Unser ganzer Plan hing an diesem Fragezeichen.

Ach, wir brauchten nicht lange zu warten, um zu erfahren, daß der Tag uns eine neue Niederlage gebracht hatte.

»Mißglückter Ausfall!« sagte mir mein Kerkermeister heiter. »Pariser wie die Ratten gefangen. Wie die Ratten! Sie können sich gegenseitig auffressen, wenn Sie wollen.«

Er war gut gelaunt, der Halunke!

Da sagte ich mir: »Nun denn, das Schicksal hat gesprochen. Jetzt zur Tat!«

Und ich schritt zur Tat. Ich fragte mich nur, ob es nicht besser wäre, anstatt von der Avenue de Paris her durch den Bureaueingang in der Rue St. Pierre in die Präfektur einzudringen, der bedeutend näher lag: hundertsiebzehn Schritte anstatt zweihundertvierundsechzig. Bah, wir würden schon sehen! Das hing von dem Soldaten ab, der dort Wache stehen würde.

Aber der Teufel mengte sich darein. Mein Freund Martineau, der Schütze, der, den ich damit betraut hatte, gemeinsam mit dem Zuaven bei unserm Abendspaziergang auf die Schildwache loszuspringen – dieser entschlossene und furchtlose Mann wurde ins Spital gebracht. Oh, er wäre wohl auf den Beinen geblieben, auch als Kranker. Aber der Kerkermeister sagte mir, daß der Arzt eine Hautkrankheit befürchte, und den Mann daher in seinem verdammten Spital behalten wolle, um eine Ansteckung zu verhindern. Sollten wir den Anschlag in Ausführung bringen ohne die starke Faust dieses Tapferen? Ich hatte Vertrauen zu ihm, unbedingtes Vertrauen. Er war ein Angreifer, wie er sein sollte. Für das erste Losspringen bedurfte ich Martineaus! Ich sagte mir wieder: »Sichern wir uns alle Trümpfe im Spiel, warten wir auf morgen.«

Und leise erwiderten mir alle wieder:

»Wann Sie wollen.«

Ich hatte meine Truppe in der Hand. Das Stück war vorbereitet, wir konnten auftreten.

Ach, ich werde mich nie darüber trösten können, daß ich gewartet habe! Ach, diese Masern Martineaus! Scribe hat sehr recht: die kleinen Ursachen, das »Glas Wasser«! Immer die kleinen Ursachen, die Stückchen Papier, die Körnchen Sand. Die kleinen Ursachen, die die großen Wirkungen hervorbringen!

Ich sagte mir: »Nun gut, wenn Martineau nicht gesund wird, wenn er nicht da ist, so werden wir ohne ihn handeln. Ich werde seine Rolle einem andern übertragen, und – Vorhang auf!«

Wir waren dann eben nur sechsunddreißig Kämpfer, sechsunddreißig Helden anstatt siebenunddreißig!

Aber ach, welch ein Zusammensturz! Die Unterhandlungen, die schrecklichen Unterhandlungen zwischen Paris und der deutschen Armee hatten begonnen. Jules Favre erschien an der Brücke von Sèvres, die Parlamentäre traten zusammen. Sie parlamentierten, die Parlamentäre, und als Martineau, tatendurstig und entschlossen, aus dem Spital zurückkam und zu mir sagte: »Da bin ich, Hauptmann! Geht es heute los?« da antwortete ich ihm nur mit einer traurigen Gebärde und deutete auf die beleidigend lächelnden Schildwachen. Es war die Kapitulation, die abscheuliche, die furchtbare, die niederschmetternde Kapitulation, und die Neuigkeit, die sich unter meinen Leuten schon verbreitet hatte, machte plötzlich ihre Entschlossenheit schmelzen. Der Friede winkte ihnen. Der psychologische Moment war vorüber. Sie hatten keine Begeisterung, keine Kühnheit mehr. Sie dachten an die Heimkehr. Sie sahen sich schon frei. Das Vaterland, von dem ich ihnen sprach, war ihnen nur mehr ihre engere Heimat, ihre kleine Scholle. Sie sagten: »Es ist aus, man wird uns den Laufpaß geben. Wozu sollten wir jetzt noch unsre Hälse riskieren? Zu spät!« Ach, leider, sie hatten recht! Es war zu spät, zu spät! Am 19. Januar hätten wir den Kaiser gefangennehmen sollen, und ohne den fruchtlosen Ausfall von Buzenval, wer weiß, welch andre Erinnerungen das Vaterland hätte in seine Annalen einzeichnen können!

Wer es weiß? Ich weiß es! Ich hatte alles vorgesehen. Ah, wie hätte ich dem Alten die Verse des Dichters ins Antlitz geschleudert:

»... Bist du mir wieder ausgeliefert?
Erinnre mich nicht, neuer röm'scher Cäsar,
Daß meine Hand dich hält, so klein und schwächlich,
Und daß, wenn ich die allzu treue schlösse,
Im Ei den Kaiseradler ich zerdrückte!«

Es war vorbei. Ich hatte meinen großen Tag verfehlt. Ich habe deren noch mehr verfehlt. Ich war dicht an der Unsterblichkeit vorbeigegangen!

Aber ich werde wenigstens dieses schöne Traumbild mit ins Grab nehmen. Und wenn der Pessimismus, an dem das heutige Geschlecht krankt, meine im innersten Wesen empfindungsreiche und, ich scheue mich nicht, es zu sagen, idealistische und optimistische Natur anzustecken droht, dann gedenke ich der sechsunddreißig Gefährten im Gefängnis von Versailles, Trümmer des Wracks Frankreich, Freischärler oder Abenteurer, die alle meinen stolzen Traum, mein Hirngespinst, wenn Sie wollen, geteilt haben, die alle zu dieser prächtigen Waghalsigkeit bereit waren, und deren nicht einer, nicht ein einziger versucht hat, um Gold, um seiner Freiheit willen, den Plan eines Tollen zu verraten, der von der Tollheit des Patriotismus eingegeben worden war!

Ach, wie weit weg liegt das nun! Wie traurig stimmt die Erinnerung! Wie schön wäre das gewesen!

Ich muß sagen, daß der deutsche Generalstab nicht einmal den Abschluß des Friedens erwartete, um mir die Freiheit zu geben.

»Sie können nun in Ihre Normandie zurückkehren,« sagte mir der kleine rote Husar, der gekommen war, um mir meine Entlassung anzukündigen, und der, wie alle andern auch, die Lieder Frédéric Bérats kannte, die wir vergessen haben.

Ich lachte einfältig. » Dame, das freut einen, wenn man nach Hause gehen kann.«

Und ich nahm meine Marschroute nach Saint-Pierre-du-Vauvray in Empfang. Aber ich wendete List an, um wieder nach Paris zurückzukehren, so wie ich getan hatte, um herauszukommen, und ich betrat, traurig und allein, meine Wohnung in der Rue de Bondy.

»Sie sind es?« sagte meine Hausmeisterin, als sie mich sah. »Man hat Sie für tot gehalten. Sie kommen wegen der Wahlen?«

Die Wahlen? Was kümmerten mich die Wahlen!

Ich kam um der Kunst willen. Ich schlug Corneille auf, meinen alten Corneille. Er gewährte mir Trost.

Seither habe ich einen Komiker auf der Bühne den normännischen Dialekt nicht können sprechen hören, ohne etwas wie Tränen aufsteigen zu fühlen. Und wem galten die Tränen? Sie erraten es. Dem Unwiederbringlichen. Dem zerflossenen Traum. – Wenn ich Ihnen nicht die lautere Wahrheit erzählte, so hätten Sie recht, sich in Ihrem Patriotismus verletzt zu fühlen. Man scherzt nicht mit dem Unglück des Vaterlandes. Aber – Phantasiegebilde eines Kranken oder eines Tollen – das, was ich Ihnen erzählte, wäre um ein kleines zur Tat geworden. Ach, dieser 19. Januar, dieser 19. Januar! Ohne den Ausfall des Generals Trochu war er in unsrer Gewalt, der Kaiser!

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