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2. Der Lasso

Ich denke noch mit traurigen Gefühlen an die Saison zurück, die ich in Perpignan verbrachte. Ich war da als erster Heldendarsteller engagiert, und dort, in jener versteckten Provinzhauptstadt, weit entfernt von dem Pariser Publikum – meinem eigentlichen Publikum –, verwendete ich ebensoviel Sorgfalt auf meine Rollen, legte ich ebensoviel Seele in mein Spiel, als ob ich eine Dramengestalt Victor Hugos vor den großen Kritikern von Paris kreiert hätte. Es wird Sie daher nicht in Erstaunen setzen, wenn ich Ihnen sage, daß ich der Gott des Publikums des Departements Pyrénées-Orientales wurde. Ich spielte mit größtem Erfolge mein ganzes Repertoire durch und tröstete mich mit den Triumphen der Kunst über mein Exil nahe an der spanischen Grenze.

Denn Perpignan, dieser am Ende der Welt gelegene Winkel, war ein Exil für mich, dessen Ehrgeiz es war, im Theater an der Porte St. Martin, ja, in der Comédie Française – schlimmstenfalls im Ambigu aufzutreten. Aber wenn man auch spielt, wo man kann, so ist es doch immer Pflicht, so zu spielen, wie man soll. »Wenn Sie keine Kirche zu schmücken haben,« sagte Eugène Delacroix (ich habe ihn gekannt und ihm für einen türkischen Reiter Modell gestanden), »so malen Sie eine Freske an die erstbeste Straßenecke!« Ich sagte mir, daß es schließlich in Perpignan wahre Kunstliebhaber geben muß, so wie überall, und für diese spielte ich. Sie erfaßten mich, und sie klatschten mir Beifall. Das tröstete und stärkte mich.

Ich wurde übrigens bald populär, und man grüßte mich, wenn ich durch die Straßen ging. Ich erinnere mich, daß mich eines Tages der erste Gerichtspräsident, aus dem Gerichtsgebäude tretend, vor der Statue François Aragos ansprach, um mir zu meiner Darstellung des » Lazare le Pâtre« zu gratulieren, und eines Sonntags, nach einer Aufführung des »Ruy Blas«, ließ mir der Präfekt offiziell mitteilen, daß die Rolle in Paris nie besser gespielt worden sei. Das tut wohl.

Auch die Presse war mir wohlgesinnt. Es gibt nicht viele Zeitungen dort, aber sie waren alle auf meiner Seite. Sie besaßen Verständnis für meine Bestrebungen und unterstützten sie. Ich war davon gerührt. Ich mache mir wohl wenig aus dem Urteil der Presse, aber ich habe mich dennoch nie enthalten können, die Zeitungen zu lesen, um zu sehen, ob die Urteile der Kritiker mit meinem Bewußtsein übereinstimmten. Es war fast immer der Fall.

Eines Abends jedoch, während eines Zwischenaktes in »Die schönen Herren von Bois-Doré«, sagte mir mein Kollege Paturel, ein gutmütiger Junge, mit einem Ausdruck, der mir auffiel:

»Hast du den ›Argus‹ gelesen?«

Der »Argus« war eine kleine politische und agrikulturelle, auch önologische Zeitung, die für die Interessen der Perpignaner Landwirte eintrat und einen Spezialkunstkritiker besaß, der aus Rivesaltes gekommen war und den man respektvoll den »Jules Janin von Rivesaltes« nannte. In der Provinz ist Janin, der Fürst der Kritik, noch nicht vergessen, wie Sie sehen. Ich habe überall auf meinen Streifzügen durch die Provinz einen Kritiker von Autorität gefunden, den man, je nach dem Zeitpunkte, den Janin oder den Sarcey der Stadt nannte. Man sagte mir, als ich ankam: »Sie müssen Ihre Karte bei Richardin oder bei Verdinet abgeben; das ist der Sarcey der Stadt.« Es gibt so einen Sarcey in Lyon, einen Sarcey in Bordeaux, einen Sarcey in Lille. Früher war es ein Janin.

Den Jules Janin von Rivesaltes kannte ich vom Perpignaner Kaffeehaus her vom Sehen. Er war ein Lebemann, breitschultrig und umfangreich, rothaarig, von bleicher Gesichtsfarbe, trug seinen Kopf, dessen hinaufgesträubte Haare vor einer Glatze zurückwichen, herausfordernd hoch und liebte es, seine Schnurrbartspitzen nach oben zu zwirbeln. Er hatte sich dem Journalismus zugewendet, so wie er in den Weinhandel eingetreten wäre, und er »machte« in Artikeln mit der Großmäuligkeit und Selbstgefälligkeit eines Handlungsreisenden. Zuerst behandelte er mich ganz liebenswürdig im »Argus«; aber als er fand, daß ich meiner Dankbarkeit nicht genügend lebhaften Ausdruck gab und daß ich seine Macht daher unterschätzte, änderte seine Sprache allmählich die Farbe, und die Nummer des »Argus«, von der mein Kollege Paturel mir sprach, enthielt einen entschieden feindseligen Artikel. Einen Artikel, worin die Worte »wandernder Komödiant« auf mich angewendet waren, auf mich, Brichanteau, Schüler und Rivalen von Beauvallet!

»Was hast du denn Baculard getan?« fragte mich Paturel.

»Ich? Nichts. Ich habe noch kein Wort mit ihm gesprochen.«

» Hinc illae lacrimae!« sagte mein Kollege. »Baculard liebt es, daß man ihm den Hof macht. Du hast das nicht getan und hast daher seine Eigenliebe verletzt.«

»Mein lieber Paturel, ich habe ein Prinzip. Die Kritik hat das Recht, mich zu beurteilen, und es steht dem Künstler nicht an, um ihr Wohlwollen zu bitten oder für ihre Richtersprüche zu danken. Der Jules Janin von Rivesaltes schreibt, was er denkt. Er tut seine Pflicht und ich tue die meinige.«

»Nicht doch, nicht doch!« sagte Paturel dringend. »Das Ganze ist nur ein Mißverständnis. Tausche einen Händedruck mit Baculard, und alles ist wieder gut.«

»Nach diesem Artikel? Unmöglich! Der Künstler kann vergessen; der Mann niemals!«

Ich muß Ihnen bemerken, daß der Artikel im »Argus« im höchsten Maße unverschämt war. Als ich ihn las, juckte es mir in allen Fingern. Dann aber sagte ich mir, daß dieser plumpe Mensch schließlich das unbestreitbare Recht hatte, den Schauspieler abscheulich zu finden. Solange er nicht an mein Privatleben griff, konnte ich tief verletzt sein, aber ich hatte kein Recht, etwas zu sagen.

Als ich jedoch am nächsten Tage wieder vor der Statue Aragos diesem dicken, anmaßenden Menschen begegnete, wie er, seine Zigarre rauchend, mit einer Zeitungsverkäuferin sprach, da ging ich an ihm vorüber, ihm fest in die Augen blickend und ohne an meinen Hut zu rühren. Er hatte mich kommen sehen und stellte sich an meinen Weg, den Kopf erhoben, ein keimendes Lächeln auf seinem spöttischen und selbstzufriedenen Gesichte, und ich erriet, daß er auf meinen Gruß und meine ausgestreckte Hand wartete, um mir ironisch zu sagen:

»Ei, ei, Brichanteau, wir lassen uns also doch herbei!«

Ich erriet es so gut, daß ich die Pose Don Césars annahm, der Don Sallust in die Augen blickt, und stolz an dem ziemlich verblüfften Janin von Rivesaltes vorüberging. Und ich war befriedigt. Ich hatte eine leichte Röte in dem dicken Gesichte aufsteigen sehen, und ein Zornesblitz hatte seine bösen Augen durchzuckt. Der »wandernde Komödiant« hatte sich gerächt.

Es war freilich nur eine kleine Rache, aber es gewährt doch Vergnügen, dem, der einen beleidigt hat, ins Auge zu sehen und ihm mit einem Blick seine ganze Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Dieser Baculard, der gleich mir vom Pariser Ruhm träumte, übte sich da unten im Handwerk des literarischen Tyrannen, welchem sich diejenigen häufig zuwenden, die weder Phantasie, noch Schönheit, noch Gewandtheit des Stils besitzen, aber die es darauf anlegen, aufzufallen und gefürchtet zu werden. Und meistens gelingt es ihnen. Die Menschen sind feige, Monsieur.

Wenn man nicht zu reden versteht, so schreit man. Baculard brüllte. Er spielte sich auf den Apostel der großen Kunst hinaus, indem er dabei hauptsächlich an die kleinen Künstlerinnen dachte. Paladin des Ideals, verkündigte er erhabene Theorien, was ihn nicht abhielt, mit den Schauspielerinnen, die ihn fürchteten, zu soupieren; und beim Dessert entwickelte er zwischen zwei Gläschen Chartreuse die Grundsätze, denen er sein Leben geweiht hatte, und deren erster der Genuß war.

Er war genußgierig nach allem: nach Ansehen, das er auf rücksichtslosen Terrorismus zu gründen beflissen war; nach Geld, das er in Mengen einstreichen wollte; nach der Liebe, oder was man Liebe nennt: nach Weibern heißt das, deren seine Sinnlichkeit begehrte; nach Ehrenhaftigkeit sogar, oder was dafür gilt – nach allem, mit einem Wort, nach allem, was man mit einer skrupellosen Feder, die in ein schlammiges Tintenfaß getaucht wird, erlangen kann. Unnötig zu sagen, daß seine Sehnsucht war, nach Paris zu kommen, um dort seine Klopffechtertalente zu verwerten, denn in Paris allein kann man Ruhm, Geld und Weiber in großem Maßstab erobern. Ich weiß nicht, was ihn im Departement Pyrénées-Orientales festhielt, den wackeren Baculard. Vielleicht sprach er wahr, wenn er mit seinem lauten Lachen sagte:

»Ich übe mich in Perpignan und Rivesaltes, hier ist mein Fechtboden. Aber der Kampfplatz, das ist Paris. Wenn ich das Degagieren einmal im kleinen Finger habe, dann gehe ich hin!«

Und sein Plan, sich dort seinen Platz zu erobern, war sehr einfach. Oh, er machte gar kein Geheimnis daraus. Er teilte ihn in Kaffeehausgesprächen jedem mit, der ihn hören wollte.

»Ich komme nach Paris. Ich lauere auf einen Zwischenfall, rufe ihn hervor, wenn es nottut. Ich nehme irgendeine wohlbekannte, mitten im Getriebe stehende, weithin sichtbare Persönlichkeit aufs Korn. Ich greife sie an. Und gründlich! Daß allen Leuten die Augen übergehen! Daraufhin großer Skandal. Es folgt ein Prozeß oder ein Duell. Ich werde verurteilt oder verwundet, alles eins – wenn ich meinen Mann töte, um so besser – und ich bin obenauf. Der Skandal hat mich mit einem Schlage bekannt gemacht, ich bin ein gesuchter und gefürchteter, mit einem Wort ein gemachter Mann. – Wem könnte ich denn zuerst an die Gurgel springen?«

Er dachte nach.

»Bah! Das wird davon abhängen, welche Berühmtheiten an der Tagesordnung sein werden, wenn ich mein Coupé verlasse. Dieser oder jener, das ist mir sehr egal. Jemand, der ein Jemand ist, das ist alles, was ich brauche. Der erste beste!«

Mittlerweile zitterten die Schauspieler oder Opernsänger vor ihm, die nach Perpignan kamen. Baculard! Donnerwetter! Wenn man den Namen Baculards aussprach, so war es, als hätte man den Namen des Beherrschers aller Reußen genannt. Die Primadonna erbleichte, die Naive schauderte, Tränen des Schreckens stiegen in den Augen der jugendlichen Liebhaberin auf. Ich für meinen Teil machte mir, wie ich Ihnen schon sagte, so viel aus ihm, wie ein Haifisch aus einem Borsdorfer Apfel. Und indem ich an der Statue Aragos vorbeiging, ohne ihn zu grüßen, hatte ich mir den Jules Janin von Rivesaltes zum Feind gemacht – zu einem » sterling« Feinde, wie ich in »Giboyer« sage.

Paturel sagte mir bei nächster Gelegenheit:

»Baculard schäumt, weißt du das? Nimm dich vor seinem Geifer in acht. Er findet grausame Worte. Das grausame Wort ist sogar seine Spezialität. Er hat Haare auf den Zähnen, und da diese obendrein kariös sind, so kannst du dir vorstellen, wie wohl es tut, wenn er beißt. Eines Tages wirst du erwachen und wirst dich im ›Argus‹ fürchterlich heruntergerissen finden.«

»Gut,« versetzte ich. »Dieses Erwachen wird mich nicht hindern, die folgende Nacht gut zu schlafen.«

Und in der Tat, der Artikel, der mich herunterriß, erschien. Er war ungeheuerlich, wie Paturel es vorausgesagt hatte. Es war eine Kritik meiner Darstellungskunst in einer der Rollen, die ich am besten spielte, eine untergeordnete Rolle, die ich jedoch nach allgemeinem Urteile und nach meinem eignen Gefühle durch meine Kunst und meinen Takt fast klassisch gestaltete: die des Andrès in den »Räubern der Savanne«.

Der »Argus« warf mir vor, daß ich sie als Possenreißer, als Jahrmarktshanswurst, als Dorfkomödiant spiele und so weiter. Drei Spalten voll mit Liebenswürdigkeiten dieser Art. Ein Verreißen im größten Maßstabe. Schmähworte zu Dutzenden. Und zum Schlusse die folgende Charakterisierung, deren ich mich noch erinnere:

»Herr Sébastien Brichanteau ist kein Schauspieler. Mit seinen Posen eines Stierkämpfers aus den Landes oder eines kastilianischen Toreros vierzehnten Ranges scheint er mehr für den Beruf eines Chulo als eines dramatischen Künstlers geeignet, und wir würden diesen Grimassenschneider viel eher als Vaquero in irgendeinem Zirkus und bei einer mexikanischen Pantomime den Lasso schwingend an seinem Platze finden, wie als Interpreten gleichviel welcher Prosa auf den Brettern eines Theaters. Er ist ein Zirkusstallmeister, aber er ist kein Schauspieler und wird nie einer sein. Fort mit ihm in seine Schaubude, mit diesem Brichanteau, samt seinem Filzhut und seinem Lasso!«

Ich muß gestehen, daß mein erster Gedanke nach der Lektüre dieses Artikels war, Baculard zu ohrfeigen und ihm gehörig meine Meinung zu sagen. Wie Saint Vallier dem Könige von Marignano. Aber schließlich hatte er, wenn auch in unverschämter Weise, doch nur sein Recht der Kritik ausgeübt. Der Künstler gehört der Öffentlichkeit, der Presse, jedem, der ihn beurteilt, der ihn auspfeift. Ich bemeisterte meinen Zorn und ging, ein Soldat der Pflicht, zur Probe, als ob nichts geschehen wäre. Ich trug im Theater sogar eine heitere Miene zur Schau und erriet, witterte, ahnte die Exemplare des »Argus« in den Brusttaschen meiner hocherfreuten Kollegen.

Wir hatten damals Probe von »Der Kurier von Lyon«. Ich spielte den Dubosc, eine Episodenrolle. Und während der Probe hörte ich Thorozet, den jugendlichen Liebhaber, leise vor sich hinsummen, offenbar um mich zu ärgern und mich an den »kastilianischen Torero« zu erinnern:

»Toreador, nimm dich in acht,
Toreador, Toreador!«

Ich hatte Lust, dem Schwächling Thorozet seine Carmenmelodie in die Kehle zurückzustoßen, und hätte es vielleicht auch getan, hätte nicht in diesem Augenblicke die kleine Jeanne Horly, die meine Tochter spielte, hinter einer Kulisse mit leiser, trauriger und schüchterner Stimme zu mir gesagt:

»Herr Brichanteau, unter uns, Baculard ist sehr boshaft, nicht wahr?«

Ich sah das arme Kind an. Sie lehnte sich gegen die Dekoration und sah ängstlich zu mir auf. Sie war blond, zart, hübsch, aber mager, durch Jahre des Elends zurückgeblieben, noch mit den Spuren der Nähnadel an ihren schwachen Händen, eine kleine Pariserin, die im Dachzimmer ihrer Mutter mit nichts, mit Wurst und Kaffee genährt worden war, in deren Augen aber das heilige Feuer brannte und deren ganzes leidendes Persönchen von melancholischem Liebreiz umgeben war. Auch eine, die nicht für die Galeere der Bretter geschaffen war.

»Warum sagst du, daß er boshaft ist, mein Kind?« fragte ich.

Sie zögerte.

»Sprich nur ungescheut!«

»Nun ja, Herr Brichanteau, man hat jetzt eben einen Artikel vorgelesen – diesen Artikel – den gewissen ,...«

»Meinen Artikel? Den, wo er mich einen Possenreißer nennt? Nun und dann?«

»Und dann, Herr Brichanteau, und dann? Dann kommt, daß Herr Baculard mir den Hof macht und daß er mir mißfällt, und daß ich fühle, wenn ich ihn abweise ,...«

»Daß er dich herunterreißen wird?«

»Jawohl, Herr Brichanteau. Und Herr Carbonnier« – das war unser Direktor – »Herr Carbonnier hat mir folgendes gesagt: ›Wenn Baculard Brichanteau herunterreißt, meinetwegen. Brichanteau hat einen genügend breiten Rücken, um das auszuhalten, und Brichanteau hat das Publikum auf seiner Seite. Aber richten Sie es so ein, daß Baculard nicht auch Sie herunterreißt, denn ich kann nicht mit allen meinen Schauspielern dem »Argus« Trotz bieten, wenn der »Argus« sich auf mich verlegt. Haben Sie verstanden?‹«

»Carbonnier hat das gesagt?«

»Ja, Herr Brichanteau.«

»Carbonnier hat Angst vor Baculard?«

»Ja, Herr Brichanteau. Und ich auch,« sagte die Kleine, »ich habe auch Angst vor ihm! Denken Sie doch nur, wenn der Direktor meinen Kontrakt löst, was soll aus mir werden? Wie soll ich das Kostgeld für meinen Kleinen bezahlen und meiner Mutter, die sich in Paris als Aufwärterin verdingt, etwas schicken?«

Ich sah sie an, die kleine Jeanne, Jeanne Horly, ein Kind, ein Backfisch, nicht größer als eine Faust, und so zart und schwächlich! Und sie zahlte Kostgeld für ein kleines Wesen, das in Nevers in Pflege war, einen Knaben, die Frucht der Liebe dieses Kindes zu einem Kollegen am Konservatorium, der durchgegangen war, um nicht als Soldat dienen zu müssen, und der nun Paulusse Paulus ist ein populärer Pariser Volkssänger. Anm. d. Übers. in belgischen Kneipen oder Londoner Vergnügungslokalen dritten Ranges sang. Von ihrer schmalen Gage in Perpignan mußte die Ärmste das ersparen, was die Pflegerin in Nevers unerbittlich verlangte und was die Mutter in Paris für ihren Kaffee und Tabak brauchte. Ach, welches Elend!

Und dieses schwächliche und hübsche, sehr hübsche Geschöpf hatte schreckliche Angst davor, daß der Direktor, durch die Angriffe des Jules Janin von Rivesaltes eingeschüchtert, ihr den Abschied gebe. War das möglich?

»Fürchten Sie sich doch nicht vor diesen Spatzenschreckmitteln,« sagte ich ihr, »und schicken Sie den ›Argus‹ seiner Wege nach Rivesaltes.«

»Ach, Herr Brichanteau, Sie können leicht so sprechen. Wenn ich Ihr Talent, Ihre Stellung hätte!«

Und sie seufzte bewundernd.

Armes Kind! Meine Stellung! Mein Talent! Was sie mir Großes nützten! Man mußte das heilige Feuer im Herzen, eine Künstlerseele unentwurzelbar in die Brust gepflanzt haben, um zu ertragen, was ich ertrug, und um sich dabei zufrieden zu geben, die »Räuber« oder den Lesurques in der Provinz zu spielen, wenn es in Paris Societäre der Comédie Française gibt. Sprechen wir nicht davon. Ich wendete meine Beredsamkeit auf, um die kleine Jeanne Horly zu ermutigen, sich um die Galanterien Baculards ebensowenig zu scheren, wie um seine Angriffe, und versprach ihr, selbst über diese Sache mit Herrn Carbonnier zu sprechen und ihm ob seiner Feigheit meine Meinung zu sagen.

»Wenn Baculard Sie angreift, fürchten Sie nichts. Ich werde dafür sorgen, daß Sie applaudiert werden.«

Und ich ließ die kleine Jeanne, da mein Stichwort nahte, ganz mutig geworden bei der Kulisse, an der wir gesprochen hatten. Aber »Schwachheit, dein Name ist Weib«, sagt der Schwan vom Avon. Einige Tage nach dieser Unterredung zwischen zwei Szenen kehrte ich nach einer Vorstellung in meine bei den Wällen gelegene Wohnung zurück – es war im Winter, und es hatte an diesem Tage schrecklich geschneit –, als sich mir ein Anblick voll melancholischer Ironie bot: durch den breiigen Schnee stapfte der dicke Baculard in stolzer Haltung, den Kopf hochaufgerichtet, und an seinem Arm führte, zog er die kleine Jeanne Horly, die an dem Riesen hing wie ein kleiner Däumling, der von einem nach frischem Fleisch gierigen Menschenfresser fortgeschleppt wird. Sie gingen miteinander nach irgendeinem Hotel garni, und die dicken Schuhe des Mannes und die zierlichen Stiefelchen des Mädchens versanken in dem lockeren, wässerigen Schnee. Und es lag ein sichtlich bestialischer Triumph in der herausfordernden Haltung des Siegers mit dem roten Schnurrbarte, und eine solch resignierte und furchtsame Traurigkeit in dem gebeugten Köpfchen der Kleinen, daß ich noch heute nicht weiß, ob ich durch den Anblick des Paares mehr empört als erschüttert war. Bei Gott, es war ein Schauspiel zum Weinen!

Ich dachte einen Augenblick daran, ob ich neben Baculard wie ein unerwartetes Gespenst auftauchen und gleich einem spöttischen Zeugen seines Glücks an ihm vorbeigehen solle. Aber ich sagte mir, daß ich damit zu grausam gegen das arme Mädchen sein würde. Warum sollte ich? Sie war eben schwach geworden. Sie hatte sich einschüchtern lassen, denn der Kleine hatte Hunger, und der Pflegevater, der Bauer in Nevers, hatte Durst. Und angesichts der Drohung des »Argus«, des Schreckens Carbonniers, hatte sie sich ergeben. Sie wurde die Beute dieses Menschen, der Ansehen, Geld und Genuß haben wollte. Die Erpressung macht sich nicht nur mit Schecks auf den Überbringer bezahlt. Es gibt auch Erpressung um der Begierde willen, und das zitternde Weib zahlt ebenso wie der den Skandal fürchtende Bankier.

Ich kam an diesem Abend trauriger wie an den traurigsten Tagen meines Lebens nach Hause. Ich sagte immer wieder vor mich hin: »Arme Kleine! Arme Kleine!« und sah im Geiste immer nur die traurige Gruppe: das zarte, kleine Geschöpf, willenlos am Arme des Siegers dahingeschleppt. Auf mein Wort, Monsieur, es steckt ein Stück Don Quichotte in mir, ja, ein Don Quichotte de la Mancha, und ich rühme mich dessen.

Um diese Zeit nahte der Tag meiner Benefizvorstellung heran. Damit auch die Stunde des Kranzes.

Ja, des Kranzes, des grünen Lorbeers! Er ist es, den ich in meiner ganzen langen Künstlerlaufbahn ersehnt, erträumt, erstrebt habe. Wie oft ist er eine Dornenkrone! Aber mein ganzes Streben ging nach ihm, nach dem Kranze des Triumphes. Und oft, ja sehr oft, Monsieur, hat er meine Stirn erfrischt.

Ich war übrigens so begierig nach dem Ruhme, daß ich – ich gestehe es heute, ohne es jedoch zu bereuen – wenn ich in der Provinz auftrat oder wenn es sich um mein Benefiz handelte, mich selbst dieses Schlußbeweises des allgemeinen Beifalls, dieses Orgelpunktes, dieser Apotheose der Vorstellung, dieser Materialisation des Erfolges, zu versichern pflegte. Ich schäme mich dessen nicht.

Das Publikum konnte zerstreut sein, vergessen. Man muß ihm seinen Kopf leihen. Und diese Vorsicht war es, die zwischen mir und Baculard den endgültigen, den – wie sage ich? – unabwendbaren Zusammenstoß herbeiführte. Ja, unabwendbar. Und zwar folgendermaßen. Der Tag meiner Benefizvorstellung war, wie gesagt, nahe bevorstehend. Ich konnte mir das Stück wählen, den Theaterzettel nach meinem Gefallen zusammenstellen. Ich hatte mich daher entschlossen, speziell für diese feierliche Gelegenheit ein noch unaufgeführtes Stück eines jungen heimischen Autors herauszubringen, das mir dieser im Café Arago vorgelesen hatte. Dieser junge Mann interessierte mich. Im allgemeinen sind, um die Wahrheit zu sagen, die Autoren weniger interessant als die Schauspieler. Wir Schauspieler haben nur den Ruhm auf Lebenszeit; sie, die Dichter, haben die Unsterblichkeit der Bibliotheken. Nach zwanzig oder dreißig Jahren der Arbeit, was bleibt von uns noch übrig? Runzeln. Ihnen bleiben ihre Bücher, selbst solche, die nicht bleiben. Aber man kann sagen, daß ohne uns ihre dramatischen Werke tote Werke sind. Erst der Darsteller haucht dem Drama Leben ein. Ein unaufgeführtes Theaterstück ist wie eine nicht angezündete Bühnenrampe. Daher sagt man mit Recht, daß wir die Rollen »kreieren«. Kreieren ist der treffende Ausdruck.

Ich hatte mir also vorgenommen, die Phantasiegestalten meines jungen Dichters – J. J. Puget war sein Name – zu »kreieren«, indem ich seinen »Gaucho« auf die Bretter brachte, in welchem ich übrigens eine mir auf den Leib geschriebene Rolle hatte, einen Mélingue Berühmter französischer Schauspieler. Anm. d. Übers. aus den guten Tagen: Don Esteban, der mexikanische Gaucho. Ich nahm an, daß das Werk eines Landeskindes, eines Sohnes der Scholle, das Publikum mehr anziehen werde, als ein schon bekanntes Stück, und ich erbat daher vom Direktor die Kostüme der »Räuber« – der berühmten »Räuber der Savanne«, in denen Baculard mich heruntergerissen hatte – um den »Gaucho« herauszubringen.

»Ganz wie Sie wollen, Brichanteau,« sagte Carbonnier.

Gut, sehr gut, ganz wie ich wollte also. Es wurde vereinbart, daß ich als Benefiziant das Gas, die Billetteurinnen und die Kontrollorgane bezahle. Der junge Puget trat mir seine Autorrechte ab. Carbonnier erlaubte mir, den »Gaucho« geraume Zeit vorher anzukündigen, ohne Rücksicht darauf, daß ich dadurch dem Billettverkauf auch für das laufende Repertoire schadete.

Er war in Geschäften nicht engherzig, Carbonnier – im übrigen ein gewesener Gerichtsvollzieher, der aus Liebe zu einer Sängerin Theaterdirektor geworden war – er war sogar ziemlich großmütig, was man auch nach seinem Verhalten gegen die kleine Jeanne Horly über ihn denken mag; gleichwohl fuhr er beinahe von seinem Sessel im Direktionszimmer auf, als ich zu ihm sagte:

»Sehr wohl, Herr Carbonnier. Es bleibt nur noch der Kranz.«

»Der Kranz? Welcher Kranz?«

»Nun, der Kranz, den mir auf allen meinen Gastspielen das Theaterpersonal zu Ende der Vorstellung zu überreichen pflegte. Gewöhnlich bringt ihn mir die jugendliche Liebhaberin am Schlusse des fünften Aktes, und ich nehme ihn aus ihren Händen entgegen, während das Haus von einer heftigen und tiefgehenden Bewegung durchbraust wird.«

Herr Carbonnier sah mich stirnrunzelnd an.

»Ein Kranz, ein Kranz! Ein Kranz kostet aber Geld; die Direktion kann diese Ausgabe nicht auf sich nehmen, und was das Personal betrifft, von welchem Sie sprechen, so wissen Sie wohl, mein lieber Brichanteau, daß Ihre Kollegen nicht gerade im Golde wühlen. Und ihnen von ihrer Gage die Kosten eines ,...«

Ich fiel Herrn Carbonnier rasch ins Wort und rief sehr würdevoll:

»O Herr Direktor, was denken Sie! Können Sie sich vorstellen, daß ich arme Kollegen, das kleine Personal den Preis einer mich ehrenden Manifestation bezahlen lassen würde? Ich, Herr Direktor? Niemals! Diesen Kranz, ja, diesen Kranz, auf den ich Anspruch erhebe, ich habe ihn!«

»Sie haben ihn?«

»Ich besitze ihn. Er bildet einen Bestandteil meiner Garderobe. Ich sollte meine Kollegen dafür bezahlen lassen – welch ein Gedanke! Ich führe ihn in meinem Koffer mit, ich bewahre ihn auf, und wenn ich seiner bedarf, nehme ich ihn hervor, staube ihn ab und bediene mich seiner.«

»Ah, sehr wohl, sehr wohl!« sagte Herr Carbonnier beruhigt.

»Sie werden also, Herr Direktor, sich nicht um die Inszenierung dieser kleinen, sehr einfachen Zeremonie zu kümmern haben. Fräulein Jeanne Horly wird sie einmal mit mir durchproben, das wird vollkommen genügen. Ich verlange nicht einmal, daß Sie mir die Bühne zur Verfügung stellen, ich werde Ihnen keinen einzigen Probetag nehmen. Wir werden die Szene einmal nach dem »Gaucho« durchnehmen, den wir am Vormittag einstudieren und fertigstellen werden, damit die Nachmittage dem laufenden Repertoire bleiben.«

Carbonnier war entzückt. Von dem Augenblicke, da der Kranz ihn nichts kostete, war er ein begeisterter Anhänger des Kranzes. Er machte mich jedoch aufmerksam, da Jeanne Horly nunmehr der Schützling des Jules Janin von Rivesaltes war, daß ich mir, indem ich die Mitwirkung meiner Kollegin erbitte, den Anschein gebe, mich der Neutralität des Kritikers versichern zu wollen.

»Sie schlagen ihm die Entwaffnung vor,« sagte er.

»Ich? Nicht im entferntesten, Herr Direktor. Ich wähle aus dem Ensemble die jugendliche Liebhaberin, wie dies stets meine Gewohnheit gewesen. Überall hat mich die jugendliche Liebhaberin begrüßt und mir den Kranz überreicht. Ich wähle nicht die Dame, ich wähle das Rollenfach. Wenn jener Herr darin eine Liebenswürdigkeit oder ein Entgegenkommen sehen wollte, so hätte er sehr unrecht. Ich folge einfach der Tradition, das ist alles.«

Carbonnier sagte nichts mehr. Schließlich, was lag ihm daran, ob Baculard freundlich gegen mich war oder nicht? Mein Engagement ging zu Ende. Bald würde ich Perpignan verlassen. Die Direktion war an meinem Benefiz unbeteiligt. Wie die Sache auch enden mochte, er wusch seine Hände.

Wir lasen, probten, lernten, spielten den »Gaucho« von J. J. Puget in neun Tagen. Mehr als ein Tableau per Tag. Und ich hatte Tiraden von hundertundvierzehn Zeilen zu sprechen! Alle Theaterfreunde der Stadt hatten Billetts genommen. Die Damen von Perpignan legten ersichtlich Wert darauf – und ich fühlte mich dadurch sehr geschmeichelt –, den Benefizianten zu sehen. Ich war, ich kann es sagen, und Eitelkeit ist meine Schwäche nicht, außerordentlich als Esteban, Esteban der Gaucho. In einer Szene, wo der Mann, der mich im Prolog geschmäht hatte, Don Pablo Zamoral, keuchend unter meiner eisernen Ferse lag, erreichte ich, ich darf es gestehen, den Gipfelpunkt des Erschütternden. Das »Ganz-Perpignan« erbebte.

Ich fühlte mich auf der Höhe meines Könnens. Um so mehr, als ich dicht vor mir in einer der ersten Reihen das blasse Gesicht, den Blick, das höhnische Lächeln Baculards sah und es mir schien, als richte ich an den Redakteur des »Argus« die Worte, mit denen ich Pablo Zamoral zu Boden schmetterte: »Ihr habt mich geschmäht, Sennor, nun wohl, der Gaucho rächt sich, und die Spitze meiner Navaja wird dein Herz zu finden wissen, wenn du noch eins hast, und wird durch die offene Wunde deine Seele dem Teufel zusenden, wenn du eine Seele besitzest!« Er hatte Stil, dieser junge J. J. Puget. Die indirekten Steuern haben ihn ergriffen, verschluckt, vernichtet. Schade um ihn!

Der »Gaucho« erzielte einen Riesenerfolg. Der Dichter wurde gerufen. Alle Welt applaudierte. Nur der einzige Baculard blieb unbeweglich auf seinem Sitze. Der Präfekt beglückwünschte mich. Der Bürgermeister drückte mir die Hand und begleitete diese offizielle Gebärde mit privaten schmeichelhaften Worten. Der Augenblick für die Überreichung des Kranzes war gekommen.

Der Vorhang hob sich wieder. Alle meine Kollegen waren auf der Bühne gruppiert, die einen in mexikanischen Kostümen, die andern in Straßenkleidern. Von ihrer Sympathie umgeben, den Enthusiasmus des Publikums mir gegenüber, fühlte ich mich eingeschlossen in einen Kreis von Herzlichkeit und Nachsicht oder richtiger gesagt, Gerechtigkeit. Das Herz ging mir über.

Ich blickte auf den Kranz, meinen Kranz, denselben, den ich der Reihe nach von den Händen der jugendlichen Liebhaberin in Moulins, in Tours, in Nantes, in Nancy, selbst in Etampes empfangen hatte. Er war noch immer frisch, wohl abgestaubt, sehr grün, mit seinen Schleifen, die ich von Zeit zu Zeit erneuern ließ, den Schleifen mit der goldenen Inschrift: »Dem Künstler Brichanteau seine Bewunderer und Freunde.« Die kleine Jeanne Horly stand im mexikanischen Kostüm vor mir – sie gab Lola, die Zigarrenarbeiterin, im »Gaucho« – und hielt in ihren Händen den Kranz, von dessen Schleifen ich tiefbewegt in Goldlettern ablas: »Seine Bewunderer! Seine Freunde!« Das waren die Namen, die ich wohl mit Recht den Zuhörern geben konnte, deren Urteilsfähigkeit oder, wenn es Ihnen gefällt, deren Wohlwollen mich mit Beifall überschüttete.

Dann trat unter tiefem Schweigen des ganzen Hauses Jeanne Horly, die kleine Jeanne Horly, deren ich in diesem Augenblicke nicht gedachte, wie ich sie damals betrübten Herzens durch den Schnee hatte waten sehen, Jeanne Horly, die für mich nicht mehr das bedauernswerte Geschöpf am Arme Baculards war, sondern meine Muse, die Muse meiner Hoffnungen und der dramatischen Kunst, die lebende Nachwelt – Jeanne Horly trat auf mich zu und sagte mit ihrer sanften Stimme sehr bewegt:

»Empfangen Sie, verehrter Meister« – ich hatte ihr die Ansprache einstudiert und ihr die Betonungen angegeben – »empfangen Sie diesen Kranz, den wohlverdienten Lohn Ihrer Verdienste um die reine Kunst. Diese Kränze sind nicht wie die der Schlachtensiege mit dem Blute der Menschen getränkt; sie sind, und wie viel schöner ist dies, befeuchtet von den Tränen, welche die unsterbliche Kunst hervorgerufen hat.«

Sie sprach diese kleine, anspruchslose Rede sehr gut, mit sehr viel Gefühl, die kleine Jeanne Horly; sie sprach sie so gut, daß ich eine Rührung aufsteigen fühlte, daß meine Augen sich mit den Tränen feuchteten, deren eben Erwähnung geschehen war, und daß ich weinte! Ich weinte Tränen, die mir wohltaten! Diese stets gleichbleibende Zeremonie war gleichwohl für mich immer neu, und ich habe niemals, so oft ich daran teilnahm, verhindern können, daß mir die Augen feucht wurden. Selbst bei der Probe war sie für mich die schönste, die angenehmste der Überraschungen. Können Sie mir nachfühlen? Jeder Schauspieler wird es können.

Der Eindruck meiner Tränen auf das Haus war indessen überwältigend, buchstäblich überwältigend. Man erhob sich im Parkett, man wehte in den Logen mit den Taschentüchern, man bejubelte mich! »Hoch Brichanteau! Nicht fortgehen! Dableiben! Brichanteau! Brichanteau!« Solche Augenblicke, und erlebe man sie auch an der spanischen Grenze, entschädigen für viele Enttäuschungen. Nicht jeder hat sie genossen. Und als, nachdem ich aus den Händen Jeanne Horlys den Kranz, meinen Kranz genommen hatte, meine Kollegen mich einer nach dem andern umarmten, geriet das Publikum in einen förmlichen Paroxysmus. Man warf mir Küsse zu, die ich mit Grüßen erwiderte, man wollte mich im Triumphe davontragen. Ich entzog mich endlich den Ovationen, indem ich mit egoistischer Freude die unvergeßliche Erinnerung an den »Gaucho«-Abend mit mir heimtrug, ebenso wie den Kranz, meinen lieben Kranz, der mir noch viele solcher Genüsse verschaffen mochte und auch sollte.

Welch schöne Erinnerung! Aber wie bei jedem Triumphe, römischem oder pyrenäischem, so ging in meinem Schatten der privilegierte Schmäher, der boshafte Flötenspieler einher. Baculard war da, Baculard, dem ich, der Benefiziant, einen Rezensentensitz ohne meine Karte gesandt hatte. Es war nicht anzunehmen, daß Baculard mir meine Freude lange unvergällt lassen würde. Am nächsten Morgen brachte der »Argus« an erster Stelle einen Artikel mit der Aufschrift »Die Tränen des Gaucho« – es genügt ja, wenn ich Ihnen das sage! Ihr armer Brichanteau war darin gleich dem letzten Jahrmarktspossenreißer behandelt. Ich hatte dem Publikum eine unwürdige Komödie vorgespielt, ich hatte zur vorbestimmten Stunde Tränen vergossen vor einem abgegriffenen Kranze, den ich als unentbehrliches Requisit auf meinen Wanderungen mitführe; ich hatte meine Rührung geprobt und gebüffelt, hatte meine Bewegung vorher einstudiert; ich selbst hatte diese in teigigem Stile gehaltene Ansprache verfaßt, deren faden Duft ich die Kühnheit gehabt hatte, vor der Öffentlichkeit einzusaugen. Ich sei der kühnste Komödiant, den man auf den Straßen treffen könne, auf denen der Wagen des » Roman comique« Bekanntes Werk des Dichters Scarron, eine burlesk-satirische Schilderung des Lebens wandernder Komödianten. Sein Titel ist zum Gattungsnamen für das Nomadenschauspielertum geworden. Anm. d. Übers. sich durch den Morast arbeitet. Er begriff nicht, dieser Baculard, daß wir, die wir in alles, was wir tun, unsre Seele legen, vor einem Kranze weinen können, den wir seit langem genau kennen, so wie Pygmalion von der Statue hingerissen war, die er selbst gemacht hatte. Nun denn, ja, dieser Kranz war, in andrer Hinsicht, meine Galathea!

Und der Schluß dieses Artikels lautete etwa wie folgt: »Man schicke doch, wir verlangen es abermals, diesen Esteban-Andrès-Brichanteau in die Zirkusmanege zurück, und dort mag er zwischen zwei Clown-Salti sein Lassoschwingen ausführen, das er so trefflich kann. Der Lasso, das ist seine Rolle, und, um es kurz zu sagen, sein einziges Talent. Im Jahrmarktszirkus verspreche ich ihm eine stärkere Benefizeinnahme, als die er sich als Pseudoschauspieler zusammengebettelt hat.« – Nun war es mir aber zu arg! Dieser Mensch beschimpfte mich nicht nur als Schauspieler, sondern als Benefiziant, das heißt als Mensch. Ich beschloß, zurückzustoßen, mich zu rächen, und eine Idee keimte in meinem Kopfe, eine Künstleridee, Monsieur, eine geniale Idee!

Am nächsten Tage ging ich ins Café Arago, wo der Jules Janin von Rivesaltes sich gewöhnlich aufhielt, indem er die Autochthonen mit seinen Paradoxen verblüffte und, mehr Komödiant als ich, mit seinem Geiste flunkerte. Er saß auch richtig da, von den wackeren Bürgern umgeben, die er unterhielt, einen Bittern vor sich und die Zigarre im Munde. Ich ging langsam auf ihn zu, und indem ich mich zwei Schritte vor seinem Tische entfernt hinstellte, sagte ich zu ihm:

»Mein Herr, wir haben seit langem eine Rechnung miteinander abzumachen. Beliebt es Ihnen, daß wir das bald besorgen?«

Er schien zuerst erstaunt, sah mich spöttisch an und sagte dann, den Kopf dreist aufwerfend – in vortrefflichem Tonfall übrigens –:

»Wann Sie wollen!«

»Gut also! Sobald als möglich. Die Sache dauert nun schon zu lange. Ich achte die Presse, ich verdanke ihr meine schönsten Freuden und den größten Teil meiner angenehmen Erinnerungen. Aber ich gestatte nicht, daß sie mich beschimpft. Sie werden erklären, daß Ihre Artikel albern sind, oder mir Satisfaktion geben.«

Er hatte sich erhoben und warf mir wuterfüllte Blicke zu, während der Eigentümer des Cafés, die Kellner und die Gäste herbeiliefen.

»Meine Artikel?« stammelte der große Mensch. »Sie wagen es, Sie wagen es ,...«

»Gewiß, ich wage es. Man fürchtet Sie zu viel. Ich mache mir nicht so viel aus Ihnen. Und wenn Sie nicht widerrufen, was Sie gesagt haben, werden wir uns schlagen.«

»Oh, soviel Sie wollen!« erwiderte er erfreut, der Galerie zeigen zu können, daß er Mut habe.

»Wir werden uns schlagen,« sagte ich kalt, denn ich war vollkommen Herr meiner selbst, »und da ich der Beleidigte bin, habe ich die Wahl der Waffen. Und ich wähle die meinige! Meine Komödiantenwaffe, Herr Baculard! Meine Zirkuswaffe, meine Gauchowaffe! Wir schlagen uns mit dem Lasso!«

Ich artikulierte (in der Artikulation liegt die Wucht der Rede) jedes Wort mit wohlberechneter, verächtlicher, durchdringender Langsamkeit. Als ihm das Wort Lasso an den Kopf flog, schüttelte er diesen wie unter einer Dusche. Er antwortete nicht gleich, blickte rings um sich, versuchte zu lächeln, suchte in den Augen der Umstehenden meine Verurteilung, die Bestätigung der vollkommenen Lächerlichkeit meines abgeschmackten Vorschlages.

»Mit dem Lasso! Sie sind toll! Mit dem Lasso!«

»Ich bin nicht toll. Sie haben mich beschimpft, mich Torero, Pikador, Chulo, was weiß ich, genannt. Ich schlage mich mit der Waffe, die Sie lächerlich gemacht haben. Meine Waffe, Monsieur! Wenn ich Harlekine spielen würde, so würde ich sagen, daß ich mich mit einer Pritsche schlage. Ich spiele Esteban, den Gaucho. Ich schlage mich also mit der Waffe des Gaucho!«

Er zuckte die Achseln.

»Sie sind ein Hanswurst.«

Und sich an die Umstehenden wendend: »Ein Lasso! Hören Sie nur diesen Komödianten! ,... Ich werde Ihnen eine Lektion geben ,...«

»Mit Ihrer Feder vielleicht. Ich für meinen Teil beharre darauf, sie Ihnen mit meinem Lasso zu geben. Mit dem Lasso, verstehen Sie, dem Lasso! Und wenn Sie versuchen, mir unangenehm zu werden, so werfe ich Ihnen an einem Premierenabend meinen Lasso über den Kopf und ziehe Sie aus Ihrem Fauteuil auf die Bühne mit der Waffe der Gauchos, der Possenreißer und der Clowns! Hasta la vista, Sennor!«

Und während er sprachlos, fast erstickend dastand, sein sonst bleiches Gesicht von einer Blutwelle gerötet, stülpte ich meinen Filz gleich einem Sombrero auf den Kopf und durchschritt, während alles mir Platz machte, das Café, wie bei meinem Abgang als Don César de Bazan; auf der Schwelle drehte ich mich um und warf ihm im Tone eines »Zu Pferde, meine Herren!« ein mächtiges »Zum Lasso!« zu, das wie ein Donner widerhallte.

Paris ist eine große Provinzstadt, aber Perpignan ist eine kleine. Die Kunde von dem Vorfall im Café Arago verbreitete sich rasch in der Stadt. Der » Indépendent des Pyrénées-Orientales« sprach davon noch desselben Tages in verhüllter Weise. Am Abend bereiteten mir die tapfersten meiner Kollegen im Foyer eine Ovation, die klügeren mieden mich. Sie fürchteten Baculard. Die kleine Jeanne Horly weinte. Baculard hatte gesagt, daß er mich massakrieren werde und daß ich Perpignan als Ragout verlassen würde. Ich spielte an diesem Abend den Latude mit großem Erfolge. Aber meine geniale Idee weiter verfolgend, bat ich den Direktor, für den nächsten Sonntag den »Gaucho« anzukündigen. Ich sandte J. J. Puget zu ihm, um meine Bitte zu unterstützen. J. J. Puget war ein entfernter Vetter des Schwagers des Bürgermeisters, und Carbonnier ergriff mit Vergnügen die Gelegenheit, sich einem Verwandten des Rathauses gefällig zu zeigen.

»Wie aber, wenn Baculard Sie auspfeift?« wendete der Direktor noch ein.

»Ehe der Sonntag da ist, wird die schwebende Frage zwischen mir und ihm geordnet sein. Wir werden uns entweder auf Lasso geschlagen oder er wird zum Rückzug geblasen haben.«

»Gut also, geben wir den ›Gaucho‹,« sagte der Direktor.

Und er kündigte ihn an.

Er ahnte nicht den ganzen Ernst dessen, wozu ich ihn veranlaßte, indem ich ihn bat, den »Gaucho« wieder anzusetzen. Er hatte den Wortlaut des Stückes nicht genügend inne, um das zu ermessen. Es gab darin nämlich eine Stelle, wo der Gaucho Esteban zu Don Pablo Zamoral sagt: »Ich werde mich gegen dich der Waffe der Peons und der Gauchos bedienen, Elender, und dich zu meiner Hazienda zurückschleppen, an meinen Sattel gehängt, gleich einem erwürgten Jaguar!« Diesen Satz wollte ich im schmetterndsten Brustton hinausschleudern. Carbonnier dachte nicht an diesen Satz. Sonst hätte er ihn gestrichen oder von Puget eine Änderung verlangt. Und Puget hätte ihm natürlich willfahrt, um aufgeführt zu werden.

Es war Freitag geworden. Man sprach fast allerorten nur von dem Auftritt im Café Arago und von meiner Herausforderung Baculards. Würden wir uns schlagen? Würden wir uns nicht schlagen? Hatte ich recht? Hatte ich unrecht? Die Meinungen waren geteilt. Die einen waren für meinen Lasso, die andern dagegen. Perpignan teilte sich in »Lassisten« und »Antilassisten«. Die Parteien standen einander gegenüber wie um die Zeit der Gemeinderatswahlen. Die »Antilassisten« waren, ich kann das ohne Einbildung sagen, in der Minderzahl. Im allgemeinen fand man das Auftreten dieses Künstlers kühn, der bis auf seine Tränen – die »Tränen des Gaucho« – beschimpft worden war, fand man die Idee des Schauspielers originell, sich auf mexikanische Art schlagen, die Phantasie des Dramas, der Dichtung ins Leben übertragen zu wollen. Auf der Straße waren die Grüße, die mir zuteil wurden, wenn auch nicht zahlreicher, so doch herzlicher. Sie riefen mir »Bravo!« zu, diese Grüße.

Ich hatte übrigens zwei Freunde zu Baculard gesandt: Den alten Touraille, der Heldenväter gab, ein ehemaliger Tambour der Nationalgarde, und einen befreundeten Zollbeamten, der ein furchtloser Bursche war. Baculard hatte ihnen geantwortet, daß mein Vorschlag eines Duells auf Lasso ein vollständig unsinniger sei, daß ich mich der Gefahr aussetze, auf der Straße ebenso ausgepfiffen zu werden wie im Theater. Leere Redensarten! Ich wartete auf die nächste Nummer des »Argus«. Sie erschien. Unter dem Titel »Marionettengastspiel in unsrer Stadt« enthielt sie folgende wenigen Zeilen: »Ein geringfügiger Schauspieler hat, ehe er uns verläßt, was er schon längst hätte tun sollen, in einem Café, welches wir nicht bezeichnen wollen, eine alberne und niedrig-komische Posse aufgeführt. Wir glaubten bisher, daß derlei vulgäre Schaustellungen nur von Taschenspielern veranstaltet werden, die keine Bühne finden, von welcher herab sie ihre Kunststücke zeigen können. Der geringfügige Schauspieler hat wie gewöhnlich keinen Erfolg gehabt.«

Das war eine schwächliche Erwiderung. Man fand sie in der Tat »geringfügig«, um seinen Ausdruck anzuwenden. Touraille sagte zu mir: »Er ist nicht lüstern auf den Lasso!« Und die Grüße auf der Straße wurden noch freundschaftlicher.

Indessen kam der Sonntag heran, und Jeanne Horly sagte zitternd zu mir:

»Sie werden also spielen, Herr Brichanteau?«

»Ja, mein Kind.«

»Sie werden den ›Gaucho‹ spielen?«

»Ja, Kleine.«

»Sie werden vom Lasso sprechen?«

»Notwendigerweise.«

»Ach, welches Unglück!«

Sie war bleich.

»Warum ein Unglück?«

»Wenn er es täte, was er gesagt hat, Herr Brichanteau.«

»Und was hat er gesagt, mein Kind?«

»Daß er Sie zuerst auspfeifen wird und daß er dann auf die Bühne kommen wird, um Sie zu ohrfeigen!«

»Sei's drum. Dann wird der Lasso in Wirksamkeit treten. Du kannst ihm das von mir aus versichern, mein Kind.«

Um die Wahrheit zu sagen und um mich nicht tapferer zu machen als ich bin, ich fürchtete das Auspfeifen und war nicht ganz ruhig in bezug auf die Ohrfeige. Ich konnte den Mann erwürgen, nachdem ich sie bekommen hatte, aber ich konnte sie doch vorher bekommen. Man mag einen Schimpf abwaschen, aber es ist gleichwohl unangenehm, ihn zu erdulden. Ich entwarf meinen Kriegsplan. Wenn er pfeift, so antworte ich mit dieser oder jener Phrase, zum Beispiel: »Das Pfeifen der Viper ist des Pfeifens des Lassos eines ehrenhaften Mannes nicht wert.« Wenn er auf die Bühne und auf mich zukommt, so erfasse ich seine rechte Hand, oder ich fasse ihn am Halse, und dann ,... Aber was immer auch geschah, ich war fest entschlossen, den Gaucho zu spielen und mein Vorhaben, meine Idee des Duells auf Lasso, das, was Baculard eine niedrige Posse nannte, bis ans Ende durchzuführen ,...

»Mein Wille war zur Statue erstarrt!«

Was ein Mensch will, das kann er.

Der Sonntag war da. Ein übervolles Haus. Das kleine Theater von Perpignan ging beinahe aus den Fugen, weil es die Menge der Zuschauer nicht fassen konnte. Ich trete auf. Esteban erscheint erst im zweiten Akt, und der erste Akt war kühl, fast ungeduldig angehört worden. Ich trete also auf und werde mit Bravo empfangen, nicht mit dem Bravo der Claque, mit dem Bravo des Publikums. Man täuscht sich darüber nicht leicht, sie haben nicht den gleichen Klang. Das Bravo der Claque bricht kurz und glatt ab, während das des Hauses lange nachrollt, zwanglos und regellos. Ich spiele meine Szene, die erste, die, worin Esteban Cora seine Lebensgeschichte erzählt – Jeanne Horly gab die Cora –, und während ich spielte, sah ich mich um, ob Baculard im Hause sei. Ich wollte wissen, von welcher Seite der Pfiff ertönen würde, wenn es dazu käme ,... Aber Baculard war nicht da. Der zweite Akt geht zu Ende, man ruft mich, ich sage zum Regisseur:

»Nein, nein, lassen Sie nicht aufziehen, ich erscheine nicht!«

»Aber warum nicht? Sie werden gerufen!«

»Ich will nicht den Anschein erwecken, die Popularität künstlich züchten zu wollen. Nach dem dritten, wenn man mich wieder ruft, ja. Aber nach dem zweiten, nein, das ist zu früh!«

Und trotz aller Bravos, alles Fußstampfens und Klopfens mit den Stöcken blieb der Vorhang unten.

Dem dritten Akt geht eine ziemlich lange Pause voran. J. J. Puget benutzte sie, um mich zu umarmen. Er sagte mir, ich sei großartig gewesen. Übertreibung des Autors. Aber er teilte mir zugleich mit, daß Baculard eben gekommen sei, den Hut herausfordernd auf dem Ohre und den höhnischen Zug um den Mund.

»Gnade Gott dem nächsten Akt!« sagte der arme Puget. »Wie wäre es, wenn Sie die Stelle mit dem Lasso wegließen, mein lieber Brichanteau; was meinen Sie?«

»Was ich meine?«

Ich machte eine Pause, um meiner Antwort größeren Nachdruck zu geben.

»Ich sage, daß ich mir eher die Hand abhacken würde, als die Stelle weglassen. Ich bin nur hier, um sie diesem Menschen ins Gesicht zu schleudern.«

»Auf gut Glück also!« sagte Puget leise. »Aber wenn der ›Argus‹ mein Stück herunterreißt, so ist es Ihre Schuld.«

»Ich nehme alles auf mich,« erwiderte ich.

Ach, dieser dritte Akt! Eine der aufregungs- und erfolgreichsten Stunden meines Lebens! ,... Gleich beim ersten Auftreten erblicke ich Baculard, breitspurig auf dem Balkon sitzend und mit Affektion ein Riesenglas auf mich richtend. Ich hatte geschickt so getan, als sähe ich ihn nicht, und spielte den ganzen ersten Teil des dritten Aktes, als ob der Jules Janin von Rivesaltes nicht da wäre. Wackerer Jules Janin! Ein guter Mann und ein Ehrenmann – und ihn mit diesem Menschen zu vergleichen! ,... Die Zuschauer waren sichtlich an dem Doppelspiele des Gaucho interessiert, an dem dargestellten Stück und an der Art Duell, das zwischen dem Schauspieler auf der Bühne und dem Pamphletisten im Zuschauerraum ausgefochten wurde. Man wußte nicht, worauf man wartete, aber es lag eine Schwüle in der Atmosphäre, wie beim Herannahen eines Gewitters. In seinem Fauteuil zurückgelehnt, die Schultern gegen die Lehne gespreizt, warf Baculard auf mich (ich sah es mit unmerkbaren Seitenblicken) die ironisch mitleidsvollen Blicke, die man etwa einem Hanswurst zuteil werden läßt. Und ich fühlte, ja, ich fühlte magnetisch, daß ein Teil des Hauses fand, daß seine geringschätzige Haltung wohlgelungen sei. Aber ich wartete auf meinen Augenblick.

Er sollte kommen, er kam, mein Augenblick!

Ich hatte Don Pablo Zamoral vor mir, und ich sollte ihm die famose Phrase ins Gesicht werfen. Da wandte ich mich von Cambouscasse, der den Zamoral spielte, ab, schritt an die Rampe vor, so daß ich fast die Lampen berührte, und Baculard fest und gerade ansehend, hochaufgerichtet und mit starker Stimme, schleuderte ich ihm gleich einem Trompetenstoß die rächende Phrase zu, die seit zwei Tagen in meiner Brust grollte:

»Ich werde mich gegen dich der Waffe des Peons und der Gauchos bedienen, Elender, und dich zu meiner Hazienda zurückschleppen, an meinen Sattel gehängt, gleich einem erwürgten Jaguar!«

Ah, welche Wirkung! Welch ein Donnerschlag! Zuerst allgemeine Verblüffung. Alle Blicke auf den gerichtet, den mein Blick suchte und traf. Eine erschreckende Stille. Er bleich und fassungslos; ich mit gebieterisch ausgestrecktem Arm wie Mirabeau, der zu ,... zu ,... Dreux ,... Dreux ,... kurz zum Abgesandten des Königs spricht. Gemeint ist die berühmte historische Szene in der Nationalversammlung vom 23. Juni 1789, wo Mirabeau dem Marquis de Dreux-Brezé, der die Versammlung im Namen Ludwigs XVI. zum Auseinandergehen aufforderte, die Worte zurief: »Sagen Sie Ihrem Herrn, daß wir durch den Willen des Volkes hier sind und daß nur die Gewalt der Bajonette uns von hier vertreiben wird.« Es war die Geburtsstunde der großen Revolution. Anm. d. Übers. Dann plötzlich ein Ausbruch von Beifall, ein Sturm von Bravos, ein Wirbelwind von Zurufen, ein Zyklon des Enthusiasmus!

»Hoch Brichanteau!«

»Bravo, Bravo, Bravo, Brichanteau!«

»Bis! Bis! Bis! Bis!«

Es sind mir schon viele Ovationen in meinem Leben gebracht worden, ich kann sagen unzählige, trotz meines schließlichen Schicksals – aber vielleicht keine, die sich mit dieser vergleichen ließe. Die Menge liebt – in der Kunst wie in der Politik, in der Politik wie in der Kunst – die Kühnen, die Mutigen, die klaren Situationen. Die ganze Kunst des Theaters liegt darin wie die Kunst des Regierens. Was ich tat, war nicht sehr kompliziert; ich hob einen Stein auf und warf ihn mit der Schleuder meiner Artikulation diesem Talmi-Goliath an den Kopf. Der Mann vom »Argus« erhob sich, leichenfahl im Gesichte, streckte den Arm gegen mich aus und rief mir, ich weiß nicht welche Erwiderung zu, die ich nicht hörte, die niemand hören konnte; und unter den donnernden Bravos, die buchstäblich das Haus erschütterten, die nicht aufhören wollten, sich immer wieder erneuerten, zur Manifestation wurden, setzte er sich wieder, oder richtiger, sank er in sich zusammen, zermalmt von den Beifallskundgebungen, die mir galten, mir, dem Rächer.

Der Akt endete mit der Szene zwischen Esteban und Zamoral. Glücklicherweise, denn er hätte nicht weitergespielt werden können. Als der Vorhang gefallen war, rief man mich einmal, zweimal, dreimal, viermal. Es wollte gar kein Ende nehmen. Und ich kam! Vergebens suchte ich Baculard auf dem Platze, den er noch vor wenigen Minuten eingenommen hatte. Er war nicht mehr da. Er war davongeeilt, von Wut erfüllt über das Abenteuer.

Ich machte mich darauf gefaßt, ihn aus den Kulissen hervorkommen zu sehen, und hielt für alle Fälle meinen Lasso bereit. Von Natur sehr gewandt, hatte ich mich gelegentlich meiner Gastspiele in Südamerika von wirklichen Gauchos in dessen Handhabung unterrichten lassen. Baculard wäre gut empfangen worden, ich schwöre es Ihnen, aber Baculard kam nicht. Und die Vorstellung endigte, gleich dem dritten Akt, unter enthusiastischem Applaus. Der arme J. J. Puget war vor Glück so rot wie ein gesottener Krebs.

Man geleitete mich – soll ich sagen im Triumph? – nach Hause. Nun denn, ja, im Triumph! Und diese Kundgebung galt, ich fühlte es deutlich, gleichzeitig dem Künstler und dem mutigen Manne.

Am nächsten Tag empfing ich den Besuch zweier Zeugen Baculards. Sie kamen, um von mir Widerruf oder Genugtuung für den gestrigen Skandal zu verlangen.

»Widerruf, niemals. Genugtuung, sehr gerne,« erwiderte ich. »Aber Herr Baculard kennt meine Waffe.«

»Den Lasso?«

»Den Lasso.«

»Das ist ein Scherz!«

»Nicht im geringsten. Ich schlage mich mit meiner Akrobatenwaffe. Ich schlage mich mit dem Lasso. Wie ich es öffentlich vor einem vollen Hause erklärte, dessen Beifallskundgebung gleich einem Plebiszit für meine Haltung war: ich schlage mich nur auf Lasso. Dies ist mein letztes Wort.«

Perpignan unterhielt sich vortrefflich über diese Lassogeschichte, und Baculard kam dabei nicht am besten weg. Umsonst erklärten seine Zeugen in einem im »Argus« veröffentlichten Protokoll, daß ich die verlangte Genugtuung verweigert hätte; die ganze Stadt war darüber einig, daß ich nichts verweigere, da ich bereit war, mich mit dem mexikanischen Lasso zu schlagen, und einige Offiziere, die früher meinen Einfall als einen vollkommen grotesken erklärt hatten, bekannten schließlich, nachdem sie Baculards Artikel gelesen hatten, daß mein Mittel geistreich sei, und daß ich, in meinem Beruf angegriffen, mich in meiner Weise verteidige und gut verteidige.

Die für Baculard unangenehmen Äußerungen wuchsen lawinenartig an, und alle bisher furchtsamen Feindseligkeiten wagten sich nun gegen den Schreckensmann hervor, nachdem er einmal getroffen war. Er hatte verlauten lassen, daß er mir eine Züchtigung würde zu teil werden lassen, wenn er mich träfe. Aber da er wußte, daß ich mit ganz besonderer Konsequenz stets meinen Lasso bei mir trug, nahm er sich nicht Mühe, mich zu treffen. Und allmählich wurde er, der einst so Gefürchtete, lächerlich. Man sang Spottlieder über ihn, man sandte ihm, um ihn zu ärgern, kleine Lassos in Briefen ein. Die Straßenjungen riefen ihm nach: »Wo hast du deinen Lasso, Baculard?« Ein wandernder Zirkus kündigte – das war der Gnadenstoß! – »Vorstellung im Lassowerfen« an und fand riesigen Zulauf. Ein gepuderter Clown wurde darin von einem Stallmeister an einem um den Hals geschlungenen Lasso rings um die Manege geschleift, und dieser Clown, dessen Name John Lee war, wurde Baculard getauft.

Baculard wurde schließlich darüber so wütend und fühlte sich in Perpignan so gedemütigt, vernichtet und entwurzelt, daß er mit einem Male ein Ende machte: er ging plötzlich nach Paris, früher, als er es beabsichtigt hatte! ,... Ich wurde am darauffolgenden Tage, als ich in »Gaspardo der Fischer« auftrat, mit um so stärkerem Beifall überschüttet. Alle Welt war befriedigt, wie meine Ehre.

»Uff!« sagte der Direktor zu mir. »Nun brauche ich mich wenigstens nicht mehr vor den Bosheiten und Bissigkeiten des ›Argus‹ zu fürchten!«

Ich wollte ihm nicht sagen: »Seien Sie ohne Sorge, es werden andre kommen.«

Nur die kleine Horly hatte rote Augen.

»Er hatte mir versprochen,« sagte sie, »meine Zukunft sicherzustellen.«

Auch ihr hätte ich gerne erwidert: »Sei ohne Sorge, es werden andre kommen!«

Ich hätte mich geirrt, das arme Mädchen hatte keine Zukunft. Vielleicht hat sie den Versprechungen zu vieler aufeinanderfolgender Baculards getraut. Ich sah sie diesen Winter wieder. Sie ist Logenschließerin im Déjazet-Theater. Nicht sehr alt, nein, aber gealtert, ach, gealtert! Und beabsichtigt, ihren Sohn, der fast erwachsen ist, ins Konservatorium zu schicken. Ja, du lieber Gott, wenn einem das Theater im Blute steckt! Ich bedaure ihn, den kleinen Horly – und bewundere ihn!

Und was Baculard betrifft, so fährt er fort, sich auffällig zu machen, brutal zu sein, hochnäsig zu sein, herunterzureißen, und er hat sich, ich weiß nicht ob an der Börse oder am Spieltisch, ein Vermögen gemacht. Er ist elegant, er ist Weltmann. Er lebt gut und wird feist sterben. Und ich, der ich nichts mehr bin, sage mir oft, wenn ich an ihn denke, der etwas ist, ob auch nicht viel: »Ohne den Lasso wäre er vielleicht gar dort in Perpignan geblieben, der Jules Janin von Rivesaltes! ,... Ich, Brichanteau, ich bin es, dem Paris ihn verdankt!«

*


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