Raphael Kühner
Cicero's drei Bücher von den Pflichten
Raphael Kühner

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XI. Aber auch gegen die, von denen man Unrecht erlitten hat, muß man gewisse Pflichten beobachten. Denn es findet bei der Wiedervergeltung und Bestrafung des Unrechtes ein Maß statt, und es dürfte vielleicht genügen, wenn der Beleidiger über sein Unrecht Reue empfindet. So wird er selbst für die Zukunft Aehnliches sich nicht erlauben, und Andere werden weniger Lust zu Unrecht verspüren.

34. Fremden Staaten gegenüber müssen insbesondere die Rechte des Krieges beobachtet werden. Es gibt nämlich zwei Wege einen Streit zu entscheiden, den einen durch Rechtserörterung, den anderen durch Anwendung von Gewalt; jener ist dem Menschen, dieser den Thieren eigen. Zu dem letzteren dürfen wir daher nur dann unsere Zuflucht nehmen, wenn es uns nicht erlaubt ist den ersteren anzuwenden. 35. Deßhalb müssen zwar Kriege unternommen werden in der Absicht, daß man gesichert vor Unrecht im Frieden leben könne; sobald man aber den Sieg errungen hat, muß man für die Erhaltung derer sorgen, welche im Kriege keine Grausamkeit, keine Rohheit ausgeübt haben. So ertheilten unsere Vorfahren den Tusculanern, Aequern, Volscern, Sabinern, HernikernDie Tusc., Aeq., V., Sab. und Hern. waren Völkerschaften in oder bei Latium. Die Tusculaner erhielten 380 v. Chr., die Volscer 303, die Sabiner 290, die Hernicer 306 das Bürgerrecht. Vgl. Cicer. pro Balbo cap. 13. Liv. VI. 25, 33. VIII. 14. Ueber die Aequer berichtet Livius IX. 43: nomen Aequorum prope ad internecionem deletum. sogar das Bürgerrecht; Karthago hingegen und NumantiaKarthago wurde von Scipio Africanus, dem Jüngeren, 146 v. Chr. und Numantia, Hauptstadt der Celtiberier in Spanien, von demselben 133 erobert und zerstört. zerstörten sie von Grund aus. Ich wünschte, sie hätten KorinthKorinth wurde 146 v. Chr. von Mummius erobert und zerstört. verschont; allein ich glaube, sie hatten wol einen guten Grund dazu, besonders die günstige Lage der Stadt, da sie fürchteten, schon die örtliche Beschaffenheit derselben möchte einmal wieder zum Kriege auffordern. Nach meiner Ansicht sollte man stäts auf Frieden bedacht sein, wenn man dabei keine Hinterlist zu befürchten hat. Hätte man in dieser Beziehung auf meinen Rath gehörtCicero bemühte sich beim Ausbruche des zweiten Bürgerkrieges in Rom auf das Angelegentlichste zwischen Cäsar und Pompejus eine Aussöhnung zu bewirken. Vgl. Cicer. pro Dejotaro 10, 29: Quom ... exercitu amisso ego, qui pacis auctor semper fui, post Pharsalicum proelium suasor essem armorum non deponendorum, sed abiciendorum, und so viele Stellen in seinen Briefen, in denen er auch die Pompejaner wegen ihrer Hartnäckigkeit und Abneigung gegen den Frieden tadelt., so würden wir, wenn auch nicht die beste, doch irgend eine Staatsverfassung haben, während jetzt gar keine mehr vorhanden ist.

Wenn man nun für diejenigen Sorge tragen soll, welche man durch die Gewalt der Waffen besiegt hat; so ist es noch weit mehr Pflicht diejenigen in Schutz zu nehmen, welche nach Niederlegung der Waffen zur Gnade des Feldherrn ihre Zuflucht nehmen, mag auch schon der Sturmbock ihre Mauern erschüttert habenZ. B. die Marceller waren Schirmherren der Siculer, die Fabier der Allobrogen, Aemilius Paullus der Macedonier, Marcus Cato der Cyprier, Fabricius der Samniten, Scipio der Africaner.. In diesem Punkte wurde bei unseren Landsleuten die Gerechtigkeit so streng geübt, daß diejenigen, welche besiegte Städte oder Völker in ihren Schutz aufgenommen hatten, nach der Sitte unserer Vorfahren ihre Schirmherrn wurdenDie Fetialen waren ein Kollegium von zwanzig Priestern, von Numa Pompilius gestiftet, deren Amt war unter gewissen Ceremonien den Feinden den Krieg anzukündigen, den Frieden zu schließen u. dgl. Die Sammlung der hierbei beobachteten Grundsätze und Ceremonien hieß das Fetialrecht..

36. Was die Billigkeit im Kriege anlangt, so finden sich über dieselbe in dem FetialrechtNach dem Römischen Kriegsrechte konnten die Belagerten, sobald die Kriegsmaschinen gegen die Mauern der Stadt angewendet waren, keine Ansprüche mehr auf Schutz machen, sondern mußten sich dem Feldherrn auf Gnade und Ungnade ergeben. Caesar. B. G. II. 32: se magis consuetudine sua quam merito eorum (Aduatucorum) civitatem conservaturum, si prius, quam murum aries attigisset, se dedidissent. des Römischen Volkes die gewissenhaftesten Verordnungen niedergeschrieben. Man kann hieraus ersehen, daß kein Krieg gerecht ist, wenn er nicht nach vorher geforderter Genugthuung geführt wird oder vorher angekündigt und angesagt worden ist. PopiliusPopilius Länas, 173 v. Chr. Consul, führte in Ligurien Krieg. Der hier erwähnte junge Cato ist der Sohn des berühmten Cato Censorius (s. zu I. 23, 79). Unger hält die ganze Stelle: Popilius imperator teneb. bis jure cum hostibus pugnare non poterat für unächt, theils wegen falscher historischer Angabe, wie daß Cato unter einem Popilius gedient habe, daß im Ligurischen oder Macedonischen Kriege von Popilius eine Legion entlassen sei, theils wegen Dürftigkeit des Ausdrucks und Fehler gegen die Grammatik patitur und obligat statt pateretur und obligaret). Nach Weglassung der angegebenen Stelle schließen sich die Worte: Adeo – movendo passend an das Vorhergehende an: Ex quo – indictum. Andere Herausgeber, z. B. Beier, halten den folgenden Brief des Cato für unächt. S. Beier's XII Exkurs. hatte den Oberbefehl in einer Provinz, und in seinem Heere that der junge Cato seine ersten Kriegsdienste. Da es nun Popilius für gut hielt Eine Legion zu entlassen, entließ er auch den jungen Cato, der gerade in dieser Legion diente. Aus Vorliebe für den Krieg aber blieb dieser bei dem Heere zurück, und sein Vater schrieb daher an den Popilius, er möchte, wenn er seinem Sohne beim Heere zu bleiben gestatten wollte, ihn durch einen zweiten Fahneneid in Pflicht nehmen; denn nach Verlust des vorigen Rechtes Kriegsdienste zu thun durfte er nicht mit dem Feinde kämpfen.

37. Bis zu diesem Grade wurde bei kriegerischen Unternehmungen die größte Gewissenhaftigkeit beobachtet. Der Brief des älteren Cato an seinen Sohn, als dieser in Macedonien in dem Kriege gegen Perses diente, ist noch vorhandenPlutarch Quaest. Rom. 39: Διὰ τί τοι̃ς μὴ στρατευομένος μέν, εν στρατοπέδω δὲ άλλως αναστρεφομένοις ουκ εξη̃ν άνδρα βαλει̃ν πολέμον ουδὲ τρω̃σαι, καὶ του̃το Κάτων ο πρεσβύτης εν επιστολη̃ τινι δεδήλωκε, γράφων πρὸς τὸν υιὸν καὶ κελεύων, ει παρεθείη τη̃ς στρατείας, αποπληρώσας τὸν χρόνον, υποστρέφειν ὴ προσμένοντα λαβει̃ν παρὰ του̃ στρατηγου̃ τὸ εξει̃ναι τρω̃σαι καὶ ανελει̃ν πολέμιον· ότι τὴν ανάγκην μόνην εξουσίαν ει̃ναι δει̃ του̃ ανελει̃ν άνθρωπον. ‘Ο δὲ άνευ νόμου καὶ προστάγματος του̃το ποιω̃ν ανδροφόνος εστίν. Ueber Cato den Aelteren (s. zu I. 23, 79. Anmerk. 176)., worin er schreibt, er habe gehört, daß er vom Consul verabschiedet worden sei. Er ermahnt ihn sich in Acht zu nehmen und sich in kein Gefecht mit dem Feinde einzulassen; denn wer nicht Soldat sei, der habe, behauptet er, kein Recht mit dem Feinde zu kämpfen.

XII. Ich bemerke hierbei noch Folgendes. Dadurch, daß man einen Feind des Vaterlandes, der eigentlich perduellis heißen müßte, hostis nannte, hat man das Gehässige des Begriffes durch einen gelinden Ausdruck zu mildern gesucht. Hostis nämlich hieß bei unseren Vorfahren der, den wir jetzt einen Fremdenperegrinum. Uebrigens ist es offenbar richtiger gerade das Gegentheil von Cicero's und Varro's (de L. L. IV. princ.) Ansicht in Betreff des Wortes hostis anzunehmen. Der Fremde nämlich wurde in den alten und rohen Zeiten als ein Feind angesehen, wie bei Homer αλλότριος φω̃ς in der Bedeutung von πολέμος gebraucht wurde. Erst später, als die Römer mit fremden Völkern in Berührung kamen und Bündnisse mit ihnen abschlossen, nahm man das Wort peregrini für Fremde auf. Vgl. Beier's XIII Exkurs. nennen. Das zeigen die zwölf TafelgesetzeDie ältesten geschriebenen Gesetze der Römer, in zwölf eherne Tafeln eingegraben, von den Decemvirn festgestellt (450 und 449 v. Chr.). an, zum Beispiel in der Stelle: »Der mit einem hostis festgesetzte Gerichtstag«Status dies cum hoste. Festus p. 194: Status dies vocatur qui judicii causa est constitutus cum hoste, also der bestimmte Tag, wo man in einer Rechtssache mit einem Fremden vor Gericht erscheinen mußte., desgleichen in der Stelle: »Einem hostis gegenüber hat das Eigentumsrecht ewige Geltung«Adversus hostem aeterna auctoritas. Auctoritas heißt hier Eigentumsrecht. Ein Römischer Bürger behält einem Fremden gegenüber für immer das Recht an seinem Besitzthume, so daß dieses nie durch Verjährung Eigentum eines Fremden werden kann.. Läßt sich wol eine größere Milde denken, als daß man den, gegen welchen man Krieg führt, mit einem so gelinden Namen benennt? Doch hat die Länge der Zeit diesem Worte schon eine härtere Bedeutung verliehen. Denn die Bedeutung des Fremden ist in den Hintergrund getreten, und das Wort ist für den verblieben, der die Waffen gegen uns trägt.

38. Was nun die Kriege anlangt, in denen man um die Oberherrschaft streitet und nach Ruhm strebt; so müssen doch im Allgemeinen ebendieselben Beweggründe vorhanden sein, welche ich kurz zuvor als die rechtmäßigen Beweggründe für einen Krieg anführte. Doch muß man diese Kriege, welche den Ruhm der Oberherrschaft zum Zwecke haben, mit weniger Erbitterung führen. Sowie wir bei bürgerlichen Streitigkeiten anders verfahren, wenn der Gegner unser persönlicher Feind, anders, wenn er unser Mitbewerber ist, indem wir mit dem letzteren um Ehre und Würde, mit dem ersteren um Leben und guten Ruf kämpfen: so wurde mit den CeltiberenDie Celtiberen waren ein Volksstamm in Spanien, mit dem die Römer von 200–133 Krieg führten. Namentlich sind die Numantiner gemeint. und mit den CimbernDie Cimbern, eine Germanische Völkerschaft aus Jütland, Schleswig, Holstein, wurden 101 v. Chr. von Marius und Catulus geschlagen. wie mit unseren persönlichen Feinden um das Bestehen einer der beiden Parteien und nicht um die Oberherrschaft Krieg geführt, mit den Latinern hingegen, den Sabinern, Samniten, Puniern und dem PyrrhusPyrrhus, König von Epirus, führte von 282–276 v. Chr. mit den Römern Krieg. um die Oberherrschaft gekämpft. Die Punier waren bundbrüchig, Hannibal grausamDie Worte: »Die Punier w. b., Hannibal gr.« geben den Grund an, warum die Kriege gegen die Punier von den Römern mit so großer Härte geführt seien, obwol sie Kriege um die Oberherrschaft waren, die mit geringerer Bitterkeit geführt werden sollen., die Uebrigen gerechter. Von Pyrrhus wenigstens sind die vortrefflichen Worte über die Auslieferung der Gefangenen bekanntDie folgenden Verse sind aus Ennius' fünftem Buche der Annalen (s. oben zu Kap. 8, §. 26). Pyrrhus sagt diese Worte dem Gajus Fabricius, der von den Römern abgeschickt war, um die Römischen Gefangenen für Geld loszukaufen.:

Weder verlang' ich Gold, noch Lösgeld sollt ihr mir geben.
Fern sei Wucher von unsNec cauponantes bellum, d. h. nicht Wucher treibend mit dem Kriege, wie bei Aeschyl. Sept. 545 sq.: ελθὼν δ' έοικεν ου καπηλεύσειν μάχην., wir streiten in offener Feldschlacht,
Nicht Gold, sondern das Schwert entscheide den Kampf um das Leben.
Wen von uns beiden zum Herrscher bestimme das waltende Schicksal,
Laßt uns versuchen durch Tapferkeit. Auch vernehmet das Wort noch:
Traun, fest hab' ich beschlossen zu schonen der Tapferen Freiheit,
Deren Leben das Schicksal im Kriege zu schonen gewillt ist.
Und so geb' ich sie euch zum Geschenke. Den Göttern gefall' es.

Ein königliches Wort fürwahr und würdig des AeakidenAeakus, Jupiter's Sohn, König von Aegina, einer Insel im Saronischen Meerbusen zwischen Attika und Argolis, war Vater des Peleus, Großvater des Achilles, also Urgroßvater des Pyrrhus (Neoptolemos), der ein Sohn des Achilles und Stifter des Epirotischen Königreiches war. Geschlechtes.

XIII. 39. Auch selbst in dem Falle, wenn Einzelne, durch Zeitumstände genöthigt, dem Feinde ein Versprechen gegeben haben, müssen sie ihr Wort halten. Zum Beispiel im ersten Punischen Kriege wurde RegulusAusführlicher wird dasselbe Beispiel III. 26 und 27 erwähnt. von den Puniern, in deren Gefangenschaft er gerathen war, wegen Auswechselung der Gefangenen nach Rom geschickt; zuvor aber hatte er einen Eid geleistet, daß er wieder zurückkehren wolle. Nach seiner Ankunft sprach er sich erstens im Senate gegen die Zurückgabe der Gefangenen aus; sodann, als Verwandte und Freunde ihn zurückhalten wollten, zog er es vor zurückzukehren und sich dem Tode zu überliefern als dem Feinde sein gegebenes Wort zu brechen. 40Den ganzen vierzigsten Paragraphen halten die meisten Herausgeber für eingeschoben. Ein Hauptgrund für die Unächtheit der Stelle liegt darin, daß dieselbe in den meisten, und zwar in allen guten Handschriften weggelassen ist. Daß III. 32. die Sache nach Polybios anders erzählt wird, ist ganz unerheblich. Auch was man in sprachlicher Hinsicht als Cicero's unwürdig angeführt hat, hat wenig Bedeutung. Mit großer Ausführlichkeit hat sich Beier in dem XIV. Exkurs über diese Stelle ausgesprochen.. Im zweiten Punischen Kriege nach der Schlacht bei Cannä schickte Hannibal zehn Gefangene nach Rom, die sich eidlich zur Rückkehr verpflichtet hatten, wenn sie nicht die Auswechselung der Gefangenen zu Stande brächten. Diese versetzten die Censoren sämmtlich, da sie ihren Eid gebrochen hatten, auf Lebenszeit in die Klasse der AerarierAerarier hießen die Bürger der untersten Klasse in Rom., und ebenso den, der sich durch betrügerische Umgehung seines Eides strafwürdig gemacht hatte. Dieser nämlich ging mit Erlaubniß Hannibal's aus dem Lager, kehrte aber bald darauf wieder um, indem er erklärte, er habe Etwas vergessen. Darauf ging er wieder aus dem Lager heraus und glaubte so seines Eides entbunden zu sein; und den Worten nach war er es, nicht aber der Sache nach. Zu jeder Zeit aber muß man, wenn es sich um ein Versprechen handelt, bedenken, was der Sinn der Worte sein soll, nicht was die Worte bedeuten können. Das größte Beispiel von Gerechtigkeit gegen einen Feind haben unsere Vorfahren aufgestellt, als ein UeberläuferVgl. III. 22. von Pyrrhus dem Senate versprach, er wolle dem Könige Gift geben und ihn tödten. Der Senat und Gajus Fabricius lieferten den Ueberläufer dem Pyrrhus aus. So verwarfen sie es selbst einen mächtigen und sie von freien Stücken bekriegenden Feind auf frevelhafte Weise umzubringen.

41. So viel genüge von den Pflichten im Kriege.

Wir müssen uns aber auch daran erinnern, daß man auch gegen die niedrigsten Menschen Gerechtigkeit beobachten muß. Der niedrigste Stand und das niedrigste Loos ist das der Sklaven. In Betreff dieser geben diejenigen keine üble Vorschrift, welche sagen, man müsse sie wie Tagelöhner behandeln: Dienstleistungen solle man von ihnen fordern, dagegen ihnen das gewähren, was Recht und Billigkeit verlangt.

Man kann übrigens auf zweierlei Weise Unrecht thun, nämlich durch Gewalt oder durch List. Die List scheint das Wesen eines Fuchses zu sein, die Gewalt das eines Löwen; beides ist des Menschen ganz unwürdig; die List jedoch verdient noch mehr Abscheu. Im ganzen Bereiche der Ungerechtigkeit aber gibt es nichts Abscheulicheres, als wenn man gerade dann den Schein eines ehrlichen Mannes anzulegen sucht, wenn man einen Betrug ausübt.

So viel genüge von der Gerechtigkeit.

XIV. 42. Demnächst soll nach der von uns gemachten EintheilungS. Kap. 7, §. 20. von der Wohlthätigkeit und von der Freigebigkeit gesprochen werden, die zwar unter allen Tugenden der menschlichen Natur am Angemessensten sind, aber gar manche Vorsichtsmaßregeln erheischen. Man muß nämlich hierbei erstens darauf sehen, daß die Güte nicht schade weder denen, welchen dem Anscheine nach etwas Gutes erwiesen werden soll, noch auch den Anderen; zweitens, daß die Güte nicht unsere Mittel übersteige; drittens, daß Jedem nach Verdienst Gutes erwiesen werde. Denn das ist der Grundbegriff der Gerechtigkeit, auf den die genannten Rücksichten bezogen werden müssen. Denn wer einem Anderen eine Gefälligkeit erweist, welche dem schadet, dem er anscheinend nützen will, der ist nicht für wohlthätig, auch nicht für freigebig, sondern für einen verderblichen Schmeichler zu halten, und wer dem Einen schadet, um gegen einen Anderen freigebig zu sein, ist ebenso ungerecht, als wenn er fremdes Eigentum zu seinem Vortheile verwendete. 43. Es gibt aber viele, namentlich nach Glanz und Ruhm gierige Menschen, die dem Einen das Seinige entreißen, um es an einen Anderen zu verschenken, und diese wähnen, sie würden für Wohlthäter ihrer Freunde gelten, wenn sie dieselben auf jede mögliche Weise bereicherten. Ein solches Benehmen entfernt sich so weit von der Pflicht, daß Nichts mehr der Pflicht entgegengesetzt werden kann. Wir müssen daher dafür sorgen, daß wir eine Freigebigkeit üben, welche unseren Freunden nützt und Niemandem schadet. Aus diesem Grunde darf bei Lucius Sulla und Gajus CäsarSulla und Cäsar suchten ihre Anhänger durch große Schenkungen zu bereichern. Man denke nur an die abscheulichen Proscriptionen des Sulla, die zu diesem Zwecke zum Theil vorgenommen wurden. Vgl. B. II. Kap. 8. Beier führt passend Cato's Worte bei Sallust. Catil. c. 52. an: Jam pridem equidem nos vera rerum vocabula amisimus, quia bona aliena largiri liberalitas vocatur. von keiner Freigebigkeit die Rede sein, wenn sie von rechtmäßigen Besitzern ihr Vermögen auf Fremde übertrugen. Denn keine Handlung verdient den Namen der Freigebigkeit, wenn sie nicht zugleich gerecht ist.

44. Die zweite Vorsichtsmaßregel war die, daß die Güte nicht unsere Mittel übersteige. Denn wer freigebiger sein will, als seine Umstände erlauben, begeht erstens darin einen Fehler, daß er gegen seine nächsten Angehörigen widerrechtlich handelt. Das Vermögen, das billigerweise diesen vielmehr hätte gegeben und hinterlassen werden sollen, überträgt er auf Fremde. Auch liegt gemeiniglich in einer solchen Freigebigkeit die Begierde Anderen das Ihrige zu rauben und auf unrechtmäßige Weise zu entwenden, um Hülfsquellen zu Schenkungen zu gewinnen. Auch kann man die Bemerkung machen, daß gar Viele, welche nicht von Natur freigebig sind, sondern aus einem gewissen Ehrgeize, um den Ruf der Wohlthätigkeit zu erhalten, Vieles thun, was offenbar mehr in Prahlsucht als in einer wohlwollenden Gesinnung seinen Grund hat. Eine solche Verstellung aber ist der Eitelkeit näher verwandt als der Freigebigkeit und sittlichen Güte.

45. Als dritte Vorsichtsmaßregel stellten wir auf, daß man bei der Wohlthätigkeit eine Auswahl nach dem Verdienste treffe. Hierbei muß man den Charakter dessen berücksichtigen, dem man eine Wohlthat erweisen will, seine Gesinnung gegen uns, die Gemeinschaft und gesellige Verbindung, in der wir zu ihm stehen, und die nützlichen Dienste, die er uns früher geleistet hat. Daß diese Rücksichten sämmtlich zusammenträfen, wäre wünschenswerth; wenn dieß aber nicht der Fall ist, so muß die Mehrzahl und die größere Wichtigkeit der Rücksichten den Ausschlag geben.

XV. 46. Weil man nun aber nicht unter vollkommenen und durchaus weisen Menschen lebt, sondern unter solchen, bei welchen man zufrieden sein kann, wenn sie nur ein der Tugend ähnliches Bild in sich tragen: so muß man, meines Erachtens, die Einsicht haben, daß man überhaupt Niemanden vernachlässigen darf, in dem eine Spur der Tugend ersichtlich ist, daß man aber einen mit um so größerer Achtung behandeln muß, je mehr ihn die sanfteren Tugenden schmücken, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung und ebendiese Gerechtigkeit, von der ich schon so viel gesprochen habe. Denn ein tapferer und hochstrebender Geist zeigt sich bei einem nicht vollkommenen und nicht weisen Manne gemeiniglich allzu aufbrausend, während jene Tugenden mit einem guten Manne vielmehr in Berührung zu stehen scheinen. Dieses ist in Betreff des Charakters zu beachten.

47. Was nun aber das Wohlwollen anlangt, das man uns schenken soll; so ist es die erste Vorschrift der Pflicht, daß man dem die größte Aufmerksamkeit erweise, der uns mit der größten Achtung behandelt. Jedoch dürfen wir das Wohlwollen nicht, wie junge Leute thun, nach einer leidenschaftlichen Liebe, sondern nach ihrer Festigkeit und Beständigkeit beurtheilen. Sind aber schon Verdienste um uns vorhanden, so daß wir uns nicht Dank erst zu erwerben, sondern Dank zu erwidern haben; alsdann müssen wir größere Sorgfalt anwenden. Denn keine Pflicht ist dringender als die der Dankbarkeit. 48. Wenn man nach Hesiodos'Hesiodos, ein Griechischer Dichter aus Kyme in Aeolis, lebte zu Askra in Böotien um 800 v. Chr. Die hier angeführte Stelle ist. Hesiod. ’Έργ. καὶ ημέρ. 349 ff.:

Ευ̃ μὲν μετρει̃σθαι παρὰ γείτονος, ευ̃ δ' αποδου̃ναι
Αυτω̃ τω̃ μέτρω καὶ λώïον, αί κε δύνηαι.

Cicer. Brut. c. 4. drückt denselben Gedanken so aus. Illud Hesiodium laudatur a doctis, quod eadem mensura reddere jubet, quae acceperis, aut etiam cumulatiore, si possis.

Vorschrift das zum Gebrauche von Anderen Erhaltene, wo möglich, in reichlicherem Maße zurückgeben soll; was sollen wir erst dann thun, wenn wir uns durch eine empfangene Wohlthat dazu aufgefordert sehen? Sollen wir es nicht fruchtbaren Aeckern gleich thun, die ungleich mehr ertragen, als sie empfangen haben? Denn wenn wir keinen Anstand nehmen denen Dienste zu erweisen, von welchen wir Nutzen zu ziehen hoffen; wie müssen wir erst gegen die gesinnt sein, welche uns schon genützt haben?

Es gibt nämlich zwei Arten von Freigebigkeit, die eine Wohlthaten zu erweisen, die andere sie zu erwidern. Ob wir Wohlthaten erweisen wollen oder nicht, steht in unserer Gewalt; aber sie nicht zu erwidern ist einem braven Manne nicht erlaubt, wenn er es ohne Unrecht thun kann.

49. Indeß muß man zwischen empfangenen Wohlthaten eine Auswahl treffen, und es leidet keinen Zweifel, daß man der größten Wohlthat auch den größten Dank schuldet. Hierbei ist jedoch insbesondere zu erwägen, mit welcher Gesinnung, mit welcher Zuneigung und mit welchem Wohlwollen zu uns Einer gehandelt hat. Denn Viele thun Vieles auf's Gerathewohl, ohne Beurtheilung, entweder aus einer krankhaften Neigungmorbo. Mit Unrecht hat man an diesem Ausdrucke Anstoß genommen und dafür das durchaus matte modo gesetzt. Die krankhafte Neigung zur Freigebigkeit wird ganz richtig im Sinne der Stoiker morbus, Krankheit, genannt. Der plötzliche Gemüthsdrang zur Freigebigkeit (repentinus impetus animi) ist eine Leidenschaft (perturbatio animi), die bleibende Neigung zur Freigebigkeit ist eine Krankheit (morbus). Ueber den Unterschied zwischen perturbatio animi, morbus und aegrotatio vergl. Ciceron. Tuscul. IV, cap. 12 und 13. für Alle oder durch eine plötzliche Aufwallung des Gemüthes, wie durch einen Windstoß, getrieben. Solche Wohlthaten darf man nicht für ebenso hoch anschlagen als die mit Beurtheilung und Ueberlegung und nach festen Grundsätzen erwiesenen.

Uebrigens sowol bei Erweisung von Wohlthaten als bei Erwiderung derselben verlangt, wenn sonst die Verhältnisse gleich sind, die Pflicht insbesondere, daß wir dem allermeist helfen, welcher der Hülfe am Meisten bedarf. Freilich geschieht gemeiniglich das Gegentheil; denn man erweist dem vorzüglich Dienste, von dem man das Meiste hofft, auch wenn er derselben nicht bedarf.

XVI. 50. Am Besten wird aber die gesellige Verbindung der Menschen bewahrt werden, wenn wir Anderen um so viel mehr Güte erweisen, je mehr sie mit uns in Verbindung stehen. Ich glaube hier etwas weiter ausholen und erklären zu müssen, welches die natürlichen Grnndlagen der menschlichen Gemeinschaft und Gesellschaft sind. Die erste nämlich ist die, welche sich in der Gesellschaft des ganzen Menschengeschlechtes zeigt. Ihr Band ist Vernunft und Sprache, die durch Lehren, Lernen, Mittheilen, Erörtern und Urtheilen die Menschen unter einander verbinden und zu einer natürlichen Gesellschaft vereinen. Durch Nichts unterscheiden wir uns mehr von dem Wesen der Thiere. Von ihnen sagen wir zwar oft auch, daß sie Tapferkeit besitzen, wie zum Beispiel von den Pferden und Löwen; niemals aber, daß sie Gerechtigkeit, Billigkeit und Güte besitzen. Denn sie sind der Vernunft und Sprache untheilhaftig.

51. Diese gesellige Verbindung der Menschen unter einander, und zwar aller mit allen, ist die, welche die weiteste Ausdehnung hat. In ihr muß an Allem, was die Natur zum gemeinsamen Gebrauche der Menschen hervorgebracht hat, ein gemeinschaftlicher Antheil stattfinden, mit der Einschränkung jedoch, daß das, was durch die Gesetze und das bürgerliche Recht Sondergut geworden ist, so im Besitze bleibe, wie es gerade durch die Gesetze bestimmt istDie Lesart der Handschriften ist: haec ita teneantur, ut sit constitutum: e quibus ipsis cetera sic observentur etc., die man so erklärt: e quibus ipsis sc. legibus = secundum quas leges ipsas cetera sic obs. Allein in dieser Erklärung liegt ein Widerspruch; denn offenbar wird von Cicero der Gegensatz gemacht zwischen quae descipta sunt legibus und cetera, d. h. solchen Dingen, welche nicht descripta sunt legibus. Also kann von den letzteren auch nicht gesagt werden: sie sollen nach den Gesetzen angesehen werden. Ich habe daher nach der scharfsinnigen Muthmaßung des Gulielmius: ut sit constitutum legibus ipsis, cetera sic observentur übersetzt.; das Uebrige dagegen möge so angesehen werden, wie es in einem Griechischen Sprüchworte heißt: Unter Freunden ist Alles gemeinsamIm Griechischen: κοινὰ τὰ τω̃ν φίλων. Vgl. Platon. Legg. V. p. 739, C. mit Aristotel. Pol. II, cap. 3.. Gemeingut der Menschen, glaub' ich, ist Alles, was zu der Klasse von Dingen gehört, die EnniusUeber Ennius s. zu I. 8, 26. bei Einem Falle anführt, die aber auf sehr viele andere Fälle anwendbar ist:

Der Mensch, der Irrenden den Weg gefällig zeigt,
Thut so, als zünd' an seinem Licht er fremdes an;
Nicht minder leuchtet's ihm, wenn auch das andre brennt.

Aus diesem einen Beispiele erhellt hinlänglich die Lehre: Alles, was ohne Nachtheil gewährt werden kann, soll man selbst einem Unbekannten ertheilen. 52. Daher jene allgemeinen Vorschriften: »Wehre Niemandem das vorbeifließende Wasser«, »Erlaube Jedem, der will, Feuer von deinem Feuer zu nehmen«, »Ertheile dem sich Berathenden treuen Rath«: lauter Dinge, die dem Empfänger nützlich und dem Geber nicht beschwerlich sind. Sowie uns nun der Gebrauch von diesen Dingen gestattet ist, so müssen wir auch unsererseits immer Etwas von dergleichen Dingen zum gemeinsamen Nutzen beitragen. Aber weil die Mittel des Einzelnen klein sind, die Menge der Bedürftigen dagegen unendlich groß ist; so muß man die allumfassende Freigebigkeit auf jenes Maß des Ennius beschränken: »Nicht minder leuchtet's ihm,« damit uns noch Vermögen bleibe gegen die Unserigen freigebig zu sein.

XVII. 53. Es gibt aber mehrere Stufen in der menschlichen Gesellschaft. Denn abgesehen von jener allgemeinen findet eine nähere zwischen den Menschen statt, die demselben Volke, demselben Stamme und derselben Sprache angehören. Die letztere ist ein ganz vorzügliches Mittel zur Verbindung der Menschen unter einander. Ein noch innigeres Verhältniß findet zwischen Menschen statt, die derselben Bürgerschaft angehören. Denn Bürger haben Vieles mit einander gemeinsam: den Markt, die Heiligtümer, die öffentlichen Säulenhallen, die Straßen, die Gesetze, Rechte, Gerichte, das Stimmrecht, außerdem Verbindungen durch Umgang und Freundschaft und andere Verhältnisse und Beziehungen, in denen Viele mit Vielen stehen.

Noch enger ist die Verbindung, die zwischen Anverwandten stattfindet. Denn diese schließt sich aus jener unermeßlichen Gesellschaft des Menschengeschlechts in einen kleinen und engen Kreis zusammen. 54. Da alle lebenden Geschöpfe einen natürlichen Trieb zur Fortpflanzung in sich fühlen, so besteht die erste gesellige Verbindung eben in der Ehe, die nächste in den Kindern; und so bildet sich Ein Haus, in dem Alles gemeinsam ist. Das ist die Grundlage der Stadt und gleichsam die Pflanzschule des Staates. Es folgen die Verbindungen zwischen Geschwistern, sodann die zwischen Geschwisterkindern und deren Kindern. Da nun diese Ein Haus nicht mehr fassen kann, so ziehen sie in andere Häuser, wie in Ansiedelungen, aus. Es folgen Verheirathungen und Verschwägerungen und daraus neue Verwandtschaften. Diese Verzweigung und dieser Nachwuchs ist der Ursprung der Staaten. Die Blutsverwandtschaft aber fesselt die Menschen durch Wohlwollen und Liebe. 55. Denn es ist etwas Bedeutendes dieselben Denkmäler der Vorfahren zu haben, sich derselben Gottesdienste zu bedienen und gemeinsame Begräbnißstätten zu besitzen.

Doch unter allen geselligen Verbindungen ist keine vorzüglicher, keine fester, als wenn brave, an Charakter ähnliche Männer durch vertrauten Umgang mit einander verbunden sind. Denn jenes Sittlichgute, das wir so oft erwähnten, macht, auch wenn wir es an einem Anderen bemerken, doch einen Eindruck auf uns und stimmt uns zu Wohlwollen gegen den, in dem wir es zu finden glauben. 56. Und obwol jede Tugend etwas Anziehendes für uns hat und uns Hochachtung für die Menschen einflößt, in denen wir sie zu finden glauben; so äußert doch ganz besonders die Gerechtigkeit und Freigebigkeit diese Wirkung. Nichts ist aber geeigneter Liebe zu erwecken und eine innige Verbindung hervorzurufen, als die Aehnlichkeit des Charakters bei guten Menschen. Denn wo gleiche Bestrebungen und gleiche Gesinnungen herrschen, da findet Einer an dem Anderen ebenso viel Wohlwollen wie an sich selbst, und die Folge davon ist, was PythagorasPythagoras aus Samos, Schüler des Pherekydes, Stifter der Italischen Schule, um 540 v. Chr. Ueber den Ausspruch des Pythagoras vgl. Aristotel. Ethic. ad Nicomach. IX, c. 4, 4: εστὶ γὰρ φίλος άλλοσ αυτός, und c. 9, 9: ως δὲ πρὸς εαυτὸν έχει ο σπουδαι̃ος καὶ πρὸς τὸν φίλον· έτερος γὰρ αυτὸς ο φίλος εστί. Vgl. Cicer. de Amicit. c. 22. in der Freundschaft als das Höchste ansieht, daß aus mehreren Personen Eine wird.

Wichtig ist auch die Gemeinschaft, welche aus gegenseitigem Erweisen und Empfangen von Wohlthaten hervorgeht. Denn so lange diese gegenseitig sind und beide Theile zu Dank verpflichten, werden die Menschen, unter denen sie stattfinden, durch ein festes Band an einander geknüpft.

57. Indeß, erwägt und durchdenkt man Alles, so ist unter allen geselligen Verbindungen keine wichtiger, keine theuerer, als die, in der ein Jeder von uns mit dem Staate steht. Lieb sind uns die Aeltern, lieb die Kinder, die Verwandten, die Freunde; aber alle Empfindungen von Liebe für Alle umfaßt das Eine Vaterland. Welcher brave Mann würde sich bedenken für dasselbe sein Leben hinzugeben, wenn er ihm dadurch nützlich werden könnte? Um so verabscheuungswürdiger ist die rohe Gesinnung jener Menschen, die durch jede Frevelthat ihr Vaterland zerfleischt haben und sich mit dessen gänzlicher Vernichtung theils beschäftigen theils beschäftigtenCicero hat besonders Männer, wie Catilina mit seinen Genossen, Clodius, Cäsar, Antonius, im Sinne..

58. Wollte man nun eine Zusammenstellung und Vergleichung anstellen, um zu sehen, wem wir die größte Verpflichtung schuldig seien; so würden das Vaterland und die Aeltern die erste Stelle einnehmen, denen wir durch die größten Wohlthaten verpflichtet sind, die nächste die Kinder und das ganze Haus, das seine Blicke auf uns allein richtet und keine andere Zuflucht haben kann. Demnächst folgen die mit uns in Eintracht lebenden Verwandten, mit denen wir auch gemeiniglich die äußeren Lebensverhältnisse gemeinsam haben. Demgemäß sind wir verpflichtet unter allen Menschen am Meisten den eben genannten die zum Leben nothwendigen Mittel zu gewähren; gemeinsames Leben und gemeinsame Lebensweise, Umgang, Rath, Gespräche, Ermahnungen, Tröstungen, zuweilen auch Verweise, das sind Dinge, die sich besonders in der Freundschaft geltend machen, und das ist die angenehmste Freundschaft, welche Charakterähnlichkeit geknüpft hatDer Zusatz: »und das ist – geknüpft hat« steht mit dem Vorhergehenden etwa so in Verbindung: Die genannten machen sich besonders in der Freundschaft geltend, und zwar vorzüglich in der Freundschaft, welche Charakterähnlichkeit geknüpft hat, und gerade dadurch wird eine solche Freundschaft höchst angenehm..

XVIII. 59. Indeß muß man bei Vertheilung aller dieser Pflichten darauf sehen, was Jeder am Meisten bedarf, und was er auch ohne uns erlangen kann oder nicht kann. Auf diese Weise werden die Stufen der Verbindungen, in denen wir zu anderen Menschen stehen, nicht mit denen der Zeitumstände die nämlichen sein, und so gibt es Pflichten, die man dem Einen mehr als dem Anderen schuldig ist. So zum Beispiel wird man seinem Nachbar bei Einsammlung seines Getreides eher behülflich sein als einem Bruder oder Freunde; handelt es sich dagegen um eine Rechtssache vor Gericht, so wird man lieber einen Verwandten oder Freund als einen Nachbar vertheidigen.

Diese und ähnliche Rücksichten muß man nun bei jeder Pflicht erwägen und Gewöhnung und Uebung anwenden, um die Pflichten gut berechnen und durch Hinzählen und Abzählen sehen zu können, welche Summe übrig bleibt, und hieraus erkennt man, wie viel man Jedem schuldet. 60. Sowie jedoch weder Aerzte, noch Heerführer, noch Redner, mögen sie auch noch so gut die Regeln ihrer Wissenschaft begriffen haben, irgend etwas sehr Lobenswerthes ohne Erfahrung und Uebung leisten können; so lassen sich auch für die Beobachtung der Pflicht allerdings Vorschriften geben, wie ich es jetzt selbst thue; allein die Wichtigkeit der Sache erfordert auch Erfahrung und Uebung.

So viel mag genug über die Art und Weise gesagt sein, wie das Sittlichgute, woran die Pflicht geknüpft ist, aus den Beziehungen, die im Rechte der menschlichen Gesellschaft stattfinden, abgeleitet werden.

61. Unter den vier Klassen, die wir als Quellen der Sittlichkeit und der Pflicht aufgestellt haben, fällt begreiflicher Weise diejenige am Meisten in's Auge, welcher die Thaten des großen, erhabenen und die Wechselfälle des Schicksals gering achtenden Geistes angehören. Daher sind, wenn man Einen beschimpfen will, besonders Worte, wie die folgenden, geläufig:

Junge Männer, ihr habt einen Sinn wie Weiber!
Jene Jungfrau aber gleicht an Muth den MännernAus welchem Dichter diese Worte entnommen sind, läßt sich nicht bestimmen. Unter der Jungfrau versteht man entweder die Clölia oder die Artemisia oder die Camilla, die Vergilius (Aeneid. 11, 432) erwähnt..

oder wie Folgendes:

Reich, Weichling, her die Waffen ohne Schweiß und BlutDieser Vers ist aus Ennius entlehnt. Klotz liest mit einigen Ausgaben: Salmacida spolia etc. Die richtigere Lesart ist: Salmaci, da spolia etc. Der Sinn des Verses ist: Weichling, ergib dich ohne Kampf! Salmacis war eigentlich der Name der Nymphe einer schönen Quelle in Karien in der Nähe der Stadt Halikarnassus, dann der Name der Quelle selbst, und von dieser Quelle glaubte man, ihr Wasser entnerve und verweichliche alle diejenigen, welche darin badeten. S. Ovid Metamorphos. IV, 286 ff. Vgl. Nitsch Mytholog. Wörterbuch Th. I. S. 857. Jacobi Handwörterb. der Mythol. Th. II. S. 434. Hier ist das Wort Salmacis als ein Schmähwort für einen verweichlichten und feigen Menschen gebraucht.!

Beim Lobe dagegen nehmen wir, ich weiß nicht, wie es kommt, den Mund weit voller, wenn wir Handlungen loben, die mit hohem Geiste, mit Muth und auf vorzügliche Weise ausgeführt sind. Daher sind Marathon, Salamis, Platää, ThermopyläVier Orte, berühmt durch die Siege der Griechen über die Persier. Marathon war ein Flecken in dem östlichen Theile von Attika, wo Miltiades siegte (490 v. Chr.); Salamis eine Insel im Saronischen Meerbusen, wo Themistokles die Persische Flotte schlug (480); Platää eine Stadt Böotiens, wo die Griechen unter dem Lakedämonier Pausanias und dem Athener Aristides die Persier besiegten (479); Thermopylä ein Engpaß Thessaliens, wo Leonidas mit seinen dreihundert Spartanern nach dem heldenmüthigsten Kampfe fiel (480). und LeuktraLeuktra war ein Flecken in Böotien, wo die Thebaner unter Epaminondas einen glänzenden Sieg über die Spartaner erfochten (371 v. Chr.). ein reiches Feld für die Redekünstler, daher unser CoclesHoratius Cocles, der in dem Kriege der Römer gegen den Etruskischen Fürsten Porsena, zu dem die vertriebenen Tarquinier ihre Zuflucht genommen hatten, die hölzerne Brücke, wodurch Rom mit dem Janiculum verbunden war, allein so lange vertheidigte, bis sie hinter ihm abgebrochen war, dann in die Tiber sprang und sich rettete (um 500 v. Chr.)., daher die DecierEs waren drei Decier, Vater, Sohn und Enkel, die für ihr Vaterland starben, der Vater im Kriege mit den Latinern und Kampanern in der Nähe des Vesuvs (340 v. Chr.), sein Sohn in Umbrien im Sentinatischen Gebiete im Kriege mit den Samniten, Umbriern, Etruskern und Galliern (295), sein Enkel im Kriege gegen Pyrrhus (279)., Gnäus und Publius ScipioGnäus und Publius Scipio, Brüder, Heerführer der Römer im zweiten Punischen Kriege in Spanien, 212 v. Chr. durch die List der Karthager getödtet, nachdem sie den Hanno und Hasdrubal am Ebro besiegt hatten., Marcus MarcellusMarcus Claudius Marcellus, welcher den Hannibal bei Nola in Campanien in die Flucht schlug (216 v. Chr.), Syrakus belagerte und eroberte (212), die Gallier bei Clastidium im Cispadanischen Gallien besiegte, ihren König Viridomarus in einem Zweikampfe tödtete, zuletzt in dem Treffen bei Venusia in Lucanien, von Hannibal besiegt, fiel (208). und unzählige Andere, und ganz besonders zeichnet sich das Römische Volk selbst durch Hoheit des Geistes aus. Die Vorliebe für kriegerischen Ruhm tritt ja deutlich darin hervor, daß wir auch die Bildsäulen insgemein in kriegerischer Tracht sehen.

XIX. 62. Allein diese Hoheit des Geistes, die sich in Gefahren und Anstrengungen äußert, ist fehlerhaft, wenn sie der Gerechtigkeit ermangelt und nicht für das allgemeine Wohl, sondern für persönliche Vortheile kämpft. Denn ein solches Benehmen hat nicht nur keinen Antheil an der Tugend, sondern zeugt vielmehr von einer Rohheit, die alles menschliche Gefühl verleugnet. Daher geben die Stoiker den Begriff der Tapferkeit richtig an, wenn sie sagen, sie sei die Tugend, welche für Billigkeit kämpfe. Darum hat Niemand, der mit Hinterlist und böser Absicht zum Ruhme der Tapferkeit gelangte, sich dadurch wahres Lob erworben. Nichts kann sittlichgut sein, was der Gerechtigkeit ermangelt. 63. Vortrefflich ist daher jener Ausspruch Plato'sPlato Menexen. p. 246, D.: Πα̃σα επιστήμη χωριζομένη οικαιοσύνης καὶ τη̃ς άλλης αρετη̃ς πανουργία, ου σοφία φαίνεται. Welche Stelle aber Cicero in den Worten: verum etiam . . . habeat vor Augen gehabt, läßt sich nicht bestimmen. Die von dem Herausgeber verglichene Stelle Plat. Lach. 197, B. paßt nicht hierher.: »Nicht allein das Wissen, sagt er, das sich von der Gerechtigkeit entfernt hat, verdient eher den Namen der Schlauheit als den der Weisheit, sondern auch die Entschlossenheit zu Gefahren, wenn sie Selbstsucht und nicht das allgemeine Wohl zur Triebfeder hat, mag eher den Namen der Kühnheit als den der Tapferkeit führen.« Demnach behaupten wir: tapfere und hochherzige Männer sind zugleich brav und schlicht, wahrheitsliebend und ohne allen Trug: Eigenschaften, auf denen so recht eigentlich das Lob der Gerechtigkeit beruht. 64. Aber es ist widerwärtig, daß sich bei dieser Hoheit und Größe des Geistes sehr leicht Hartnäckigkeit und übertriebene Herrschsucht erzeugt. Denn was man bei PlatoPlato Lach. p. 182, E.: Λακεδαιμονίους, οι̃ς ουδὲν άλλο μέλει εν τω̃ βίω ὴ του̃το ζητει̃ν καὶ επιτηδεύειν, ό τι ὰν μαθόντες καὶ επιτηδεύσαντες πλεονεκτοι̃εν τω̃ν άλλων περὶ τὸν πόλεμον. von den Lacedämoniern liest, daß ihr ganzes Wesen von Begierde nach Sieg angesteckt sei, das gilt auch sonst von den Menschen. Je mehr sich nämlich Einer durch Geistesgröße auszeichnet, um so mehr will er der Erste unter Allen oder vielmehr der Einzige sein. Es ist aber schwierig, wenn man Alle zu überragen sucht, die Billigkeit zu beobachten, auf der doch ganz besonders das Wesen der Gerechtigkeit beruht. Daher kommt es, daß solche Menschen sich weder durch Vernunftgründe überzeugen noch irgend einem öffentlichen und gesetzlich bestimmten Rechte unterwerfen wollen, und so suchen sie im Staate gemeiniglich Bestechungen auszuüben und Parteiungen zu stiften, um eine möglichst große Macht zu erlangen und lieber durch Gewaltthätigkeit Andere zu überragen als durch Ausübung der Gerechtigkeit ihnen gleich zu stehen. Doch je schwerer diesesNämlich die Billigkeit zu beobachten, wenn man die Anderen überragen will. ist, desto schöner ist es auch; denn zu keiner Zeit darf man die Gerechtigkeit vernachlässigen.

65. Für tapfer und großmüthig darf man daher nicht diejenigen halten, welche Unrecht thun, sondern diejenigen, welche es abwenden. Die ächte und vernünftige Seelengröße setzt aber jenes Sittlichgute, dem sie von Natur ganz besonders nachstrebt, in Thaten und nicht in den Ruhm und will lieber in Wirklichkeit vorzüglich sein als bloß scheinen. Denn wer von dem irrigen Urtheile der unerfahrenen Menge abhängt, der darf nicht unter die großen Männer gerechnet werden. Am Leichtesten lassen sich aber gerade die hochherzigsten Männer durch Ruhmbegierde zu ungerechten Schritten verleiten. Dieß ist allerdings ein bedenklicher Punkt, weil sich kaum irgend ein Mensch findet, der nach übernommenen Mühen und bestandenen Gefahren sich nicht auch Ruhm, als eine Art Lohn für seine Thaten, wünschen sollte.

XX. 66. Im Allgemeinen zeigt sich Tapferkeit und Geistesgröße besonders in zwei Stücken. Das eine besteht in der Geringschätzung der äußeren DingeUnter äußeren Dingen versteht man Alles, was nicht in der Gewalt des Menschen steht, sondern vom Schicksale abhängt. Alle Dinge zerfallen in drei Theile; die der Seele, die des Körpers und die des Schicksales., die auf der Ueberzeugung beruht, der Mensch dürfe Nichts, als was sittlichgut und anständig ist, seiner Bewunderung, seines Wunsches oder Verlangens werth achten und sich von keinem Menschen, keiner Leidenschaft und keinem Schicksale überwältigen lassen. Das Zweite besteht darin, daß, wenn man die eben erwähnte Gesinnung hat, man Thaten ausführt, die groß und von ausgezeichnetem Nutzen sind, zugleich aber auch höchst schwierig, mühsam und gefahrvoll sowol für das Leben als auch für viele zum Leben gehörige Dinge.

67. Von diesen beiden Stücken liegt in dem letzteren aller Glanz, alles äußere Ansehen und, ich füge noch hinzu, auch aller Nutzen; der Grund hingegen und die Ursache, welche große Männer schafft, liegt in dem ersteren. Denn in der Gesinnung liegt die Kraft, welche den Seelen Vortrefflichkeit und Geringschätzung der menschlichen Dinge verleiht. Sie äußert sich aber in zwei Dingen, erstens darin, daß man das Sittlichgute allein für ein Gut achtet, zweitens daß man sich von aller Leidenschaft frei hält. Denn einmal darf man es als einen Beweis eines starken und großen Geistes ansehen das gering zu schätzen und nach unwandelbaren, festen Grundsätzen zu verachten, was der großen Menge als ausgzeichnete und herrliche Güte erscheint; sodann zeugt es von einem kräftigen Sinne und großer Standhaftigkeit die bitteren Ereignisse, die im Leben und Schicksale der Menschen in so großer Menge und Mannigfaltigkeit vorkommen, so zu ertragen, daß man Nichts von seiner natürlichen Fassung, Nichts von der Würde eines weisen Mannes aufgibt. 68. Es wäre aber widersprechend, wenn der Mensch, der durch keine Furcht gebeugt wird, sich von Begierden beugen ließe, und wenn der, welcher sich gegen Ungemach unbesiegbar bewiesen hat, sich durch die Sinnenlust besiegen ließe.

Vor beiden Fehlern muß man sich in Acht nehmen und besonders die Begierde nach Geld fliehen. Nichts verräth ja so sehr Engherzigkeit und eine kleinliche Gesinnung als Liebe zum Reichtume; Nichts ist dagegen edeler und hochsinniger als das Geld, wenn man es nicht hat, zu verachten und, wenn man es hat, zur Wohlthätigkeit und Freigebigkeit anzuwenden.

Auch vor dem Ehrgeize muß man sich, wie ich obenS. Kap. 19, §. 64 und 65. erwähnte, in Acht nehmen. Er raubt uns die Freiheit, für deren Erhaltung hochherzige Männer mit allen Kräften streiten müssen. Auch darf man nicht nach Ehrenstellen streben; ja wir sollen sie zuweilen nicht annehmen oder auch zu Zeiten niederlegen.

69. Uebrigens muß man sich von aller Leidenschaft frei halten, sei es Begierde oder Furcht, sei es Kummer oder ausgelassene Freude oder Zorn, damit im Gemüthe Ruhe und Furchtlosigkeit herrsche, die sowol Festigkeit des Charakters als auch ein würdevolles Benehmen zur Folge haben.

Viele Männer in unseren wie in früheren Zeiten haben sich, um der Gemüthsruhe, von der ich rede, theilhaftig zu werden, von den öffentlichen Geschäften zurückgezogen und zur Muße ihre Zuflucht genommen. Unter diesen befinden sich die berühmtesten und bei Weitem angesehensten PhilosophenZ. B. Pythagoras, Demokritus, Anaxagoras, Plato., sowie auch einige andere MännerZ. B. Marcus Piso (Cicer. Brut. 67, 236: laborem foronsem non diutius tulit, quod hominum ineptias ac stultitias, quae devorandae nobis sunt, non ferebat iracundiusque respuebat.) und Atticus (Corn. Nep. Att. 6: in re publica ita versatus est, ut semper optimarum partium et esset et existimaretur, neque tamen se civilibus fluctibus committeret, quod non magis eos in sua potestate existimabat esse, qui se eis dedissent quam qui maritimis jactarentur. von strenger und ernster Sinnesart, die das Benehmen des Volkes oder der Machthaber nicht ertragen konnten, und einige von ihnen lebten auf dem Lande und fanden an der Verwaltung ihres Hauswesens ihr Vergnügen. 70. Sie hatten dabei denselben Zweck wie die unumschränkten Herrscherregibus. Die reges sind hier unumschränkte Herrscher. Cicero denkt an den Stoischen Weisen, der sich rex, König, nannte. Vergl. Cicer. Paradox. V. und p. Sulla 8, 25: nisi forte regium tibi videtur ita vivere, ut non modo homini nemini, sed ne cupiditati quidem ulli servias, contemnere omnes libidines, non auri, non argenti, non ceterarum rerum indigere, in senatu libere sentire, populi utilitati magis consulere quam voluntati, nemini cedere, multis obsistere: si hoc putas esse regium, me regem esse confiteor.: sie wollten Nichts entbehren, keinem Menschen gehorchen und ihre Freiheit genießen, was darin besteht, daß man nach eigenem Gefallen leben kann.


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