Gilbert Keith Chesterton
Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge
Gilbert Keith Chesterton

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Verteidigung von Porzellan-Schäferinnen

Es gibt manche Dinge, an die die Welt nicht gern erinnert wird, denn es sind tote Lieben der Welt. Eine davon ist jene große Schwärmerei für das Schäferleben. Wie sehr auch der Realismus sich darüber lustig machen mag, sie regierte – das steht außer Frage – während einer sehr langen Periode die Weltgeschichte, von den Zeiten, die wir als alt bezeichnen, bis zu Zeiten, die man ziemlich neu nennen kann. Die Vorstellung von dem unschuldigen und heiteren Leben der Schäfer und Schäferinnen umspannte und beherrschte die Zeit des Theokrit, Virgil, Catull, Dante, Cervantes, Ariosto, Shakespeare und Pope. Es heißt, daß die Heidengötter aus Stein und Erz waren; aber Stein und Erz haben niemals gedauert mit der Dauerhaftigkeit der Porzellanschäferin. Die katholische Kirche und das Schäferideal sind in der Tat beinahe die einzigen Dinge, die den Abgrund zwischen der alten und der modernen Welt überbrückt haben. Doch, wie gesagt, die Welt liebt es nicht, an diese kindische Begeisterung erinnert zu werden.

Aber Phantasie, die Funktion des Historikers, kann ein so bedeutendes Element nicht übersehen. Wohlfeile Revolutionäre nehmen gewöhnlich an, daß Phantasie eine durchaus aufrührerische Sache sei, daß ihre Hauptfunktion im Ersinnen neuer und abenteuerlicher Republiken liege. Aber Phantasie hat ihren höchsten Zweck in rückschauender Verwirklichung. Die Posaune der Phantasie wie die Posaune der Auferstehung ruft die Toten aus ihren Gräbern. Phantasie sieht Delphi mit den Augen eines Griechen, Jerusalem mit den Augen eines Kreuzfahrers, Paris mit den Augen eines Jakobiners und Arkadien mit den Augen eines Euphues.Hauptfigur in John Lilys Werk: The Anatomy of Wit and Euphues and his England (1578–1590). Die Primärfunktion der Phantasie ist es, unser ganzes, geordnetes Lebenssystem als einen Stoß aufgeschichteter Revolutionen zu sehen. Trotz aller Revolutionäre muß es gesagt werden: es ist nicht so sehr die Funktion der Phantasie, unerhörte Dinge feststehen zu machen, als feststehende Dinge unerhört; nicht so sehr Wunder zu Taten, als Taten zu Wundern zu machen. Für den Phantasiebegabten sind Spruchwahrheiten lauter Paradoxe, sintemalen sie Paradoxe in der Steinzeit waren.

Laßt uns also in diesem Lichte das alte Schäferideal, Arkadia betrachten. Aber vorerst müssen wir uns über eins klar sein. Diese arkadische Kunst und Literatur ist eine verloren gegangene Schwärmerei. Sie studieren ist wie Herumkramen in den Liebesbriefen eines Gestorbenen. Uns scheinen ihre Blumen der gleiche Flittertand wie Hutschleifen; die Lämmer, die nach der Hirtenpfeife tanzen, scheinen mit all der Künstlichkeit eines Balletts zu tanzen. Ja unser eigner, prosaischer Werktag erscheint uns fröhlicher als ihr Feiertag. Wo ihre alte Überschwenglichkeit die Grenzen der Vernunft und selbst der Tugend überschritt, scheinen ihre Kapriolen zur Starre eines antiken Frieses erfroren zu sein. Auf jenen grauen, alten Bildern scheint ein Bacchanal so dumm wie ein Erzdiakonus. Sogar ihre Sünden scheinen kälter als unsere Verbote.

Alles das mag offen zugegeben werden: alle die unfruchtbare Sentimentalität des Schäferideals und aller unverschämte Optimismus. Aber zu guterletzt bleibt noch etwas anderes übrig.

Zeitenlang, in denen die anmaßendsten und durchdachtesten Ideale von Macht und Zivilisation ihr sonst unbestrittenes Regiment führten, verkörperte das Ideal vom vollkommenen und gesunden Landmann zweifellos in irgendeiner Form oder Gestalt die Auffassung, daß es eine Würde in der Schlichtheit und eine Würde in der Arbeit gibt. Es war gut für den Aristokraten von damals, selbst wenn er nicht die Unschuld und die Weisheit der Mutter Erde erlangen konnte, zu glauben, daß diese Dinge die Geheimnisse der Priesterschaft der Armen wären. Es war gut für ihn zu glauben, wenn schon der Himmel nicht über ihm war, daß Himmel unter ihm war. Es war gut, daß er mitten in all seinen windigen Triumphen das unauslöschliche Gefühl haben sollte, es gibt noch etwas Besseres als diese seine Triumphe, die Vorstellung: »Es harrt ein Ausruhn Deiner.«

Die Vorstellung vom idealen Hirten scheint unsern modernen Ideen lächerlich. Aber schließlich war es vielleicht doch die einzige Gewohnheit der Demokratie, die den Gewohnheiten der Aristokratie von der Aristokratie selbst gleichgestellt wurde. Der Schäfer der Pasturalpoesie war ohne Zweifel sehr verschieden von dem Schäfer der Wirklichkeit. Während der eine seinen Lämmern unschuldig etwas vorblies, schimpfte der andere unschuldig über sie; und der Abstand in Intellekt und persönlicher Sauberkeit war ungeheuer. Aber der Unterschied zwischen dem idealen Hirten, der mit Amaryllis tanzte, und dem des wirklichen Lebens, der sie schlug, ist nicht ein Jota größer als der Unterschied zwischen dem idealen Soldaten, der für das Erbeuten der Fahnen stirbt, und dem wirklichen Soldaten, der für das Putzen seiner Ausrüstung lebt, zwischen dem idealen Priester, der ewig bei irgend jemandes Bett sitzt, und dem wahren Priester, der nur zu froh ist, in sein eigenes Bett zu kommen. Es gibt ideale Auffassungen und wirkliche Menschen in jedem Beruf; und doch gibt es nur wenige, die etwas gegen ideale Auffassungen haben und nicht viele trotz allem, die etwas gegen wirkliche Menschen haben.

Die Sachlage ist demnach die: weit entfernt, die Existenz eines idealen Schäfers in Kunst und Literatur übel zu nehmen, bedaure ich es aufrichtig, daß der Schäfer der einzige demokratische Beruf ist, der jemals mit den heroischen Berufen, die ein autokratisches Zeitalter anerkannte, in eine Linie gestellt wurde. Weit entfernt, etwas gegen den idealen Schäfer einzuwenden, wünschte ich, daß es einen idealen Briefträger, einen idealen Kaufmann und einen idealen Röhrenflicker gäbe. Es ist zweifelsohne wahr, daß wir über die Idee eines idealen Briefträgers lachen würden; es ist wahr und beweist, daß wir nicht echte Demokraten sind.

Zweifelsohne würde der moderne Kaufmann, wenn man ihn aufforderte, sich in arkadischer Manier zu benehmen, wenn man von ihm verlangte, sich durch einen symbolischen Tanz, der die Freuden des Kaufmannsstandes ausdrückte, gefällig zu zeigen oder auf irgendeinem Instrument zu spielen, während seine Lehrlinge um ihn herumhüpften, verwirrt und vielleicht sogar unwillig sein. Aber es mag dahingestellt bleiben, ob dieser heutige Unwille des Kaufmanns etwas Gutes ist oder für eine gute Beschaffenheit des poetischen Empfindens im Kaufmannsgeschäft als ganzem spricht. Sicherlich sollte es ein Idealbild von Gesundheit und Glück in jedem Gewerbe geben, und der Abstand von der Wirklichkeit ist nicht die einzig wichtige Frage. Niemand setzt voraus, daß die Masse überlieferter Vorstellungen von Pflicht und Ruhm, beispielsweise im Kopf eines Soldaten oder Arztes, immer wirksam sind; daß die Schlacht von Waterloo tatsächlich ein Privatvergnügen abgibt beim Hosenputzen, oder daß das »Wohl der Menschheit« den augenblicklichen Wortschatz eines Doktors mildert, der um zwei Uhr morgens aus dem Bett geholt wird. Aber obgleich kein Ideal die häßliche Plackerei und Einzelheit irgendeines Berufes auslöscht, so besteht dieses Ideal im Falle des Soldaten oder Arztes doch entschieden im Hintergrunde und macht die Plackerei als ganzes genommen wert. Es ist ein ernster Übelstand, daß kein solches Ideal bei der ungeheuren Zahl von ehrenwerten Gewerben und Handwerken besteht, von denen die Existenz einer modernen Stadt abhängt. Es ist schade, daß gangbares Denken und Fühlen nichts bietet, was der alten Vorstellung von Schutzheiligen entspräche. Wenn dem so wäre, dann würde es einen Schutzpatron der Röhrenflicker geben, und das allein würde eine Revolution bedeuten; denn es würde den einzelnen Arbeiter zwingen, zu glauben, daß es einmal ein so vollendetes Wesen gab, das wirklich Röhren flickte. Zu guter Letzt ist denn wohl die Frage am Platze, ob die Welt nicht etwas verloren hat durch das vollkommene Verschwinden des Ideals vom glücklichen Landmann. Es ist töricht genug, sich einzubilden, daß der Bauer herumspaziere, von oben bis unten nichts als: Bänder; aber es ist besser, als zu wissen, daß er von oben bis unten in Fetzen geht und sich dazu gleichgültig verhält. Das moderne realistische Studium der Armut führt den Studenten in Wahrheit mehr irre als die alte idyllische Erkenntnis. Wir können solange kein klares Bild von dem Leben der unteren Klassen bekommen, solange uns ihre Tugenden so grob wie ihre Laster erscheinen, und ihre Freuden so plump wie ihre Leiden. Vielleicht gerade in dem Augenblick, da wir nichts sehen können als einen stumpfsinnigen Menschen, der raucht und mit seinem Freund in einem Wirtshaus tüchtig zecht, ist der Mensch selbst in seiner Seele Feiertag, bekränzt mit den Blumen einer begeisterten Muse und ähnlicher dem glücklichen Landmann, als die Welt je wissen wird.


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