Gilbert Keith Chesterton
Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge
Gilbert Keith Chesterton

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Verteidigung des Unsinns

Es gibt von jeher zwei berechtigte Arten, diese unsere dämmernde Welt zu betrachten; wir können dieses Zwielicht als ein abendliches oder ein morgendliches ansehen; alles bis zu einer Eichel herab darf uns als ein Erstling oder ein Nachkömmling bedünken. Es gibt Zeiten, wo uns die Summe, nicht so sehr der Schlechtigkeiten, als der menschlichen Güte schier den Atem benimmt, und wo wir uns nur mehr als die Erben überwältigender Großtaten vorkommen. Aber zu anderen Zeiten scheint uns alles erst in den Anfängen begriffen, die ewigen Steine kommen uns vor wie Funken von eines Knaben Feuerwerk, die ganze Welt steht so neu und jung vor uns, daß selbst die schneeigen Haare der Greise, um mit der Bibel zu reden, wie Blüten des Mandelbaumes sind, wie Weißdorn zur Frühlingszeit. Daß es dem Menschen heilsam ist, sich als den Erben aller Zeiten zu fühlen, darüber sind sich die Menschen ziemlich einig; weniger populär, aber dennoch von gleicher Wichtigkeit ist die Ansicht, daß es heilsam für ihn ist, sich nicht nur als ein Abkömmling, sondern als ein Urahn zu fühlen; es ist ihm dienlich, sich zu fragen, ob er sich zu den Helden rechnen dürfe, und erhebende Zweifel darüber zu hegen, ob er nicht ein Sonnen-Mythus sei.

Was zu allen Zeiten diesen Eindruck der perennierenden Kindheit der Welt am stärksten erweckt, das ist das Unvermittelte, Plötzliche; und wollte man uns befragen, was am besten für die abenteuerliche Jugend des neunzehnten Jahrhunderts zeugt, so würden wir, bei aller Hochachtung für die gewichtigen Errungenschaften der Wissenschaft und Philosophie, zur Antwort geben, daß sie in den Knittelversen eines Busch und in der Literatur des Unsinns zu finden sei. In gewissem Sinne ist es wahr, daß einige der größten Schriftsteller aller Zeiten – wie Aristophanes, Rabelais und Heine – Unsinn geschrieben haben; aber dieser Unsinn, scheint mir, war ein ganz anderer: es war ein satirischer, d. h. ein symbolischer; es war eine Art von übermütigen Kapriolen um eine entdeckte Wahrheit herum. Der Instinkt des Satirikers, der in dem Schnurrbart des deutschen Kaisers etwas Typisches für ihn sieht, und ihn länger und länger zieht, ist ein wesentlich verschiedener vom Instinkt des Spaßmachers, der ohne jeglichen Grund sich ausmalt, wie dieser selbe Schnurrbart sich wohl beim Erzbischof von München-Freising ausnehme, wenn er ihm unversehens hervorwüchse.

Daß wir den Unsinn als eine neue Literatur (man könnte fast sagen: als einen neuen Sinn) beanspruchen, wäre ganz unverantwortlich, wenn der Unsinn nichts anderes wäre als eine ästhetische Laune. Niemals ist ein erhaben künstlerisches Erzeugnis aus der reinen Kunst entblüht, ebensowenig als etwas höchst Vernünftiges aus reiner Vernunft entstand. Jedes große ästhetische Blühen entsteht auf einem reichen moralischen Boden. Das Prinzip des l'art pour l'art ist ein sehr gutes Prinzip, wenn es besagen will, daß zwischen der Erde und dem Baum, der seine Wurzeln in der Erde hat, ein wesentlicher Unterschied besteht; es ist jedoch ein sehr schlechtes Prinzip, wenn es besagen will, daß der Baum ebensogut wachsen könnte, wenn seine Wurzeln in der Luft hingen. Jede große Literatur ist stets allegorisch gewesen – allegorisch für eine bestimmte Weltanschauung. Die Ilias ist nur groß, weil alles Leben eine Schlacht ist, die Odyssee, weil alles Leben eine Wanderschaft, das Buch Hiob, weil alles Leben ein Rätsel ist. Die einen stehen dem Leben auf eine Weise gegenüber, die sich in dem Wort »geisterhaft« summieren läßt; die bessere Weise anderer läßt sich in dem Wort »Ein Sommernachtstraum« zusammenfassen. Selbst die trivialsten Melodramen und Kriminalgeschichten können etwas nutz sein, wenn sie etwas von der Lust an unheimlichen Möglichkeiten – etwas von den gesunden Schauern an sich haben, die uns nachts auf einsamen dunklen Wegen überkommen können. Wenn daher Unsinnigkeiten wirklich die Literatur der Zukunft sein sollen, so muß sie ihre eigene Deutung des Kosmos haben; die Welt muß nicht nur das Tragische, Romantische und Religiöse, sie muß auch das Unsinnige sein. Und hier glaube ich, daß der Unsinn auf eine sehr unerwartete Weise sich zu einer geistigen Auffassung der Dinge gesellen wird. Die Religion hat Jahrhunderte hindurch die Menschen angespornt, die »Wunder« der Schöpfung anzustaunen, aber sie ließ gänzlich außer acht, daß etwas Sinnfälliges nicht vollkommen wunderbar sein kann. Solange wir im Baum nichts weiter als einen sinnfälligen Gegenstand erblicken, kann er kein sonderliches Erstaunen in uns erregen. Erst wenn wir in ihm eine unerklärliche Welle des Lebens erblicken, die, man weiß nicht recht warum, aus dem Erdboden zum Himmel emporstrebt, erst dann erfaßt uns Furcht vor dem Waldhüter. Es hat tatsächlich alles seine zwei Seiten, wie der Mond, der zugleich der Patron des Unsinns ist. So läßt sich der Vogel betrachten wie eine Blüte, die von ihrem Federstengel abfiel, der Mensch wie ein Vierfüßler, der auf seinen Hinterfüßen bettelt, ein Haus wie ein Riesenhut, um ihn vor der Sonne zu schützen, ein Stuhl wie ein Apparat mit vier Füßen für einen Krüppel, der nur auf zwei Füßen steht.

Dies ist jene andere Seite der Dinge, die uns am sichersten zum geistigen Wunder führt. Es ist bezeichnend, daß in dem größten religiösen Dichterwerk, dem Buch Hiob, nicht dasjenige Argument überzeugend auf den Gottlosen wirkt, das die Schöpfung als ein planvoll wohlgeordnetes Werk darstellt, sondern im Gegenteil ein Bild ihrer ungeheuren rätselhaften Sinnlosigkeit entwirft. »Hast du, o Gott, regnen lassen auf die Wüste, wo keine Menschen sind?« Dies naive Staunen über die Gestaltung des Lebens und ihre namenlose Unabhängigkeit von unseren intellektuellen Voraussetzungen und trivialen Definitionen ist die Grundlage des Spiritualismus, wie die Grundlage des Unsinns. Unsinn und Glaube (so ungereimt dies auch klingen mag) sind die zwei stärksten symbolischen Beweise für die Tatsache, daß es ebenso unmöglich ist, das Wesen der Dinge mittels eines Syllogismus zu enträtseln, wie einen Walfisch mittels einer Angel zu fangen. Die gute Seele, welche lediglich die logische Seite der Dinge zu erforschen suchte, und somit zu dem Ergebnis kam, daß »Glaube Unsinn sei«, weiß nicht, wie richtig sie es trifft; vielleicht kommt sie später darauf, daß Unsinn Glaube ist.


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