Gilbert Keith Chesterton
Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge
Gilbert Keith Chesterton

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Verteidigung von Gerippen

Vor einiger Zeit stand ich unter uralten englischen Bäumen, die in die Sterne zu ragen schienen wie Sprößlinge der Yggdrasill. Wie ich unter diesen lebendigen Säulen wandelte, ward ich allmählich gewahr, daß die Bauern, die im Schatten dieser Bäume lebten und starben, einen sehr merkwürdigen Gesprächston anschlugen. Sie schienen sich beständig der Bäume wegen zu entschuldigen, als ob die ein recht armseliges Schauspiel böten. Nach gründlicher Untersuchung entdeckte ich, daß ihr düsterer und reuiger Ton von der Tatsache herrührte, daß es Winter war und alle Bäume kahl waren. Ich versicherte ihnen, die Tatsache, daß es Winter wäre, nicht übel zu nehmen, ich wüßte, die Geschichte hätte sich auch früher ereignet, und keine Vorsorge ihrerseits hätte diesen Schicksalsschlag abwenden können. Auf keine Weise aber konnte ich sie mit der Tatsache aussöhnen, daß es Winter war. Man hatte offenbar allgemein das Gefühl, ich hätte die Bäume in einer Art schändlichem Hauskleid überrascht, und daß sie nicht besichtigt werden sollten, bis sie sich wieder, wie die ersten sündigen Menschen, mit Blättern bedeckt hätten. So ist es ganz klar: während anscheinend nur sehr wenig Leute wissen, wie Bäume im Winter aussehen, die wirklichen Forstleute wissen erst recht wenig davon. Weit entfernt, daß die Linie des Baumes, wenn er kahl ist, rauh und streng erscheint, ist sie ganz ungewöhnlich undefinierbar; die Franse des Waldes zerschmilzt wie eine abgeblendete Photographie. Die Wipfel zweier oder dreier hoher Bäume sind, wenn sie kahl sind, so weich, daß sie ausschaun wie die Riesenbesen jenes Märchenfräuleins, das die Spinnweben vom Himmel wegkehrte.

Die Kontur eines belaubten Waldes ist im Vergleich hart, grob und klecksig; die Wolken der Nacht verdunkeln den Mond gewiß nicht mehr, als jene grünen und ungeheuerlichen Wolken den Baum verdunkeln; das wahre Gesicht des kleinen Waldes, mit seinem grausilbernen See des Lebens, ist ganz und gar eine Wintererscheinung. So matt und zart ist das Herz der Wälder im Winter, eine Art glitzernden Dämmerns, daß eine Gestalt, die im kreuzstreifigen Zwielicht auf uns zuschreitet, aussieht, als ob sie aus unergründlichen Tiefen von Spinnweben durchbräche.

Aber sicherlich ist die Vorstellung, daß der Hauptreiz eines Baumes seine Blätter sind, ebenso vulgär wie die Vorstellung, daß der Hauptreiz eines Pianisten seine Haare sind. Wenn der Winter, dieser gesunde Aszet, sein Riesenmesser über Hügel und Täler führt und alle Bäume wie Mönche rasiert, fühlen wir sicher, daß sie geschoren um so mehr Bäume sind, gerade wie so viele Maler und Musiker um so mehr Menschen sein würden, wenn sie weniger wie Flederwische wären. Aber es muß wohl eine tiefe und wesentliche Schwierigkeit sein, daß Menschen einen bleibenden Schauder vor ihrer eignen Struktur haben oder der Struktur von Dingen, die sie lieben. Das fühlt man dunkel beim Gerippe des Baums: das fühlt man überwältigend beim Gerippe des Menschen.

Die Bedeutung des menschlichen Gerippes ist sehr groß, und das Entsetzen, mit dem man es gewöhnlich anschaut, ist etwas rätselhaft. Ohne für das menschliche Gerippe eine ganz konventionelle Schönheit zu beanspruchen, dürfen wir wohl behaupten, daß es gewiß nicht häßlicher ist als ein Bullenbeißer, dessen Popularität niemals schwindet, und daß es einen weit heitereren und einschmeichelnderen Gesichtsausdruck hat. Aber genau wie sich der Mensch rätselhafterweise vor den Gerippen der Bäume im Winter schämt, so schämt er sich rätselhafterweise seines eignen Gerippes im Tode. Es ist überhaupt etwas Eigenes, dieses Entsetzen vor der Architektur der Dinge. Man sollte meinen, es wäre ganz unklug von einem Menschen, sich vor einem Gerippe zu fürchten, da die Natur sorgfältige und ganz unüberwindliche Hindernisse seinem Weglaufen davor entgegengestellt hat.

Ein Grund für dieses Entsetzen besteht: eine wunderliche Vorstellung hat die Menschheit angesteckt, daß das Gerippe für den Tod vorbildlich sei. Ein Mensch könnte ebensogut sagen, daß ein Fabrikschlot vorbildlich für einen Bankrott wäre. Die Fabrik mag nackt zurückbleiben nach dem Ruin, das Gerippe mag nackt zurückbleiben nach der körperlichen Auflösung; aber beide von ihnen hatten ihr eigenes lebendiges und arbeitsrühriges Leben, alle Kloben kreischten, alle Räder drehten sich im Haus des Lebensunterhaltes wie im Haus des Lebens. Es gibt keinen Grund, warum dieses Geschöpf (neu, wie mich dünkt, für die Kunst), das lebendige Gerippe, nicht zum Hauptsymbol des Lebens werden sollte.

Die Wahrheit ist, daß des Menschen Entsetzen vor dem Gerippe durchaus nicht das Entsetzen vor dem Tod ist. Es ist des Menschen ungewöhnlicher Ruhm, daß er, allgemein gesprochen, gar nichts gegen das Totsein hat, aber sehr ernstlich dagegen protestiert, ohne Würde zu sein. Und das Wesentliche, das ihn am Gerippe quält, ist die Mahnung, daß der Grundriß seiner Erscheinung schamlos grotesk ist. Ich weiß nicht, warum er dagegen Einspruch erheben sollte. Zufrieden nimmt er seinen Platz in einer Welt ein, die nicht vorgibt, anmutig zu sein – einer lachenden, arbeitenden, spottenden Welt. Er sieht Millionen von Tieren mit einer ganz dandyhaften Leichtigkeit die ungeheuerlichsten Formen und Auswüchse tragen, die alleralbernsten Hörner, Flügel und Beine, wenn sie zum Nutzen notwendig sind. Er sieht die Gutmütigkeit des Frosches, das unerklärliche Glück des Nilpferds. Er sieht ein ganzes Weltall, das lächerlich ist, vom Infusorium, mit einem für seinen Körper zu großen Kopf, bis zum Kometen, mit einem für seinen Kopf zu großen Schwanz. Aber wenn es zu der entzückenden Absonderlichkeit seiner eigenen Innenseite kommt, verläßt ihn sein Sinn für Humor ziemlich plötzlich.

Im Mittelalter und in der Renaissance (in gewissen Zeiten und Beziehungen eine viel dunklere Periode) hatte diese Vorstellung vom Gerippe einen weitreichenden Einfluß, den Stolz aus allem irdischen Pomp und den Duft aus allen flüchtigen Freuden herauszufrieren. Aber es war sicherlich nicht die bloße Furcht vor dem Tod, die das bewirkte; denn das waren Zeiten, in denen die Menschen singend dem Tod entgegengingen. Es war die Vorstellung von der Erniedrigung des Menschen zur grinsenden Häßlichkeit seiner Struktur, die die jugendliche Unverschämtheit von Schönheit und Stolz vernichtete. Und darin wirkte sie beinahe gewiß mehr Gutes als Übles. Es gibt nichts so Kaltes und Mitleidsloses wie Jugend, und Jugend in aristokratischen Milieus und Zeiten neigte zu einer unfehlbaren Würde, einem endlosen Sommer von Erfolg, der sehr eindringlich an den Hohn der Gestirne gemahnt werden mußte. Es war gut, solchen selbstzufriedenen Laffen zur Überzeugung zu bringen, daß ein wohlpraktizierter Ulk sie zu guter Letzt umkegeln würde, daß sie in eine grinsende Menschenfalle stürzen würden und nicht wieder aufstehn. Daß die ganze Struktur ihrer Existenz ebenso gesund lächerlich war wie die eines Schweins oder Papageis: sich das zu vergegenwärtigen, konnte man von ihnen nicht erwarten; daß die Geburt humoristisch war, das Mündigwerden humoristisch, das Trinken und Fechten humoristisch war, dazu waren sie viel zu jung und feierlich, um das zu wissen. Aber zuletzt ward ihnen gelehrt, daß der Tod humoristisch war.

Es ist die merkwürdige Idee verbreitet, daß der Wert und Zauber dessen, was wir Natur nennen, in ihrer Schönheit liege. Aber die Tatsache, daß die Natur schön ist in dem Sinne, in dem eine Bordüre oder ein Liberty-Vorhang schön ist, macht nur einen ihrer Reize aus und beinahe einen zufälligen. Die höchste und wertvollste Eigenschaft an der Natur ist nicht ihre Schönheit, sondern ihre kühne und herausfordernde Häßlichkeit. Man mag hundert Beispiele nehmen. Der krächzende Lärm der Krähen ist an sich ebenso scheußlich wie der ganze Höllenspektakel in einem Londoner Eisenbahntunnel. Und doch erhebt er uns wie eine Trompete mit seiner rohen Freundlichkeit und Ehrlichkeit, und der Liebhaber in Tennysons »Maud« könnte sich tatsächlich einreden, daß dieser abscheuliche Lärm dem Namen seiner Geliebten ähnle. Hat der Poet, dem Natur nur Rosen und Lilien bedeuten, jemals ein Schwein grunzen gehört? Das ist ein Lärm, der einem Menschen wohltut – ein starker, schnaubender, eingesperrter Lärm, der einen Weg aus unergründlichen Kerkern durch jedes mögliche Schlupfloch und Organ bricht. Es könnte die Stimme der Erde selbst sein, schnarchend in ihrem gewaltigen Schlafe. Darin liegt der tiefste, der älteste, der gesündeste und religiöseste Sinn vom Wert der Natur – dem Wert, der von ihrer ungeheuren Kindlichkeit ausgeht. Sie ist so wacklig, so grotesk, so feierlich und so glücklich wie ein Kind. Es gibt eine Stimmung, wo wir all ihre Formen wie Formen sehen, die ein Kind auf eine Schiefertafel kritzelt – einfach, rudimentär, Millionen Jahre älter und stärker als die ganze Krankheit, die man Kunst heißt. Die Gegenstände der Erde und des Himmels scheinen sich zu einem Ammenmärchen zu verbinden, und unsere Beziehung zu den Dingen scheint auf einmal so einfach, daß man einen tanzenden Narren brauchen würde, um der Klarheit und Leichtigkeit des Augenblicks gerecht zu werden. Der Baum über meinem Kopfe schlägt wie ein Riesenvogel, der auf einem Bein steht; der Mond ist wie ein Zyklopenauge. Und, wie sehr sich auch mein Antlitz mit dunkler Eitelkeit oder gemeiner Rache oder verächtlicher Verachtung umwölkt, die Knochen meines Schädels darunter lachen ewig.


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