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Einleitung.

Geoffrey Chaucer's Zeitalter, Leben und schriftstellerischer Charakter.

Geoffrey Chaucer gehört mit seiner ganzen Lebenszeit demjenigen Jahrhundert an, in welchem auf den britischen Inseln die Verschmelzung des niederdeutschen (angelsächsischen) Volkselementes einerseits und des französisch-normannischen anderseits für immer vollzogen wurde; wodurch die Engländer als eine nach innen einige, nach außen geschlossene Nation in die europäische Völkerfamilie eintraten. Chaucer selbst hat bei diesem Vorgang von welthistorischer Bedeutung entscheidend mitgewirkt, ja er hat recht eigentlich durch seine literarische und dichterische Wirksamkeit demselben das Siegel der Vollendung aufgedrückt; er hat den nächsten Jahrhunderten einen Schatz von Dichtungen hinterlassen, deren Ausdrucksweise unbestritten als mustergültig betrachtet wurde; er hat einen Einigungspunkt in das Chaos schwankender Idiome gebracht, er hat die Sprache und mit der Sprache die Nationalität selbst fixirt. Die Umwandlungen, welche das Englische seit seiner Zeit und bis zu Shakespeare erlitten hat, sind zwar nicht unbedeutend gewesen, sie haben sich aber durchaus innerhalb der Demarkationspunkte bewegt, die wir bereits von Chaucer abgesteckt finden; sie sind nur eine Weiterbildung der sprachschöpferischen Principien, welche der große Dichter mit richtigem Instinkt und feinem Ohr dem dunkeln Stimmengewirr der werdenden Volksdialekte abgelauscht hatte. Darum darf noch nach zwei Jahrhunderten Spenser, der ältere Zeitgenoß des großen britischen Dramatikers, auf Chaucer als auf den » reinen Born des ungetrübten Englisch« hinweisen.

Schon vor der Normanneneroberung hatte das Angelsächsische allmählich jene vollen und wohlklingenden Formen eingebüßt, die allen deutschen Dialekten ursprünglich eigen sind. Die Abstumpfung und Abschwächung der Vokale in den Endungen, welche die Aussprache unseres jetzigen Deutsch dem Ausländer so unerquicklich erscheinen läßt, war in England noch um ein Jahrhundert früher eingetreten als bei uns. Die Sprache der sogenannten Sachsenchronik des 11. Jahrhunderts ist bereits ein Plattdeutsch, das sich im Klange wenig von dem unserer norddeutschen Niederungen unterschieden haben kann. Die Auslösung und Verschlechterung der Sprache wurde durch die Gewaltherrschaft der Dänen im 11. und 12. Jahrhundert noch beschleunigt. Denn mit ihr ging die Volksbildung wieder zu Grunde, die zwei Jahrhunderte früher durch des großen Königs Alfred Bemühungen einen so herrlichen Aufschwung genommen hatte. Von eigentlichen literarischen Erzeugnissen war um diese Zeit so gut wie gar nicht mehr die Rede. Sie verschwanden vollständig, seitdem die Schlacht bei Hastings die Herrschaft der französischen Normannen über England entschieden hatte.

Die französische Sprache ward jetzt die officielle Sprache der Reichsversammlung, der Gerichte, der Schulen. Sie wurde nicht nur am Königshof, sondern an allen jenen großen und kleinen Edelsitzen gesprochen und gesungen, die durch das Feudalsystem des Eroberers über das ganze Land ausgestreut waren. Die französischen Normannen hatten zudem eine im Aufblühen begriffene ritterliche Poesie auf die Insel mitgebracht, und gerade durch den kräftigen Anstoß, den jene große Waffenthat dem Geiste des erobernden Volkes gegeben, entfaltete sich diese Poesie rasch und in reicher Fülle. So sehen wir denn die wunderbare Erscheinung, die ohne Parallele in der Weltgeschichte dasteht: in einem Lande, dessen Bevölkerung wesentlich und ursprünglich deutsch ist, blüht und herrscht die französische Literatur zwei Jahrhunderte lang in einer Ausschließlichkeit, die fast keine andere literarische Lebensregung neben sich aufkommen läßt. Ja, was noch mehr und wunderbarer ist: es sind nicht etwa in Frankreich entstandene und gedichtete Lieder, die an den Höfen der nach England übergesiedelten Familien nachgesungen und nacherzählt werden: vielmehr ist gerade der Grund und Boden der deutschen Insel der Hauptsitz und Entstehungsort der bedeutendsten dichterischen Erzeugnisse der altfranzösischen Literatur.

Dieses Verhältniß wurde, je länger es dauerte, desto unnatürlicher, zumal der unterworfene deutsche Stamm eine so große innere Lebenskraft bewahrte und weiter entwickelte, daß er selbst die feudalen Institutionen des französischen Ritterthums überwand und den urdeutschen Rechtsverhältnissen sich anzupassen und unterzuordnen zwang.

Es war nicht anzunehmen, daß der Deutsche jemals seine Sprache für die französische aufgeben würde. Der unumgängliche Ideenaustausch zwischen den beiden Völkern mußte daher zu einem eigenthümlichen Kompromiß führen, der anfangs auf eine ziemlich rohe und unbewußte, aber doch wirksame Weise vollzogen wurde. Die Nothwendigkeit, sich gegenseitig, wenigstens in den materiellsten und handgreiflichsten Beziehungen, zu verständigen, führte zur Verstümmelung sowohl der deutschen als französischen Wortformen. Es war genug, daß man sich die Wort stämme merkte. Die feineren Verhältnisse der Deklination und Konjugation, schon ohnehin durch tonlose Silben bezeichnet, waren dabei unnütz, ja sogar hinderlich. Sie wurden bis auf den nothdürftigsten Rest abgestoßen. Gewisse Eigenthümlichkeiten der französischen Aussprache, gegen die sich das niederdeutsche Organ sträubte, namentlich die Nasaltöne, ließ man theils fallen, theils suchte man ihnen durch andere Kombinationen so nahe zu kommen, als es eben ging. Man sprach sie, wie man sie zu hören glaubte.

Auf diese Weise bildete sich im Laufe des 13. Jahrhunderts in der That eine neue Sprache, die, wiewohl in den Resten der Wortbeugung und den Formwörtern ganz und im Wortvorrath vorherrschend deutsch, doch weder angelsächsisch noch französisch war – sondern englisch. An Festigkeit in Wortgebrauch, Aussprache und Formation war natürlich fürs erste nicht zu denken. Nicht nur jede Landschaft differirte von der andern in der Auswahl des Vocabularium und in dem Grade der Korruption, sondern jedes Individuum von dem andern, selbst ein und derselbe Schriftsteller gebrauchte nach Versbedürfniß und Laune bald eine kürzere, bald eine längere Form, bald eine alterthümlichere und schwerfälligere, bald eine abgeschliffenere und bequemere So finden wir für das Pronomen der ersten Person: Iche, ich, ick, ie, i neben einander; für unser Participium gekommen: gicomen, icomen, comen, come; für ihr: hir, hire, her, here. Das letztere Wort bedeutet aber eben so oft hier und Haar, Heer und hören und, um das Babel vollständig zu machen, auch pflügen.. Ich habe mich soeben des Ausdrucks Schriftsteller bedient; und in der That beginnt mit dem Ende des 13. Jahrhunderts eine Rührigkeit in den bürgerlichen Schichten der Gesellschaft, die in diesem allerdings noch sehr unvollkommenen und schwer zu handhabenden Idiom mit den Poesien des französisch redenden Ritter- und Herrenstandes zu wetteifern versucht. Diese Rührigkeit und mit ihr die Anzahl poetischer Produktionen nimmt in dem Grade zu, wie wir uns dem 14. Jahrhundert nähern, und zeigt im Beginn und namentlich um die Mitte dieses Jahrhunderts, daß eine große literarische wie kirchlich-politische und sociale Krisis zur Reife gediehen ist: eine siegreiche Reaktion zu Gunsten des deutschen Volkselementes in England gegen das französische.

Daß nämlich auch die französische Sprache der höheren Gesellschaftsklassen nicht unberührt bleiben konnte von den Einflüssen des neuen Bodens, auf dem es sich heimisch machte, liegt in der Natur der Sache. Schon Wilhelm der Eroberer sah sich genöthigt, in seine öffentlichen Erlasse angelsächsische Ausdrücke für Begriffe und Dinge aufzunehmen, für welche ihm kein genau deckendes französisches Wort zu Gebot stand. Die gerichtliche und officielle Sprache wird von diesen fremden Eindringlingen je länger je mehr entstellt. Ja auch die Aussprache fängt an sich zu modificiren. Der niedere Adel konnte nicht so wie die Barone seine Söhne auf den Kontinent schicken, um die Sitte und Sprache der Väter dort von Generation zu Generation aufzufrischen. Wurde der Schulunterricht auch in französischer Sprache ertheilt, so hatten doch die ersten Umgebungen der Wärterinnen und Dienstmannen bereits einen schwer zu vertilgenden Einfluß auf die Jugend geübt, und die Lehrer in der Schule befanden sich selbst in keiner besseren Lage. Die Schultradition, ohne Zusammenhang mit der französischen Volkssprache, entfernte sich von Jahr zu Jahr mehr von dem lebendigen Gebrauch der letzteren. Das Französische verlor in England den Boden unter den Füßen, es wurde ein Kunstgewächs, das sich nicht mehr lange halten ließ. Man begann einzusehen, daß das anglisirte Französisch kein »Französisch von Paris« mehr sei (s. Canterbury-Gesch., Vers 126) und daß der in England gebornen und französisch schreibenden Dichter der schlimme Makel provinzieller und pedantischer Lächerlichkeit anhafte, und mit dieser Einsicht mußte auch diese Art der Produktionen von selbst aufhören So verstehe ich die Entschuldigung Gower's, des letzten in französischer Sprache dichtenden Engländers, daß er nicht die »Redegabe des Französischen« habe – wiewohl es sicher ist, daß er in seinem Französisch sich mit aller Bequemlichkeit bewegte, da es ihm so gut wie das Englische »mit der Muttermilch zugeströmt war«. S. Gower in der Ballade: Li prus Jason bei Warton Hist. of Engl. Poetry. t. 2, p. 249. ed. 1840. Vgl. Pauli: Bilder aus Alt-England, VII, S. 188..

Es wurde aber diese durch drittehalb Jahrhunderte vorbereitete Krisis beschleunigt und zum Abschluß gebracht eben in der Zeit, da Chaucer auftrat und durch Ereignisse, die zwar den äußeren Glanz und Ruhm des englischen Namens für den Augenblick beeinträchtigten, aber für die Selbständigkeit des Landes und für die innere Entfaltung seines Staats- und Volkslebens von dauerndem und unberechenbarem Gewinn gewesen sind: durch die Reihe von Unfällen nämlich, welche in dem letzten Theile der Regierungszeit Eduards III. den Verlust der reichen Provinzen herbeiführte, die das englische Herrscherhaus in Frankreich besessen hatte. Allerdings hatten auch schon vorher die glorreichen Tage von Crecy und Poitiers, die jenen Besitz zu befestigen versprachen, dennoch in ähnlichem Sinne gewirkt. Ans diesen Schlachtfeldern, wo der Normannenadel an der Spitze seiner angelsächsischen Dienstmannen gegen die französischen Stammgenossen kämpfte, und dem Langbogen der bäurischen Scharfschützen vorzugsweise seine glänzenden Erfolge verdankte, hier wurde eine Waffenbrüderschaft geschlossen und mit Blut besiegelt, die inniger und von dauernderem Bestand war als selbst das Band gemeinsamer Abstammung und Sprache. Das gehobene Selbstgefühl und Volksbewußtsein der Yeomanry wurde von Ritterschaft und Adel getheilt. Beide fühlten sich als Söhne einer Mutter: Englands. Und als nun die Tage des Mißgeschicks kamen und die festländischen Besitzungen durch die Gewandtheit des französischen Fabius, Bertrand du Guesclin, den Engländern für immer entrissen wurden, da schien jede Brücke abgebrochen, die bisher die Verbindung mit Frankreich und die Erneuerung französischer Art und Sitte dem englischen Adel leicht und lockend gemacht hatte. Das Französische geht in England entschieden dem Erlöschen entgegen. Zuerst wird es als Unterrichtssprache aus den Schulen, dann aus den mündlichen Verhandlungen vor Gericht verdrängt. Ein Jahrhundert dauerte es zwar noch, ehe es als Umgangssprache, sowie aus den Parliamentsverhandlungen und der Gesetzgebung verschwand, und in den Akten der Gerichte hält es sich sogar in furchtbar korrumpirter Form noch bis tief in das 17. Jahrhundert hinein. Aber dieser Pedantismus ist für die englische Literatur fortan völlig bedeutungslos; höchstens als ein Beleg für das Festhalten des Engländers an ererbten, wenn auch überlebten Formen bemerkenswerth.

Das innere Zusammenfassen des englischen Volksgeistes und die Auferweckung des unverwüstlichen deutschen Elementes in der Nation offenbart sich aber auch gleichzeitig durch die Erhebung des dritten Standes in der Reichsversammlung. Das Unterhaus wird sich zum erstenmal der Kraft und Bedeutung bewußt, welche diesen politischen Körper im Laufe der Jahrhunderte zum Musterbild aller parlamentarischen Versammlungen hat werden lassen.

Es offenbart sich ferner derselbe Aufschwung auf kirchlichem Gebiete durch die reformatorischen Bewegungen, die, von Wiclif energisch und systematisch geleitet, ihre Schwingungen bis nach Deutschland fortsetzten und hier den ersten Impuls zu dem großen Meinungsumschwung gaben, der nach mannigfachen Hemmungen und Brechungen endlich doch zu der großen Kirchenverbesserung des 16. Jahrhunderts führte. Auch diese Bewegung war durchaus deutsch. Es läßt sich ihr Zusammenhang und ihre bewußte Anknüpfung an die freiere Auffassung der angelsächsischen Kirche und ihre unabhängigere Stellung der Kurie gegenüber historisch wie literarhistorisch nachweisen

So war denn vom französischen Wesen nichts in der Nation geblieben als der bildende Einfluß, den der innige Verkehr mit einem Tochterstamm des großen Römervolkes nothwendig auf die derbe und zur Plumpheit neigende Natur des Niederdeutschen üben mußte. Es war ein größerer Ideenreichthum mit einem entsprechenden Wörterschatz eingeführt, dessen völlige Aneignung die Elasticität und Beweglichkeit des Fassungsvermögens steigern mußte. Es war ein Sagenschatz in verhältnißmäßig gebildeter Form bereits Eigenthum des Landadels. Er mußte um so mehr zur Nachahmung reizen, als die Träger der poetischen Kunstfertigkeit, die Minstrels, allmählich beider Sprachen mächtig geworden waren. Der ritterliche Sinn, die äußere Eleganz und Zierlichkeit des nordfranzösischen Wesens schwand nicht, vielmehr, indem sie die rauheren und roheren Seiten des Volkes abschliff, vermählte sie sich mit den solideren Tugenden desselben, mit der Biederkeit und Gemüthstiefe des Deutschen. Die edle Frucht dieser Völkerehe war eine wahrhafte Civilisation, eine tief menschliche Bildung, deren von allen Nationen Europa's nächst Italien England zuerst theilhaftig geworden ist, und die es, glücklicher als Italien, durch alle folgenden Zeiten festgehalten und fortentwickelt hat.

In einer Zeit, wo Deutschland nach dem vorübergehenden Glanze seiner romantischen Kulturperiode durch die Greuel der kaiserlosen Zeit und des Faustrechtes in tiefe und langdauernde Barbarei versank, wo in Frankreich aus ähnlichen Ursachen eine ähnliche dunkle Kluft den Gang der literarischen Entwicklung unterbrach, in demselben Zeitabschnitte trat die oben geschilderte segensvolle Umwandlung für England ein.

Dieser Zeit leuchtet auf dem Gebiete der Poesie Chaucer voran, den ein jüngerer Zeitgenoß mit treffender Metapher als den Angelstern der englischen Sprache begrüßt Lydgate, im Prolog zur Uebersetzung von Boccaccio's »Fall der Fürsten« bei Sir H. Nicolas Life of Chaucer vor der Pickering-Ausgabe von Chaucer's dichterischen Werken (London 1852), S. 99., wie ihn mit gleichem Recht seine dankbaren Landsleute noch heutigen Tages »den Morgenstern der englischen Dichtung« nennen Tennyson's, Gedichte, deutsche Uebersetzung von Hertzberg, S. 146..

Ueber seine Lebensumstände sind uns zwar erst von seinem Mannesalter an sichere Nachrichten bewahrt. Diese sind aber um so schätzbarer, als sie sich größtentheils aus amtliche Dokumente stützen und durch den Fleiß seines letzten Biographen, Sir Harris Nicolas A. a. O., S. 119-141., auf eine so ansehnliche Zahl gebracht sind, daß sie in Verbindung mit Chaucer's hinterlassenen Schriften uns in den Stand setzen, uns ein lebendiges Bild von dem Charakter des Mannes bis auf seine äußere Erscheinung zu entwerfen.

Als sein Geburtsjahr wird in den geläufigen Literaturgeschichten das Jahr 1328 angegeben. Die älteren Biographen, und nach ihnen Godwin History of the Life and age of G. Chaucer. London 1803. II.vol.4. Deutsch im Auszuge von Breyer. Jena 1811. und Wilh. Müller In Ersch und Grubers Encyklopädie XVI, S. 216ff., berufen sich dafür auf eine Inschrift seines Grabsteines, nach welcher er am 25.Oktober 1400 in einem Alter von 72 Jahren gestorben wäre. Aber schon Tyrwhitt The poetical works of G. Chaucer. London 1852. Appendix to the Preace, p. CC. spricht zweifelhaft von diesem Dokument, und der zuverlässige Sir H. Nicolas A. a. O, S. 58., der das ganze Grabdenkmal genau beschreibt und sämmtliche Inschriften auf und neben demselben mittheilt, giebt keine, welche das Lebensalter des Dichters enthielte. Dagegen zeigt das Hauptepitaph im Hintergrund der Nische den Sterbetag wie oben angegeben. Ueberdies ist ja jenes berühmte Monument in Westminster-Abtey von verhältnißmäßig sehr spätem Ursprung, erst anderthalb Jahrhunderte nach dem obigen Datum (im Jahre 1556) von Nicolas Brigham aus Oxford dem Dichter gesetzt worden.

Nun spricht aber gegen das angeführte Jahr direkt die zuerst von Godwin A. a. O. IV. Anh. Tyrwhitt, S. XIII. Sir H. Nicolas, S. 14. veröffentlichte Urkunde einer gerichtlichen Zeugenaussage Chaucer's vom Jahre 1386, in welcher der Dichter erklärt, daß er 40 Jahre und darüber ( XL ans et plus) alt sei. Allerdings ist diese Bestimmung ungenau und man mag für Altersangaben in jener Zeit eine Unsicherheit des Deponenten auf einige Jahre annehmen. Diese Ungenauigkeit aber so weit ausdehnen zu wollen, daß sie in Einklang mit der unverbürgten Jahreszahl der Grabschrift käme, ist platterdings unmöglich. Ein Mann von 56 Jahren, der bei gesunden Sinnen und obenein recht sehr gebildet ist, kann in einer ernsthaft gemeinten protokollarischen Aussage sein Alter nimmermehr dadurch bestimmen wollen, daß er sagt, er sei über vierzig. Das Aeußerste, was man in diesem Fall zugeben kann, ist, daß der Deponent schon ziemlich vorgerückt in den Vierzigern ist. Nehmen wir daher als eine Zahl, die die Mitte noch überschreitet: 46 Jahre an, so daß wir für Chaucer's Geburt das Jahr 1340 erhalten, so werden wir, weit entfernt, in Widersprüche mit Argumenten zu gerathen, die sich aus Chaucer's Leben entlehnen lassen, vielmehr eben dadurch erst manchen Zweifel gelöst sehen, der sich uns bei der traditionellen Jahreszahl aufdrängte. Zunächst sagt Chaucer in den Canterbury-Geschichten (V. 4477) von dem Klaggedicht auf den Tod der Herzogin Blanche, er habe es in seiner Jugend geschrieben. Nach der gemeinen Annahme wäre Chaucer damals, da Blanche 1369 starb, 41 Jahre alt gewesen. Dies Alter wird auch ein Greis nicht seine Jugendzeit nennen. Nach unsrer Annahme war er zur Abfassungszeit des Gedichtes 29 Jahre alt. – Ferner würde Chaucer, da er ebenfalls nach der oben angezogenen Zeugenaussage im Jahre 1386 27 Jahre in den Waffen gedient hatte, erst im 31. Jahre in das Heer eingetreten sein, eine unglaublich späte Zeit für einen angehenden Kriegsmann jener ritterlichen Tage, zumal wenn man die vielen glorreichen Heereszüge in Betracht zieht, welche den ersten Theil der Regierungszeit Eduards III. ausfüllen. Ja, das untergeordnete Amt eines Yeomans im königlichen Haushalt würde er erst im vierzigsten Jahr angetreten haben S. Patent bei Rynter. 41 Edw. III. Tyrwh. S. X. N. d. u. unten.. Wenn man nach allen Analogien andrer Dichter voraussetzen muß, daß Chaucer in diesem Lebensalter den Höhenpunkt seiner poetischen Zeugungskraft sicher erreicht hatte, so wäre allerdings diese späte und dürftige Anerkennung seiner Verdienste beklagenswerth und die wehmüthige Betrachtung Tyrwhitts Pref., p. X. über die seltne Vereinigung der Herrschertugenden mit dem Gefühl für poetische Größe durchaus an ihrem Ort.

Aber wir haben glücklicher Weise nicht nöthig, Eduard dieser barbarischen Gleichgültigkeit gegen das größte Dichtergenie seines Jahrhunderts anzuklagen. Chaucer war um die Zeit, da er das Hofamt antrat, erst 27 Jahre alt, als er seine militärische Laufbahn begann, erst 19. Er mochte durch die Bekanntschaften, die er unter seinen höher gestellten Waffengefährten angeknüpft, durch die Beschützer, welche ihm eine gelegentliche Uebung seiner Dichtergabe unter ihnen gewonnen hatte, dem König empfohlen sein, und dieser wollte einem aufblühenden Talente Ermunterung und in der Umgebung eines glänzenden Hofes ein passendes Terrain für seine Ausbildung bieten.

Endlich wird uns durch unsre Voraussetzung allein die Erscheinung erklärlich, daß Chaucer bei seinen mannigfaltigen Anspielungen auf Zeitverhältnisse niemals Ereignisse aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts in der Sprache eines Zeitgenossen erwähnt.

Es ist Fiedler's Verdienst, zuerst die Autorität der Grabinschrift angefochten und mit Entschiedenheit auf ihren Widerspruch mit dem unabweisbaren juridischen Dokument hingewiesen zu haben Einleitung zu Chaucer's Leben und Werken, S.7.. Er geht aber ohne Zweifel nach der andern Seite zu weit, wenn er sich an den Ausdruck vierzig und mehr so genau hält, daß er das Geburtsjahr Chaucer's bis 1345 heraufschiebt. Der Dichter würde alsdann seinen Militärdienst mit dem 14. Jahre begonnen haben, was unter allen Umständen außerordentlich unwahrscheinlich, in Chaucer's Verhältnissen aber vollends unglaublich wäre. Denn was man auch von seinen gelehrten Kenntnissen urtheilen mag, sie sind für seine Zeit sehr schätzenswerth und zu beträchtlich, als daß sie entweder schon in so früher Jugend oder später in einem bewegten Kriegs- und Hofleben so nebenbei hätten erworben werden können. Sie können nur durch Universitätsstudien begründet sein S. unten Note 67.. Zu welchen neuen Konjekturen müßte man aber seine Zuflucht nehmen, um diese Thatsache mit jener Annahme zu vereinigen!

Derjenige Beweisgrund endlich, auf welchen Fiedler sich am entschiedensten für ein so spätes Datum der Geburt Chaucer's stützt, daß nämlich die Hofcharge, die in dem Ernennungspatent durch » Valetus noster« bezeichnet wird, die Stellung eines Pagen gewesen, für die ein Alter von 22 Jahren eher noch zu hoch als zu niedrig wäre, beruht auf einer in zweifacher Beziehung irrthümlichen Worterklärung, wie weiter unten dargethan werden wird.

Chaucer ist aller Wahrscheinlichkeit nach in London geboren, wo im 13. und 14.Jahrhundert mehrere Bürger seines Namens und daher doch wohl derselben Familie ansässig waren S. die Zusammenstellung bei Nicolas, Note A., S. 119ff.. Die Sache würde durch sein eignes Zeugniß im »Testament der Liebe« S. unten, S. 34ff. außer allem Zweifel sein, wenn es ebenso zweifellos wäre, daß diese unter seinem Namen gehende Schrift in der uns vorliegenden Form wirklich von Chaucer verfaßt – oder daß, wenn sie von ihm verfaßt war, unter dem in der ersten Person dort geführten Erzähler wirklich unser Dichter zu verstehen sei« S. unten, Text zu Note 54..

London war schon damals der Centralpunkt des englischen Lebens, der Sitz eines wohlhäbigen, trotzigen Bürgerthums, das mit den Rittern und Herren auf gleichem Fuße zu verkehren gelernt hatte. Aus diesem Grunde ist die Stadt auch wichtig für die Mischung der beiderseitigen Sprachen, da ihr Beispiel als maßgebend für das ganze Königreich gelten mußte, zumal sie in der Mitte derjenigen Landschaften lag, deren Mundart schon in früheren Jahrhunderten als die reinste und gebildetste in den angelsächsischen Reichen gegolten hatte.

Der Dichter gehörte dem ritterlichen Stande an, wiewohl er niemals die eigentliche Ritterwürde erlangt zu haben scheint; denn diese immer kostspielige Ehre hatte längst angefangen als eine Last zu gelten. Die weniger bemittelten Glieder der Gentry entzogen sich derselben auch dann noch gern, wenn sie als Inhaber eines Ritterlehens die Pflicht hatten, sie nachzusuchen S. Anmerk. zu Cant.-Gesch., V. 333.. Chaucer scheint nicht in die letzte Kategorie gehört zu haben. Man hat vergebens versucht, nachzuweisen, daß er im Besitz eines Landgutes gewesen. Seine Vermögensumstände waren vielmehr eher dürftig als das Gegentheil S. unten, nach Note 53.. Daß er jedoch aus einer ursprünglich normännischen Familie entsprossen war, bezeugt sein Name. Chaucer (Chaucier) hat im Altfranzösischen die wenig poetische Bedeutung Strumpfwirker.

Er hat, wie schon angedeutet, die gewöhnliche Erziehung eines Mannes von Stande erhalten und eine der beiden Hochschulen des Landes, Oxford oder Cambridge, besucht. Für letztere spricht Chaucer's genaue Kenntniß der dortigen Lokalitäten und studentischen Institute, die er in der Erzählung des Verwalters (Cant.-Gesch., V. 3919ff.) an den Tag legt, und in Verbindung damit ist denn auch die Notiz im »Liebeshof« (V. 913) nicht ohne weiteres bei Seite zu schieben, wo er sich den »Studenten Philaret von Cambridge« nennt. Das augenfällige Pseudonym verdächtigt keineswegs ohne weiteres den daneben stehenden wirklichen Ortsnamen, wie allzu skeptische Kritiker meinen. Im Gegentheil, er scheint anzudeuten, daß der Dichter seine Maske nicht allzu undurchsichtig habe machen wollen. Daß er daselbst die zu seiner Zeit geläufigen Schriftsteller des klassischen Alterthums studirt hat, wäre, wenn es nicht aus der Einrichtung der englischen Universitäten von selbst erhellte, aus zahlreichen und häufigen Benutzungen antiker Autoren in seinen Schriften zu ersehen.

Es erhellt jedoch aus denselben nicht, welchem Fachstudium er sich etwa nach Erwerbung dieser allgemeinen Kenntnisse gewidmet. Einige seiner Biographen möchten ihn gern zum Juristen machen. Eher würde seine wirklich recht umfangreiche Belesenheit in der Patristik und der kirchlichen Literatur überhaupt für die Theologie sprechen, wenn nicht die Lektüre theologischer Schriften damals in allen gelehrten Kreisen verbreitet gewesen wäre.

Dagegen scheint Chaucer einer gelehrten Passion nachgehangen zu haben, die weder mit der später von ihm eingeschlagenen kriegerischen und bürgerlichen Laufbahn, noch mit seinem Beruf als Dichter im Zusammenhang, vielmehr mit beiden in sonderbarem Kontrast steht. Er hat sich offenbar viel und ernstlich mit Astronomie beschäftigt und als ein Ergebniß seiner Studien eine (unvollendet auf uns gekommene) Abhandlung über den Gebrauch des Astrolabiums für seinen Sohn Louis (Lowis) verfaßt (im Jahre 1391) Nach des zuverlässigen Lydgate (Note 3) ausdrücklichem Zeugniß. Die Jahreszahl ergiebt sich mit hinlänglicher Evidenz aus dem Umstand, daß er zweimal bei Berechnung eines astronomischen Problems den 12. März 1391 als Basis seines Kalküls wählt. Halliwell giebt in seinen Nachträgen zu Maundevile's Reisen (S. 318 u. S. 180, Z. 16) folgende Notiz aus Gentlemans Magazine, April 1839. »Chaucer übersetzte eine Abhandlung darüber (über das Astrolabium), deren Original im Sanskrit gefunden ist.« Dies ist eine jener Schwindeleien gelehrter Charlatane, die nicht ernst genug gezüchtigt werden kann. Freilich sagt Chaucer in der Einleitung mit gewohnter Bescheidenheit, daß sein Werk nur eine Kompilation aus älteren Astrologen sei, die er in das Englische übertragen habe. Aber wer nur einen Blick weiter in die Abhandlung selbst geworfen hat, muß wissen, daß sie keine Uebersetzung ist und daß, wenn der Verfasser, wie natürlich, auch frühere Vorarbeiten benutzt hat, eine für die Polhöhe und den Meridian von Oxford berechnete Anweisung schon allein deshalb ihr Original nicht im Sanskrit haben kann. Chaucer nennt übrigens selbst seine Gewährsmänner (S. 440a Urry) und hat sich wahrscheinlich um ihretwillen an Oxford gehalten, um Reduktionen auf seinen dermaligen Aufenthaltsort zu vermeiden. Etwas Weiteres ist aus diesem Umstand nicht zu schließen.. Er weiß übrigens sein lebhaftes Interesse für diese Wissenschaft so wenig zu zügeln, daß er mit ihren abstrusen Theorien und technischen Erörterungen zuweilen mitten in seine poetische Darstellung hineinbricht, in einer Weise, die wir einem Dichter der Gegenwart nicht verzeihen würden, die uns auch bei ihm ein Lächeln abnöthigt, die wir aber dennoch als zur Charakteristik dieser seltsam bunten und phantastischen Zeit gehörig nicht ohne Interesse verfolgen können. Anderseits haben die an den betreffenden Stellen gegebenen astronomischen Bestimmungen und Erörterungen vielfach Bedenken in Bezug auf ihre Richtigkeit erregt. Es wird aber aus den Anmerkungen des Uebersetzers sich ergeben, daß diese Bedenken in jedem einzelnen Fall unbegründet und theils aus Mißverständnissen der Erklärer, theils aus augenfälligen Korruptionen der Handschriften entsprungen sind S. die Anmerkungen zu Cant.-Gesch., V. 8, 4421ff., 9960, 9761ff., 10,362, 15,196, 15,201, 17,313ff. Das kleine Versehen V. 10,579 hat mit der Rechnung nichts zu thun.. Er konnte natürlich auch die in jenen Zeiten mit der Astronomie eng verwachsene Astrologie nicht außer Acht lassen, und viele Stellen zeugen von seiner genauen Kenntniß dieser Afterwissenschaft, die ihm hin und wieder zur poetischen Ausschmückung seiner Erfindungen dient, oft aber auch Gelegenheit zu Spötteleien bietet. Sein Hang zur Romantik führte ihn selbst in die abstrusen Träumereien der Alchymie ein. Aber sein klarer Geist kehrte unbeschädigt aus diesen dunkeln Studien zurück und gewann dadurch nur einen Stoff mehr zur Satire auf den krankhaften Aberglauben seiner Zeitgenossen und auf die betrügerischen Künste der Adepten.

Im übrigen hat er sich nach Vollendung seiner Studien zunächst mehr im Gewühl des Lebens als in der Einsamkeit seines Studierzimmers gebildet. Im Jahre 1359 trat er in die Armee Deposition d. d. 15.Okt. 1386, bei Tyrwhitt, p. XIII.. Es war um dieselbe Zeit, als Eduard III. jenes Aufgebot zum Heereszug nach Frankreich erließ, das eine größere und stattlichere Schaar um seine Fahnen versammelte, als die Zeitgenossen je vorher gesehen hatten. Wahrscheinlich gerieth Chaucer damals in die Kriegsgefangenschaft, deren das öfter angezogene Dokument erwähnt. Aber der schon im nächsten Jahre geschlossene Friede von Chartres und Bretigny gab auch zugleich leichtere Gelegenheit zur Auslösung der Gefangenen, als die unmittelbar darauf folgende lange Reihe von Unglücksjahren. Nun aber sehen wir Chaucer im Jahre 1367 nicht blos auf freiem Fuß, sondern bei Hof in Gunst und in einer Ehrenstelle, wie sie seinem Alter und den mäßigen Ansprüchen, zu denen ihn seine Geburt berechtigte, angemessen war. Er trat zunächst in die Charge eines Valets (oder Yeoman) ein, die unter den niedern Hofämtern die zweite Stelle einnahm Rot. Pat. 41, Edw. III., p. 1. m. 3. b. Rymer. Nicol. Not. B. p. 120. Es wird ihm in dem Patent ein Jahrgehalt von 20 Mark, was nach Campbell (wohl sehr übertrieben) dem jetzigen Werth von 200-300 Lst. (1500-2000 Rthlr.) gleichgekommen wäre.. Wenn damit Dienstleistungen der Art verknüpft waren, wie sie etwa denen eines Hoflakaien unsrer Zeit entsprechen, so erinnere man sich, daß das Feudalsystem sich eben auf ganz persönliche dienerschaftliche Leistungen stützte; daß solche aristokratischen Titel, auf welche die ersten Würdenträger und Fürsten des Reiches stolz waren und noch zum Theil sind, wie Truchseß, Mundschenk, Küchen- und Kellermeister, ursprünglich und in jener Zeit noch bitterlich ernst gemeint waren. Solche Dienste, wie: bei Tisch aufwarten, den Steigbügel halten, den Herrn ankleiden, der Dame die Schleppe tragen, Bote reiten, die Waffen und das Ritterpferd putzen und anschirren, wurden auch an den kleineren Herrenhöfen durch junge Leute von Adel versehen. Es lag darin nicht im mindesten etwas Entehrendes. Vielmehr lernten sie, indem sie zugleich in nützlicher Beschäftigung verwandt wurden, ritterliche Sitte und Anstand auch in solchen äußeren Verrichtungen entfalten, sie lernten den jugendlichen Trotz und Standesübermuth bezwingen, der in den handfesten Zeiten des Mittelalters nur zu geneigt war, sich nach allen Seiten hin thätlich und schädlich Bahn zu brechen. Galten nun solche Dienste, einem schlichten Ritter geleistet, nicht als unehrenhaft, so mußte eine derartige Stellung an dem Hofe des Monarchen, selbst für einen jungen Mann aus dem niedern Adel, als ein glänzendes und beneidenswerthes Ziel seines Ehrgeizes erscheinen. Es rückten auch die niedrigsten Stellen zu einer höheren Bedeutung hinauf.

In einem kleineren Haushalte wurde der Dienst eines Valet durch einen zwar freien, aber nicht ritterbürtigen Lehnsmann (Dienstmann, ministerialis) versehen. Daher auch der Name Valet-Vassalet, Afterlehnsmann, Hintersasse. Diesen, vom Kontinent herübergetragenen Begriff fand man in dem auf der Stufenleiter politischer Berechtigung ihm ungefähr gleichstehenden englischen Yeoman wieder. Auch diese sind zwar persönlich freie Leute ( liberi tenentes, freeholders), aber da sie bei geringerem Grundbesitz keine selbständige Stellung in der Gemeinde und Grafschaft gewinnen können, erscheinen sie nicht nur im feudalen Heerdienst ihren Lehnsherren untergeordnet, sondern haben sich auch niemals zu der höheren geselligen Stellung erhoben wie in Deutschland, wo gerade aus den Ministeriales sich der niedere Adel bildete. Vielmehr sehen wir sie in Haus und Hof zu minder ehrenvollen Leistungen verwandt – als Förster, Flurschützen, Rentvögte u. s. w. S. Cant.-Gesch., V. 101, 6978.. Im allgemeinen aber decken sich die Wörter valet und yeoman und werden zu Chaucer's Zeit gleichbedeutend in den gewöhnlichen Verhältnissen für einen freien, aber nicht ritterlichen Dienstmann gebraucht S. die Reihenfolge im Testament des Herzogs Edward von York, bei Rymer. an. 1415. Tyrwhitt Append., p. X. Statut. 37. Edw. III, c. 9. und 11. Stat. 20. Ric. II, c. 2. bei Tyrwhitt zu Cant. T. v. 101..

Höhere Verrichtungen dagegen, wozu aber unbedingt das Aufwarten bei Tisch gehörte, werden auch an den kleineren Höfen edelgeborenen Dienern übertragen. Ein solcher hieß Squiere (franz. écuyer, ital. scudiere). Der Name weist auf den Waffendienst hin (Schildträger, scutifer). Da der Regel nach jeder junge Edelmann, eh' er sich die Sporen verdiente, diesen Dienst durchmachen mußte, so wird dann auch Squiere für jeden jungen Mann von Stande, der noch nicht Ritter ist, gebraucht. Endlich, da seit Eduard's I. Zeiten die Inhaber einfacher Ritterlehen sich der Ehre des Ritterschlages als einer Last zu entziehen anfingen, und sonach ihr Lebelang Squieres blieben, so ward das Wort die noch bis auf den heutigen Tag gültig gebliebene Bezeichnung für einen Gutsbesitzer von niederm Adel: Squire. Bereits zu Chaucer's Zeit finden wir das Wort in allen drei Bedeutungen In der ersten: Erzählung des Büttels, V. 7825; in der zweiten: Prolog, V. 79 ff.; in der dritten: Erzählung des Gutsherren, V. 11,249 ff.; vgl. V. 1412. Dem französischen Squiere entspricht das angelsächsische: Childe wenigstens in den beiden ersten Bedeutungen. Es ist leicht zu sehn, daß Chaucer seinem Stande nach Squiere war, als er seinem Amte nach im königlichen Haushalt Valet wurde.. In allen dreien entspricht ihm vielleicht aus ähnlichen Gründen das deutsche Wort Junker.

Zur Vervollständigung dieser, für das Verständniß vieler Stellen unsers Dichters nothwendigen Auseinandersetzung diene noch Folgendes: Bei der im 14. Jahrhundert auch in den untern Schichten eingetretenen Lockerung des Lehnsverbandes war eine zahlreiche Klasse freier Leute niedrer Geburt ohne Grundbesitz entstanden, die ebenso gut wie die gemeinfreien Freeholders – Yeomen genannt wurden. Diese ließen sich ihre persönlichen, auf Kontrakt begründeten Dienste in Geld bezahlen und waren daher wirklich Diener (Bediente), ganz im jetzigen Sinne des Wortes So der Dienstmann des Stiftsherren in C.-G., V. 16,054 ff., wo man namentlich vgl. V. 16,175. Diese für die Entwickelung des englischen Volkslebens überaus wichtige Erscheinung, welche ohne Zweifel mit der in England viel früher als auf dem Kontinent eintretenden Bedeutung des baaren Geldes zusammenhängt (S. W. Kiesselbach: Der Federalist, Thl. I, S. 29) ist noch keineswegs nach allen Beziehungen hin aufgeklärt. S. jedoch die vortreffliche Darstellung S. Sugenheim's: Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit in Europa. St. Petersburg 1861. S. 290 ff..

Endlich sei noch dies bemerkt, daß das Wort Page (παίδιον = garzun) und das mit ihm sich ursprünglich deckende Knave (Knabe, Knappe) in England zu Chaucer's Zeit viel tiefer auf der Stufenleiter der Bezeichnung für persönliche Dienststellungen steht, als wir es nach der Bedeutung dieser Wörter im Sprachgebrauch des Kontinents erwarten sollten. Beide Ausdrücke werden für die niedrigsten, mehr eines Hörigen als eines Freien würdigen Dienste gebraucht S. Cant.-Gesch., V. 1417 ff., 1428 ff., 3376, 3430 ff., 6772, 12,975., und bekanntlich ist das Wort Knave gleich dem sinnverwandten villain (ursprünglich Dorfbewohner, oder Leibeigner) heutigen Tages noch tiefer, geradeswegs zu einem Schimpfwort herabgesunken (vgl. Bube im Deutschen). Daß dennoch die ursprüngliche, noch vor Chaucer's Zeit hinaufgreifende Bedeutung noch im 14., vielleicht sogar im 15. Jahrhundert lebendig geblieben sein muß, erhellt aus der Benennung der Figur im Kartenspiel Knave ( Valet, Bube), die sich als Knappe darstellt.

War nun am königlichen Hofe das Amt eines Valet schon ehrenvoll, so war es das eines Squiere (Hofjunker) noch in höherem Maße. Wie der Rittersmann mit seinem Squiere als mit einem ebenbürtigen Familiengliede vertraulich verkehrte, so konnte der Hofjunker des Monarchen bereits zu Aufträgen verwandt werden, welche das höchste Vertrauen des Fürsten voraussetzten und die zu allen Zeiten als höchst ehrenvoll gelten würden.

Schon als Valet ward Chaucer im Jahr 1370 in königlichem Auftrage S. Tyrwhitt a. a. O., p. XI, Not. f. Rot. Pat. 44, Edw. III, p. 2. m. 20. Nicolas, p. 15, Note 11. und mit einem Geleitsbriefe jenseits des Meeres ( ad partes transmarinas) geschickt.

Am 12. November 1372 aber Rot. Franc. 46 Edw. III, m. 8. bei Godwin und Nicol. erhielt er den Auftrag, mit den Bürgern von Genua, Jakob Pronam und Johannes de Mari, zu einer Kommission zusammenzutreten, um mit dem Dogen und der Republik wegen Wahl eines englischen Seehafens zu unterhandeln, in welchem die Genuesen eine Faktorei gründen möchten.

In dem betreffenden Patent erscheint Chaucer nun bereits als königlicher Squiere ( scutifer noster). Doch ist mit dieser ausgezeichneteren Stellung kein höherer Gehalt verknüpft. Vielmehr bezieht er die auf Lebenszeit ihm bewilligten 20 Mark nach wie vor und zwar in seiner Eigenschaft als Valet So in der Issue Rott. Mich. 48 Edw. III (1374) vom 22 November 1373 Gottfredo Chaucer valletto. Ebenso 1374, 75. S. bei Nicol., p. 30. Auch in den Bestätigungsurkunden durch Richard II. handelt es sich immer nur um die 20 Mark jährlicher Pension. Der Squiere scheint in der königlichen, wie in andern Haushaltungen, nur eine Vergütigung für seine Garderobe empfangen zu haben. (S. Canterb.-Gesch., V. 7829, 7875). Der Charakter eines Ehrenamtes wurde dadurch aufrecht erhalten. Chaucer empfing halbjährlich 50 Shill. S. Wardrobe accounts 50, 51. Edw. III. bei Nicol., p. 32, vgl. p. 51., die also durch den höheren Rang nicht erloschen ist. Dagegen scheinen seine Einnahmen durch nicht unerhebliche Reisegelder, die er theils im Vorschuß, theils nach Rechnunglage empfängt, bedeutend vermehrt S. die Dokumente bei Nicolas Not. D. E. G. H. I..

Chaucer hatte sich wahrscheinlich kurz vor seiner Anstellung im Hofdienst mit einer Ehrendame » Maid of honour of the chamber of Ph. Q. of Engl.« – Devon: Issue Rott. of Thomas de Buckingham. 44 Edw. III., 7 Nov. » uni domicellarum Philippae«. Exit. Pasch. 4, Ric. II. bei Rymer. Daß domicella in dieser Verbindung nur der Titel eines Amtes ist und ebensogut auf verheirathete als unverheirathete Damen Anwendung findet, weist Sir H. Nicolas nach, S. 138, Not. E. Die erste Erwähnung der Philippa als Chaucer's Gattin ist in dem Patent vom 12. September 1366. der Königin Philippa vermählt, die mit ihrem Vornamen ebenfalls Philippa hieß. Sie war die Tochter Pagans de Rouet ( Sir Payne Roet) aus dem Hennegau, Wappenkönigs für Guyenne Dies erhellt zur Evidenz 1) aus dem Stammbaum, den zur Zeit der K. Elisabeth Robert Glover, Herold für Somerset, eine in der Heraldik höchst achtungswerthe und zuverlässige Autorität, zusammengestellt hat; 2) aus dem Umstande, daß Thomas Chaucer, des Dichters Sohn, neben dem Wappen und Siegel seines Vaters auch das der Rouets führte – nach einem bis in das 15. Jahrhundert sehr gewöhnlichen Gebrauch, die heraldischen Abzeichen der mütterlichen Vorfahren anzunehmen; 3) aus der Thatsache, daß die Wappen verschiedener Nachkommen des Herzogs von Lancaster und der Katharina Swynford auf dem Grabe des Thomas Chaucer angebracht sind. S. die Dokumente bei Sir H. Nicolas, S. 60, 61, und Note CC., der wahrscheinlich im Gefolge der Königin Philippa im Jahre 1328 nach England übergesiedelt war, und eine Schwester der verwittweten Katharina Swynford, der Geliebten und nachmaligen Gemahlin des Herzogs Johann von Lancaster. Seine Gattin, die für ihre Hofdienste seit 1366 eine lebenslängliche Rente von 10 Mark jährlich bezog Rot. Pat. 40, Edw. III., p. 2 m. 30. bei Nicol., p. 62, Not. 4., erhielt dieselbe auch nach dem Tode ihrer Gebieterin für sich und ihren Mann zugesichert und auch nachmals durch Richard II. bestätigt Issue Rott. Ostern 4, Ric. II., bei Godwin und Nicolas (Note 23)..

Einen weiteren und, wie es scheint, sehr bedeutenden Zuwachs erhielten Chaucer's Einnahmen durch seine am 8. Juni 1374 erfolgte Ernennung zum Steuerkontroleur über die Abgaben von Wolle, Fellen und gegerbten Häuten, so wie über die kleineren Weinzölle im londoner Hafen Rot. Pat. 48, Edw. III., bei Godwin ( II, p. 97) und Nicol. ( p. 29).. Allerdings wird einer fixirten Besoldung dafür nicht erwähnt. Denn nicht dahin zu rechnen ist die bereits am 23. April desselben Jahres durch königliche Ordonnanz verfügte Zusicherung eines Kruges Wein täglich auf Lebenszeit zu verabreichen durch den königlichen Kellermeister Nicol, a. a. O., Note 28.. Aber die Emolumente waren bei allen derartigen Stellen die Hauptsache und sie müssen bei dem regen Verkehr des londoner Handels, namentlich in den erwähnten Artikeln, recht bedeutend gewesen sein. Fälle, wie der durch ein Dokument uns aufbewahrte Rot. Pat. 49, Edw. III., p. 1, m. 5. bei Godwin und Nicol. Das Zuerkennungspatent ist vom 12. Juli 1376., wonach ihm konfiscirte Wolle im Werthe von 71 L. 4 S. 6 P. zugesprochen wurde, standen gewiß nicht vereinzelt da. Uebrigens war dieser Posten keineswegs eine Sinekure. In dem angezogenen Bestallungspatent wird ihm zur ausdrücklichen Bedingung gemacht: »daß der besagte Gottfried mit seiner eigenen Hand die Register schreibe, die zum besagten Dienst gehören, daß er sich daselbst dauernd aufhalte und Alles, was besagten Dienst betreffe, in eigener Person, nicht durch Stellvertreter thue und ausrichte.«

Das klingt allerdings sehr prosaisch. Aber man mache darum dem guten und glorreichen König nicht von neuem den Vorwurf, daß er nicht geahndet habe, was sich für einen Dichter, den größten Dichter seines Jahrhunderts, passe. Es bedarf nicht einmal der Entschuldigung, daß Eduard III., der sein lebelang nur französisch sprach, ebenso wenig Notiz von der werdenden Poesie Englands zu nehmen Veranlassung hatte, als Friedrich der Große seiner Zeit von der deutschen. Die Hauptsache dabei ist die, daß die Dichter jener Zeit noch keineswegs so überschwengliche Vorstellungen von dem idealen Beruf der Musenjünger hatten, um es sich nicht bei einem Aemtchen, das, wenn auch prosaisch, doch recht reellen Gewinn abwarf, behaglich sein zu lassen, und daß Chaucer selbst trotz seines Kontrolirens und eigenhändigen Registrirens noch Zeit und Laune für seine Verse in Hülle und Fülle erübrigte, da er deren an 50,000 und darüber uns hinterlassen hat.

Allerdings bedurfte es hierzu immerhin alles des Fleißes und der Entsagung, die das Erbtheil jedes Künstlers und Gelehrten ist, der Großes in seiner Art schaffen will. Und in dieser Beziehung ist es rührend zu lesen, wie der Weltmann mit dem offnen Blick für Natur und Menschenleben sich doch selten nur ein freies Stündchen für den Genuß des Frühlings in Flur und Wald gönnte, weil er es ja dem Studium seiner geliebten Bücher abbrechen mußte Legende von den guten Frauen, V. 29.:

Zwar was ich kann, ist stets gering gewesen,
Doch nichts ergötzt mich so wie Bücherlesen,
Auf die ich stets mein ganz Vertrauen setze
Und die ich ehrfurchtsvoll von Herzen schätze,
So herzlich, daß kein Zeitvertreib der Welt
Mich lange fern von meinen Büchern hält.
Ein Feiertag selbst läßt mich selten frei;
Es wäre denn im schönen Monat Mai,
Wenn ich die Vögel wieder höre singen,
Und wenn die Blumen aus dem Boden dringen.
Ade dann Buch! Ade, andächt'ger Fleiß!

Mit entschiedner Anspielung auf sein Amt als Kontroleur führt er im »Hause des Ruhms« Jupiters Adler ein, wie er zu ihm spricht Haus des Ruhms, B. II, V. 132-151.:

»Wohl hat dies Jupiter bedacht
Nebst Anderm, schöner Herr; das heißt,
Daß du im Grunde gar nicht weißt,
Ob ein Verliebter weint, ob lacht;
Auch sonst von nichts, was Gott gemacht.
Und nicht bloß wird aus fremdem Land
Dir keine Neuigkeit bekannt:
Von deinem nächsten Nachbarsmann,
An deiner Thür hart nebenan,
Hörst du kein Wort bei Tag und Nacht.
Denn wenn dein Tagwerk du vollbracht
Und jede Rechnung fertig hast,
So suchst du nicht Gespräch noch Rast,
Nein, gehst nach Haus und schließst dich ein
Und sitzest stumm da wie ein Stein
Und nimmst ein Buch vor und studierst
Bis ganz verdutzten Blicks du stierst.
So lebst du wie ein Eremit.«

Inzwischen waren dem Dichter seit 1375 noch verschiedene Vormundschaften übertragen, unter anderm über den Sohn und Erben eines Sir Edmund Staplegate, für welche letztere Mühwaltung er 104 L. empfing Rot. Claus. 1, Ric. II., m. 45. Bei Godwin u. Nicolas ( p. 30).. Noch dreimal wurde er unter derselben Regierung zu Botschaften an auswärtige Höfe verwendet; gegen Ende 1376 als Attaché einer geheimen Mission, deren Ziel und Zweck uns nicht bekannt ist S. das Dokument über die Kostenrechnung bei Nicolas, p. 33, Note 43 und p. 123, Note G.; dann im Februar 1377 als Begleiter des Sir Thomas Percy nach Flandern S. das Dokument über die Kostenrechnung bei Nicolas, p. 33, Note 44 u. S. 123, Note H., endlich am 26. April mit Sir Guichard Angle zu einer Friedensverhandlung an den französischen Hof Sir H. Nicolas a. a. O., wo der Irrthum Froissart's, der diese Gesandtschaft mit der Brautbewerbung Richards verwechselt, welche erst nach dessen Thronbesteigung Statt fand, urkundlich nachgewiesen wird..

Aber auch nach dem Tode Eduards war er nicht nur noch mehrere Jahre in dem Genuß seiner Aemter und Revenuen, sondern er erfreute sich auch des Vertrauens bei dem neuen Herrscher Richard II. in dem Maße, daß dieser ihn aufs neue zu höchst wichtigen Sendungen ausersah; zuerst als Mitglied einer Gesandtschaft an den französischen Hof, um wegen der Verheirathung Richards mit einer Tochter des Königs von Frankreich zu unterhandeln Nicol., p. 35, Note 53.; dann in gleicher Eigenschaft zu einer Mission an den mächtigen Bernard Visconti von Mailand in einer politischen Angelegenheit, deren Details aus den betreffenden Urkunden jedoch nicht erhellen Nicol., p. 36 u. Note L, p. 123..

In seinem Amt als Kontroleur der Wollsteuer wurde er im ersten Jahr Richards bestätigt, in dem, welches die Weinsteuer betraf, im Jahr 1382. Im Jahr 1386 (17. Februar) erhielt er sogar die Erlaubniß, sein Steueramt durch einen Bevollmächtigten verwalten zu lassen S. die Belege aus Tyrwhitts handschriftlichen Anmerkungen, p. XI..

Alle diese Umstände zeugen ebenso von Chaucer's geschäftlicher Gewandtheit als von seiner Beliebtheit und seinem Ansehen in den Regionen des Hofes. Daß er mit John von Gaunt, dem Herzog von Lancaster, der in verschiedenen Zeitpunkten dieser Periode einen mächtigen Antheil an der obersten Leitung des Staates hatte, verschwägert war, haben wir bereits gesehen. Daß er dadurch in engere Beziehungen zu dem fürstlichen Hause trat, würde sich von selbst schließen lassen, wenn das Wohlwollen des Herzogs für ihn nicht auch urkundlich bestätigt wäre. Am 13. Juni 1376 bewilligte derselbe unserm Dichter und seiner Frau eine jährliche Pension von 10 L. auf Lebenszeit für die guten Dienste, die beide der Herzogin, seiner Gemahlin, und der Königin Mutter geleistet hätten Nicol. a. a. O., S. 30, Note 32, S. 32 mit Note F., S. 122.. Aber Chaucer war dem Prinzen schon in früherer Zeit in freundlicher Weise nahe getreten. Er hatte den Tod seiner ersten Gemahlin, der Herzogin Blanca (im Jahr 1369), in dem »Buch der Herzogin« auf zarte Weise betrauert Chaucer citirt dies Gedicht selbst unter dem Titel: »Tod der Herzogin Blanche«. Leg. G. W., V. 418. In den meisten Handschriften führt es zwar den unpassenden Titel »Chaucer's Traum«, der einer andern Komposition des Dichters gehört. Aber die Identität des vorhandenen Gedichtes mit dem vom Dichter angeführten ist von Tyrwhitt zu C. T. 4477 erwiesen..

Wir werden die Bedeutung dieses innigen Verhältnisses zu Johann von Gaunt um so höher anzuschlagen berechtigt sein, als damit fast zweifellos ein verhängnißvoller Umschwung in der äußeren Lage des Dichters in Verbindung zu setzen ist. Das Jahr 1386 hat für die innere wie die äußere Geschichte Englands eine traurige Berühmtheit erhalten. Am 9. Juli ging Johann von Gaunt zu einer abenteuerlichen Expedition nach Spanien ab, durch die er sich die kastilische Krone zu erwerben dachte. Der Feldzug schlug gänzlich fehl. Der Herzog, schwer erkrankt, ging nach Bordeaux und kehrte erst im Jahre 1389 nach England zurück. König Richard, der längst der vormundschaftlichen Ueberwachung müde geworden, hatte Johanns Entfernung gern gesehen und sie unter der Hand eifrig betrieben. Aber bald wurde er und das ganze Reich durch eine drohende Landung der Franzosen in Schrecken und Verwirrung gesetzt. Das Parliament wurde zur Bewilligung von Subsidien am 1. Oktober einberufen. Aber in ihm waren eine Menge unzufriedener und aufsätziger Elemente vereinigt, die in dem ehrgeizigen Oheim des Königs, Herzog von Gloster, einen bereitwilligen Führer fanden. Die außerordentlich stürmische Sitzung endete mit der Niederlage der Regierung und der König mußte seine Minister entlassen; der bisher allmächtige Liebling Richards, Graf de la Pole, zu Gefängnißstrafe und unerschwinglichen Geldbußen verurtheilt und dem König selbst ein Verwaltungsrath aufgenöthigt, der ein Jahr lang faktisch souveräne Gewalt im Lande übte.

Eine Reaktion, welche durch die entsetzten Minister in Gang gebracht wurde, scheiterte und hatte die vollständige Niederlage der Camarilla, die Absetzung, Verbannung und Hinrichtung mehrerer ihrer Mitglieder und Anhänger zur Folge. Das Parliament verfuhr dabei vielfach höchst ungerecht und ließ sich durch blinden Parteihaß zu den gesetzlosesten Verfolgungen hinreißen. Herzog Gloster führte nebst vier andern Baronen bis in das Jahr 1389 eine eiserne Herrschaft über den König.

Chaucer war als Deputirter der Grafschaft Kent Mitglied des Unterhauses in der Parliamentssitzung von 1386 gewesen Rot. Claus. 10, Rich. II., m. 16 d. Nicol., p. 41, 42, n. 75. . Wir dürfen gewiß nicht annehmen, daß er in dieser Stellung gegen die Regierung gestimmt haben sollte, deren Interessen diesmal mit denen seines hohen Gönners und mit seinen eignen, als königlichen Finanzbeamtens, zusammenfielen.

Einer der ersten Schritte des neu ernannten Reichsrathes nach Auflösung des Parliaments war nun die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Mißbräuche in der vorigen Verwaltung, namentlich in den Steuer- und Zollerhebungen. Im November bereits prüften die Kommissarien die Rechnungen der Steuerbeamten. Es verlautet zwar durchaus nichts von irgend welchen entdeckten Unterschlagungen, Betrügereien oder Amtsvernachlässigungen. Aber Chaucer hatte seine Stellen als Kontroleur nicht ausdrücklich auf Lebenszeit, sondern during good behaviour, d. h. auf Kündigung inne – und wir sehen ihn im Laufe der nächsten Wochen seiner einträglichen Posten als Steuerbeamten entsetzt. Mit dem Hauptamte war bereits am 4. December 1386 ein Adam Yerdeley Rot. Pat. 10, Ric. II., p. 1, m. 9. bei Godwin u. Nicolas (S. 44, Note 78)., mit dem Nebenamt, der Aufsicht über die kleineren Weingefälle, Henry Gisor Rot. Pat. 10, Ric. II., p. 1, m. 4, bei Nicol., p. 45. am 14. desselben Monats bekleidet.

Es kann nicht Wunder nehmen, wenn durch diesen großen Verlust Chaucer's Finanzen gründlich zerrüttet wurden, zumal, da in demselben Jahre auch seine Gattin starb und somit deren Jahrgeld ebenfalls für ihn erlosch S. Nicol., p. 67.. In der That sehen wir ihn von diesem Zeitpunkt an in fortdauernden pecuniären Verlegenheiten und Bedrängnissen bis nahe an sein Lebensende. Und hier können wir uns nun nicht länger der genaueren Betrachtung einer Schrift entziehen, auf die wir schon oben als auf eine sehr unsichere und leider nur zu arg mißbrauchte Quelle für die Lebensverhältnisse Chaucer's hingewiesen haben: das »Testament der Liebe«. Denn gerade an dieses Buch hat die Phantasie der Biographen den Roman angesponnen, welcher uns den Dichter im Kerker, auf der Flucht nach dem Hennegau und nach Seeland und in mehrjährigem Exil vorführt, der ihn bald in dem City-Aufstand des John von Northampton (1387), bald in die Wiclifitischen Unruhen oder wohl gar in die Rebellion der Bauern unter Wat Tyler und Jack Straw verwickelt darstellt, und seine in hundert Details ausgemalte Leidensgeschichte damit schließt, daß er ihm die jämmerliche Rolle eines Renegaten und Angebers seiner Mitschuldigen zuertheilt.

Von alledem ist nicht das Geringste nachweisbar, von den Hauptmomenten der Erfindung sogar die Unmöglichkeit darzuthun. Dennoch sind sie in alle Literaturgeschichten übergegangen. Selbst der besonnene Tyrwhitt, wenn er auch nicht auf die offenbaren Fiktionen leichtgläubig eingeht, beruft sich doch auf das » Testament of Love« als auf eine Autorität. Sir H. Nicolas ist der Erste, der das ganze Buch »als schwer verständlich« bei Seite schiebt.

Aber mit diesem gewaltsamen Verfahren ist es auch nicht gethan. Denn so lange das seltsame Schriftstück noch unter Chaucer's Werken genannt wird, ebenso lange werden die in ihm enthaltenen biographischen Elemente, als aus des Dichters eigner Feder stammend, stets Berücksichtigung erheischen und stets zu neuen Konjekturen und neuen Wirrsalen führen. Ich fürchte aber, daß das Buch von den meisten Gelehrten, die es citiren, nicht zu Ende gelesen ist. Und dies wiederum ist ihnen in Anbetracht der dornigen Form und des trostlosen Inhaltes nicht allzusehr zu verdenken. Wir haben es nämlich mit einer ascetischen Tendenzschrift zu thun, in welcher Allegorien, an sich höchst schwankend und dunkel, mit eben so dunkeln Anspielungen auf wirkliche Erlebnisse in krausem Wirrwarr durch einander laufen, wo jede noch so konkrete Thatsache in dem Augenblick, da man sie zu fassen meint, in eine luftige Metapher verschwimmt. Bei schärferem und wiederholtem Hinschauen gewöhnt sich jedoch der Blick an das Dunkel, und es heben sich einzelne Gestalten auf dem neblichten Hintergrunde ab, denen wir Realität nicht absprechen können. Das Buch ist anscheinend einer schönen Frau Margarita gewidmet, die mit einem, unserm Dichter nicht fremden metaphorischen Wortspiele bald als Perle, bald als Tausendschön gefaßt wird und sich endlich nach manchen andern Wandelungen als göttliche Liebe und Gnade, ja als die heilige Kirche selber entpuppt. Auch das Gefängniß und Exil, anfangs allem Anschein nach wörtlich gemeint und von den Biographen natürlich auch so verstanden und ausgebeutet, wird später (S. 502b und 503 Urry) zur Haft in der Hütte der Sterblichkeit und der weltlichen Lüste und zur Verbannung aus der Seligkeit des Himmels. Wenn der Verfasser aber anderseits erzählt, daß ihm betrügerische Freunde seine Reisediäten vorenthalten und das ihnen zur Bezahlung seiner Miethe anvertraute Geld während seiner Abwesenheit von London unterschlagen und für sich verbraucht haben, so ist denn dies doch eine so trockene und bittere Realität, daß an Allegorien nicht mehr dabei zu denken ist.

In der That lassen sich durch das Chaos von Phantasien und Reflexionen folgende Hauptzüge einer historischen Grundlage mit Deutlichkeit erkennen.

Der Verfasser hat sich in seiner Jugend, durch einen falschen Idealismus verführt, einer in ihren Resultaten siegreichen Volksbewegung der City gegen die bestehenden städtischen Gewalten angeschlossen. In seinem späteren Alter wird dies zum Vorwand genommen, ihn seines Amtes zu entsetzen. Er geräth aus früherem Wohlstand in Dürftigkeit, ist der Betheiligung an tiefer gehenden politischen Verschwörungen verdächtig, wird flüchtig, verfolgt, von seinen Freunden verlassen und betrogen, endlich gefangen und bedrängt, die Führer und Theilnehmer an dem Komplot zu verrathen. Als Anfangs- und Endpunkte des betreffenden Zeitabschnittes ließen sich vielleicht das Jahr 1362, wo die Zünfte der Citykorporation die Theilnahme an den Wahlen und der städtischen Verwaltung abtrotzten und das ereignißschwere Jahr 1388 fixiren, wo die nach Wiederherstellung der alten Gemeindeordnung (1382) erneuten städtischen Unruhen sich eng mit den politischen Umwälzungen berührten und durchkreuzten. Für Jemanden, dem die Details der Verfassungsgeschichte Londons zugänglich wären, würde es nicht unbelohnend sein, sie mit manchen Einzelheiten des vorliegenden Berichtes, die sich deutlich als Fakta geben, zu vergleichen, um beide sich gegenseitig erläutern zu lassen. Es würde besonders für unsern Zweck lohnen, zu prüfen, ob und wie die so gewonnenen Resultate sich mit den sonst bekannten Thatsachen aus Chaucer's Leben vertrügen, um so ein vollständigeres Charakterbild des Dichters zu gewinnen: wenn es überhaupt fest stände, daß das »Testament der Liebe« wirklich Chaucer's Werk sei.

Dafür sprechen die Handschriften, aus denen es in die Ausgaben bis Urry übergegangen ist, und die angebliche Anführung in der oft citirten Stelle aus Gower's Confessio Amantis Buch VIII, fol. 190b. ed. 1532.. Hier sagt Venus zum Dichter:

»Grüß Chaucer mir, wenn ihr euch seht.
Er ist mein Jünger und Poet,
Der schon in seiner Jugend Mai,
Geschickt in Weisen mancherlei,
Gar manches Lied von munterm Klang,
Das er zu meiner Ehre sang,
Rings ließ durch unser Land erschallen.
Drum bin ich von den Dichtern allen
Am meisten ihm zum Dank verbunden.
Nun, da die Jugend ihm entschwunden,
Sollst du ihm diese Botschaft sagen,
Er mög' in seinen alten Tagen
All seinen Werken zum Beschluß
Jetzt als mein Secretarius
Sein Liebestestament verfassen,
Damit mein Hof es registrire.«

Es ergiebt sich daraus nun aber keineswegs, daß schon damals Chaucer ein »Testament der Liebe« geschrieben habe; denn Venus läßt ihm erst den Auftrag geben. Ebenso wenig, daß Chaucer nothwendig diesen Befehl ausgeführt haben müsse; höchstens, daß er ein solches Buch zu schreiben projektirt, vielleicht auch es begonnen, und Gower von diesem Vorsatz Kunde gehabt habe. Aber ebenso gut wäre es möglich, daß Gower nur den Gedanken als einen Vorschlag und Plan für seinen Freund hinwirft, den dieser niemals ausführte.

Denn gegen seine Autorschaft spricht:

1) das beredte Schweigen des gutunterrichteten und genauen Lydgate, der in dem oben schon citirten Prolog zu seiner Uebersetzung von Boccaccio's Fall der Fürsten sämmtliche Werke Chaucer's, auch seine prosaischen Aufsätze, dem Titel und dem Inhalt nach durchgeht und kein Testament der Liebe erwähnt;

2) der Verfasser eben dieses Liebestestamentes, der von sich selbst in Beziehung zu jenen Erlebnissen immer in der ersten Person spricht und sich dadurch ausdrücklich von Chaucer, den er kennt und nennt und von dem er in der dritten Person redet, unterscheidet;

3) wenn dies noch nicht genug wäre: das warme und sogar begeisterte Lob, das er diesem Chaucer, dem Verfasser von Troilus und Cressida, spendet, ein Lob, das, wenn es aus Chaucer's eigner Feder geflossen wäre, eine beispiellose Selbstzufriedenheit bekunden würde, im direktesten Widerspruch mit der großen Bescheidenheit, die aus allen sonstigen Urtheilen des Dichters über seine eignen Produktionen hervorleuchtet S. die Einleitung zur Erzählung des Rechtsgelehrten. Cant.-Gesch-, V. 4463. L. G. W. 29, 414. Court of Love, 1-70., besonders aber im Widerspruch mit der mehr als demüthigen, ja zerknirschten Haltung gerade dieser Schrift. In der That ist mir unter allen Beispielen naiver Ruhmredigkeit von Nävius bis zum Grafen Platen und Mirza Schaffy herab keines vorgekommen, das die Konkurrenz mit dem folgenden aushalten würde, – wären es nämlich Chaucer's eigne Worte, die der Verfasser a. a. O. der Liebe in den Mund legt: »Mein eigener treuer Diener, der edle philosophische Dichter, welcher stets beschäftigt ist und sich eifrig müht, meinen Namen im Englischen zu verherrlichen; weßhalb Alle, die mir wohlwollen, ihm beides, Ehrfurcht und Verehrung ( worship and reverence), schuldig sind. Denn wahrlich, einen bessern als ihn oder auch nur seines Gleichen könnte ich nimmermehr in der Schule meiner Gesetze finden. Er hat in einer Abhandlung ( tretise), die er von meinem Diener Troilus gemacht hat, diesen Gegenstand berührt und vollständig ausgeführt. Gewiß seine edeln ( noble) Worte kann ich nicht besser sagen. In Trefflichkeit und männlicher Sprache ohne alle Art von Ziererei ( nicitie of starieres [?]), in Einbildungskraft, Witz und verständigen Gedanken übertrifft er alle andern Schriftsteller. Im Buch von Troilus kannst du die Antwort auf diese Frage finden.« –

Es ist klar, der Verfasser ist ein Zeitgenoß und großer Verehrer Chaucer's. Er hat sich auch die Lektüre des Dichters zu Nutzen gemacht, das allegorische Wortspiel mit der Margarita aus ihm geschöpft und sein Werk nach dem Plan der von Chaucer übersetzten Consolatio Philosophiae des Boethius angelegt. Wie man dazu gekommen, es Chaucer unterzuschieben, darüber lassen sich verschiedene Vermuthungen aufstellen. Genug, es ist nicht von ihm verfaßt.

Wir hoffen, daß damit die fernere Berufung auf dieses Buch als eine Quelle für Chaucer's Biographie abgethan sein wird.

Ueber die Gründe seiner Amtsentsetzung kann nach den obigen Darlegungen für Denjenigen, welcher jähe politische Wechsel selbst erlebt hat, kein Zweifel sein. Ueber die Vorwände dürfen wir uns den Kopf nicht zerbrechen. In einer so gewaltsamen Zeit bedurfte es deren kaum. Auf keinen Fall sind sie in Chaucer's religiöser Parteistellung zu suchen. Man hat den Dichter zu einem entschiedenen Anhänger Wiclif's machen wollen, ist aber den Beweis dafür schuldig geblieben.

Er erkannte allerdings die groben Mißbräuche der Hierarchie und eiferte warm und freimüthig dagegen. Er verabscheute den Ablaßkram, er verabscheute die schleichenden Umtriebe und die unverschämte Herrschsucht der Bettelmönche. Er neigte sich daher wie die meisten unabhängigen und gebildeten Männer seiner Zeit zu den Lehren Wiclif's, insofern diese das Kirchenregiment betrafen. Dies ist um so natürlicher, da beide, Reformator und Dichter, in den persönlich engsten Beziehungen zu dem Hause des Herzogs von Lancaster, ihres gemeinsamen Patrons, standen und somit in derselben geistigen Atmosphäre athmeten. Aber Chaucer kann anderseits auch nicht umhin, den puritanisch eifernden, ascetisch-nüchternen Lollharden einige Spitzen hinzuwerfen, wenn er auch nicht, wie bald nach des Reformators Tod es allgemein geschah, Lollharde und Wiclifiten als identisch konfundirt wissen will S. die Anmerkung zu V. 12,913 und 17,354.. Die schlichte Einfalt des redlichen Landpfarrers, der das Evangelium Christi nicht nur rein lehrt, sondern auch durch ein evangelisches Leben bethätigt, sie allerdings preist er mit ungeheuchelter und rührender Verehrung. Sonst hat er alle Achtung auch für die höheren Würdenträger der Kirche. Selbst ihre Verweltlichung giebt ihm, dem Weltmann, keinen erheblichen Anstoß. Er scherzt darüber, aber keineswegs in beißender Weise, so daß man ihm ansieht, wie er doch den lebenslustigen, feisten Herren im mindesten nicht gram ist. Der Kultus der Heiligen liegt ihm so am Herzen, daß er einige Legenden mit Liebe und Fleiß zu Gedichten umarbeitet und in seine Canterbury-Geschichten verwebt hat.

Schwerer ist es zu sagen, wie er sich zur Auffassung der strengeren katholischen Dogmen gestellt hat. Er hat sich zwar viel und eingehend mit theologischen Fragen beschäftigt; das lag in der Zeit. Aber er scheint, wie es bei einem Dichter und Weltmann ohnehin sehr erklärlich, über die subtilsten Probleme zu keiner Entscheidung bei sich gekommen zu sein. Dies erhellt theils aus der Sorgfalt, mit der er in der ascetischen Diatribe des Pfarrers alle Kontroverspunkte zwischen der orthodoxen Kirche und der Doktrin des Reformators vermeidet S. die Anmerkungen zur Erzählung des Pfarrers am Schluß der Cant.-Geschichten., am entschiedensten aber aus der Art und Weise, wie er den häkligen Streitpunkt über die Prädestinationslehre zwar aufnimmt Cant.-Gesch., V. 15,247, und noch ausführlicher Troil. IV, 961 ff., aber doch zuletzt als unentschieden bei Seite schiebt. Sonach erscheint Chaucer zwar als ein denkender und freisinniger Kopf, aber doch zugleich als ein guter und gläubiger Katholik, die Extreme meidend und von jedem Fanatismus frei.

Ganz so hält er sich auf politischem Gebiet in der Mitte, einen gesunden und vernünftigen Fortschritt anstrebend. Er warnt die Mächtigen der Erde vor Ueberhebung, Jähzorn und Leidenschaftlichkeit jeder Art. Er achtet und preist das Gold edler Menschlichkeit auch im niedrigsten Pflüger. Der Seelenadel gilt ihm höher als der angeerbte, ja dieser gilt ihm nichts, wenn jener mangelt. Eine Jungfrau aus niedrigstem Stande zu den höchsten Ehren emporgehoben giebt ihm den Stoff zu zwei mit besonderer Liebe und Zartheit durchgeführten Erzählungen. Er ist für den Glanz des Königsthrones ebenso wie für den des Ritterthums begeistert. Prachtliebe, ja an Verschwendung grenzende Freigiebigkeit scheint ihm ein unerläßliches Attribut beider, das er, ganz im Sinne des ritterlichen Mittelalters, in eine Reihe mit den höchsten Regententugenden stellt. Er liebt die niedern Stände, zeichnet sie mit besonderer Neigung und ausnehmendem Geschick, er weidet sich an ihrem derb gesunden Wesen, aber unendlich lächerlich erscheint ihm eine mißglückte Standesüberhebung. Jack Straw's und seiner kommunistischen Mordgesellen gedenkt er mit dem entschiedensten Abscheu und Ekel.

Chaucer's Verhältnisse nach seiner Amtsentsetzung waren traurig genug. Von einer Flucht aus England kann zwar nicht die Rede sein. Er empfing während der ganzen fraglichen Periode von 1380-1388 nach dem Ausweis der Schatzkammeramtsregister seine Pension als Hofbeamter in halbjährigen Raten in »seine eignen Hände« ausgezahlt S. den dokumentarischen Nachweis bei Nicolas, p. 46.. Aber von seiner großen finanziellen Bedrängniß zeugt der Umstand, daß er im Mai des letztgenannten Jahres diese Rente an einen gewissen Scalby mit Genehmigung des Königs verkauft Rot. Pat. 11, Ric. II, p. 2, m. 1. bei Godwin und Nicolas, p. 48. n. 85.. Im folgenden Jahre endlich ermannte sich Richard und wußte durch sein kluges und gemäßigtes Benehmen Gloster's Einfluß zu beseitigen. In das neu gebildete Ministerium trat der Graf von Derby, Lancaster's ältester Sohn, ein; und schon am 12. Juli desselben Jahres erhielt der Dichter die einträgliche Stelle eines Aufsehers über die königlichen Bauten im Westminsterpalast, im Tower, und auch (wie es scheint, sämmtlichen) Krongütern. Aber bereits gegen Ende des nächsten Jahres (1391) hatte er diese Stelle wieder verloren Die Dokumente bei Nicolas, p. 50., und es scheint, daß er bis zum 28. Februar 1394 auf die spärliche Pension beschränkt blieb, welche ihm vom Herzog von Lancaster ausgesetzt war. An dem genannten Datum bewilligt ihm der König zwar von neuem einen Gnadengehalt von 20 L. jährlich auf Lebenszeit. Aber des Dichters Verlegenheiten hörten damit nicht auf. Er ist fast beständig im Vorschuß mit seiner Pension auf dem Schatzkammeramt Nicolas, p. 51, 53, 54., und am 4. Mai erwirkt er sich ein Patent vom König, das unter den vorwaltenden Umständen kaum anders denn als ein Schutzbrief gegen die Verfolgungen unbequemer Gläubiger verstanden werden kann Rot. Pat. 21, Ric. II, p. 3, m. 26: »Sintemalen der König seinen Lieben Getreuen, den Hofjunker Gottfried Chaucer, zur Verrichtung sonderlicher hoher und wichtiger Aufträge in verschiedenen Theilen des Königreichs bestallet, und besagter Gottfried, fürchtend, er möchte in deren Ausführung durch seine Widersacher ( aemulos) mittelst allerlei Praktiken und gerichtlichen Verfolgungen gehindert werden, den König gebeten hat, ihn darin zu schützen: als hat der König den besagten Gottfried zusammt seinen Dienstmannen und Eigenthum in seinen sonderlichen Schutz genommen, verbietend, daß irgend einer ihn verfolge oder zur Haft bringen lasse unter irgend einer Anklage, ohne sie wäre verknüpft mit Land, für die Dauer von zwei Jahren.«. Reeller Unterstützungen, die einigermaßen ein Aequivalent für den früheren gewinnreichen Posten im Steueramt geboten hätten, hat er sich bis an sein Ende nicht mehr zu erfreuen gehabt.

Man erkennt deutlich genug die Situation. Als Richard aus der drückenden Vormundschaft der Fünferkommission sich allmählich losgerungen hatte, gedachte er zwar der alten Anhänger. Aber er mußte bei ihrer Begünstigung anfangs vorsichtig verfahren. In Chaucer's Lage waren gewiß noch viele andre Hofbeamte. An eine völlige Schadloshaltung für erlittene Verkürzungen war nicht zu denken. Später aber, als der König die Maske völlig abwarf und dem Jahre lang verhaltenen Grimm gegen seine Feinde freien Lauf ließ, ward er bei Ausführung seiner Rachepläne von einer so verzweifelten und kopflosen Hast und Wuth getrieben, daß er schwerlich noch ein rechtes Interesse für den alternden Dichter übrig behielt, dessen politische Bedeutung denn doch im Ganzen untergeordneter Natur war. Vielleicht daß Chaucer bei dem jetzt ungezügelten Auftreten des Königs sich selber mehr zurückhielt, da er dasselbe seiner Natur nach unmöglich im Herzen billigen konnte und mit vielen andern besonnenen Männern einsehen mußte, daß es für Richard selbst ein schlimmes Ende nehmen würde.

Erst als Johann von Lancaster's Sohn, Heinrich Bolingbroke, den Thron bestieg, wurde Chaucer's kleinem Jahrgehalt von 20 L. die erhebliche Summe von 40 Mark zugelegt Rot. Pat. 1, Henr. IV, p. 5, m. 12, Nicol., p. 55, vielleicht in Folge des dem König mit einer Dedikation zugesandten scherzhaften Klagegedichts »An meine leere Börse«.. Aber der Dichter genoß diese Unterstützung kaum ein Jahr. Er starb, seiner Grabschrift zufolge, den 25. Oktober 1400. Allerdings stammt diese Inschrift, wie wir wissen, aus viel späterer Zeit. Aber das Datum des Sterbetages, das natürlich den Zeitgenossen bekannt genug sein mußte, wird durch die übrigen Dokumente in sofern bestätigt, als am 5. Juni 1400 Chaucer's Name sich zum letztenmale in den Registern des Schatzkammeramtes eingetragen findet.

Die sterblichen Reste des großen Dichters wurden in dem Theile der Westminsterabtey beigesetzt, welcher, durch ihn eingeweiht, seitdem den Namen des Poetenwinkels erhalten hat.

Ein dankbarer Schüler Chaucer's, Occleve, hat in einer Handschrift seiner eignen Gedichte In der metrischen Uebersetzung von Egidius: De regimine principis, in dem Abschnitte De consilio habendo in omnibus festis. Cod. Harlej. 4866, Fol. 91. Pauli, Bilder aus Alt-England, S. 188. – Näheres über die oben erwähnten und andere Porträts s. bei Sir H. Nicolas, pag. 104-107. eine Zeichnung von dem Brustbild seines bewunderten Meisters hinterlassen. Die Züge desselben stimmen genau mit einem alten Oelgemälde überein, das in der Bodley-Gallerie zu Oxford bewahrt wird und mit einem andern, das sich früher in Warton's Besitz befand. Daher stammt auch das Porträt, das verschiedenen Ausgaben von Chaucer's Gedichten und in einem besonders saubern Stahlstich der neuesten Auflage von Tyrwhitt's Bearbeitung hinzugefügt ist. Es bestätigt die Schilderung, die Chaucer von sich selbst dem launigen Wirth der Canterbury-Geschichten in den Mund legt S. Prolog zu Sir Topas. Cant.-Gesch. 13.624 ff. u. Anmerkung.. Ein völliger, zur Wohbeleibtheit neigender Wuchs, eine saubere, schön geformte, fast weibliche Hand, ein feiner Kopf, eine kurze, aber sanft gewölbte Stirn; die Augen niedergeschlagen. Sie würden fast schläfrig erscheinen; aber um den kleinen, festgesetzten und charaktervollen Mund, den der knappe, zweigetheilte Bart mehr hervorhebt als versteckt, spielt ein Zug leisen Lächelns. Er sagt uns, daß der scheinbare Träumer in der That ein Beobachter sei und ein Schalk obenein.

Chaucer verdankt seine dichterische Bedeutung und Eigenthümlichkeit nächst der Naturanlage seines Genius, die denn doch der eigentliche Quell jeder schöpferischen Thätigkeit ist, allerdings auch den Zeitverhältnissen, seiner Lebensstellung und dem eigenthümlichen Gang seiner Bildung.

Er hatte sich früh auf mannigfachen Gebieten reiche, wenn auch nicht tief eingehende und eigentlich gelehrte Kenntnisse erworben. Nicht allen seinen Citaten ist zwar zu trauen Ueber die absichtlich falschen Citate, durch welche er sich der Erwähnung des Boccaccio entzieht, siehe unten (Note 71). Falsch sind aber auch citirt: Lucan (C.-G., V. 4820, 14,637), Livius (das. 11,935), Sueton (14,383). In beiden Fällen ist aus modernen Quellen geschöpft; falsch außerdem nochmals Livius (L. G. W. 1629), wo die Geschichte der Lucretia vielmehr aus Ovid, Fast. III, 75 ff., fast wörtlich übersetzt ist. Ohne Angabe der Quelle ist Ovid, Metam. XI, 410, im Boke of the Duchesse, V. 62 ff. wiedergegeben. Unsicher Gesta Romanorum (C.-G., V. 5546, 6225, wo die Anmerkung zu sehen) und Ptolemäus' Almagest (5764, 5906 a. a. O.); nach Wright wenigstens unfindbar; mir selbst war das Buch nicht zur Hand. Richtig dagegen Statius (Theb. XII, 519 ff.) in Q. Anelida, V. 21. Juvenal (X, 22) in C.-G. 6773; Cicero ( Divin. II, 27) in C.-G. 14,990; Macrobius ( Somn. Scip.), das., V. 15,130; Seneca ( de Ira I, 14 u. 16), das., V. 7625, 7600; Claudian ( Rapt. Pros. II) V. 10,106; Virgils Aeneide, V. 15,365; Ovids Metamorphosen, V. 4513; Cato ( Dist. II, 32), V. 14,946; die Maccabäer, V. 14,574; Dante, V. 14,771; Petrarcha an verschiedenen Stellen. Die vielen meist schon von Tyrwhitt nachgewiesenen Citate aus den Kirchenvätern übergehe ich; aber die obigen Schriftsteller bilden schon eine nach den Verhältnissen der Zeit recht gute Bibliothek. Als apokryphe Autoren müssen neben dem unfindbaren Lollius (s. Anmerkung 71) auch Agathon ( L. G. W., 537) und Corinna ( Q. Anelida, V. 21) gelten. Aus einer guten Quelle scheint ( Boke of the Duchesse, V. 167) der Name des Traumgottes Eclympasteire (wohl ἐκλυπητήρ) geschöpft; aber woher? Seltsam klingt es, wenn er Maccabaeus, Aeneides, Metamorphoseos wie Menschen citirt. Aber es geht aus andern Stellen genugsam hervor, daß er die Büchertitel meint, mit etwas kühnerer Anwendung der bekannten Redefigur. Ueber die Chronologie seiner Autoren ist er sich durchaus nicht klarer als sein Freund Gower (s. Warton, H. E. L. II, pag. 239). Cressida und ihre Freundinnen lesen bei der Belagerung Troja's in den »Thebanischen Gesten« (Troil. II, 83), und ihr Onkel Pandarus giebt fein zu verstehen, daß er das Buch kenne und bezeichnet es deutlich als Statius' Thebais; ja, Cassandra citirt das Argumentum der Thebais in den lateinischen Hexametern des Originals (das. V. 1499 ff.), und Chaucer hat ohne Zweifel den Statius selbst für einen Thebaner, einen Zeitgenossen Kreons und der Sieben, gehalten. S. C.-G. 2295.. Aber dennoch bleibt immer eine umfassende Belesenheit in den geläufigen Autoren des römischen Alterthums sowohl als in den historischen und theologischen Schriften und den lateinischen Sammelwerken des früheren Mittelalters übrig. Mehr aber als den Büchern, verdankt er dem Leben.

Daß er des Französischen vollkommen Herr war, versteht sich aus den Zeitverhältnissen und aus seiner Stellung von selbst. Er verstand aber auch das Flamländische und scheint mit den Sitten und der Denkweise dieses eigenthümlichen Stammes, der damals einen nicht unwichtigen Bruchtheil der Bevölkerung Englands bildete, sehr vertraut gewesen zu sein. (S. Anm. zu Cant.-Gesch., V. 4355.)

Seine verschiedenen Gesandtschaftsreisen nach Italien setzen seine ohnehin sicher bezeugte Bekanntschaft mit der Sprache dieses Landes voraus Sir H. Nicolas behauptet (S. 25), es fehle an jedem Beweis, daß Chaucer im geringsten Italienisch verstanden habe. Dies ist entschieden falsch. Chaucer citirt Dante richtig und übersetzt das Citat so, daß man daraus erkennt, er müsse das Original vor Augen gehabt haben (s. Cant.-Gesch., V. 6708 ff. und die Anmerkung dazu). Auch die Geschichte von Ugolino ist aus Dante entlehnt (V. 14,771 ff.). Ferner geben die Namensformen in der Geschichte des Ritters den Beweis, daß er sie einem italienischen Text entnommen; vor allem Dane (für Daphne), V. 2064, worüber man die Anmerkung zu dieser Stelle nachsehe. Endlich findet sich ein Sonnett des Petrarcha übersetzt Troil. I, 400-420., wie sie anderseits seine Gewandtheit im Verständniß derselben erhöht haben müssen. Dies war vom wesentlichsten und unverkennbarsten Einfluß auf seine eigne dichterische Produktionsweise. Denn wiewohl er den Stoff zu einer großen Anzahl seiner Gedichte aus den ihm unmittelbarer zugänglichen Schätzen der altfranzösischen Literatur schöpfte, wiewohl eben dieser Umsatz des nur halb vaterländischen Gutes in das volle Eigenthum seiner Nation eines seiner Hauptverdienste ist, so blieb er doch keineswegs dabei stehen. Italien war allen Völkern Europa's in der Schöpfung einer neuen klassischen Literatur vorangeschritten. Dante's unsterbliches christliches Epos hatte sich längst die Anerkennung und Bewunderung erworben, die dem großen Dichter bei seinen Lebzeiten versagt war. Petrarcha stand in Chaucer's Jugendjahren auf der Sonnenhöhe seines Ruhmes. Die Biographen unsers Dichters bemühen sich, zu beweisen, daß er mit dem Sänger von Vauclüse persönlich in Italien zusammengetroffen sei und aus seinem Munde die Geschichte von der geduldigen Griselde vernommen habe, die er später seinen Canterbury-Geschichten einverleibte. Aber mit Nothwendigkeit folgt es keineswegs aus der angezogenen Stelle Chaucer's Cant.-Gesch. 7931 ff.. Neben Petrarcha blühte, in der erzählenden Prosa ausgezeichnet, aber auch nicht unberühmt durch seine Jugendgedichte in gebundener Rede, Johannes Boccaccio. An ihren Poesien bildete Chaucer sein empfängliches Ohr für den Wohllaut des Verses und Reimes, seinen Geist für das Verständniß maßvollerer Kompositionen, als ihm die wirre Romantik seiner französischen Vorbilder bieten konnte. Von ihnen entlehnte er einen Theil seiner Stoffe, an ihnen vor allem schulte er seine Technik. Zwar Dante's erhabener Ernst lag seiner weltmännischen Leichtigkeit, seinem ganzen heitern Naturell zu fern, um ihn zu umfassenderen Nachbildungen zu reizen. Er begnügt sich damit, ihn an verschiedenen Stellen mit dem Ausdruck verehrender Anerkennung zu nennen und hie und da eine tiefsinnige Sentenz oder ein erschütterndes Charakterbild ihm zu entlehnen. Petrarcha's Sonnette anderseits konnten in ihrer transscendentalen und fast seraphischen Auffassung der Liebe unmöglich der substantiellen angelsächsischen Natur unsers Dichters genug zusagen, um die Gattung als solche sich zu eigen zu machen S. jedoch Troil. I, 400-420; Note 68.. Dagegen haben wir gesehen, daß er die Geschichte der Griseldis ihm entlehnte. Boccaccio endlich hat ihm außer anderen durch die Theseide den Stoff zu der »Erzählung des Ritters«, durch den Filostrato zu der umfangreichen bis Shakespeare hin viel gelesenen und mit Recht bewunderten Komposition Troilus und Cressida geboten. Seltsamer Weise und aus Motiven, die bisher noch nicht aufgeklärt sind, nennt Chaucer nirgend Boccaccio's Namen, ja er verschweigt in den obigen Fällen nicht nur seine Quelle, sondern versteckt sie sogar mit Absicht hinter anderen Autoritäten Für die Erzählung des Ritters, die er beinahe ganz dem Boccaccio verdankt, giebt er Statius als seinen Gewährsmann an, der es entschieden nicht ist. Da aber Chaucer den Statius nicht nur nennt, sondern auch kennt und anderwärts richtig citirt und wirklich nachahmt (s. Troil. V, 1485, 1499, 1510 ff., Queen Anelida, V. 22 f.; vergl. Note 67), so ist die Absichtlichkeit unverkennbar. S. die einleitende Anmerkung zur »Erzählung des Ritters«; wegen der italienischen Namensformen oben Note 68. Ebenso ist die Geschichte der Zenobia (Erzählung des Mönches, V. 14,253) fast Wort für Wort aus Boccaccio's lateinischem Werk de claris mulieribus entnommen. Dennoch citirt er nicht ihn, sondern Petrarcha als seine Quelle (14,331), der nirgend über diese Königin ausführlich geschrieben hat. Nicht so klar ist allerdings die direkte Nachahmung von Boccaccio's Filostrato in Troilus und Cressida. Hier citirt Chaucer wiederholt den Lollius, den Niemand kennt, als seinen Gewährsmann und sagt, daß er aus dem Lateinischen übersetzt habe. Allerdings ist das Wort Latein in jener Zeit vieldeutig (wie ehemals im Deutschen auch und jetzt noch welsch), und möchte vielleicht, wie Warton bemerkt ( H. E. L. II, p. 162. Add.) vom Latino volgare, d. h. dem Italienischen, verstanden werden können. Der gut unterrichtete Lydgate (s. Note 3) versichert überdies, daß es aus einem Buch in lombardischer Sprache geschöpft sei, wodurch jede Zweideutigkeit ausgeschlossen wird. Aber freilich nennt er den Namen dieses Buches seltsamer Weise Trophé, und macht dadurch wieder seine Herleitung aus Boccaccio's Filostrato zweifelhaft. Die Namen sind hier nicht so entscheidend. Sie sind meist lateinisch geformt, wiewohl Criseida selbst schwerlich aus einem lateinischen Text entnommen ist, und an einigen Stellen die italienischen Formen überwiegen (so IV, 51 ff).. Von andern, komischen, Erzählungen, deren Grundzüge, jedoch mit bedeutend veränderter Scenerie und Ausstattung sich sowohl bei Chaucer als Boccaccio vorfinden, nimmt man mit Recht an, daß sie von beiden Autoren aus älteren französischen Fabliaux geschöpft sind.

Aber viel bedeutender als auf den Stoff ist der Einfluß der Italiener auf die formelle Seite der Chaucer'schen Poesien geworden. Diese war zu einer Zeit, wo es sich darum handelte, die noch rohe Sprache für die Dichtkunst zu brechen und zu schmeidigen, von außerordentlicher Wichtigkeit.

Chaucer hat mit dem gesundesten Takt herauserkannt, daß der von den Italienern von Anfang an allgemein und für größere Kompositionen ausschließlich gebrauchte Vers, den sie selbst endecasillabo, die Engländer jetzt den heroischen Vers nennen und der bei uns unter dem Namen des fünffüßigen Jambus bekannter ist, der Natur der englischen Sprache für umfassendere Gedichte am besten zusage. Er hat ihn zuerst von seinen Landsleuten und zwar in der bei weitem überwiegenden Anzahl seiner Produktionen angewendet. Durch seinen Vorgang ist dieses Metrum seitdem in England für epische wie für dramatische Stoffe gewissermaßen das einzig gesetzliche geworden und von dort in derselben Eigenschaft für das Drama durch Lessing auch auf den deutschen Boden dauernd verpflanzt.

Aber diese Herübernahme des italienischen Metrums in das Englische war nicht so leicht wie seine Einführung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Es bedurfte dazu erst einer Fixirung der Prosodie, wie sie Chaucer weder im Französischen noch im Angelsächsischen vorfand. In jener Sprache wurden die Silben beim Versbau gezählt, in dieser, wie im älteren Deutsch überhaupt, die Hebungen. Die englischen Romanzendichter schwankten in unklarer und roher Weise zwischen beiden Methoden. Aber gerade zu Chaucer's Zeit begann die ursprüngliche Versbildung der Angelsachsen mit Aufgeben des Reims und Wiederaufnahme der Alliteration durch »Piers Ploughmans Visionen« und ähnliche religiöse Tendenzgedichte in den untern Volksschichten wiederum populär zu werden.

Hier nun erscheint Chaucer entschieden reformatorisch. Er nahm den gesetzmäßigen Wechsel von Hebungen und Senkungen, der als Rest der quantitirenden Metrik des Alterthums sich bei den Italienern mit gewissen Beschränkungen noch bis auf den heutigen Tag erhalten hat, in seine Sprache auf, so daß die betonten Silben die Längen, die unbetonten die Kürzen vertraten. Dies Princip hat bekanntlich seitdem in der englischen Poesie Geltung gewonnen und wenn es von Chaucer nicht sofort ganz konsequent durchgeführt wurde, vielmehr das französische System des Silbenzählens bei ihm noch hin und wieder durchblickt, auch anderseits die englische Silbenmessung aus verschiedenen Gründen einer gleich strengen Regelung sich widersetzt, wie sie in der deutschen zur Herrschaft gekommen ist, so nimmt doch Chaucer durch seinen maßgebenden Vorgang eine ganz ähnliche Stellung in der Geschichte der englischen Versbildung ein, wie Ennius in der lateinischen und Opitz in der deutschen.

Wie schwer es den Zeitgenossen Chaucer's wurde, ihm das Geheimniß seiner Technik abzulauschen, tritt zum Erschrecken deutlich an den Tag in den Versuchen wenig späterer Interpolatoren, die unvollendeten Canterbury-Geschichten durch Ausfüllung der Lücken und Hinzufügung neuer Erzählungen zu ergänzen. Der Kontrast zwischen dem Stümper und Meister ist in jedem einzelnen Falle so eklatant, daß man nicht begreift, wie die Verfasser sich nur einen Augenblick vor Ertappung sicher gewähnt haben. Die längeren Einschaltungen fallen vollends in den Balladentrott zurück, und Niemandem wird es jetzt noch einfallen, die Erzählung von Gamelyn und die Abenteuer der Pilger in Canterbury für Chaucer's Arbeit zu halten.

Aber auch die sorgfältigen und nicht unbegabten Schüler des Dichters, Occleve und Lydgate, folgen ihm nur in weitem Abstand.

Daß Chaucer's Verse nicht den melodischen Wohlklang wie die in der glockenhellen Zunge Toscana's gedichteten haben, wird ihm kein Mensch, der die Verschiedenheit der Sprachen erwägt, zum Vorwurf machen. Aber sie ermangeln keineswegs einer eigenthümlichen Anmuth und Leichtigkeit. Freilich können dies wenige der heutigen Engländer begreifen, da sie durch unwillkürliche Auslassung des Schluß-E, das allerdings in der jetzigen Sprache längst auf ein orthographisches Zeichen reducirt ist, das Versmaß verstümmeln. Außerdem hat Chaucer bei der zu seiner Zeit nicht bloß im Fluß, sondern in einer Art von Eisgang begriffenen Sprache alle Noth gehabt, eine bestimmte Rechtschreibung zu fixiren. Er hatte bereits bei seinen Lebzeiten mit dem Ungeschick gedankenloser Abschreiber zu kämpfen, die zu seinem nicht geringen Aerger ihm den Text seiner Gedichte korrumpirten Mit komischem Ingrimm läßt er sich darüber in dem Epigramm »An seinen Schreiber« aus:
Wirst, Schreiber Adam, je du dich vermessen,
Boëz und Troilus neu abzuschreiben,
So soll der Grind die Locken dir zerfressen,
Wenn du nicht treu wirst bei der Handschrift bleiben.
So oft machst du mir mit Radiren, Reiben
Und Korrigiren deiner Arbeit Last,
Und nur durch deine Träumerei und Hast.
. Dies Uebel wuchs progressiv bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst, während welcher Zeit alle die Aenderungen in die Gedichte eingeschwärzt wurden, welche die Weiterentwickelung der englischen Sprache mit sich brachte. Es ist endlich noch vermehrt durch den Einfluß der Dialekte, durch den auch lange nach Chaucer noch schwankenden Sprachgebrauch und die unglaublich inkonsequente und konfuse Orthographie des 15. und 16. Jahrhunderts. Erst durch Tyrwhitts dankenswerthe Bemühungen S. das Vorwort. ist einigermaßen System und so zu sagen Grund in den verwahrlosten Text gekommen. Aber leider erstrecken sich dieselben nur auf die Canterbury-Geschichten. Die übrigen Gedichte sind in den gegenwärtigen Abdrücken kaum lesbar, geschweige denn, daß sie ein Bild von der Originalabfassung durch den Autor geben könnten.

Besonders anzuerkennen ist bei Chaucer die außerordentliche Reinheit der Reime, an der die jetzigen englischen Dichter sich ein Beispiel nehmen sollten. Der Wechsel männlicher und weiblicher Versausgänge, deren sich Chaucer nach Bequemlichkeit und ohne ein strenges Gesetz darin zu beobachten bedient (ein Verhältniß, das neuerdings von Gesenius verkannt ist), bringt eine Mannigfaltigkeit in den Tonfall, die aus der neuern Poesie der Engländer zum großen Theil hat weichen müssen, da durch die fortschreitende Abschleifung der unbetonten Flexionssilben der männliche Reim fast zu ausschließlicher Herrschaft gekommen ist.

In Bezug auf die Reimstellung ist Chaucer von den bei den Italienern geläufigen Formen abgewichen. Für leichtere Stoffe hat er mit Recht die Reimpaare gewählt. Er verschmäht sie auch nicht für ernstere Gedichte, wie die Erzählung des Ritters. Von der ottava rima macht er nirgend Gebrauch. Den Grund dafür vermag ich nicht anzugeben. Die Schwierigkeit der Form kann ihn nicht abgeschreckt haben. Denn er bedient sich sehr häufig einer siebenzeiligen Stanze, die in dieser Beziehung der italienischen wenig nachgiebt, einer achtzeiligen und neunzeiligen, deren Reimstellungen entschieden komplicirter sind als die der Ottava – gar nicht zu gedenken solcher meistersängerlicher Kunststücke wie die Schlußreime des Studenten hinter der Geschichte von der Griseldis S. die Anmerkungen zu den betreffenden Gedichten, V. 4519 ff., 9059 ff., 13,642 ff., 13,997 ff. Die siebenzeilige Stanze ist außerdem angewandt in »Troilus und Cressida«, dem »Liebeshof«, der »Klage des Mitleids«, der »Klage des Mars und der Venus« (Th.1), »Königin Anelida« (Th. 1); die achtzeilige in »Chaucer's ABC«, »Klage des Mars und der Venus« (Th. 2) und in der »Klage der Anelida« (Th. 2); eine fünfzeilige endlich in »Kukuk und Nachtigall«. Komplicirtere Formen hat er außer in den oben erwähnten Schlußreimen der Griselde noch in einzelnen, den Franzosen nachgeahmten lyrischen Gedichten (»Balladen«) in Anwendung gebracht. So innerhalb der Leg. of G. W., V. 259, und in dem äußerst künstlichen Gedicht: A goodly Ballade of Chaucer in der Pickering-Edition, Th. V, S. 255. In einigen Jugendgedichten bedient er sich noch der sogenannten kurzen Reimpaare der französischen Romanciers, denen Gower noch durchaus sich anschließt und zwar in sehr lockrer und bequemer Form und geringer Beachtung des Worttons. So natürlich im Roman von der Rose; außerdem im »Haus des Ruhms«, »Traum«, »Blüthe und Blatt«. Später hat er dieselben ganz aufgegeben..

Jedenfalls gewann Chaucer durch seine vergleichsweise umfassende Kenntniß der antiken Dichter, durch den Anflug der Gelehrsamkeit, den er aus seinen sonstigen Studien davongetragen, am meisten aber durch seine Vertrautheit mit den neu erstehenden klassischen Werken Italiens, denen er in Reinheit der Form nachzueifern bemüht war, – er gewann durch alle diese Elemente, die er tief in sich aufnahm und in seine Poesien verarbeitete, das Bewußtsein, daß er den besten seiner Nation etwas Neues, den bisherigen stammelnden und rohen Versuchen der Volkspoesie bei weitem Ueberlegnes darbiete. Nimmt man hinzu, daß er in den gebildetsten und feinsten Kreisen seiner Zeit sich bewegte, daß er dem Hofstaat eines Fürsten angehörte, welcher anerkanntermaßen die Blüthe der christlichen Ritterschaft um sich vereinigte und als Spiegel jeder adeligen Sitte galt, und daß er seine Poesien in der Geschmackshöhe dieser Kreise hielt: – dann schwindet etwas von der Verwunderung, deren wir uns nicht ganz erwehren können, wenn wir sehen, daß Chaucer jenen Volksdichtern gegenüber bereits als ein kritischer Kostverächter sich geberdet, als ein Klassiker gegenüber romantischer Barbarei.

Treten wir dieser für Chaucer äußerst charakteristischen Haltung etwas näher. Unter den Personen, welche den Canterbury-Geschichten in den Mund gelegt werden, führt er sich selbst mit redend ein. Der Wirth fordert ihn auf, seinen Beitrag zur Unterhaltung zu geben. Chaucer entschuldigt sich komisch, daß er keine Erzählung wisse; nur ein altes Reimgedicht habe er vor Jahren gelernt. Der Wirth erklärt sich damit zufrieden und nun hebt Chaucer im Bänkelsängerton, ganz in Versart und äußerer Form der Volksromanzen gehalten, eine Geschichte zu erzählen an, welche den linkischen Pomp, das abenteuerliche Gewühl von Riesen, Ungeheuern, Rittern und Feeen, von ungeschlachten Raufereien und verhimmelndem Liebesweh, wie es in diesen Gedichten durcheinanderzugehen pflegt, auf eine höchst ergötzliche Weise parodirt. Der Ton ist so glücklich getroffen, daß der Hörer die Ironie nicht eher merkt, als bis sie faustdick kommt. Der Wirth unterbricht den Dichter mitten in der Erzählung und bittet ihn um Gottes Willen, mit dem Geplärre einzuhalten; die Ohren thäten ihm davon weh. Das ist verständlich genug. Wir haben hier in der That den Gegensatz des klassischen Purismus gegen die maß- und formlose Romantik.

Dieser Kampf zwischen Klassicität und Romantik erhebt sich bei allen modernen Völkern stets aufs neue, sobald die Elemente einer überlegenen fremden Kultur, durch bevorzugte und exklusive Stände auf den heimischen Boden verpflanzt, der Literatur einen neuen Aufschwung geben und die Kunstpoesie sich über die volksthümlichen und naturwüchsigen Produktionen erheben lassen. Die Renaissance dringt ruckweise und in Anläufen, die durch lange Ruheperioden getrennt sind, in die moderne Kultur ein. Aber bei Chaucer erscheint dem oberflächlichen Beobachter dieser Konflikt doch etwas sehr verfrüht. Ja, auch bei genauerer Untersuchung bleibt immer für unser modernes Gefühl etwas Seltsames, wo nicht Beleidigendes, in der spöttischen und verächtlichen Behandlung, welche die alte Romanze der Minstrels sich von Chaucer muß gefallen lassen: aus zwei Gründen.

Erstlich haben unsre hochcivilisirten Zeiten eine besondre Zärtlichkeit für die sogenannte Volkspoesie. An dieser Vorliebe hat zwar einen nicht geringen Antheil theils krankhafte Sentimentalität, die durch das Naive immer entzückt wird, theils Blasirtheit, die, aus Ueberreizung entsprungen, sich um jeden Preis der frischen Natur zuwendet, sollte sie auch Rohheit und Ungeschlachtheit mit in den Kauf nehmen müssen.

Aber der alleinige Grund für unsere Werthschätzung der Volkspoesie und namentlich der altenglischen und schottischen Balladen ist dies denn doch nicht. In diesen Gedichten, welche sich in unmittelbarem und untrennbarem Zusammenhang mit den versificirten Ritterromanzen der normännisch-englischen Periode entwickeln, ja zu Chaucer's Zeit als ununterschieden und identisch mit denselben gelten müssen Dieser Satz steht in Widerspruch mit den geläufigen literargeschichtlichen Traditionen. Der Beweis dafür muß einem andern Ort aufgespart werden. Hier nur die Bemerkung, daß ein großer Theil der Verwirrung, welche über diese Frage herrscht, dem von Percy eingeführten und namentlich durch W. Scott verbreiteten modernen Gebrauch des Wortes minstrel zu verdanken ist., birgt sich unter allerdings oft linkischen und formlosen Wendungen so viel ursprüngliche Grazie und reine Schönheit, es werden alle Töne, die das Menschenherz bewegen, von den sanftesten und rührendsten bis zu den erhabensten und erschütterndsten angeschlagen, daß die englische Literatur in ihnen wirklich einen Schatz poetischen Goldes besitzt. Shakespeare's Genie erkannte unter dem alterthümlichen Rost sehr wohl die edeln Körner heraus und wußte durch ihre meisterhafte Verwendung seinen Dramen einen unnennbaren Reiz mehr zu geben. Darum lassen wir uns nicht gern diese Lieblinge antasten und verspotten.

Anderseits machen nun Chaucer's Gedichte ganz und gar nicht den Eindruck von Dem, was wir uns jetzt unter dem Ausdruck von Klassicität oder Kunstpoesie zu denken gewohnt sind. Sie erscheinen uns vielmehr einestheils so bunt romantisch, anderntheils so derb natürlich, daß wir sehr scharf hinschauen müssen, um den materiellen Unterschied zwischen ihnen und den Versuchen seiner Vorgänger zu entdecken. Chaucer ist, wenn irgend einer, dem Hang zum Wunderbaren zugethan. Ein großer Theil seiner ernst gemeinten Gedichte bewegt sich auf diesem Gebiete oder entnimmt von daher seinen Schmuck. Selbst dem Abenteuerlichen und Phantastischen ist er nicht abhold. Eine seiner ausgezeichnetsten Produktionen, deren Sujet dem Orient entlehnt ist (die »Erzählung des Junkers«, leider unvollendet), verdankt ihre Wirksamkeit dieser Potenz. Es liegt darin gar kein Tadel, so lange der Dichter, selber gläubig, Andern das Unglaubliche glaubhaft darzustellen vermag, nicht durch Ueberladung das Uebernatürliche, Schreckhafte zur Fratze und zum lächerlichen Popanz macht. Aber dies Alles ist doch entschieden romantisch, nimmermehr klassisch, wie man das Wort sonst versteht.

Wenn wir ferner als ein Merkmal wahrer Klassicität von dem Dichter auch die Fähigkeit verlangen, sich so in sein Objekt, und sei es auch ein fern liegendes, zu versenken, daß seine Individualität darin verschwindet, und daß er bei seinen Reproduktionen die Menschen und Dinge genau in ihren eignen Formen und Farben dem Geist der Zeit und des Ortes getreu darstellt, der sie erzeugt, so geht auch Chaucer diese Eigenschaft in hohem Grade ab. Er kennt trotz seiner klassischen Studien nur die Zeit, in welcher er selbst lebt. Der Glanz des Ritterthums und seiner eigenthümlich idealen Ziele begeistert, ja blendet ihn so, daß er das Hohe und Große aller Zeiten nur in diesem Lichte zu sehen vermag. Er führt uns die Heroen der griechischen Sage, Theseus und die Helden vor Theben und Troja genau in Kostüm und äußerlicher Haltung, genau in der Denk-, Rede- und Lebensweise seiner ritterlichen Zeit vor. Ja selbst den Gott Apollo, da er zur Erde hinabstieg, stellt er völlig wie einen jungen Herrn von Stande aus Eduards III. höfischer Umgebung vor (s. Cant.-Gesch., V. 17,054 ff.). Aber auch mit den antiken Göttern in ihrer Göttlichkeit weiß er sich abzufinden. Er behandelt sie wie Heilige der katholischen Kirche, die in Kapellen mit Gesang und Messedienst, mit Weihrauch und Kniebeugungen verehrt werden, völlig so wie er es täglich vor Augen sah. Kurz, er ist so anachronistisch, wie man es nur von einem Romantiker verlangen kann. Von seiner chaotischen Zeitrechnung in der Literatur ist schon oben die Rede gewesen S. Note 67 zu Ende.. Er beabsichtigt dergleichen keineswegs. Er möchte so historisch treu und realistisch erscheinen als immer möglich. Er erklärt, nicht ohne Pedanterie, wie Julius Cäsar, Nero und Antonius schon zu Theseus' Zeit im Marstempel hätten abgebildet sein können Cant.-Gesch. V. 2035 ff.. Er läßt die Heiden bei Leibe nicht Christen sein. Aber da er keine andere heidnische Mythologie kennt als die aus den römischen Klassikern geschöpfte, so muß dieselbe für Heiden aller Art, auch für die alten Bretonen Das., V. 11,043 ff., ja sogar für die Tataren herhalten Das., V. 10,521 ff.. Dies hindert aber nicht, daß Pluto den Jesus Sirach und den Prediger Salomo citirt, Proserpina die Gesta Romanorum und das Neue Testament und daß sie dem Salomo Götzendienerei vorwirft Das., V. 11,016 ff., 10,156 ff. Wenn hier wirklich der Schalk durchblicken sollte, was ich allerdings nicht für unmöglich halte, so ist es doch bittrer Ernst, daß Virginia (V. 12,174) sich auf das Beispiel von Jephtha's Tochter beruft.. – Freilich, was Chaucer dadurch dem geläuterten Geschmack und dem besseren Wissen unserer Zeit gegenüber an absolut poetischem Werth einbüßt, das gewinnt er reichlich wieder an Interesse durch das lebensvolle Bild, welches er uns von den Zuständen seiner eignen Zeit entwirft, und selbst durch den zuerst befremdenden Kontrast, den es erregt, wenn wir durch die bunte Vermummung mittelalterlichen Prunkes die wohlbekannten Züge antiker Götter und Heroen hindurchblicken sehen.

Ein gleiches Bewenden hat es mit seiner Beurtheilung der Stoffe, ob und wie weit sie eine poetische Behandlung zulassen. Es hat ihn hierbei unendlich mehr ein gesunder Instinkt als künstlerische Einsicht geleitet. Von Erfindung in Bezug auf das faktische Material kann bei epischen Dichtern überhaupt wenig die Rede sein. Es ist daher wunderlich, wahrzunehmen, wie die Literarhistoriker, selbst seine Bewunderer, ihm Originalität absprechen, weil er aus andern Quellen geschöpft habe – und weil man diese Quellen ihm in den meisten Fällen nachweisen kann. Kein Epiker, der nicht den Boden unter den Füßen verlieren will, darf seine Erfindung aus der Luft greifen. Kein Epiker von Homer bis Walter Scott hat dies gethan, ja kaum ein echter Dramatiker. Selbst Shakespeare hat die Fabel stets »irgend woher« entnommen und meistens läßt sich die Quelle nachweisen. Ob der Dichter sich dabei auf den Vorgang der Sage oder der schriftlichen Ueberlieferung stützt, ist natürlich gleichgültig. Chaucer ist bei der Benutzung seiner Quellen auf sehr verschiedene Weise verfahren. Bald hat er aus einem unscheinbaren Embryo eine lebendig gegliederte umfangreiche Erzählung entfaltet, bald ein Paar platter Schwänke zu einer bunt gruppirten und von dem köstlichsten Humor durchdrungnen, fast dramatischen Satire ineinandergeschlungen, bald einen absurden Gassenhauer zu einer vollendeten Parodie umgearbeitet, bald freilich auch im nächsten Anschluß an ein anderes Original sich mit der Rolle eines freien Uebersetzers begnügt. Hier handelt es sich dann natürlich nur um Auswahl, Anordnung und Weiterführung des Vorgefundenen. Einzelne, allerdings im Ganzen wenige, Stoffe sind an sich spröder Natur und wehren sich gegen eine erfolgreiche poetische Behandlung. Es gehören aus den Canterbury-Geschichten dahin die Erzählung der Priorin und der zweiten Nonne. Andre, wirkliche Uebersetzungen prosaischer Stücke verzichten von vornherein auf jeden selbständigen – geschweige denn dichterischen Werth und haben ihre Bedeutung nur in dem Zweck des größeren Ganzen, dem sie eingefügt sind. So die Erzählung von Meliboeus und der Traktat des Pfarrers in den Canterbury-Geschichten. Aber auch bei glücklich gewählten Stoffen – und deren ist bei weitem die Mehrzahl – fehlt es hin und wieder in der Ausführung nicht an Wiederholungen und ungehörigen Breiten. Wir haben schon oben der Vorliebe erwähnt, mit welcher er astronomische Probleme behandelt. Aehnliches gilt von gewissen scholastischen Diatriben über Moralsätze, die er oft sehr lang und ohne Verhältniß zur Erzählung ausspinnt. Wir lesen sie bei ihm freilich mit Interesse; aber mit dem Interesse einer Kuriosität, das auch durch eine seltsame Ungehörigkeit erregt wird, wenn sie nur charakteristisch für das Wesen einer ganzen Kulturperiode ist. Bei einem Dichter der Gegenwart würden wir sie nicht dulden.

Von allen diesen Fehlern sind Chaucer's komische Erzählungen freilich fast ohne Ausnahme gänzlich frei. Sie sind durchgängig vorzüglich angelegt und haben einen drastischen Verlauf. Dennoch bieten auch sie uns eine Seite dar, wo der Einfluß des Terrains und der Zeiten, denen sie ihren Ursprung verdanken, als den absoluten Kunstwerth der Dichtungen schmälernd sich bemerklich macht. Dieser Punkt ist aber von um so größerem Interesse, als er die Rolle, welche der Dichter bei der Verschmelzung der beiden Nationalitäten übernommen hatte, auf das schlagendste erläutert.

Es würde voreilig sein anzunehmen, daß diese Verschmelzung allein durch Chaucer's Dazwischentreten plötzlich und ein für allemal für die Literatur vollzogen wäre. Dies würde über die Wirksamkeit hinausgehen, welche die Vorsehung einem einzelnen Menschen in der Entwickelungsgeschichte der Völker einräumt. Aber was diese Wirksamkeit Chaucer's dennoch so wichtig, diese Produktionen so überaus interessant macht, ist, daß er die beiden Nationalcharaktere mit ihren Unterschieden und im Widerstreit unter einander in seiner eignen einzigen Person beherbergt, daß er ein Doppelmensch ist mit einem Januskopf, halb höfischer und chevaleresker Franzose, halb derb naturwüchsiger Angelsachse; daß er bald das eine Gesicht, bald das andre uns zukehrt und dadurch namentlich in seinen komischen Gedichten die überraschendsten und ergötzlichsten Kontraste zu Wege bringt.

Schon in seiner Sprache sind die französischen Elemente nur zum kleinsten Theil mit den deutschen organisch verwachsen; sie liegen meistens nur mechanisch gemengt neben und zwischen ihnen, leicht erkennbar wie die geognostischen Bestandtheile in der äußerlich vereinigten Masse des Granits. Chaucer wie seine Zeitgenossen sprechen noch nicht mit englischem Accent: vértue, lícour, coúrage, relígion – sondern französisch: vertúe, licoúr, couráge, religioún. Und ebenso bunt wie seine Sprache ist seine Empfindungs- und Anschauungsweise. In die feinsten, mit der gewandtesten Hand gezeichneten Charakteristiken schlägt er plötzlich mit einer plattdeutschen Eulenspiegelei hinein, so derb, daß Einem Hören und Sehen vergeht. Und, was das Schlimmste ist, an diesen Tölpeleien, die oft, die Wahrheit zu gestehen, genau wie Eulenspiegels praktische Späße unverantwortlich schmutzig sind, hat er eine ordentliche Lust. Er übt sie mit vollem Bewußtsein. Es ist fast, als wollte sich seine angelsächsische Natur (die übrigens auch aus seiner schon oben berührten Vorliebe für handfeste Volkscharaktere hervorleuchtet) an der fremdbürtigen französischen Kultur in ihm recht gründlich dadurch rächen, daß sie dieser empfindsamen, vornehm thuenden, parfümirten Hofdame eine Hand des allernaturwüchsigsten plumpsten Bauernwitzes ins Gesicht wirft.

Man wende hier nicht etwa ein, daß solche Polissonnerien keineswegs bloß plattdeutsch und angelsächsisch seien, daß die Neigung dazu in dem unentwickelten Schicklichkeitssinn dieser Jahrhunderte überhaupt liege, daß sie trotz des äußeren Firnisses etikettemäßiger Formen an dem Hofe Eduards III., durch die französischen Fabliaux ebenso geläufig gewesen wie in dem hochgebildeten Italien. Man berufe sich dabei nicht auf Boccaccio's ebenso elegante wie schlüpfrige Novellen, deren Nachahmung Chaucer so nahe lag. Man würde dadurch Chaucer im höchsten Grade unrecht thun. Boccaccio ist bei seiner blendenden und gleichmäßig gefeilten – niemals plumpen Diktion dennoch im Herzen lasciv. Er ist schlüpfrig, lüstern und darum wirklich unsittlich und gefährlich. Bei Chaucer dagegen ist von Lüsternheit nirgends die geringste Spur. Es kommt ihm nicht entfernt in den Sinn, sich in verblümten, aber eben darum verführerischen Situationen zu ergehen, wie jener es mit Vorliebe thut. Er läßt zu Zeiten ein unschickliches, sehr unschickliches Wort fallen, aber er ist nicht unsittlich. Man mag die betreffenden Stellen roh, ungeschlacht, pöbelhaft nennen, der gebildete Anstandssinn mag dabei erschrecken: die Unschuld und Tugend ist sicher vor ihm – ebenso sicher wie bei den groben Späßen Eulenspiegels und was sonst aus unsrer älteren deutschen Volksliteratur in dieselbe Rubrik gehört. Könnte es nach dem eben Gesagten noch zweifelhaft sein, daß wir es in der That hier mit dem noch unversöhnten Gegensatz der bis dahin nur den niederen Volksschichten eigenen plattdeutschen Weise und des feinen Tons der französisch gebildeten adeligen Cirkel zu thun haben, so würde er uns selbst darüber durch die denkwürdigen Worte belehren, mit welchen er an einer Stelle der Canterbury-Geschichten sich wegen dieser groben Manieren entschuldigt Prolog des Müllers, V. 3167.: »Es sind die Sitten der Bauern, die ich schildre; ich kann den Bauer nicht adeln; feine Leute mögen diese Geschichten überschlagen; sie werden genug Anderes nach ihrem Geschmack in dem Buche finden.«

Alle diese seltsamen Auswüchse nun, die übrigens, wie erwähnt, größtentheils nur dazu dienen, das historische Interesse an dem Dichter zu erhöhen, hindern auf der andern Seite keineswegs, Chaucer's Auftreten in der englischen Literatur als Epoche machend zu bezeichnen, und das Selbstgefühl zu rechtfertigen, mit dem er als bahnbrechender und tonangebender Klassiker die Romanzendichtung der Minstrels persiflirt.

Es kam vor allem darauf an, den klaffenden Zwiespalt zwischen den höchsten und herrschenden Ständen und dem Gros der englischen Bevölkerung auch in der Literatur zu schließen. Jene betrachteten die Sprache der Ueberwundenen immer nur noch als ein verächtliches Patois, dessen sie sich zur Nothdurft des gemeinen Lebens bedienten, das sie aber sofort im Stich ließen, wie es sie im Stich ließ, so oft es sich um den eleganten Ausdruck derjenigen Begriffe und Empfindungen handelte, in denen sich das geistige Leben der höheren Gesellschaft bewegte. Es galt also, gerade ihnen die neue Zunge mundgerecht zu machen und das konnte nur geschehen, wenn ihnen in glücklich gewählter Diktion auch zugleich ein Inhalt geboten wurde, der ihrem Geschmack zusagte und ihr Interesse fesselte.

Chaucer wirkte in dieser Beziehung ähnlich, wiewohl unendlich eindringender und umfassender wie im 18. Jahrhundert Wieland auf die französisch redenden aristokratischen und höfischen Kreise Deutschlands.

Aus diesen Gründen erscheint demnach der Fortschritt von jenen ersten rohen Versuchen der Volkspoesie zu Chaucer's Leistungen als ein riesenhafter. Chaucer's Auftreten bringt eine literarische Revolution zur Entscheidung, die allerdings schon vorbereitet war, aber ohne ihn trotz der Balladendichter, trotz Piers Ploughman's Visionen, trotz Gower, ja trotz Wiclif sicher nicht so früh zum Durchbruch gekommen wäre. Dies ist eine Klassicität, allerdings in einem andern Sinne als man gewöhnlich das vieldeutige Wort versteht, die unserem Dichter durch keine mißmüthige Vergleichung mit den volksthümlichen Sängern der nächsten Jahrhunderte abgesprochen werden kann.

Aber Chaucer's Bedeutung und Größe ist keineswegs nur eine historische und relative. Die Schwungkraft seines Genius durchbricht – und nicht bloß an vereinzelten Stellen – die konventionellen Schranken seiner Zeit und erhebt sich über dieselben zu den reinen Höhen der idealen Form. Waldesgrün, Maienwonne und Vogelsang sind zwar Stoffe, an denen sich die mittelalterliche Lyrik müde gesungen hat. Aber Chaucer weiß sie ebenso anspruchlos wie innig, ebenso wahr als frisch zu erneuen. Und außerdem erschließt er uns noch andre Schätze, von denen uns jene Sänger wenig zu künden wissen: die reine Unschuld des jungfräulichen Herzens, die ungeschminkte und ungekünstelte Frömmigkeit, die stille Gottergebenheit der Mutter, die für das Leben ihres Säuglings bebt. Hier gewinnt sein Ausdruck eine Zartheit, Reinheit und Vollendung, die sich den köstlichsten Perlen aller Literaturen anreihen läßt.

Es hängt dies mit einer andern Eigentümlichkeit zusammen, die allerdings eine der Grundbedingungen künstlerischen Schaffens ist, die aber Chaucer von seinen Zeitgenossen ausschließlich für sich in Anspruch nimmt, und in Bezug auf welche kein einziger Dichter aus jenem Kreise, ja kein englischer Dichter bis auf Shakespeare selbst mit ihm in die Schranken zu treten vermag. Diese Eigentümlichkeit ist bei ihm in so hohem Maße zur Entwickelung gekommen, daß alle diejenigen Stellen seiner Werke, die unmittelbar aus ihr resultiren, einen absoluten dichterischen Werth, einen Werth für ewige Zeiten haben.

Es ist dies die aus der feinsten sinnlichen wie psychischen Beobachtungsgabe entspringende Fähigkeit, die Wechselbeziehung zwischen den Details der äußeren Erscheinung eines Menschen und den dieser Erscheinung entsprechenden Charakterzügen rasch aufzufassen und scharf und schlagend darzustellen. Hier schmilzt die Person des Weltmannes und des Dichters in Eins zusammen. Wir wissen nicht, ob wir die tiefe Menschenkenntniß oder die Gewandtheit, uns ihre Resultate anschaulich klar und ohne Bodensatz vor Augen zu führen, mehr bewundern sollen. Chaucer's Charakteristiken lösen eines der schwierigsten Probleme der Kunst: sie sind individuell und typisch zugleich; das heißt, sie machen auf uns einerseits den Eindruck einer konkreten lebendigen Persönlichkeit und stellen doch anderseits eine ganze Klasse von Personen dar, und da sie die Darstellung der äußeren Erscheinung an solche Eigenthümlichkeiten des menschlichen Geistes knüpfen, die zu allen Zeiten, wenn auch unter andern Formen, wesentlich dieselben bleiben, so werden wir dadurch unwillkürlich und wie durch magischen Zwang in diejenigen Zeiten und Sittenzustände zurückversetzt, deren Schilderung die nächste Aufgabe des Dichters ist. Wir verstehen den Geist dieser Zeiten selbst in seiner detaillirtesten Entfaltung gleichsam plötzlich und ohne gelehrte Interpretation besser als durch langathmige, historische und antiquarische Auseinandersetzungen; wir verkehren mit dem Ritter und der Priorin, mit dem Bettelmönch und dem Ablaßkrämer wie mit alten Bekannten, als sähen wir sie täglich; als hätten wir sie gestern erst gesehen.

Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters durch den Verkehr mit vielerlei Menschen am Hof, im Felde und auf Reisen geschärft, ihm unendlich mehr Eindrücke von Unzulänglichem, Verkehrtem, Hinfälligem zugeführt hat als von Vollendetem, Schönem, Erhabnem. Er verschließt sich nun zwar weder der aufrichtigen Begeisterung für das Edle, noch dem tiefen Abscheu gegen das Böse. Er hält der Tugend einen ebenso getreuen Spiegel vor als dem Laster. Aber die natürliche Heiterkeit des Dichters, die Grundstimmung seines Gemüthes, wendet sich am liebsten den gemischten und unvollendeten Charakteren zu, die das Leben bunt und unterhaltend machen – und die einen Spaß vertragen. Es ist schon oben bemerkt, daß die komischen Erzählungen vortrefflich, zum Theil meisterhaft angelegt sind. Chaucer's Hauptstärke liegt aber doch in den komischen Charakterzeichnungen. Es steht ihm jeder Grad der Satire zu Gebot. Den Hochmuth, die Unverschämtheit, vor allem aber die Heuchelei geißelt er mit den schärfsten Hieben. Das kleine Gebrechen, das Steckenpferd, die Thorheit – er straft sie allerdings auch, schon indem er sie schildert, aber er straft sie lachend oder vielmehr lächelnd.

Es ist nichts Superkluges, keine Selbstüberhebung in dieser Ironie; es liegt darin das gutmüthige Eingeständniß, daß Jedermann hienieden, daß auch er, der Dichter, sein Stückchen Thorheit trage, daß wir Alle des Ruhmes mangeln, den wir haben sollen, nicht nur weil wir allzumal Sünder, sondern auch – mehr oder weniger – allzumal Narren sind. Und hiermit glaube ich auf den feinsten und merkwürdigsten Zug in Chaucer's dichterischem Charakter hingewiesen zu haben – auf einen Zug, der von allen Dichtern der Welt bei ihm zuerst zur klaren Entfaltung gekommen, der seitdem der eigenste und ohne Zweifel der liebenswürdigste Zug des englischen Volkscharakters geworden ist: Chaucer ist der erste Humorist.

*

Es ist erfreulich wahrzunehmen, daß Chaucer, was nicht jedem großen Dichter zu Theil geworden ist, schon durch das volle Anerkenntniß seiner Zeitgenossen und namentlich der jüngeren Generation belohnt wurde. Aber auch der an Jahren ältere John Gower, welcher die ihm mangelnde Ader genialer Schöpfungskraft durch moralisirende Allegorien im Geschmack seiner Zeit zu ersetzen suchte S. Pauli, Bilder aus Alt-England, C. VII, S. 190 ff., spendet dem überlegenen Geiste den verdienten Tribut. Wir haben die betreffenden Verse seiner »Beichte des Liebenden« schon zu einem andern Zweck citirt S. Note 54.. Das freundschaftliche Verhältniß zwischen beiden Dichtern muß eine Zeitlang ein recht inniges gewesen sein. Denn Chaucer bevollmächtigte bei seiner zweiten Gesandtschaftsreise nach Italien im Jahre 1378 Gower nebst einem andern Freund mit der Vertretung seiner Angelegenheiten bei etwa vorfallenden Rechtshändeln Sir H. Nicolas a. a. O. und in der Retrospect. Review, N. 5, vol. II.. Auch ehrte er ihn seinerseits durch ein öffentliches Zeugniß seiner dichterischen Anerkennung, indem er ihm und dem Philosophen Ralph Strode das romantische Epos Troilus und Cressida durch folgende Zueignung empfahl (B. V, 1868):

Dir Sittenrichter, Gower, sei dies Buch
Empfohlen und dir Philosophen Strode,
Mit Freundeseifer – dies ist mein Gesuch –
Es zu verbessern, wo ihm Beßrung noth.
Und Christus, der am Kreuze litt den Tod,
Ihn fleh' um Gnad' ich an aus Herzensgrunde
Und rede so zum Herrn mit frommem Munde u. s. w.

Der Zusammenhang verbietet, auch nur den leisesten Anflug von Ironie in dem Attribut »Sittenrichter« ( moral Gower) zu suchen. Vielmehr hat sich Gower sicher dadurch geehrt gefühlt. Das aber kann leider nicht bezweifelt werden, daß die Freundschaft zwischen beiden Dichtern in Chaucer's späteren Lebensjahren erkaltete S. die Anmerkung zu Cant.-Gesch., V. 4497.. Der unbedingtesten und unveränderten Verehrung voll ist dagegen derselbe Thomas Occleve, dem wir das später in vielen Kopien verbreitete Porträt Chaucer's verdanken S. Note 65. Im vorletzten Vers der ersten Strophe lese man left statt lest. In Strophe 2, V. 5, Whereas unsight statt Were of unsyte.. Er motivirt jene Randzeichnung durch diese erläuternden Stanzen:

Erlosch sein Leben gleich, so steht sein Bild
So frisch vor mir im Geist zu jeder Zeit,
Daß ich, es Andern zu erneun gewillt,
Gestalt und Züg' in treuster Aehnlichkeit
Nach besten Kräften hier abkonterfeit,
Daß Jeder, der gekannt den theuern Mann,
Ihn in dem Bilde wiederfinden kann.

Die Bilder, die wir in der Kirche sehn,
Machen, daß man an Gottes Heil'ge denkt,
So oft die Blicke sich darauf ergehn.
Ja mancher fromme Vorsatz wird beschränkt
Durch ihren Mangel; doch wer sich versenkt
In solch ein Bild von Farben oder Stein,
In den ziehn ähnliche Gedanken ein.

Darum, wenn Einige die Meinung hegen,
Verwerflich sei ein Bild von Menschenhand,
So irren sie und gehn auf falschen Wegen
Und sind beschränkt an Wissen und Verstand.
Doch jetzt, dreiein'ger Gott, zu dir gewandt,
Fleh ich um Huld für meines Meisters Seele,
Die dir auch, heil'ge Jungfrau, ich empfehle.

Die Poesie ist mager und die Verse sind ungelenk, wie alle in dieser Periode, die nicht aus Chaucer's eigner Feder geflossen sind. Aber was sie an Klang und Schwung entbehren, ersetzen sie einigermaßen durch die Treuherzigkeit der Gesinnung, aus der sie entsprungen sind und in der wir das innige Bedürfniß eines dankbaren Gemüthes erkennen, das Grab eines geliebten Lehrers mit solchen Blumen zu schmücken, wie sie eben das poetische Gärtchen des bescheidenen Gebers bieten kann. Es gilt dies in noch höherem Grade von den folgenden Stanzen, die einem andern Abschnitt des Occleve'schen Werkes entnommen sind Ms. Harlej., n. 4866, p. 34 . Sie scheinen unmittelbar nach Chaucer's Tode geschrieben und erst später in den jetzigen Zusammenhang eingereiht zu sein Warton, Hist. Engl. Poetr., S. 258..

Doch weh! wie thut es meinem Herzen weh!
Er, Preis und Zier von Englands Zung', ist todt,
Er, Rath und Beistand mir in jeder Noth.

Mein theurer Lehrer, Vater, hochverehrt,
Mein Chaucer, Blume der Beredtsamkeit,
Du Spiegel alles Deß, was wissenswerth,
Du Vater Aller in Gelehrsamkeit;
Ach daß du deines Geists Erhabenheit
An Keinen auf dem Sterbebett vermachtest!
Tod, bist du rasend, daß den Mann du schlachtest?

O Tod, du schufst nicht ein vereinzelt Klagen,
Da du ihn schlugst; das ganze Land erbebt.
Doch seinen guten Namen zu erschlagen
Fehlt dir die Kraft; sein Tugendglanz erhebt
Sich unverletzt von dir, und frisch belebt
Er uns durch seiner Dichterworte Kraft,
Die leuchtend unser ganzes Land durchfacht.

Aus einer dritten Stelle geht sogar hervor, daß Occleve Chaucer's Schüler im eigentlichen Sinne gewesen sein muß.

Mein theurer Lehrer (schenk' ihm Gott das Heil!)
Mein Vater Chaucer ließ an seinem Theil
Mich wohl genießen seines Unterrichts,
Doch lernt' ich Dummkopf wenig oder nichts.

Weh, theurer Meister mein, voll hoher Gnaden,
Du dieses Landes wahrer Schatz und Hort,
Nie hat der Tod so unheilbaren Schaden
Uns zugefügt. Durch rachbegier'gen Mord
Nahm er dem Land die süße Gabe fort
Der Rednerkunst; denn unter uns war so
Wie du noch keiner gleich dem Cicero.

Warst du es nicht, der die Philosophie
Als Aristotel's Erbe zu uns trug,
Der Maro's Spuren in der Poesie
Nachging? Ja wohl, man kennt ihn gut genug,
Den Plagegeist, der, Meister, dich erschlug.
O hätt' er mich erschlagen! Viel zu jach
Rannte der Tod just deinem Leben nach.

Warum verschob er nicht den Rächerstreich,
Bis daß ein Andrer, der dir gleich, erschien?
Ach nein! er wußte, dieses Inselreich
Kann keinen Zweiten je gleich dir erziehn;
Und seine Pflicht muß er einmal vollziehn.
So wollt' es Gott, der Alles wohl beschieden.
O Meister, sende Gott dir seinen Frieden!

Nicht minderer Bewunderung hatte er sich von dem noch etwas jüngeren Lydgate zu erfreuen, der, wie schon erwähnt S. Note 3 und 20., dem Prolog zu seiner Übersetzung von Boccaccio's »Fall der Fürsten« ein ausführliches Verzeichniß der sämmtlichen Schriften des verehrten Meisters mit liebevoller Charakteristik jeder einzelnen einreiht. Aber ein noch schöneres Denkmal setzt er ihm in seinem Hymnus auf die Jungfrau Maria:

Britanniens edler Redner und Poet
Mein Meister Chaucer liegt nun auch im Grabe,
Er, dem so schön der Dichtkunst Lorbeer steht,
Der werth ist, daß er auch den Palmzweig habe.
Er, der den goldnen Thau der Rednergabe
Zuerst durch seinen Geist, den überlegnen,
In unsre Sprache träufeln ließ und regnen.

Er hat mit Blumen der Beredtsamkeit
Zuerst der rauhen Sprache Klang erhellt;
Ihm kam kein Andrer gleich, zu keiner Zeit.
Denn wie die Sonne glänzt am Himmelszelt,
Wenn Mittags senkrecht ihren Strahl sie schnellt,
Daß alle Sterne ringsumher erbleichen,
So sind auch seine Lieder sonder gleichen.

Ja selbst nach Frankreich hinüber erscholl sein Ruhm, den er dort vorzugsweise durch die Uebersetzung des Romans von der Rose begründet hatte. Wir besitzen eine von Wright aufgefundene poetische Zuschrift (»Ballade«) des gleichzeitigen französischen Dichters Eustache Deschamps Im Ms. Reg. Par. Nr. 7219, fol. 62. Mir war nur der von Sir H. Nicolas (a. a. O, p. 103) gegebene Abdruck zugänglich, über dessen Inkorrektheit sich Wright beklagt., welcher in etwas hochtrabenden und nicht durchweg verständlichen Versen Chaucer als einen Sokrates in der Weltweisheit, einen Seneca in den Sitten, einen Ovid in der Dichtkunst und einen Engel an Tugend preist.

Den dauernden Ruhm bei der Nachwelt erwarb sich aber Chaucer vorzugsweise durch die Canterbury-Geschichten. In ihnen sind die ausgezeichneten Charakterzüge des Dichters, wie sie diese Einleitung dargelegt hat, erst nach allen Seiten hin entwickelt und zur vollen Reife gediehen. Frische und Wärme der Phantasie, feine psychologische Beobachtung und technische Gewandtheit zeigt sich allerdings schon in früheren Erzeugnissen, namentlich in dem romantischen Epos »Troilus und Cressida« und in der Legende »von den guten Frauen.« Den übrigen hat die von Chaucer bis dahin noch nicht überwundene Vorliebe seines Zeitalters und seiner Nation für die Allegorie Abbruch gethan. Sie haben übrigens theils schon in der Einleitung, theils in den Anmerkungen Besprechung gefunden. Ihre chronologische Ordnung, so weit sie sich durch innere und äußere Gründe hat feststellen lassen, ist diese:

Der Jugendzeit des Dichters gehört der Roman von der Rose Chaucer's Uebersetzung des französischen Romans ist ein Bruchstück geblieben. Es umfaßt denjenigen Theil, welcher von Wilhelm von Lorris gedichtet war (bis V. 4149) und die Fortsetzung von Méun, die das Original bis auf 22,734 brachte, bis zu Vers 13,105 –, aber mit sehr bedeutenden Auslassungen, so daß Chaucer's ganzes Werk nur 7699 Verse zählt. S. Anm. zu Cant.-Gesch; 9905. und Troilus S. oben Note 71. an. Für das Buch von der Herzogin S. Note 50 und Anmerk. zu Cant.-Gesch; V. 4777. ist nach seiner Veranlassung das Jahr 1369 zu fixiren. Vorher noch muß das jener Fürstin gewidmete ABC Chaucer's geschrieben sein. Das Haus des Ruhms S. Note 41. gehört der Zeit an, da Chaucer Steuerbeamter war, frühestens also dem Jahr 1374. Die Legende von den guten Frauen, in welcher eine Anspielung auf die Gemahlin Richards II. vorkommt V. 496. S. Tyrwhitt, Introd. Discours, n. 3. Anmerk. zu Cant.-Gesch., V. 4481., fällt frühestens in das Jahr 1382. Vorher müssen die in ihr citirten Gedichte: Die Versammlung der Vögel und Blume und Blatt geschrieben sein; ebenso die Prosaübersetzung von Boethius' Consolatio Philosophiae. Der Abhandlung über das Astrolabium ist das Jahr 1391 zuzuweisen S. Note 20.. Aelter als die später in die Canterbury-Geschichten aufgenommene Erzählung des Ritters (Arcitas und Palamon) und daher auch als die Legende von den Guten Frauen ist das Bruchstück: Königin Anelida und der falsche Arcitas S. die einleitende Anmerkung zur Erzählung des Ritters. Cant.-Gesch., V. 861 ff.. Ganz unbestimmten Datums: Die Klage des schwarzen Ritters, die Klage des Mars und der Venus, Chaucer's Traum und der Kukuk und die Nachtigall.

Das Werk endlich, welches Chaucer's dichterischen Lebenslauf zu krönen bestimmt war, die Canterbury-Geschichten, kann die Form, in der es auf uns gekommen ist, nicht vor dem Jahr 1393 erhalten haben. Denn das Datum Diese Festsetzung ist einer der Triumphe, welche die astronomische und mathematische Wissenschaft zuweilen auf dem Gebiete der Geschichte feiert. Ich verdanke sie dem Scharfsinn meines gelehrten Freundes, des Professors Scherk. Die Kombinationen, auf denen sie beruht, sind in der Anmerkung zu V. 17,321 mitgetheilt., welches Chaucer für die Reise seiner Pilger von London nach Canterbury angenommen hat, ist der 28. April 1393.

Der ursprüngliche Plan des Werkes ist aus der Einleitung des Dichters selbst klar ersichtlich. Daß ihm dabei Boccaccio's Decamerone vorgeschwebt habe, ist allerdings möglich. Aber dann sind die Modifikationen, denen er den Grundgedanken des Florentiners unterworfen hat, so wesentliche Verbesserungen, daß sie einer vollständig neuen Erfindung gleich kommen. Als Uebereinstimmendes bleibt nur, daß eine Anzahl Personen eine Anzahl Geschichten erzählt. Während aber die Gesellschaft des Decamerone aus so gleichartigen Elementen besteht, daß jede der vorgetragenen Erzählungen für jede Dame oder jeden Herrn ungefähr gleich gut gepaßt hätte, ist Chaucer's Pilgerkreis aus eben so viel verschiedenartigen Bestandtheilen zusammengesetzt als das mittelalterliche Leben Englands selbst. Er ist ein bunter Auszug dieses Lebens. Alle Schichten der Gesellschaft sind darin vertreten, mit einziger Ausnahme der hoch über allen stehenden Nobilität: der Kirchenfürsten und der Pairs des Reiches. Der daraus erwachsende Vortheil fällt in die Augen. Der verschiedene Bildungsstand und Anschauungskreis der Repräsentanten aller Stände läßt allen Stilgattungen Raum sich geltend zu machen, von der burlesken Komik des Volksschwanks bis zum andächtigen Ernst der Heiligenlegende. Chaucer hat die Rollen mit glücklichstem Takt vertheilt, aber durch eine geniale Wendung sie noch zu einem weiteren Vortheil ausgebeutet.

Die innern Gegensätze, die das Volksleben beherbergt, die streitenden Elemente in der kirchlichen und weltlichen Gesellschaft, durch die das mittelalterliche Leben so energisch und seine Betrachtung so anziehend wird, sie machen sich Luft in den Erzählungen. Dadurch platzen die Träger der Gegensätze, die Erzähler selbst auf einander. So wird der Rahmen, in den die Bilder gefaßt sind, lebendig; es bleibt kein Rahmen mehr, er wird zum Drama. Alles Gemachte daran verschwindet, er gewinnt sein Interesse für sich und zieht uns um seiner selbst willen bald mehr an als die Erzählungen in ihrer Einzelstellung.

Dazu kommt, daß die Voraussetzung des Verkehrs aller Stände auf nahezu gleichem Fuß nur auf einer Wallfahrt gefunden werden konnte. So wird das innere Leben durch die äußere Bewegung, durch die Reise mit ihren Incidenzen und Abenteuern noch unterstützt und erhöht. Das Ganze wird ein Gedicht.

Es versteht sich nichtsdestoweniger von selbst, daß der Plan zu diesem Gedicht nicht seinerseits erst alle Erzählungen hervorgerufen hat, daß diese nicht sämmtlich erst nach jenem Plane und für diesen Zusammenhang gedichtet sind. Es ist vielmehr anzunehmen, daß Chaucer bereits eine Anzahl derselben ganz oder im Entwurf vorräthig hatte, als er auf den geistvollen Gedanken kam, sie in der vorliegenden Weise zu vereinigen. Diese Voraussetzung wird in Bezug auf verschiedene Erzählungen durch äußere wie durch innere Zeugnisse bestätigt.

So ist gleich die »Erzählung des Ritters« schon früher vollendet, ja sogar vor der »Legende von den guten Frauen« schon veröffentlicht gewesen» S. die einleitende Anm. zur Erz. des R. Cant.-Gesch., B. 861 ff. und nachmals für den neuen Zusammenhang umgearbeitet; vielleicht nur mit wenigen Strichen, aber doch sichtbar in V. 891. Bei der Erzählung der zweiten Nonne, die ebenfalls schon einmal herausgegeben war S. die einleitende Anm. zu der Erz., V. 16,48s ff., hat der Dichter nicht einmal Zeit gefunden, die nöthigen Modifikationen vorzunehmen V. 15.530, 15,546.. Dagegen ist die Erzählung des Ablaßkrämers so eng mit dem Rahmen verwachsen, daß sie nur mit Rücksicht auf diesen erfunden und geschrieben sein kann. Ein Gleiches muß man von der Erzählung des Dienstmannes (wegen V. 12,557 f.), des Kaufmannes (wegen V. 9559) und des Junkers (wegen V. 10,387) annehmen. Letztere, gleich der des Koches, ist nicht einmal vollendet.

Ueberhaupt darf man voraussetzen, daß der Dichter sich noch manche Aenderungen in den Erzählungen oder deren Vertheilung vorbehalten hatte, wie denn die des Kaufmanns schon umgelegt ist, da sie ursprünglich für eine Frau bestimmt gewesen sein muß (s. V. 12,942), und der Prolog zur Erzählung des Stiftsschaffners setzt voraus, daß der Koch noch nicht erzählt habe (V. 16,962 ff.). Vergl. die einleitenden Anmerkungen zur Erzählung des Doktors, des Weibes von Bath und des Kaufmannes.

Der Rahmen selbst ist noch nicht bis zur Hälfte der von Chaucer beabsichtigten und durch den Wirth verheißenen Ausdehnung vollendet (V. 794 ff.). Chaucer hatte durch den Mund des letzteren versprochen, uns mit den Pilgern nicht nur nach Canterbury, sondern auch wieder von Canterbury nach London zurück zu führen. Aber wir sind noch nicht bis zu den Thoren der erzbischöflichen Metropole gelangt, als der Faden abreißt. Auch in der Mitte zeigen sich Lücken. Die Einleitung zur Erzählung des Doktors (11,929) kann nur als eine vorläufige Abfindung angesehen werden S. die Anmerk. zu Cant.-Gesch., V. 11,929. und der Uebergang zur Erzählung der zweiten Nonne ist gar nicht vermittelt (V. 15,468).

Endlich hat sich der Plan, jedem Pilger sowohl auf dem Hin- als auf dem Rückweg je zwei Erzählungen zuzutheilen (Einl. 794 ff.), bei der Länge der einzelnen Erzählungen unausführbar gezeigt und ist vom Dichter selbst aufgegeben. Der Wirth sagt vor der Schlußerzählung auf der Hinreise (17,327), es fehle nur noch eine Geschichte, dann sei sein Vorschlag ausgeführt; denn jeder der Anwesenden habe die seinige erzählt.

Aber auch der so zusammengezogene Rahmen ist thatsächlich nicht ausgefüllt. Neunundzwanzig Personen sind in der Herberge zum Heroldsrock versammelt (V. 24). Die zwei störenden Nonnenpriester, die sich früher (in V. 164) dieser Zahl widersetzten, glaube ich allerdings für immer aus dem Text verwiesen zu haben (s. d. Anmerk. z. d. St.). Aber unterwegs kommt zu den neunundzwanzig Pilgern noch der Dienstmann des Kanonikus und macht die Zahl Dreißig voll. Somit müßten wir wenigstens 30 Erzählungen haben. Es sind aber nur 23, da das Reimgedicht vom Herrn Thopas, als vom Wirth unterbrochen und verworfen, nicht mitzählen kann, und von den in dem Prolog aufgeführten Personen sind sieben, nämlich der Dienstmann des Ritters, der Krämer, der Zimmermann, der Weber, der Färber, der Tapezierer, der Pflüger, ihren Beitrag schuldig geblieben.

Alle diese Umstände beweisen zur Evidenz, daß der Dichter entweder von der Vollendung seines Werkes durch die herben Schicksale seiner letzten Lebensjahre zurückgehalten oder durch den Tod darin unterbrochen wurde. Aber der Torso, wie er uns vorliegt, ist bedeutend genug, um uns dem Geschick für seine Erhaltung danken zu lassen.


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