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Wjerotschka

Iwan AIexejewitsch Ognjow kann sich noch gut erinnern, wie er an jenem Augustabend die Glastür aufriß, so daß sie klirrte, und auf die Terrasse hinaustrat. Er trug damals einen leichten Havelock und einen weitkrempigen Strohhut, der jetzt zusammen mit seinen Kanonenstiefeln im Staube unter dem Bette liegt. In der einen Hand hatte er einen Pack Bücher und Hefte und in der andern einen dicken Knotenstock.

Hinter der Türe stand, mit einer Lampe in der Hand, der Herr des Hauses, Kusnezow, ein kahlköpfiger Alter mit langem grauem Bart, in einer schneeweißen Pikeejacke. Der Alte lächelte gutmütig und nickte mit dem Kopf.

»Leben Sie wohl, ehrwürdiger Greis!« rief ihm Ognjow zu.

Kusnezow stellte die Lampe auf ein Tischchen und kam auf die Terrasse hinaus. Zwei lange, schmale Schatten schritten über die Stufen zu den Blumenbeeten hin, schwankten und stemmten sich mit den Köpfen gegen die Linden.

»Leben Sie wohl und haben Sie noch einmal vielen Dank, mein Guter!« sagte Iwan Alexejewitsch. »Ich danke Ihnen für Ihre Güte und Freundlichkeit und für Ihre Liebe … Niemals, niemals werde ich Ihre Gastfreundschaft vergessen! Sie sind ein guter Mensch, und Ihr Töchterchen ist so nett, und alle Ihrigen sind so gute, lustige und freundliche Menschen … Es ist eine so prächtige Gesellschaft, daß ich es gar nicht sagen kann!«

Vor lauter Rührung und unter dem Einflüsse des soeben getrunkenen hausgemachten Likörs sprach Ognjow in singendem Seminaristenton und äußerte seine Gefühle weniger mit Worten als mit Augenzwinkern und Achselzucken. Kusnezow, der ebenfalls gerührt und etwas berauscht war, ging ganz nahe auf den jungen Mann zu und küßte ihn.

»Ich hänge an Ihnen wie ein Hühnerhund!« fuhr Ognjow fort. »Fast jeden Tag kam ich zu Ihnen ins Haus, habe an die zehnmal bei Ihnen übernachtet und habe soviel Likör getrunken, daß es mir ganz bange wird, wenn ich daran denke. Vor allen Dingen danke ich Ihnen aber, Gawrijil Petrowitsch, für Ihre Hilfe und Unterstützung. Ohne Sie hätte ich mich hier wohl bis zum Oktober mit meiner Statistik abgeplagt. Ich werde das auch ausdrücklich im Vorwort erwähnen: ›Ich halte es für meine Pflicht, an dieser Stelle dem Vorsitzenden der N.schen Kreis-Semstwoverwaltung, Herrn Kusnezow für seine freundliche Hilfe zu danken.‹ Die Statistik hat ja eine große Zukunft! Wollen Sie Wjera Gawrilowna meinen ergebensten Gruß ausrichten und den Bezirksärzten, den beiden Untersuchungsrichtern und Ihrem Sekretär sagen, daß ich auch ihre Hilfe niemals vergessen werde. Und jetzt, ehrwürdiger Greis, wollen wir uns zum letztenmal umarmen und küssen.«

Der vor Rührung ganz schlapp gewordene Ognjow küßte noch einmal den Alten und begann die Stufen hinabzusteigen. Auf der letzten Stufe wandte er sich um und fragte:

»Werden wir uns noch einmal wiedersehen?«

»Das weiß Gott allein,« erwiderte der Alte. »Höchstwahrscheinlich niemals.«

»Ja, Sie haben wohl recht! Nach Petersburg kommen Sie doch um nichts in der Welt, und es ist sehr zweifelhaft, ob mich das Schicksal je wieder in diese Gegend verschlägt. Nun, leben Sie wohl!«

»Lassen Sie doch wenigstens die Bücher zurück!« rief ihm Kusnezow nach. »Warum wollen Sie diese Last unbedingt selbst schleppen? Ich würde sie Ihnen morgen mit einem Diener hinüberschicken.«

Ognjow hörte aber nicht mehr und entfernte sich mit raschen Schritten vom Hause. Es war ihm so lustig, warm und zugleich etwas traurig ums Herz, das noch immer unter der Einwirkung des Alkohols stand … Im Gehen dachte er daran, wie oft man im Leben gute Menschen trifft und wie schade es ist, daß von diesen Begegnungen nichts mehr zurückbleibt als die Erinnerung. Man sieht manchmal am Horizonte einen Zug Kraniche, und der schwache Wind bringt ihre klagenden, erregten Schreie; doch wenn man nach einer Minute noch so gespannt in die Ferne blickt, sieht man keinen einzigen Punkt und hört keinen einzigen Schrei mehr; ebenso tauchen auch die Menschen mit ihren Gesichtern und Stimmen in unserem Leben auf und verschwinden gleich wieder in der Vergangenheit und lassen nichts mehr zurück, als die leichte Spur im Gedächtnisse. Iwan Alexejewitsch hatte sich seit dem Frühjahr im N.schen Kreise aufgehalten und war fast jeden Tag in das gastfreie Haus der Kusnezows gekommen; er hatte sich an den Alten, an seine Tochter und die Dienstboten wie an Verwandte gewöhnt, hatte sich das ganze Haus, die gemütliche Terrasse, die Windungen der Alleen und die Silhouetten der Bäume über der Küche und der Badestube mit allen Einzelheiten eingeprägt; aber wenn er jetzt die Gartenpforte hinter sich schließt, verwandelt sich das alles in eine Erinnerung und verliert für ihn für immer jede reelle Bedeutung; und nach einem Jahre, nach zwei Jahren werden diese lieben Bilder in seinem Bewußtsein ebenso verblaßt und unwirklich dastehen wie die Schöpfungen der Phantasie.

»Es gibt im Leben nichts Wertvolleres als die Menschen!« dachte sich der gerührte Ognjow, während er durch die Allee der Gartenpforte zuschritt. »Die Menschen sind das Wertvollste!«

Im Garten war es still und warm. Es roch nach Reseden, Tabak und Heliotrop, die noch nicht ganz abgeblüht waren. Die Zwischenräume zwischen den Sträuchern und den Baumstämmen waren mit einem dünnen, zarten, vom Mond durchleuchteten Nebel angefüllt, und Ognjow erinnerte sich noch sehr lange daran, wie einzelne Nebelfetzen so langsam, daß es das Auge kaum wahrnehmen konnte, gleich Gespenstern über die Alleen schwebten. Der Mond stand hoch über dem Garten, und unter ihm trieben durchsichtige Nebelflecke nach Osten. Die ganze Welt schien nur aus den schwarzen Silhouetten und den schwebenden weißen Schatten zu bestehen; Ognjow, der den Nebel an einem mondhellen Augustabend wohl zum erstenmal in seinem Leben beobachtete, hatte den Eindruck, daß er nicht die Natur vor sich habe, sondern eine Theaterdekoration; daß ungeschickte Pyrotechniker, die den Garten mit weißem bengalischem Licht beleuchten wollten, sich unter den Sträuchern versteckt hätten und zugleich mit dem Licht auch weiße Rauchwolken erzeugten.

Als Ognjow schon an der Gartenpforte war, löste sich vom niedern Zaun ein dunkler Schatten und kam ihm entgegen.

»Wjera Gawrilowna!« rief er erfreut aus. »Sie sind hier? Und ich habe Sie immer gesucht, um von Ihnen Abschied zu nehmen … Leben Sie wohl, ich gehe jetzt!«

»So früh? Es ist ja erst elf.«

»Nein, es ist Zeit! Ich habe ja fünf Werst zu gehen und will noch heute meine Sachen packen. Und morgen muß ich früh aufstehen …«

Vor Ognjow stand Kusnezows Tochter Wjera, ein Mädchen von einundzwanzig Jahren; sie war wie immer nachlässig gekleidet, traurig und interessant. Junge Mädchen, die träumerisch veranlagt sind, den ganzen Tag herumliegen und alles lesen, was ihnen gerade in die Hand kommt, die sich langweilen und oft traurig sind, kleiden sich immer sehr nachlässig. Solche unter ihnen, die von Natur Geschmack und einen Sinn für Schönheit haben, gewinnen durch diese Nachlässigkeit in der Kleidung einen gewissen Reiz. Als Ognjow nach Jahren an die hübsche Wjerotschka zurückdachte, konnte er sie sich nicht anders vorstellen, als in einer losen Bluse, die an der Taille weite Falten bildete, ohne dabei am Körper anzuliegen, mit einer Locke, die sich aus der hohen Frisur losgemacht hatte und auf die Stirne fiel, und mit einem roten wollenen Tuch mit kleinen weichen Troddeln am Rande, das am Abend so traurig wie eine Fahne bei windstillem Wetter an Wjerotschkas Schultern hing und tagsüber entweder im Vorzimmer neben den Mützen der Männer oder im Eßzimmer auf der Truhe herumlag, wo auf ihm ganz ungeniert die alte Katze schlief. Dieses Tuch und die lose Bluse atmeten Faulheit, Häuslichkeit und Gutmütigkeit. Vielleicht deshalb, weil ihm Wjerotschka so gut gefiel, sah er in jedem Knopf, in jeder Falte ihrer Kleidung etwas Warmes, Anheimelndes, Naives, all das Gute und Poetische, was unaufrichtigen, kalten Frauen, die keinen Sinn für Schönheit haben, fehlt.

Wjerotschka war gut gewachsen, hatte ein regelmäßiges Profil und schönes Lockenhaar. Ognjow, der in seinem Leben wenig Frauen gesehen hatte, hielt sie für eine ausgesprochene Schönheit.

»Ich fahre von Ihnen fort!« sagte er, indem er sich von ihr an der Gartenpforte verabschiedete. »Behalten Sie mich in gutem Andenken! Ich danke Ihnen für alles.«

Er dankte Wjera für ihre Gastfreiheit, Freundlichkeit und Güte im gleichen singenden Seminaristenton, in dem er vorhin mit dem Alten gesprochen hatte, mit demselben Augenzwinkern und Achselzucken.

»In jedem Brief an meine Mutter schrieb ich von Ihnen,« sagte er. »Wenn alle Menschen so wären wie Sie und Ihr Vater, was wäre das für ein herrliches Leben auf der Welt! Überhaupt sind hier alle Leute so prächtig, so einfach, herzlich und aufrichtig.«

»Wo reisen Sie jetzt hin?« fragte Wjera.

»Zunächst zu meiner Mutter nach Orjol; dort bleibe ich an die vierzehn Tage. Dann gehe ich nach Petersburg und stürze mich wieder in die Arbeit.«

»Und nachher?«

»Nachher? Den ganzen Winter werde ich arbeiten, und im Frühjahr irgendwohin in die Provinz gehen, um neues Material zu sammeln. Leben Sie wohl, werden Sie hundert Jahre alt und … behalten Sie mich in gutem Andenken. Wir werden uns nie wiedersehen.«

Ognjow beugte sich vor und küßte Wjerotschka die Hand. Dann stand er noch einige Augenblicke schweigend und erregt da, zupfte sich den Havelock zurecht, nahm den Pack Bücher bequemer unter den Arm und sagte:

»Wie nebelig heute der Abend ist!«

»Ja. Haben Sie bei uns nichts vergessen?«

»Ich glaube, nichts …«

Ognjow stand noch einige Sekunden schweigend da, wandte sich dann ungelenk zur Pforte und verließ den Garten.

»Warten Sie, ich will Sie bis zu unserem Wald begleiten,« sagte Wjera und trat zugleich mit ihm ins Freie.

Sie gingen Seite an Seite über die Landstraße. Die Aussicht war hier von keinen Bäumen verstellt, und man konnte den Himmel und die Ferne sehen. Die ganze Natur hüllte sich in einen durchsichtigen matten Schleier, durch den ihre Schönheit lustig hindurchschimmerte. Der Nebel lagerte sich hier dicht und weiß an den Heuschobern und Sträuchern und schwebte dort in einzelnen Fetzen quer über die Straße oder duckte sich an die Erde, gleichsam um die Aussicht frei zu lassen. Durch den Schleier hindurch konnte man den ganzen Weg bis zum Walde, die dunklen Gräben zu beiden Seiten der Straße und das niedrige Gesträuch sehen, das in den Gräben wuchs und an dem die Nebelfetzen hie und da hängen blieben. Eine halbe Werst vor der Gartenpforte stand als dunkler Streifen der Kusnezowsche Wald.

-- Warum ist sie mitgekommen? Ich werde sie doch wieder zurück begleiten müssen! -- sagte sich Ognjow. Er streifte aber mit einem Blick Wjeras Profil, lächelte ihr freundlich zu und sagte:

»Bei so schönem Wetter hat man wirklich keine Lust, wegzureisen. Es ist ein echter romantischer Abend, mit Mondlicht, Stille und sonstigem Zubehör. Wissen Sie was, Wjera Gawrilowna? Ich bin schon neunundzwanzig Jahre alt und habe noch keinen einzigen Roman gehabt. Solange ich lebe, war ich noch an keiner einzigen romantischen Geschichte beteiligt und kenne daher alle die Rendezvous, Seufzeralleen und Küsse nur vom Hörensagen. Das ist doch wirklich nicht normal! Wenn ich in der Stadt in meiner Pension sitze, so empfinde ich diesen Mangel nicht; aber hier, in Gottes freier Natur spüre ich ihn sehr stark … Und dieses Gefühl ist gewissermaßen kränkend!«

»Warum sind Sie so?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich niemals Zeit habe; vielleicht auch daher, weil ich noch keine Frau kennen gelernt habe, welche … Ich habe überhaupt sehr wenig Bekanntschaften und verkehre mit niemand.«

An die dreihundert Schritte gingen die jungen Leute schweigend. Ognjow warf verstohlene Blicke auf Wjeras bloßen Kopf und rotes Tuch, und in seinem Herzen lebte eine lange Reihe von Frühlings- und Sommertagen auf; es war die Zeit, wo er, fern seiner öden Petersburger Pension, sich an der Gesellschaft guter, herzlicher Menschen, an der Natur und an der Arbeit, die er so liebte, erfreute und gar nicht merkte, wie das Morgenrot und das Abendrot einander ablösen und wie alle Vögel -- zuerst die Nachtigall, dann die Wachtel und etwas später der Wiesenschnarrer -- verstummten und so das Ende des Sommers anzeigten … Die Tage gingen schnell dahin, folglich lebte es sich hier gut und leicht … Er dachte jetzt wieder daran, mit welchem Unbehagen er, der in beschränkten Verhältnissen lebte und den Verkehr mit Menschen nicht gewohnt war, Ende April nach diesem N.schen Kreise gekommen war, wo er nichts als Langeweile, Einsamkeit und Gleichgültigkeit der Statistik gegenüber, die er für eine der wichtigsten Wissenschaften hielt, zu finden glaubte. Er kam an einem Aprilmorgen nach N. und mietete sich im Gasthause des Altgläubigen Rjabuchin ein; er bekam für zwanzig Kopeken täglich ein helles und sauberes Zimmer, doch unter der Bedingung, daß er im Hause nicht rauchen werde. Nachdem er etwas ausgeruht hatte, erkundigte er sich nach dem Vorsitzenden der Semstwoverwaltung und begab sich sofort zu Fuß zu Gawrijil Petrowitsch. Er mußte vier Werst weit durch üppige Wiesen und junges Gehölz gehen. Unter den Wolken schmetterten silbern die Lerchen, und über den grünenden Äckern flogen, solid und langsam die Flügel bewegend, die Saatkrähen.

»Mein Gott,« wunderte sich damals Ognjow. »Atmen denn die Leute hier immer diese Luft? Oder duftet es hier nur heute so mir zu Ehren?«

Er erwartete, daß Kusnezow ihn trocken und geschäftsmäßig empfangen würde, und trat ins Haus schüchtern, mürrisch blickend und verlegen an seinem Bärtchen zupfend. Der Alte runzelte anfangs die Stirn und konnte unmöglich begreifen, was der junge Mann mit seiner Statistik von der Semstwoverwaltung wollte; als dieser ihm aber ausführlich darlegte, was ein statistisches Material sei und wo man es sammeln müsse, gewann Gawrijil Petrowitsch sofort Interesse für die Sache; er lächelte ihm zu und begann mit kindlicher Neugierde in den Heften zu blättern. Am Abend des gleichen Tages aß Iwan Alexejewitsch bei den Kusnezows zu Abend, trank den starken hausgemachten Likör und war bald etwas angeheitert; und während er die ruhigen Gesichter und die langsamen Bewegungen seiner neuen Bekannten studierte, fühlte er in seinem ganzen Wesen eine süße Schläfrigkeit, den Wunsch, sich zu strecken und zu lächeln. Die neuen Bekannten betrachteten ihn aber mit gutmütigen Blicken und erkundigten sich, ob seine Eltern noch am Leben seien, wieviel Gehalt er im Monat bekäme und ob er oft das Theater besuche …

Ognjow erinnerte sich auch an alle seine Fahrten durch die Dörfer, an die Picknicks, das Angeln im Flusse, an einen Ausflug in großer Gesellschaft nach dem Nonnenkloster, wo die Äbtissin Marfa jedem Gast einen perlengestickten Beutel schenkte; er erinnerte sich an die heißen, unendlichen, echt russischen Debatten, deren Teilnehmer vor Wut schäumten, mit den Fäusten auf den Tisch hämmerten, einander mißverstanden und in einem fort unterbrachen, sich selbst, ohne es zu merken, in jedem Satz widersprachen, jeden Augenblick das Thema wechselten und, nachdem sie so zwei oder drei Stunden gestritten hatten, plötzlich zu lachen anfingen und sagten:

»Weiß der Kuckuck, worüber streiten wir eigentlich?! Es fing so schön an und endete beinahe mit einer Prügelei!«

»Wissen Sie noch, wie Sie, ich und der Doktor, nach Schestowo ritten?« fragte Iwan Alexejewitsch Wjerotschka, als sie sich dem Walde näherten. »Wir trafen unterwegs einen Verrückten. Ich gab ihm ein Fünfkopekenstück, er bekreuzigte sich aber dreimal und warf die Münze in das Korn. Mein Gott, wie viel schöne Erinnerungen nehme ich mit! Wenn ich sie zu einer kompakten Masse verdichten könnte, so hätte ich wohl einen schweren Klumpen gediegenen Goldes! Ich kann nicht verstehen, warum kluge und feinfühlende Menschen in den Hauptstädten zusammengedrängt leben und nicht hierher ziehen. Gibt es denn auf dem Newskij-Prospekt in den großen, feuchten Häusern mehr Raum und Wahrheit als hier? Die Pension, in der ich wohne, und die von oben bis unten mit Künstlern, Gelehrten und Journalisten vollgepfropft ist, erschien mir immer als ein Vorurteil.«

Zwanzig Schritte vor dem Walde führte die Straße über eine schmale Brücke mit vier Pfosten an den Ecken; an dieser Stelle pflegten die Kusnezows und ihre Gäste bei den abendlichen Spaziergängen Station zu machen. Von hier aus konnte man das Echo necken und sehen, wie die Straße im schwarzen Dickicht verschwand.

»Da ist ja schon die Brücke!« sagte Ognjow. »Hier müssen Sie umkehren …«

Wjera blieb stehen und holte tief Atem.

»Wollen wir noch etwas sitzen,« sagte sie, indem sie sich auf einen Pfosten setzte. »Die russische Sitte verlangt, daß man beim Abschiednehmen vor der Abreise noch etwas sitzt.«

Ognjow setzte sich neben sie auf seinen Bücherpack und sprach weiter. Sie war vom Gehen ermüdet und atmete schwer. Sie blickte nicht auf Iwan Alexejewitsch, sondern auf die Seite, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

»Vielleicht begegnen wir uns einmal nach zehn Jahren wieder,« sagte er. »Wie werden wir in zehn Jahren ausschauen? Sie werden wohl eine ehrwürdige Familienmutter sein, und ich der Verfasser eines ehrwürdigen aber absolut unnötigen statistischen Werkes, so dick, wie vierzigtausend andere statistische Werke. Wir werden uns begegnen und vom Vergangenen sprechen … Jetzt empfinden wir die Gegenwart, sie erfüllt uns und regt uns auf; doch wenn wir uns in zehn Jahren wiedersehen, werden wir uns weder an das Datum, noch an den Monat, noch sogar an das Jahr unseres letzten Gesprächs hier an dieser Brücke erinnern. Sie werden sich vielleicht verändert haben … Sagen Sie einmal, werden Sie sich verändern?«

Wjera fuhr zusammen und wandte ihm das Gesicht zu.

»Was?« fragte sie.

»Ich fragte Sie soeben …«

»Entschuldigen Sie, ich habe nicht zugehört.«

Erst in diesem Augenblick merkte Ognjow, daß Wjera plötzlich eine andere geworden war. Sie war blaß und atmete schwer; das Beben ihrer Atemzüge teilte sich auch ihren Armen, Lippen und ihrem Kopfe mit; aus ihrer Frisur fielen zwei Locken, statt einer Locke auf die Stirne herab … Sie vermied es, ihm gerade in die Augen zu blicken, und versuchte ihre Erregung zu verbergen, indem sie bald ihren Stehkragen, der sie zu drücken schien, zurechtrückte, bald ihr rotes Tuch von der einen Schulter auf die andere hinüberzog.

»Ich glaube, es ist Ihnen zu kalt,« sagte Ognjow. »Es kann wohl kaum gesund sein, im Nebel hier zu sitzen. Ich will Sie jetzt nach Hause begleiten.«

Wjera schwieg.

»Was haben Sie?« fragte Iwan Alexejewitsch lächelnd. »Sie schweigen und beantworten meine Fragen nicht. Ist Ihnen unwohl? Oder sind Sie mir böse?«

Wjera drückte ihre Hand fest an die Wange, die Ognjow zugekehrt war, und zog sie gleich wieder zurück.

»Es ist fürchterlich …« flüsterte sie mit dem Ausdrucke großen Schmerzes in den Zügen. »So fürchterlich!«

»Was ist so fürchterlich?« fragte Ognjow, erstaunt die Achseln zuckend. »Was ist eigentlich los?«

Wjera atmete noch immer schwer, und ihre Schultern bebten. Sie kehrte ihm den Rücken, blickte eine halbe Minute zum Himmel empor und sagte schließlich:

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Iwan Alexejewitsch …«

»Ich höre zu.«

»Es wird Ihnen vielleicht etwas sonderbar erscheinen … Sie werden erstaunt sein, aber mir ist alles eins …«

Ognjow zuckte wieder die Achseln und machte sich bereit, ihr zuzuhören.

»Also sehen Sie …« begann Wjera, indem sie ihren Kopf neigte und mit einer Troddel an ihrem Tuche spielte. »Sehen Sie, ich wollte Ihnen … ich will Ihnen folgendes sagen … Es wird Ihnen sonderbar und … dumm erscheinen, aber ich kann nicht länger schweigen …«

Wjeras Rede ging in ein unverständliches Murmeln über und wurde plötzlich von Schluchzen unterbrochen. Das junge Mädchen bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch, beugte sich noch tiefer und begann bitterlich zu weinen. Iwan Alexejewitsch räusperte sich verlegen und bestürzt; er wußte nicht, was zu tun und was zu sagen und blickte hilflos nach allen Seiten. Da er Weinen und Tränen nicht gewohnt war, juckten auch ihm die Augen.

»Was soll das?!« murmelte er ganz fassungslos. »Wjera Gawrilowna, ich frage Sie, was soll das? Mein Täubchen, sind Sie krank? Oder hat man Ihnen etwas zu Leide getan? Sagen Sie es mir, vielleicht … vielleicht werde ich Ihnen helfen können …«

Er versuchte, sie zu trösten, und erlaubte sich, ihre Hände vorsichtig vom Gesicht wegzuziehen; in diesem Augenblick lächelte sie ihm aber unter Tränen zu und sagte:

»Ich … ich liebe Sie!«

Diese klaren und ungewöhnlichen Worte sagte sie in gewöhnlicher Menschensprache, aber Ognjow wandte sich von ihr verlegen weg und stand auf; seine Bestürzung ging in Angst über.

Die traurige, warme und sentimentale Stimmung, die vom Abschiednehmen und vom Likör herrührte, hatte sich plötzlich verflüchtigt, und an ihre Stelle war ein peinliches und unangenehmes Gefühl getreten. Er blickte Wjera verlegen und mißtrauisch an, als ob sich in ihm die Seele umgedreht hätte; jetzt, wo sie ihren Stolz, der jeder Frau so gut steht, abgestreift hatte, erschien sie ihm gleichsam kleiner, einfacher und unansehnlicher.

»Was soll das?« fragte er sich entsetzt. »Und ich … liebe ich sie oder nicht? Mein Gott, das ist eine schwierige Frage!«

Als sie endlich das Wichtigste und Schwierigste ausgesprochen hatte, atmete sie leicht und frei. Auch sie erhob sich von ihrem Platz und begann hastig und leidenschaftlich zu sprechen, indem sie Iwan Alexejewitsch gerade ins Gesicht blickte.

Ebenso wie ein plötzlich erschrockener Mensch sich später unmöglich an die Reihenfolge besinnen kann, in der die Töne der Katastrophe einander gefolgt hatten, so kann sich auch Ognjow nicht mehr an die Worte Wjeras erinnern. Er erinnert sich nur an den allgemeinen Inhalt ihrer Rede, an sie selbst und den Eindruck, den ihre Worte auf ihn machten. Er erinnert sich auch an ihre gleichsam erstickte, vor Aufregung heisere Stimme und an ihren ungewöhnlich musikalischen und leidenschaftlichen Ton. Weinend und lachend, mit funkelnden Tränentröpfchen in den Wimpern, sprach sie davon, welch großen Eindruck sein origineller Geist, seine gütigen, klugen Augen, seine Aufgaben und Lebensziele vom ersten Tage an auf sie gemacht hätten, daß sie ihn leidenschaftlich, wahnsinnig und tief liebte; daß ihr Herz, wenn sie an einem Sommertage aus dem Garten ins Haus kam und im Vorzimmer seinen Havelock hängen sah, oder aus der Ferne seine Stimme hörte, wie in Vorahnung eines großen Glückes, erzitterte; daß sie selbst über seine harmlosesten Scherze wie ausgelassen lachen mußte, daß sie in jeder Ziffer seiner Hefte etwas ungewöhnlich Geistvolles und Großartiges sah, und daß sein Knotenstock ihr schöner als alle Bäume erschien.

Der Wald, die Nebelfetzen, die dunklen Gräben zu beiden Seiten der Landstraße, alles hielt den Atem an und lauschte ihren Worten; aber im Herzen Ognjows ging etwas Übles und Seltsames vor sich … Wjera war, als sie ihm die Liebeserklärung machte, bezaubernd schön und sprach poetisch und leidenschaftlich; er spürte aber weder Genuß noch Lebensfreude, wie er es gewollt hätte, sondern nur tiefes Mitleid mit ihr und ein schmerzliches Bedauern, daß ein guter Mensch seinetwegen so sehr leiden müsse. Gott allein weiß, ob sich in ihm seine Bücherweisheit regte oder der angeborene Hang zur Objektivität, der im Leben so oft störend und hemmend wirkt; aber die Begeisterung und der Schmerz Wjeras erschienen ihm süßlich und nicht ernst genug; gleichzeitig empörte sich in ihm sein Gefühl und raunte ihm zu, daß alles, was er sah und hörte, vom Standpunkte der Natur und des persönlichen Glückes aus, ernster und wichtiger sei, als alle Statistiken, Bücher und Wahrheiten … Er ärgerte sich und machte sich Vorwürfe, obwohl er eigentlich gar nicht verstehen konnte, worin seine Schuld bestand.

Seine Verlegenheit war um so größer, als er absolut nicht wußte, was er ihr sagen sollte. Aber etwas mußte er ihr doch sagen! Ihr einfach erklären: »Ich liebe Sie nicht«, konnte er nicht übers Herz bringen; aber er konnte ihr auch nicht »Ja« sagen, denn er fand in seinem Herzen, so sehr er darin auch wühlte, keinen einzigen Funken …

Er schwieg, und sie sprach weiter, daß sie kein größeres Glück kenne, als ihn immer anzusehen, ihm überallhin zu folgen, seine Gattin und Stütze zu sein; daß, wenn er sie jetzt verließe, sie vor Kummer sterben würde …

»Ich kann hier nicht länger bleiben!« sagte sie, sich die Hände ringend. »Ich kann dieses Haus, diesen Wald und diese Luft nicht mehr ausstehen. Ich ertrage nicht diese ewige Ruhe, dieses ziellose Leben, diese blassen und farblosen Menschen, die einander wie die Wassertropfen ähnlich sehen! Sie sind alle herzlich und gutmütig, weil sie satt sind, weil sie weder leiden noch kämpfen … Ich sehne mich aber nach den großen, feuchten Häusern, wo die Menschen leiden, wo sie vor Mühe und Not erbittert sind …«

Auch dies erschien Ognjow süßlich und flach. Als Wjera zu Ende war, wußte er immer noch nicht, was zu sagen. Er durfte aber nicht länger schweigen und murmelte:

»Wjera Gawrilowna, ich bin Ihnen von Herzen dankbar, obwohl ich mir bewußt bin, daß ich … dieses Gefühl von Ihrer Seite … gar nicht verdiene. Und dann muß ich als anständiger Mensch sagen, daß jedes Glück auf einem Gleichgewicht beruhen … ich meine, daß die Liebe bei beiden Teilen … gleich sein muß …«

Ognjow schämte sich aber sofort dieser Worte und verstummte. Er fühlte, daß sein Gesicht in diesem Augenblick einen dummen, schuldbewußten, flachen Ausdruck hatte, daß es unnatürlich gespannt war … Wjera hatte wohl in seinem Gesicht die Wahrheit gelesen: sie wurde plötzlich sehr ernst und blaß und ließ den Kopf sinken.

»Entschuldigen Sie mich,« murmelte Ognjow wieder, denn das Schweigen war ihm unerträglich. »Ich achte Sie so sehr, daß … daß es mir wirklich weh tut …«

Wjera wandte sich hastig um und ging mit raschen Schritten dem Hause zu. Ognjow folgte ihr.

»Nein, lassen Sie mich!« sagte Wjera und winkte mit der Hand ab. »Begleiten Sie mich nicht, ich gehe allein …«

»Es geht doch nicht! Sie können doch nicht allein …«

Alles, was Ognjow sagte, erschien ihm selbst abgeschmackt und dumm. Sein Schuldbewußtsein wuchs mit jedem Schritt, den er machte. Er ärgerte sich, ballte die Fäuste und verfluchte seine Kälte und seine Unfähigkeit, mit Frauen umzugehen. Um sein Blut in Wallung zu bringen, blickte er auf Wjerotschkas schöne Gestalt, auf ihr Haar und auf die Spuren, die ihre kleinen Füße im Staube der Landstraße zurückließen; er rief sich ihre Worte und Tränen in Erinnerung; das alles rührte ihn aber nur, vermochte aber nicht, sein Herz zu entzünden.

»Mein Gott, man kann sich doch nicht zwingen, jemanden zu lieben!« versuchte er sich einzureden; gleichzeitig sagte er sich aber: »Wann werde ich aber ohne Zwang lieben? Ich bin ja bald dreißig! Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das besser als diese Wjera wäre, und werde wohl auch nie ein besseres finden … So früh bin ich gealtert! Ein Greis mit dreißig Jahren!«

Wjera ging vor ihm mit immer rascheren Schritten, ohne umzublicken, den Kopf tief gesenkt. Es kam ihm vor, daß sie zusammengeschrumpft, daß sie schmäler geworden wäre …

»Ich kann mir lebhaft denken, wie es ihr jetzt zumute ist!« sagte er sich, auf ihren Rücken blickend. »Sie empfindet solche Scham und solchen Schmerz, daß sie am liebsten wohl sterben möchte! Mein Gott! Es steckt doch so viel Leben, Poesie und Sinn darin, daß auch ein Stein gerührt wäre; aber ich … ich bin so dumm, so ekelhaft!«

Bei der Gartenpforte warf Wjera einen flüchtigen Blick auf ihn zurück, beugte sich noch tiefer, hüllte sich ins Tuch und ging rasch durch die Allee.

Iwan Alexejewitsch blieb allein zurück. Er ging langsam zum Walde und blieb jeden Augenblick stehen und blickte zurück mit einem Ausdruck, als traute er sich selbst nicht. Er suchte die Spuren ihrer Füße auf der Landstraße und konnte gar nicht glauben, daß das Mädchen, das ihm so sehr gefiel, ihm soeben eine Liebeserklärung gemacht, und daß er ihr mit einem rohen »Nein« geantwortet hatte! Zum erstenmal in seinem Leben hatte er die Erfahrung gemacht, wie wenig der Mensch von seinem eigenen guten Willen abhängt; zum erstenmal war er in die Lage eines anständigen und herzlichen Menschen geraten, der gegen seinen eigenen Willen einem Mitmenschen grausames und unverdientes Leid zufügt.

Ihn plagten Gewissensbisse; und als Wjera verschwunden war, hatte er plötzlich das Gefühl, daß er etwas Wertvolles und Liebes, was er niemals wiederfinden würde, verloren hätte. Er fühlte, daß ihm zugleich mit Wjera ein Stück seiner Jugend entrissen wurde, und daß die Augenblicke, die er so fruchtlos verstreichen ließ, sich nie wiederholen würden.

An der kleinen Brücke blieb er nachdenklich stehen. Er wollte seiner unbegreiflichen Kälte auf den Grund kommen. Es wahr ihm klar, daß dieser Grund in ihm selbst und nicht außerhalb seiner Person lag. Er gestand sich ehrlich ein, daß es nicht die vernunftmäßige Kälte war, mit der kluge Menschen so oft prahlen, auch nicht die Kälte eines törichten Egoisten, sondern einfach eine Ohnmacht der Seele, die unfähig sei, das Schöne tief zu empfinden, und die frühe Altersschwäche, eine Folge der Erziehung, des ewigen Kampfes um ein Stück Brot und des einsamen Lebens in Pensionen.

Von der Brücke ging er langsam und ungern in den Wald. Hier, im schwarzen, dichten Dunkel, das hie und da von grellen Mondlichtflecken unterbrochen war, hatte er keine anderen Empfindungen als seine Gedanken, und ihn überkam das leidenschaftliche Verlangen, das Verlorene wiederzufinden.

Iwan Alexejewitsch kann sich noch erinnern, wie er vom Walde wieder umkehrte. Indem er sich durch Erinnerungen aufstachelte und sich zwang, an Wjera zu denken, schritt er rasch dem Garten zu. Auf der Straße und im Garten gab es keinen Nebel mehr; der heitere Mond blickte wie gewaschen vom Himmel herab, und nur im Osten war es noch etwas nebelig und wolkig … Ognjow erinnert sich noch an seine vorsichtigen Schritte, an die dunklen Fenster, an den betäubenden Duft von Heliotrop und Reseden. Der ihm wohlbekannte Karo ging, freundlich mit dem Schwänze wedelnd, auf ihn zu und schnüffelte an seiner Hand … Karo war das einzige lebende Wesen, das gesehen hatte, wie er zweimal um das Haus herum ging, eine Weile vor Wjeras dunklem Fenster stand, dann hoffnungslos mit der Hand winkte, seufzte und den Garten wieder verließ.

Nach einer Stunde war er in der Kreisstadt. Er lehnte sich müde, wie zerschlagen mit seinem ganzen Körper und seinem glühenden Gesicht an das Tor des Gasthauses und klopfte. Irgendwo in der Stadt bellte ein verschlafener Hund, und gleichsam als Antwort auf sein Klopfen erklang von der Kirche her ein dumpfes Läuten …

»Jede Nacht treibst du dich herum …« brummte der altgläubige Gastwirt, der in einem Hemde, so lang wie ein Frauenhemd, herausgekommen war und das Tor aufmachte. »Statt dich herumzutreiben, solltest du doch lieber beten.«

Als Iwan Alexejewitsch in sein Zimmer kam, setzte er sich auf das Bett, starrte lange in die Kerzenflamme, schüttelte schließlich den Kopf und begann zu packen.


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