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Der Kuß

Am 20. Mai, abends acht Uhr, erreichten sämtliche sechs Batterien der N.schen Reserveartilleriebrigade, die in ihr Sommerlager zog, das Kirchdorf Mestetschki, wo das Nachtquartier aufgeschlagen werden sollte. Mitten im größten Trubel, als ein Teil der Offiziere sich bei den Geschützen zu schaffen machte, und die übrigen sich auf dem freien Platze vor der Kirche versammelt hatten, um die Meldungen der Quartiermacher entgegenzunehmen, kam plötzlich hinter der Kirche ein Reiter in Zivilkleidung auf einem sehr sonderbaren Pferde zum Vorschein. Das kleine falbe Pferd mit dem schönen Hals und kurzem Schweif bewegte sich nicht geradeaus, sondern irgendwie seitwärts, wobei es mit den Beinen zierliche tänzelnde Bewegungen machte, als ob man es mit der Peitsche auf die Beine schlüge. Der Mann ritt auf die Offiziere zu, lüftete den Hut und sagte:

»Seine Exzellenz Generalleutnant von Rabbeck, der hier in der Nähe ein Gut hat, bittet die Herren Offiziere, sogleich zu ihm zu einer Tasse Tee zu kommen …«

Das Pferd verbeugte sich, begann wieder zu tänzeln und wich seitwärts zurück; der Reiter lüftete wieder den Hut und verschwand nach einem Augenblick mit seinem sonderbaren Pferde hinter der Kirche.

»Daß ihn der Teufel!« brummten einige Offiziere, indem sie ihre Quartiere aufsuchten. »Man ist todmüde und will schlafen, und da kommt dieser von Rabbeck mit seinem Tee! Wir wissen, was so ein Tee bedeutet!«

Den Offizieren aller sechs Batterien war noch lebhaft der vorjährige Fall in Erinnerung, als sie während der Manöver gemeinsam mit den Offizieren eines Kosakenregiments auf die gleiche Weise zu einem Gutsbesitzer, einem Grafen und ehemaligen Militär, zu einer Tasse Tee geladen waren; der gastfreie und liebenswürdige Graf nahm sie freundlich auf und gab ihnen gut zu essen und zu trinken. Dann ließ er sie aber nicht in ihre Dorfquartiere [zurückkehren], sondern zwang sie, bei ihm zu übernachten. Das war ja alles sehr schön, und man könnte es gar nicht besser haben, aber der ehemalige Militär hatte am Besuch der jungen Offiziere doch zu viel Freude: bis zum Morgengrauen erzählte er ihnen Geschichten aus der guten alten Zeit, schleppte sie durch alle Zimmer, um ihnen wertvolle Bilder, alte Stiche und seltene Waffen zu zeigen und las ihnen Originalbriefe hochgestellter Persönlichkeiten vor, während die todmüden Offiziere sich nach ihren Betten sehnten und höflich in die Ärmel hinein gähnten; und als der Hausherr sie endlich in Ruhe ließ, war es schon zu spät, um sich noch hinzulegen.

War vielleicht auch dieser von Rabbeck so? Ob so oder anders, jedenfalls war nichts zu machen. Die Offiziere putzten sich, machten Toilette und begaben sich gemeinsam auf die Suche nach dem Herrenhause. Auf dem Platze vor der Kirche wurde ihnen gesagt, daß sie entweder den unteren Weg nehmen sollten -- hinter der Kirche zum Flusse hinab und dann das Ufer entlang bis zum Gutsparke, von wo aus die Allee sie direkt zum Hause führen würde; oder aber den oberen Weg -- gleich von der Kirche die Landstraße entlang, die eine halbe Werst hinter dem Dorfe direkt an die herrschaftlichen Getreidespeicher stoße. Die Offiziere zogen diesen letzteren Weg vor.

»Welcher von Rabbeck mag das sein?« fragten sie sich unterwegs. »Ist es nicht derselbe, der bei Plewna die N.sche Kavalleriedivision kommandierte?«

»Nein, jener hieß nicht von Rabbeck, sondern Rabe und ohne von.«

»Das Wetter ist aber herrlich!«

Beim ersten Getreidespeicher teilte sich die Straße: der eine Weg lief gerade weiter und verschwand in der Abenddämmerung, und der andere führte nach rechts zum Herrenhause. Die Offiziere bogen nach rechts ab und begannen etwas leiser zu sprechen … Zu beiden Seiten der Straße zogen sich gemauerte Speicher mit roten Dächern hin, schwerfällig und unfreundlich wie Provinzkasernen. Vorne leuchteten schon die Fenster des Herrenhauses.

»Meine Herren, ein gutes Zeichen!« sagte einer der Offiziere. »Unser Setter geht voraus; folglich spürt er, daß es hier für ihn Beute gibt!«

Oberleutnant Lobytko, ein schlanker und kräftiger, doch bartloser junger Mann (er war zwar über fünfzwanzig, aber sein rundes, volles Gesicht zeigte noch keine Spuren von Bartwuchs), der in der ganzen Brigade durch seine Spürnase und die Fähigkeit, die Anwesenheit von Frauen auf die größte Entfernung zu wittern, berühmt war und daher der »Setter« genannt wurde, ging tatsächlich allen voraus. Er wandte sich um und sagte:

»Ja, hier müssen Frauen sein. Das sagt mir mein Instinkt.«

An der Tür wurden die Offiziere von Herrn von Rabbeck in eigener Person empfangen. Er war ein ehrwürdiger Sechziger und trug Zivilkleidung. Während er den Gästen die Hände drückte, sagte er, daß er über ihren Besuch glücklich sei, aber die Herren Offiziere um Vergebung bitten müsse, daß er ihnen kein Nachtquartier anbieten könne; er habe zwei Schwestern mit ihren Kindern, mehrere Brüder und Nachbarn zu Besuch, so daß im ganzen Hause kein einziges Zimmer frei sei.

Der General schüttelte jedem einzelnen die Hand, bat jeden einzelnen um Entschuldigung und lächelte; aber in seinem Gesicht konnte man lesen, daß er sich über die Gäste viel weniger freute als der vorjährige Graf, und daß er die Herren Offiziere nur deswegen eingeladen hatte, weil es nach seiner Ansicht der Anstand erforderte. Auch die Offiziere selbst hatten, während sie die mit einem weichen Teppich belegte Treppe hinaufgingen und seinen Worten lauschten, das Gefühl, daß sie nur darum eingeladen worden seien, weil es einfach unmöglich wäre, sie nicht einzuladen. Und als sie sahen, wie die Lakaien sich beeilten, auf der Treppe und im Vorzimmer Licht zu machen, hatten sie noch mehr den Eindruck, daß sie in dieses Haus nur Unruhe und Störung gebracht hätten. Kann man sich denn auch in einem Hause, wo sich, wohl anläßlich eines Familienfestes, zwei Schwestern mit Kindern, Brüder und Nachbarn versammelt haben, über den Besuch von neunzehn unbekannten Offizieren freuen?

Oben wurden die Gäste von einer schlanken alten Dame, mit länglichem Gesicht und schwarzen Brauen, die der Kaiserin Eugenie auffallend ähnlich sah, empfangen. Sie lächelte ihnen freundlich und majestätisch zu, sagte, wie froh und glücklich sie sei, die Gäste bei sich zu sehen, und entschuldigte sich, daß ihr Mann und sie leider nicht die Möglichkeit hätten, den Herren Offizieren Nachtquartier anzubieten. Man konnte ihrem schönen und majestätischen Lächeln, das jedesmal verschwand, wenn sie ihr Gesicht von den Gästen wegwandte, anmerken, daß sie in ihrem Leben schon viele Herren Offiziere gesehen und jetzt wichtigere Dinge im Kopfe hatte; wenn sie sie aber dennoch eingeladen hätte, so nur aus dem Grunde, weil es ihre gute Erziehung und ihre gesellschaftliche Position erforderten.

Im großen Speisezimmer, wohin die Offiziere zuerst geleitet wurden, saßen an dem einen Ende des langen Teetisches an die zehn ältere und jüngere Herren und Damen. Im Hintergrunde war in einer leichten Wolke von Zigarrenrauch eine Gruppe von Herren zu erkennen; in der Mitte dieser Gruppe stand ein hagerer junger Mann mit rotem Backenbart und erzählte schnarrend und ziemlich laut etwas auf englisch. Hinter dieser Gruppe war durch die offene Türe ein hellerleuchtetes Zimmer mit blauen Möbeln zu sehen.

»Meine Herren, Ihrer sind so viele, daß es ganz unmöglich ist, jeden einzelnen vorzustellen!« sagte der General laut, indem er sich Mühe gab, möglichst lustig zu erscheinen. »Meine Herren, stellen Sie sich doch selbst vor!«

Die Offiziere verbeugten sich, die einen mit sehr ernsten, sogar strengen Gesichtern, die andern mit gezwungenem Lächeln, doch alle in ziemlicher Verlegenheit, und nahmen am Teetische Platz.

Am verlegensten fühlte sich der Stabskapitän Rjabowitsch, ein klein gewachsener Offizier mit etwas gekrümmtem Rücken, einem Backenbart, der an den eines Luchses erinnerte, und bebrillten Augen. Während seine Kameraden ernste Gesichter machten oder gezwungen lächelten, schienen sein Luchsbackenbart und seine Brille zu sagen: »Ich bin der schüchternste, bescheidenste und farbloseste Offizier in der ganzen Brigade!« In der ersten Zeit, nachdem er ins Speisezimmer eingetreten war und am Teetische Platz genommen hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit unmöglich auf irgendein bestimmtes Gesicht oder Ding konzentrieren. Die Gesichter und Toiletten, die geschliffenen Kognakkaraffen, der Dampf, der von den Teegläsern aufstieg, und die Stuckdecke -- alles vereinigte sich zu einem einzigen, ungeheuren Eindruck, der Rjabowitsch mit Unruhe erfüllte und ihm den Wunsch eingab, seinen Kopf irgendwo zu vergraben. Gleich einem Redner, der zum erstenmal vors Publikum tritt, sah er wohl alle Dinge, die sich vor seinen Augen befanden, konnte aber zugleich den Sinn und die Bedeutung dieser Dinge fast gar nicht erfassen: die Physiologen nennen diesen Zustand, wenn man alles sieht, doch nicht begreift, »psychische Blindheit«. Etwas später, als er sich an die Umgebung gewöhnt hatte, hörte diese Blindheit auf, und Rjabowitsch begann zu beobachten. Da er sehr schüchtern und in Gesellschaft stets verlegen war, fiel ihm vor allen Dingen das auf, was ihm selbst am meisten abging: nämlich die ungewöhnliche Kühnheit seiner neuen Bekannten. Herr von Rabbeck, seine Gattin, zwei ältere Damen, ein junges Mädchen in fliederfarbenem Kleide und der junge Mann mit dem roten Backenbart, der sich als der jüngste Sohn des Hauses entpuppte, nahmen mit geschickt verteilten Rollen, als ob sie es zuvor geprobt hätten, unter den Offizieren Platz und begannen sofort eine lebhafte Diskussion, an der sich die Gäste, ob sie wollten oder nicht, beteiligen mußten. Das fliederfarbene Fräulein behauptete mit großem Eifer, daß die Artilleristen es besser hätten als die Kavalleristen und Infanteristen, während von Rabbeck und die älteren Damen den entgegengesetzten Standpunkt vertraten. So kam ein allgemeines Gespräch zustande. Rjabowitsch sah fortwährend das fliederfarbene Fräulein an, das mit großem Eifer über Dinge sprach, die ihr fremd waren und sie nicht im geringsten interessierten, und beobachtete, wie auf ihrem Gesicht ein gekünsteltes Lächeln nach dem andern erschien und wieder verschwand.

Herr von Rabbeck und seine Angehörigen zogen die Offiziere mit großem Geschick in die Diskussion herein, und gaben zugleich auch auf ihre Gläser und Münder acht: ob alle tranken, ob alle Zucker hatten und warum der eine kein Gebäck und der andere keinen Kognak genommen hatte. Und je mehr Rjabowitsch hinsah und zuhörte, um so mehr gefiel ihm diese unaufrichtige, doch glänzend disziplinierte Familie.

Nach dem Tee gingen die Offiziere in den großen Saal hinüber. Oberleutnant Lobytko hatte sich nicht geirrt: hier gab es viele junge Mädchen und junge Frauen. Der Setter stand bereits vor einer jungen Blonden in Schwarz, den Oberkörper so gewendet, als ob er sich auf einen unsichtbaren Säbel stützte, lächelte und kokettierte drauf los. Er redete wohl irgendeinen sehr interessanten Unsinn, denn die Blonde blickte etwas herablassend auf sein sattes Gesicht und fragte ab und zu mit gleichgültiger Stimme: »Nein, wirklich?« Aus diesem leidenschaftslosen »Nein, wirklich?« hätte der Setter, wenn er klug wäre, schließen können, daß sie ihm wohl kaum »Faß!« zurufen würde.

Plötzlich ertönte das Klavier; ein langsamer Walzer schwebte durch die offenen Fenster hinaus, und allen fiel es auf einmal ein, daß draußen Frühling und ein Maiabend war. Alle fühlten plötzlich den Duft von jungen Pappeln, Rosen und Flieder. Rjabowitsch, der von der Musik und auch vom Kognak etwas berauscht war, schielte nach dem Fenster und begann die Bewegungen der Damen mit seinen Blicken zu verfolgen; es war ihm, als ob der Duft der Pappeln, Rosen und des Flieders nicht aus dem Garten käme, sondern den weiblichen Gesichtern und Kleidern entströme.

Der junge von Rabbeck forderte eine sehr magere Dame zum Tanz auf und machte mit ihr zwei Touren durch den Saal. Lobytko flog, über das Parkett gleitend, auf das fliederfarbene Fräulein zu und raste mit ihr dahin. Nun begannen alle zu tanzen … Rjabowitsch stand bei der Tür mit noch einigen Nichttänzern und beobachtete. Er hatte in seinem Leben noch kein einziges Mal getanzt und niemals die Taille einer anständigen Dame umfaßt. Es gefiel ihm so sehr, wenn ein Mann ganz ungeniert und vor aller Augen ein ihm unbekanntes junges Mädchen um die Taille nahm, und sie ihm ihre Hand auf die Schulter legte; es war ihm aber unmöglich, sich selbst in die Lage dieses Mannes zu versetzen. Früher beneidete er in solchen Fällen seine kühnen und ungestümen Kameraden und empfand tiefes Herzeleid; das Bewußtsein, daß er schüchtern und farblos sei, einen gekrümmten Rücken, eine viel zu lange Taille und einen Luchsbackenbart habe, kränkte ihn; doch mit den Jahren gewöhnte er sich an dieses Gefühl, und wenn er jetzt jemand tanzen oder sich lebhaft mit einer Dame unterhalten sah, so beneidete er ihn nicht mehr, sondern lächelte nur traurig vor sich hin.

Als die Quadrille begann, kam der junge von Rabbeck auf die Nichttänzer zu und forderte zwei Offiziere zu einer Partie Billard auf. Die Offiziere nahmen die Einladung an und gingen mit ihm aus dem Saal. Rjabowitsch wollte doch wenigstens irgendwelchen Anteil an der allgemeinen Bewegung nehmen und ging ihnen nach. Aus dem Tanzsaal kamen sie in einen Salon und dann durch einen schmalen Glaskorridor in ein Zimmer, wo bei ihrem Erscheinen drei verschlafene Lakaien von einem Sofa aufsprangen. Nach einer weiteren Reihe von Räumen kamen sie endlich in ein Zimmer, wo ein Billard stand, und das Spiel begann.

Rjabowitsch, der in seinem Leben nichts außer Karten gespielt hatte, stand neben dem Billard und betrachtete gleichgültig die Spielenden, die in aufgeknöpften Röcken, mit den Queues in der Hand, um den Tisch herumgingen, Witze machten und unverständliche Ausdrücke gebrauchten. Die Spielenden sahen ihn gar nicht, und nur zuweilen, wenn sie ihn zufällig mit dem Ellenbogen oder mit dem Queue stießen, wandten sie sich nach ihm um und sagten; »Pardon!« Die erste Partie war noch nicht zu Ende, Rjabowitsch spürte aber bereits Langeweile und hatte das Gefühl, daß er hier überflüssig und allen im Wege sei. Er wollte in den Tanzsaal zurück und verließ das Billardzimmer.

Auf dem Rückwege erlebte er ein kleines Abenteuer. Als er durch einige Zimmer gekommen war, merkte er plötzlich, daß er eine falsche Richtung eingeschlagen hatte. Er wußte bestimmt, daß er unterwegs drei verschlafenen Lakaien begegnen müsse; er war aber bereits durch fünf oder sechs Zimmer gekommen, und von den Lakaien war nichts zu sehen. Als er seinen Irrtum merkte, ging er ein wenig zurück, schlug den Weg nach rechts ein und stand plötzlich in einem halbdunklen Kabinett, das er auf dem Wege zum Billardzimmer ganz sicher nicht passiert hatte; nachdem er hier eine halbe Minute unentschlossen gestanden hatte, machte er aufs Geradewohl die erste Tür auf und kam in ein vollkommen dunkles Zimmer. Im Hintergrunde fiel durch eine Türritze grelles Licht herein, und hinter der Tür tönte dumpf eine traurige Mazurka. Die Fenster standen hier wie im Tanzsaale offen, und es duftete nach Pappellaub, Rosen und Flieder …

Rjabowitsch blieb unentschlossen stehen. Plötzlich hörte er schnelle Schritte und das Rascheln eines Kleides; eine erregte Frauenstimme flüsterte: »Endlich!«, und zwei weiche, duftende, zweifellos weibliche Arme umschlangen seinen Hals; eine warme Wange schmiegte sich an seine Wange, und gleichzeitig spürte er auf seinem Gesicht einen Kuß. Im gleichen Augenblick stieß die Küssende einen leisen Schrei aus und taumelte, wie es Rjabowitsch schien, angeekelt von ihm zurück. Auch er selbst schrie beinahe auf und stürzte zu der Tür, durch deren Ritze das helle Licht einfiel …

Als er in den Saal zurückkehrte, hatte er heftiges Herzklopfen, und seine Hände zitterten so sehr, daß er sie im Rücken verbergen mußte. In den ersten Augenblicken hatte er das quälende Gefühl, es müsse allen Anwesenden bekannt sein, daß ihn soeben eine Dame umarmt und geküßt hatte; er zitterte und blickte unruhig nach allen Seiten; als er sich aber überzeugt hatte, daß alle ruhig weiter tanzten und plauderten, gab er sich ganz dem neuen Gefühl hin. Es war ihm so eigen zumute … Auf seinem Halse, den soeben die weichen, duftenden Arme umschlungen hatten, hatte er ein eigentümliches öliges Gefühl; auf der Wange am linken Schnurrbart, wo ihn die Unbekannte geküßt hatte, empfand er eine leichte, angenehme Kühle, wie sie von Pfefferminztropfen hervorgerufen wird, und je länger er diese Stelle rieb, um so deutlicher spürte er diese Kühle; sein ganzer Körper vom Scheitel bis zur Sohle war von einem neuen eigentümlichen Gefühl erfüllt, das immer stärker und mächtiger wurde … Nun wollte er plötzlich tanzen, plaudern, in den Garten hinausrennen, laut lachen … Er hatte vollkommen vergessen, daß er farblos war, eine schlechte Haltung, einen Luchsbackenbart und ein »unbestimmtes Äußere« hatte (so wurde einmal sein Äußeres in einem Damengespräch bezeichnet, dem er zufällig zugehört hatte). Als an ihm Frau von Rabbeck vorbeiging, lächelte er ihr so auffällig zu, daß sie stehen blieb und ihn fragend ansah.

»Ihr Haus gefällt mir ganz ungemein!« sagte er, seine Brille zurechtrückend.

Die Generalin lächelte und erzählte ihm, daß dieses Haus noch ihrem Vater gehört habe; dann fragte sie ihn, ob seine Eltern noch am Leben seien und warum er so mager sei. Nachdem sie auf alle diese Fragen Antwort erhalten hatte, setzte sie ihren Weg fort; Rjabowitsch lächelte aber noch freundlicher und war überzeugt, daß er von lauter vortrefflichen Menschen umgeben sei …

Beim Souper aß er mechanisch alles, was man ihm vorsetzte, trank sehr viel, hörte nichts von dem, was um ihn vorging, und gab sich Mühe, eine Erklärung für sein Abenteuer zu finden … Das Abenteuer trug einen geheimnisvollen und romantischen Charakter, war aber nicht so schwer zu erklären. Irgendein junges Mädchen oder auch eine junge Dame hatte wohl jemanden zu einem Rendezvous ins dunkle Zimmer bestellt, hatte wohl lange gewartet und in ihrer Aufregung Rjabowitsch für ihren Helden gehalten; das war um so wahrscheinlicher, als er in diesem Augenblick unentschlossen stehen geblieben war, also das Aussehen eines Menschen hatte, der gleichfalls auf etwas wartete … So erklärte sich Rjabowitsch den Kuß.

»Wer mag sie sein?« fragte er sich, die anwesenden Damen musternd. »Sie muß jung sein, denn eine Alte bestellt doch niemanden zu einem Stelldichein. Daß es sich nur um eine wirkliche, gebildete Dame handeln kann, war schon aus dem Rascheln ihres Kleides, aus ihrer Stimme und dem Duft zu ersehen …«

Er richtete seinen Blick auf das fliederfarbene Fräulein; sie gefiel ihm nicht übel; sie hatte hübsche Schultern und Arme, ein kluges Gesicht und eine wohltönende Stimme. Während Rjabowitsch sie ansah, hatte er den Wunsch, daß sie und keine andere jene Unbekannte sein möchte … Plötzlich lachte sie auffallend unnatürlich auf und rümpfte ihre lange Nase, die, wie Rjabowitsch glaubte, darauf schließen ließ, daß die Dame nicht mehr so jung war. Nun richtete er seinen Blick auf die Blonde in Schwarz. Diese schien jünger, natürlicher und aufrichtiger, hatte reizende Schläfen und hielt das Likörglas sehr graziös in der Hand. Nun redete sich Rjabowitsch ein, daß es diese gewesen sein müsse. Bald fand er aber, daß ihr Gesicht eigentlich recht flach sei, und lenkte seinen Blick auf ihre Nachbarin …

»Es ist furchtbar schwer zu erraten,« sagte er sich nachdenklich. »Wenn man von der Fliederfarbenen nur die Schultern und Arme nehmen könnte und dazu die Schläfen der Blonden und die Augen dieser da, die links von Lobytko sitzt, so …«

Er versuchte, diese Vereinigung im Geiste herzustellen und erhielt auf diese Weise das Bild des jungen Mädchens, das ihn geküßt hatte, das Bild, das er mit solcher Sehnsucht suchte und unmöglich finden konnte …

Nach dem Souper bedankten sich die Gäste, die satt und etwas berauscht waren, bei den Gastgebern und nahmen Abschied. Die Rabbecks begannen sich wieder zu entschuldigen, daß sie die Gäste nicht zur Nacht behalten könnten.

»Es hat mich außerordentlich gefreut, meine Herren!« sagte der General, diesmal aufrichtig (die meisten Menschen sind ja, wenn sie ihre Gäste hinausbegleiten, viel aufrichtiger und besser, als wenn sie sie empfangen). »Es hat mich ganz außerordentlich gefreut! Wir bitten Sie sehr, uns auch auf dem Rückwege zu besuchen! Bitte ganz ungeniert! Ja, wo wollen Sie denn hin? Sie wollen den oberen Weg nehmen? Nein, gehen Sie doch durch den Park, den unteren Weg, der ist viel näher.«

Die Offiziere gingen durch den Park. Nach dem grellen Licht und dem Lärm im Hause kam es ihnen im Parke sehr dunkel und still vor. Bevor sie den Parkausgang erreicht hatten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie waren leicht angeheitert, lustig und zufrieden, aber das Dunkel und die Stille stimmten sie für einige Augenblicke nachdenklich. Ein jeder von ihnen hatte wohl den gleichen Gedanken, der auch Rjabowitsch gekommen war; ob sie einmal auch die Zeit erleben, wo sie, gleich diesem von Rabbeck, ein großes Haus, eine Familie und einen Park haben werden? Ob auch sie einmal in die Lage kommen, fremde Menschen mit einer angenehmen, wenn auch unaufrichtigen Gastfreundlichkeit zu empfangen und sie satt, berauscht und zufrieden zu machen?

Kaum hatten sie die Parktür hinter sich, als plötzlich alle gleichzeitig zu sprechen und ohne jeden Grund zu lachen anfingen. Jetzt nahmen sie den Fußpfad, der sie zum Flusse hinabführte, dann dicht am Ufer entlang lief und um jeden Strauch, jedes von Wasser ausgespülte Loch und jede Bachweide einen Bogen machte. Das Ufer und der Fußpfad waren im Dunkeln kaum zu sehen, und das andere Ufer verschwand vollkommen in der Finsternis. Hie und da spiegelten sich im schwarzen Wasser die Sterne; sie zitterten und zerflossen, und nur daraus konnte man schließen, daß der Fluß eine schnelle Strömung hatte. Alles war still. Auf dem jenseitigen Ufer stöhnten verschlafene Schnepfen, und diesseits schlug in einem Busch sehr laut eine Nachtigall, ohne der Offiziersgesellschaft auch die geringste Beachtung zu schenken. Die Offiziere blieben für einen Augenblick vor dem Busch stehen, berührten ihn sogar, aber die Nachtigall ließ sich dadurch nicht stören.

»Die ist nicht übel!« riefen einige anerkennende Stimmen. »Wir stehen dicht dabei, und sie macht sich nichts draus! So frech!«

Der Pfad stieg plötzlich hinauf und mündete bei der Kirchenmauer in die Landstraße. Hier machten die Offiziere, die vom Steigen etwas ermüdet waren, halt, setzten sich hin und steckten sich Zigaretten an. Jenseits des Flusses wurde plötzlich ein rotes, trübes Flämmchen sichtbar, und die Offiziere diskutierten, da sie doch nichts Besseres zu tun hatten, eine Zeitlang über die Frage, ob es ein Feuer im freien Felde, ein erleuchtetes Fenster oder irgend etwas anderes sei. Rjabowitsch sah gleich den anderen auf die Flamme, und es schien ihm, daß sie ihm zulächelte und zuwinkte mit einem Ausdruck, als ob sie vom Kuß wüßte.

Als Rjabowitsch in sein Quartier kam, zog er sich sehr schnell aus und legte sich hin. In der gleichen Bauernstube waren außer ihm Lobytko und Oberleutnant Mersljakow einquartiert; der letztere war ein stiller, wortkarger Bursche, der in seinem Kreise für sehr gebildet galt und überall, wo es nur möglich war, den »Europäischen Boten« las, dessen neuestes Heft er stets mit sich führte. Lobytko zog sich aus, ging lange mit dem Ausdruck eines Menschen, der irgendwie unbefriedigt ist, auf und ab und schickte schließlich den Burschen nach Bier. Mersljakow legte sich hin, zündete eine Kerze an und vertiefte sich in den »Europäischen Boten«.

»Wer mag sie sein?« fragte sich Rjabowitsch, zur verrauchten Decke emporblickend.

Am Halse hatte er noch immer das ölige Gefühl, und die Wange am Munde war wie mit Pfefferminztropfen betupft. In seiner Phantasie flimmerten die Schultern und Arme der Fliederfarbenen, die Schläfen und die aufrichtigen Augen der Blonden in Schwarz, Taillen, Toiletten und Broschen. Er bemühte sich, seine Aufmerksamkeit auf einem dieser Bilder festzuhalten, doch die Bilder hüpften, zerflossen und flimmerten. Und wenn sie auf dem weiten schwarzen Hintergrunde, den jeder Mensch sieht, wenn er die Augen schließt, verschwanden, so hörte er hastige Schritte, das Rascheln eines Kleides und den Laut eines Kusses, und eine große, grundlose Freude bemächtigte sich seiner … Während er sich dieser Freude hingab, hörte er, wie der Bursche zurückkam und meldete, daß kein Bier aufzutreiben sei. Lobytko war sehr empört und begann wieder auf und ab zu gehen.

»Ist er denn kein Idiot?« fragte er, bald vor Rjabowitsch und bald vor Mersljakow stehen bleibend. »Man muß doch wirklich ein vollkommener Trottel sein, um kein Bier auftreiben zu können! Was glauben Sie? Ist er denn keine Kanaille?«

»Selbstverständlich ist hier kein Bier aufzutreiben,« versetzte Mersljakow, ohne seine Augen vom »Europäischen Boten« loszureißen.

»So? Das ist Ihre Meinung?« drang Lobytko auf ihn ein. »Du lieber Gott! Wenn Sie mich jetzt auf den Mond bringen, so treibe ich Ihnen augenblicklich Bier und Weiber auf! Gleich gehe ich aus und hole Bier … Sie können mich einen Schurken nennen, wenn ich kein Bier bringe!«

Er brauchte sehr viel Zeit, um sich anzukleiden und seine langen Stiefel anzuziehen. Dann rauchte er schweigend eine Zigarette und machte sich auf den Weg.

»Rabbeck, Grabbeck, Labbeck,« murmelte er vor sich hin, im Flure stehen bleibend. »Ich habe keine Lust, allein zu gehen. Rjabowitsch, wollen Sie nicht einen kleinen Spaziergang machen? Wie?«

Er bekam keine Antwort, kehrte um, zog sich langsam aus und legte sich hin. Mersljakow seufzte auf, legte den »Europäischen Boten« weg und blies die Kerze aus.

»Ja, ja, ja …« murmelte Lobytko und steckte sich im Finstern eine neue Zigarette an.

Rjabowitsch zog sich die Bettdecke über den Kopf, rollte sich zusammen und versuchte, die vor ihm schwebenden Bilder zu sammeln und zu einem Ganzen zu verbinden. Es wollte aber dabei nichts herauskommen. Bald schlief er ein, und sein letzter Gedanke war, daß er heute etwas sehr Liebes und Freudiges erfahren hatte, daß in seinem Leben etwas Ungewöhnliches, Lächerliches und doch Gutes geschehen war. Dieser Gedanke verließ ihn auch im Traume nicht.

Als er erwachte, waren das ölige Gefühl am Halse und die Kühle an der Wange bereits verschwunden, aber ein ungeheures Freudegefühl durchbebte noch immer seine Brust. Er blickte entzückt auf die von der aufgehenden Sonne vergoldeten Fensterrahmen und lauschte den Geräuschen, die von draußen kamen. Dicht vor dem Fenster wurde sehr laut gesprochen. Sein Batteriechef Lebedizkij, der die Brigade erst eben eingeholt hatte, unterhielt sich mit dem Feldwebel. Er schrie, weil er nicht gewohnt war, leise zu sprechen:

»Und was gibt's noch?«

»Der Hufschmied hat gestern den ›Golubtschik‹ vernagelt. Der Feldscher hat ihm einen Umschlag von Ton und Essig gemacht. Jetzt führt man das Pferd langsam am Zaume nach. Dann hat sich gestern der Arbeitssoldat Artemjew einen Rausch angetrunken, und der Herr Oberleutnant befahlen, ihn auf die Protze der Reserve-Lafette zu setzen.«

Der Feldwebel meldete noch, daß Karpow die neuen Trompetenschnüre und Zeltstöcke vergessen hatte und daß die Herren Offiziere gestern abend bei General von Rabbeck zu Besuch gewesen waren. Plötzlich erschien Lebedizkijs Kopf mit dem roten Vollbart im Fensterrahmen. Er kniff seine kurzsichtigen Augen zusammen, blickte auf die verschlafenen Offiziere und wünschte ihnen Guten Morgen.

»Ist sonst alles in Ordnung?« fragte er sie.

»Das Stangenpferd hat sich mit dem neuen Kummet den Widerrist wundgerieben,« antwortete Lobytko gähnend.

Der Batteriechef seufzte, dachte eine Weile nach und sagte sehr laut:

»Ich habe noch die Absicht, Alexandra Jewgrafowna zu besuchen. Ich muß doch nachschauen, was sie macht. Leben Sie wohl. Gegen Abend hole ich Sie wieder ein.«

Eine Viertelstunde später setzte sich die Brigade in Bewegung. Als sie durch die Landstraße an den Rabbeckschen Getreidespeichern vorüberzog, warf Rjabowitsch einen Blick auf das Herrenhaus. Die Fensterläden waren noch geschlossen. Alles im Hause schien zu schlafen. Auch die, die ihn gestern geküßt hatte, schlief wohl noch. Er versuchte, sie sich schlafend vorzustellen. Ein offenes Schlafzimmerfenster, in das grüne Aste hineinschauen, Morgenfrische, Duft von jungen Pappeln, Flieder und Rosen, ein Bett, ein Stuhl, und auf dem Stuhle das Kleid, das gestern geraschelt hatte, Pantöffelchen vor dem Bett, eine kleine Uhr auf dem Nachttisch -- das alles konnte er sich klar und deutlich vorstellen; aber die Gesichtszüge, das liebe schläfrige Lächeln, also gerade das, was wichtig und wesentlich war, entglitt seiner Vorstellungskraft, wie Quecksilber den Fingern entgleitet. Nach einer halben Werst sah er noch einmal zurück: die gelbe Kirche, das Herrenhaus, der Fluß und der Park waren vom Sonnenlicht übergossen; der Fluß mit seinen grünen Ufern spiegelte den blauen Himmel und flimmerte stellenweise silbern in der Sonne. Rjabowitsch blickte zum letztenmal auf Mestetschki zurück, und ihm wurde plötzlich so traurig zumute, als ob er sich von etwas Liebem und Trautem losgerissen hätte.

Unterwegs zogen vor seinen Augen lauter altbekannte, durchaus uninteressante Bilder vorbei … Rechts und links der Straße bereiteten sich Korn- und Buchweizenfelder aus, in denen Saatkrähen herumhüpften; wenn er vorwärts blickte, sah er nur Staub und Soldatennacken: blickte er zurück, so sah er den gleichen Staub und Soldatengesichter … An der Spitze schreiten vier Mann mit geschulterten Säbeln; sie bilden die Avantgarde. Ihnen folgen die Sänger, und nach diesen kommen die berittenen Trompeter. Die Avantgarde und die Sänger vergessen, wie die Fackelträger in einem Leichenzuge, jeden Augenblick die vorgeschriebene Distanz und gehen viel zu weit voraus … Rjabowitsch reitet neben dem ersten Geschütz der fünften Batterie. Er kann alle vier Batterien, die vor ihm fahren, überblicken. Einem Nichtmilitär erscheint dieser lange, schwerfällige Zug, den eine Brigade während des Marsches bildet, als ein kompliziertes und unverständliches Durcheinander; man kann nicht begreifen, warum einem jeden Geschütz so viel Menschen folgen und warum es von so vielen Pferden in sonderbarem Geschirr geschleppt wird; das Geschütz scheint ja gar nicht so schrecklich und schwer! Rjabowitsch kennt das alles und findet es gar nicht interessant. Er weiß längst, warum an der Spitze einer jeden Batterie neben dem Offizier ein behäbiger Feuerwerker reitet und warum dieser der Geschützführer heißt; nach diesem Feuerwerker kommen die Fahrer. Rjabowitsch weiß, daß die Pferde links, auf denen die Fahrer sitzen, Sattelpferde und die Pferde rechts -- Handpferde heißen, und das interessiert ihn gar nicht mehr. Dem ersten Fahrer folgen die beiden Stangenpferde. Auf dem einen von ihnen sitzt wieder ein Fahrer mit dem gestrigen Staub auf dem Rücken und einem plumpen, komischen Holzklotz am rechten Knie; Rjabowitsch kennt auch die Bestimmung dieses Klotzes, und er erscheint ihm gar nicht komisch. Alle Fahrer schwingen mechanisch die Peitschen und schreien ab und zu die Pferde an. Das Geschütz selbst ist eigentlich unschön. Auf der Protze liegen unter einer wasserdichten Decke Hafersäcke; das Geschütz selbst ist über und über mit Teekesseln, Brotbeuteln und allerei Säckchen behangen und macht den Eindruck eines kleinen harmlosen Tieres, das, man weiß nicht warum, von so viel Menschen und Pferden umringt ist. Neben dem Geschütz, an seiner windgeschützten Seite, marschieren, mit den Händen schlenkernd, sechs Mann Bedienungsmannschaften. Nach dem ersten Geschütz kommen neue Geschützführer, Fahrer, Stangenpferde, und ihnen folgt ein zweites Geschütz, das ebenso unschön und unimposant ist wie das erste. Dem zweiten Geschütz folgt das dritte, und diesem das vierte; beim vierten Geschütz reitet ein Offizier. Die Brigade besteht aus sechs Batterien, und jede Batterie aus vier Geschützen. Der ganze Zug ist etwas eine halbe Werst lang. Zuletzt kommt der Train, dem nachdenklich, den Kopf mit den langen Ohren gesenkt, ein höchst sympathisches Geschöpf folgt: der Esel Magar, den irgendein Batteriechef einmal aus der Türkei mitgebracht hat.

Rjabowitsch blickte gleichgültig vorwärts und rückwärts, auf die Nacken und auf die Gesichter der Soldaten; sonst wäre er imstande, ein wenig einzunicken, aber heute war er zu sehr mit seinen neuen, angenehmen Gedanken beschäftigt. Anfangs, als die Brigade erst eben ausmarschiert war, suchte er sich einzureden, daß die Geschichte mit dem Kuß höchstens nur als ein kleines, geheimnisvolles Abenteuer aufzufassen sei, daß sie im Grunde genommen nicht die geringste Bedeutung habe und daß es zumindest dumm von ihm wäre, sie ernst zu nehmen; schließlich verzichtete er aber auf jede Logik und gab sich ganz den Traumbildern hin … Bald sah er sich im Salon der Rabbecks, an der Seite eines Mädchens, das zugleich der Fliederfarbenen und der Blonden in Schwarz glich; bald erschien vor seinen geschlossenen Augen ein ganz anderes, ihm völlig unbekanntes junges Mädchen, mit unbestimmten Gesichtszügen; er malte sich aus, wie er mit ihr spreche, sie liebkose, sich zu ihrer Schulter neige; stellte sich einen Krieg vor, den Abschied von ihr, dann die Rückkehr aus dem Felde, das erste Abendessen mit der Gattin und den Kindern …

»Zu den Stranghölzern!« dröhnte das Kommando, so oft die Straße bergab ging.

Rjabowitsch schrie wie die andern »Zu den Stranghölzern!« und fürchtete, daß dieser Schrei seine Gedankenkette zerreißen und ihn in die Wirklichkeit zurückversetzen würde …

Der Weg ging an einem Herrschaftsgute vorbei, und Rjabowitsch warf einen Blick über den Zaun in den Garten. Er sah eine schnurgerade, mit gelbem Sand bestreute, von jungen Birken eingefaßte Allee. Sofort stellte er sich ein Paar kleine Frauenfüße vor, die über diesen gelben Sand schritten, und plötzlich stand in seiner Phantasie diejenige, die ihn gestern geküßt und die er sich beim Souper unmöglich hatte vorstellen können, klar und lebendig da. Dieses Bild blieb in seinem Gehirn und verließ ihn nicht mehr.

Um die Mittagsstunde erklang plötzlich hinten beim Train der Ruf:

»Achtung! Augen links! Die Herren Offiziere!«

In einer mit zwei weißen Pferden bespannten Equipage fuhr der Brigadier vorbei. Bei der zweiten Batterie ließ er halten und schrie etwas, was kein Mensch verstehen konnte. Mehrere Offiziere, darunter auch Rjabowitsch, galoppierten auf ihn zu.

»Nun, wie steht's?« fragte der kleine und hagere General, mit den roten Augen zwinkernd. »Gibt's Kranke?«

Nachdem er die Antwort bekommen hatte, machte er einige kauende Bewegungen mit den Kiefern, dachte eine Weile nach und wandte sich schließlich an einen der Offiziere:

»Der zweite Fahrer am dritten Geschütz hat sich den Kniebügel abgenommen und an die Protze gehängt. Bestrafen Sie die Kanaille!«

Dann blickte er auf Rjabowitsch und sagte:

»Bei Ihren Pferden sind, glaube ich, die Schwanzriemen zu lang …«

Nach einigen weiteren langweiligen Bemerkungen richtete der General seinen Blick auf Lobytko und lächelte.

»Oberleutnant Lobytko, Sie sehen so traurig aus,« sagte er. »Sie sehnen sich wohl nach Frau Lopuchow? Wie? Meine Herren, er sehnt sich doch nach der Lopuchow?«

Die Lopuchow war eine sehr korpulente und sehr groß gewachsene Dame, weit über vierzig. Der General, der eine Vorliebe für große Damen, ganz gleich welchen Alters, hatte, verdächtigte auch alle seine Offiziere der gleichen Schwäche. Die Offiziere lächelten devot. Der Brigadier war sichtlich zufrieden, daß er etwas sehr Komisches und Anzügliches gesagt habe, lachte laut auf, tippte seinen Kutscher in den Rücken und salutierte. Die Equipage fuhr weiter …

»Alles, was jetzt meine Phantasie beschäftigt und was mir so unmöglich und überirdisch erscheint, ist im Grunde genommen recht gewöhnlich,« sagte sich Rjabowitsch, den Staubwolken nachblickend, die die Generalsequipage begleiteten. »Es ist gewöhnlich und passiert einem jeden … Auch dieser General, zum Beispiel, hat wohl seinerzeit geliebt; jetzt ist er verheiratet und hat Kinder. Hauptmann Wächter ist gleichfalls verheiratet, und seine Frau liebt ihn, obwohl er einen häßlichen roten Hals und gar keine Taille hat … Salmanow ist roh und ein zu ausgesprochener Tatare; trotzdem hat er einen Roman gehabt, der zu einer Heirat führte … Ich bin wie die anderen und werde früher oder später das Gleiche erleben …«

Der Gedanke, daß er ein gewöhnlicher Mensch und daß auch sein Leben gewöhnlich sei, wirkte auf ihn ermutigend. Nun begann er sich, sie und sein Glück ganz kühn auszumalen, ohne seiner Einbildungskraft irgendwelche Schranken aufzuerlegen.

Gegen Abend erreichte die Brigade das Sommerlager. Die Offiziere ruhten in den Zelten aus, und Rjabowitsch, Mersljakow und Lobytko saßen um einen Koffer herum und aßen zu Abend. Mersljakow aß ohne Übereilung, zerkaute jeden Bissen sehr langsam und las in seinem »Europäischen Boten«, den er während des Essens auf den Knien hielt. Lobytko redete ununterbrochen und schenkte sich immer wieder Bier ein; Rjabowitsch, der nach all den Gedanken, die ihn den ganzen Tag beschäftigt hatten, wie benebelt war, schwieg und trank. Nach drei Glas Bier war er schon berauscht, und plötzlich überkam ihn das Verlangen, die Kameraden in sein Erlebnis einzuweihen.

»Gestern bei den Rabbecks passierte mir etwas Sonderbares,« begann er, indem er sich Mühe gab, einen gleichgültigen und sogar scherzenden Ton anzuschlagen. »Wissen Sie, ich komme ins Billardzimmer …«

Er begann die Geschichte vom Kuß sehr ausführlich zu erzählen und war schon nach einer Minute fertig … In dieser Minute hatte er bereits alles erzählt, und er staunte darüber, daß der ganze Bericht so wenig Zeit in Anspruch nahm. Er hatte geglaubt, daß er von diesem Kuß bis zum nächsten Morgen erzählen können werde. Als er fertig war, sah ihn Lobytko, der häufig log und darum keinem Menschen glaubte, mißtrauisch an und lächelte. Mersljakow bewegte seine Augenbrauen und sagte ruhig, ohne den Blick vom »Europäischen Boten« zu wenden:

»Herrgott! Wie kann man einem so um den Hals fallen, ohne ihn wenigstens beim Namen zu rufen?! … Es wird wohl eine Verrückte gewesen sein.«

»Ja, höchstwahrscheinlich eine Verrückte …« gab Rjabowitsch zu.

»Ich habe aber folgenden Fall erlebt,« sagte Lobytko, indem er plötzlich erschrockene Augen machte. »Im vorigen Jahre reiste ich einmal nach Kowno … Nehme mir ein Billett II. Klasse … Der Wagen ist überfüllt, und vom Einschlafen ist keine Rede. Ich gebe dem Kondukteur fünfzig Kopeken … Er nimmt mein Gepäck und bringt mich in ein leeres, abgeschlossenes Coupé … Ich lege mich hin und hülle mich in meine Decke … Sie müssen sich vorstellen, daß es stockfinster ist. Plötzlich spüre ich, wie mich jemand an der Schulter berührt und mir ins Gesicht atmet. Ich hebe die Hand und stoße auf einen Ellenbogen … Nun öffne ich die Augen und sehe vor mir, denken Sie sich nur, ein Weib! Schwarze Augen, die Lippen rot wie frischer Lachs, die Nüstern blähen sich vor Leidenschaft, der Busen ist wie ein Paar Puffer …«

»Erlauben Sie einmal,« unterbrach ihn Mersljakow vollkommen ruhig. »Das mit dem Busen kann ich noch zugeben; aber wie konnten Sie ihre Lippen sehen, wenn es im Coupé stockfinster war?«

Lobytko versuchte, sich herauszulügen und spottete über den so begriffsstutzigen Mersljakow. Das widerte Rjabowitsch an. Er ging vom Koffer weg, legte sich hin und gab sich das Wort, nie wieder offenherzig zu sein.

Nun begann das Lagerleben … Ein Tag folgte dem andern, und jeder Tag war wie der andere. Rjabowitsch benahm sich, fühlte und dachte wie ein Verliebter. Jeden Morgen, wenn ihm sein Bursche den Waschkrug brachte, und er sich kaltes Wasser über den Kopf goß, sagte er sich, daß in seinem Leben etwas Schönes und Leuchtendes geschehen sei.

Abends, wenn seine Kameraden von Liebe und Weibern sprachen, setzte er sich zu ihnen und hörte ihnen mit dem gleichen Gesichtsausdruck zu, mit dem die Soldaten den Bericht von einer Schlacht, an der sie selbst teilgenommen, hören. Und wenn die angeheiterten Herren Offiziere, mit dem Setter Lobytko an der Spitze, Eroberungszüge nach der nahen Vorstadt unternahmen, war Rjabowitsch, der an diesen galanten Unternehmungen teilnahm, jedesmal sehr traurig, fühlte sich schuldbeladen und bat »sie« im Gedanken um Vergebung … In Stunden des Nichtstuns und in schlaflosen Nächten, wenn ihm der Wunsch kam, an seine Kindheit, Vater und Mutter und alles, was ihm lieb und wert war, zu denken, so gedachte er auch jedesmal des Dorfes Mestetschki, des seltsamen Pferdes, des Generals von Rabbeck, dessen Frau, die der Kaiserin Eugenie so ähnlich sah, des dunklen Zimmers und der grellerleuchteten Ritze in der Tür …

Am 31. August kehrte er aus dem Sommerlager in die Garnison zurück, doch nicht mit der ganzen Brigade, sondern mit nur zwei Batterien. Während des ganzen Marsches war er so aufgeregt, als ob er seine Heimat wiedersehen sollte. Er hatte das leidenschaftliche Verlangen, das seltsame Pferd, die Kirche, die unaufrichtige Familie der Rabbecks und das dunkle Zimmer wiederzusehen; »die innere Stimme«, die die Verliebten so oft betrügt, raunte ihm zu, daß er auch »sie« wiedersehen würde … Er quälte sich mit der Frage: Wie wird sich die Begegnung abspielen? Worüber wird er mit ihr sprechen? Ob sie sich noch an den Kuß erinnert? Und wenn er ihr schließlich gar nicht begegnen sollte (dachte er sich), so würde es doch immerhin angenehm sein, das dunkle Zimmer aufzusuchen und das Ganze noch einmal in Gedanken zu durchkosten … Gegen Abend zeigten sich am Horizont die bekannte Kirche und die Getreidespeicher. Rjabowitsch bekam Herzklopfen … Er hörte nicht darauf, was ihm ein Kamerad, der an seiner Seite ritt, erzählte, und blickte gespannt auf den in der Ferne schimmernden Fluß, auf das Dach des Herrenhauses und den Taubenschlag, über dem, von der untergehenden Sonne beleuchtet, Tauben kreisten.

Als er schon vor der Kirche war und die Meldung des Quartiermachers entgegennahm, wartete er jeden Augenblick, daß hinter der Kirchenmauer der Reiter erscheinen und die Offiziere zu einer Tasse Tee einladen werde. Aber die Meldung des Quartiermachers war zu Ende, die Offiziere saßen ab und gingen ins Dorf, doch der Reiter ließ sich nicht blicken …

»Rabbeck wird bald von den Bauern erfahren, daß wir angekommen sind, und den Boten nach uns schicken,« dachte sich Rjabowitsch, indem er in ein Bauernhaus eintrat. Er konnte nicht verstehen, warum sein Kamerad eine Kerze anzündete und die Burschen sich an den Samowars zu schaffen machten …

Eine schwere Unruhe bemächtigte sich seiner. Er legte sich hin, stand dann wieder auf und blickte zum Fenster hinaus, ob der Reiter noch nicht käme. Der Reiter kam nicht. Er legte sich hin, stand nach einer halben Stunde wieder auf und ging, von Unruhe getrieben, zur Kirche. Auf dem freien Platz vor der Kirchenmauer war es finster und einsam … Drei Soldaten standen dicht am Abhange und schwiegen. Als sie Rjabowitsch erblickten, fuhren sie auf und salutierten. Er erwiderte den Gruß und begann den bekannten Fußpfad hinunterzugehen.

Am andern Ufer war der ganze Himmel wie in Blut getaucht: der Mond ging eben auf; zwei Bauernweiber gingen, laut miteinander sprechend, in einem Gemüsegarten auf und ab und pflückten Kohlblätter; hinter den Gemüsegärten standen einige dunkle Bauernhäuser … Und auf dem Ufer, auf dem er sich befand, sah alles: der Fußpfad, das Gesträuch und die sich zum Wasser neigenden Bachweiden, genau so aus wie im Mai … Die freche Nachtigall ließ sich aber nicht mehr hören, und es duftete nicht mehr nach Pappellaub und jungem Gras.

Rjabowitsch kam zum Park und blickte hinein. Im Parke war es finster und still … Er konnte nur die weißen Stämme einiger Birken und den Anfang der Allee unterscheiden; alles andere war zu einer schwarzen Masse zusammengeflossen. Rjabowitsch lauschte und blickte gespannt in die Finsternis; nachdem er so eine Viertelstunde gestanden und gelauscht und weder einen Ton noch einen Lichtschein entdeckt hatte, machte er sich langsam auf den Rückweg …

Er ging ganz nahe zum Wasser heran. Vor ihm schimmerten weiß die Rabbecksche Badehütte und ein Badelaken, das am Brückengeländer aufgehängt war … Er stieg auf die Brücke, stand eine Weile ohne jeden Zweck da und berührte das Laken. Es fühlte sich rauh und kalt an. Er blickte hinunter auf das Wasser … Es floß sehr schnell vorbei und rieselte kaum hörbar an den Pfählen der Badehütte. Der rote Mond spiegelte sich am linken Ufer; kleine Wellen liefen über das Spiegelbild hinweg, zerrissen es und wollten es gleichsam wegtragen …

»Wie dumm! Wie dumm!« dachte sich Rjabowitsch, auf das dahinströmende Wasser blickend. »So furchtbar dumm!«

Jetzt, wo er nichts mehr erwartete, sah er die Geschichte mit dem Kuß, seine Ungeduld, seine unbestimmten Hoffnungen und seine Enttäuschung in einem neuen grellen Lichte. Es kam ihm nicht mehr sonderbar vor, daß der General keinen Reiter geschickt hatte und daß er diejenige, die zufällig ihn statt eines andern geküßt hatte, niemals wiedersehen sollte; im Gegenteil, es wäre sonderbar, wenn er sie wiedersähe …

Das Wasser lief, niemand wußte wohin und wozu. Auch im Mai war es so gewesen; im Frühjahr kam das Wasser aus dem Flusse in den großen Strom, dann ins Meer, dann verdampfte es und wurde zu Regen, und nun floß vor Rjabowitschs Augen vielleicht wieder dasselbe Wasser … Wozu? Warum?

Und die ganze Welt und das ganze Leben erschienen ihm als ein unverständlicher und zweckloser Scherz … Als er aber seinen Blick vom Wasser losriß und zum Himmel hob, mußte er wieder daran denken, wie ihn das Schicksal in Gestalt einer unbekannten Frau zufällig geküßt hatte; alle Gedanken und Bilder, die ihn während des Sommers erfüllt hatten, kamen ihm wieder in den Sinn, und sein Leben erschien ihm ungewöhnlich armselig, dürftig und farblos …

Als er in sein Bauernhaus zurückkehrte, fand er keinen seiner Kameraden vor. Der Bursche meldete ihm, daß sie sich alle zum General »Fontrjabkin« begeben hätten, der einen Reiter nach ihnen geschickt hatte! Für einen Augenblick flammte in Rjabowitschs Brust ein Freudengefühl auf; er dämpfte es aber gleich nieder, legte sich zu Bett und blieb, dem Schicksal zum Trotz, zu Hause und ging nicht zum General.


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