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Vierter Aufzug

Zimmer von Iwan Petrowitsch, zugleich Schlafzimmer und Gutskontor. Am Fenster ein großer Tisch mit Geschäftsbüchern und Papieren aller Art, ferner ein Spind, ein Regal, Gewichte. Ein kleiner Tisch für Astrow, darauf Zeichenutensilien, Farben usw. daneben lehnt eine Mappe. Ein Käfig mit einem Star. An der Wand eine Karte von Afrika, die offenbar hier ganz zufällig hängt. Ein großer, mit Wachstuch überzogener Diwan. Links eine Tür, die nach den übrigen Zimmern führt; rechts eine Tür nach dem Hausflur; neben der Tür rechts eine grobe Decke, damit die Bauern den Fußboden nicht verunreinigen. – Herbstabend. – Stille. Teljegin. und Marina. sitzen einander gegenüber und wickeln Wolle auf.

Teljegin. Schneller, schneller. Marina Timofejewna … man wird uns gleich zum Abschiednehmen rufen. Es ist schon befohlen, die Pferde anzuspannen.

Marina beeilt sich beim Aufwickeln. 's ist nicht mehr viel übrig.

Teljegin. Nach Charkow fahren sie – dort wollen sie leben.

Marina. 's ist besser so.

Teljegin. Haben die einen Schreck bekommem! Helena meinte … nachahmend: »Nicht eine Stunde länger bleib' ich hier … nur fort, fort … Wir wollen nach Charkow fahren, uns da umsehen und dann unsere Sachen abholen lassen.« Ganz ohne Gepäck fahren sie – es sollte wohl nicht sein … Marina Timofejewna, daß sie hier bei uns bleiben … Es sollte nicht sein …

Marina. 's ist besser so. 's war 'ne Schande, das Gezänk vorhin, und das Schießen.

Teljegin. Das war eine Szene, des Pinsels Aiwasowskis würdig.

Marina. So was mußt' ich noch erleben! Pause. Jetzt werden wir wieder leben wie früher. Morgens um acht der Tee, um ein Uhr das Mittagessen, und abends werden wir eben zum abend essen; alles, wie sich's gehört, wie's menschliche Sitte ist … auf Christenart. Seufzt. Wie lange ist's her, daß ich arme Sünderin keine Nudeln gegessen hab'!

Teljegin. Ach, ja – Nudeln haben wir schon lange nicht gehabt. Pause. Schon Gott weiß wie lange … Denk' dir mal, Marina Timofejewna … heute früh ging ich durchs Dorf, da rief der Krämer hinter mir her: »Heda, du, Gnadenbrotesser!« Das war mir eine bittere Pille, kann ich dir sagen!

Marina. Mach' dir nichts draus, Väterchen! Wir sind alle Gnadenbrotesser beim lieben Gott. Weder du, noch Sonja, noch Iwan Petrowitsch – keiner sitzt da, ohne was zu tun, alle arbeiten wir! Alle! … Wo ist Sonja?

Teljegin. Im Garten. Sie sucht Iwan Petrowitsch, mit dem Doktor zusammen. Sie fürchten, daß er sich was antun könnte.

Marina. Und wo ist denn seine Pistole?

Teljegin flüstert. Ich hab' sie im Keller versteckt!

Marina lächelnd. Das war recht. O, die Sünde!

Wojnizki und Astrow kommen vom Hofe.

Wojnizki. Laß mich! Zu Marina und Teljegin. Geht hier fort, laßt mich wenigstens eine Stunde lang allein! Ich kann die Bevormundung nicht leiden.

Teljegin. Ich geh' schon, Wanja! Schleicht auf den Zehenspitzen hinaus.

Marina. Alter Gänserich … ho ho ho! Nimmt die Wolle auf und geht.

Wojnizki zu Astrow. Laß mich allein.

Astrow. Mit dem größten Vergnügen. Ich hätte ohne dies längst wegfahren sollen, aber ich wiederhole nochmals: ich fahr' nicht eher, als bis ich das Ding habe, das du mir weggenommen hast.

Wojnizki. Ich habe dir nichts weggenommen.

Astrow. Im Ernst gesprochen – halt mich nicht auf! Ich bin längst auf dem Sprunge, zu fahren.

Wojnizki. Wirklich, ich habe dir nichts genommen. Beide setzen sich.

Astrow. so … nun, ich werde noch ein Weilchen warten … und dann werden wir eben, mit deiner werten Erlaubnis oder auch ohne diese, Gewalt anwenden. Wir werden dich binden und dir die Taschen revidieren. Ich sage das in allem Ernst.

Wojnizki. Ganz, wie dir beliebt. Pause. Sich so dumm anzustellen – zweimal zu schießen und nicht ein einziges Mal zu treffen! Das werde ich mir nie verzeihen!

Astrow. Wenn du schon so schießlustig warst, dann hättest du dir selber 'ne Kugel vor den Kopf schießen sollen.

Wojnizki achselzuckend. Das ist doch merkwürdig! ich habe einen Mordversuch begangen, und man arretiert mich nicht, man macht mir nicht den Prozeß! Man hält mich also für verrückt. Lacht hämisch. Ich bin verrückt, nicht verrückt aber sind jene Leute, die in der Verkleidung eines Professors, eines gelehrten Magiers, ihre Talentlosigkeit, ihren Stumpfsinn, ihre himmelschreiende Herzlosigkeit verbergen. Nicht verrückt sind diejenigen, die einen alten Mann heiraten und ihn dann offen vor aller Welt betrügen. Ich hab's ja gesehen, ganz genau gesehen, wie du sie umarmt hast!

Astrow. Allerdings hab' ich sie umarmt, und du … dreht ihm eine Nase … hast das Nachsehen.

Wojnizki. Ich weiß jetzt, wer verrückt ist: die Erde, die solche Menschen, wie ihr seid, noch trägt – die ist verrückt.

Astrow. Jetzt redest du Unsinn.

Wojnizki. Ich bin verrückt, bin unzurechnungsfähig – also hab' ich ein Recht darauf, Unsinn zu reden.

Astrow. Das ist ein alter Witz. Du bist nicht verrückt, sondern einfach ein komischer alter Kauz. Ein Hansnarr sozusagen. Früher hielt auch ich jeden Sonderling gleich für krank, für nicht normal, und jetzt bin ich der Meinung, daß der normale Zustand des Menschen eben darin besteht, ein Sonderling zu sein. Du bist durchaus normal.

Wojnizki bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Ich schäme mich. O, wenn du wüßtest, wie ich mich schäme! Dieses scharfe, stechende Gefühl der Scham ist mit keinem andern Gefühl zu vergleichen. Schwermütig. Es ist unerträglich! Beugt sich über den Tisch. Was soll ich tun? Was soll ich tun?

Astrow. Nichts sollst du tun.

Wojnizki. Zeig' mir einen Ausweg! O, mein Gott … ich bin siebenundvierzig Jahre alt; wenn ich, sagen wir, bis zum sechzigsten Jahre lebe, dann bleiben mir noch dreizehn Jahre. Das ist eine endlos lange Zeit! Wie werde ich diese dreizehn Jahre zubringen? Was werde ich tun, wie diese langen Jahre ausfüllen? O, wenn's doch möglich wäre, verstehst du … er drückt krampfhaft Astrows Arm … diesen Lebensrest irgendwie auf eine neue Art zu verbringen! Eines schönen, stillen Morgens aufzuwachen und zu fühlen, daß ein neues Leben begonnen hat, daß malles Vergangene vergessen, wie Rauch verflogen ist! Er weint. Ein neues Leben zu beginnen … o sag' mir, wie ich's, womit ich's beginnen soll …

Astrow unwillig. Ach was, dummes Zeig! Was heißt da noch neues Leben! Wir beide, ich und du, können ruhig abtanzen, für uns gibt's nichts mehr zu hoffen …

Wojnizki. Meinst du?

Astrow. Ich bin fest davon überzeugt.

Wojnizki. Gib mir irgendwas … Zeigt nach dem Herzen. Es sticht mich hier so …

Astrow ärgerlich. Hör' endlich auf, Mensch! In sanfterem Tone. Die Leute, die hundert, zweihundert Jahre nach uns leben und uns auslachen werden, weil wir unser Leben auf eine so dumme und abgeschmackte Art totgeschlagen haben – die werden vielleicht ein Universalmittel erfinden, wie man glücklich werden kann; aber wir … wir beide, ich und du, haben nur die eine Hoffnung: daß, wenn wir in unsern Gräbern liegen, Visionen unsheimsuchen werden … möglicherweise sogar angenehme Visionen! Seufzt. Ja, Bruder! Im ganzen Kreise gab es nur zwei anständige und intelligente Leute: ich und du. Aber in kaum zehn Jahren hat dieses verruchte Spießerleben uns ganz auf den Hund gebracht; es hat mit seinen fauligen Ausdünstungen unser Blut vergiftet, und wir sind ebensolchen faden Kerle geworden wie alle andern. Lebhaft. Aber nun halt' mich nicht länger hin, gib heraus, was du mir weggenommen hast!

Wojnizki. Ich habe dir nichts weggenommen!

Astrow. Du hast aus meiner Reiseapotheke ein Büchschen mit Morphium weggenommen. Pause. Hör' mal, wenn du durchaus um jeden Preis aus diesem Dasein scheiden willst, dann geh' in den Wald und schieß dich dort tot. Das Morphium aber gib her, sonst entsteht allerhand Gemunkel und Gerede, und die Leute glauben am Ende, ich hätte dir das Zeug gegeben … Ich hab schon genug daran, daß ich dich sezieren muß … Meinst du, das wäre interessant?

Sonja kommt herein.

Wojnizki. laß mich!

Astrow zu sonja. Sonja Alexandrowna, Ihr Onkel hat aus meiner Reiseapotheke ein Büchschen mit Morphium entwendet und gibt es nicht zurück. Erklären Sie ihm doch bitte, daß da … na, sagen wir, nicht verständig ist. Und dann hab' ich auch keine Zeit, ich muß fahren.

Sonja. Onkel Wanja, hast du das Morphium genommen?

Astrow. Er hat es genommen. Ich weiß es ganz genau.

Sonja. Gib es zurück, Onkel. Warum jagst du uns solche Angst ein? Zärtlich. Gib's heraus, Onkel Wanja! Ich bin vielleicht noch unglücklicher als du und gebe mich doch nicht der Verzweiflung hin. Ich dulde und werde dulden, bis mein Leben von selbst erlischt … Auch du, Onkel, such' dein Schicksal zu tragen. Pause. Gib's heraus! Küßt ihm die Hände. Guter, lieber, herziger Onkel, gib's her! Sie weint. Du bist so gut, du wirst mit uns Mitleid haben und es zurückgeben. Lerne dulden, Onkel! Lerne dulden!

Wojnizki holt aus der Tischschublade die Morphiumbüchse und gibt sie Astrow. Da, nimm's! Zu Sonja. Aber wir müssen nur rasch an die Arbeit, rasch etwas tun, sonst halt' ich's nicht aus …

Sonja. Ja, ja, arbeiten! Sobald wir nur unsern Lieben das Geleit gegeben haben, setzen wir uns an die Arbeit … Blättert nervös unter den Papieren auf dem Tische. Alles ist vernachlässigt, alles in Unordnung geraten …

Astrow legt die Büchse in seine Apotheke und schnallt die Riemen zu. So … jetzt können wir uns auf den Weg machen.

Helena Andrejewna hereinkommend. Wie, Sie sind hier, Iwan Petrowitsch? Wir fahren gleich. Gehen Sie zu Alexander, er will Ihnen etwas sagen.

Sonja. Komm, Onkel Wanja! Faßt Wojnizki unter den Arm. Wir wollen zu Papa gehen. Ihr müßt euch beide wieder versöhnen – es ist unbedingt nötig.

Sonja und Wojnizki ab.

Helena Andrejewna. Ich reise ab. Reicht Astrow die Hand. Leben Sie wohl!

Astrow. Schon?

Helena Andrejewna. Der Wagen hält bereits vor der Tür.

Astrow. Leben Sie wohl!

Helena Andrejewna. Sie haben mir heute versprochen, daß Sie dieses Haus in Zukunft meiden werden.

Astrow. Ich hab's nicht vergessen … ich fahre gleich. Pause. Sie haben wohl Angst bekommen? Faßt ihre Hand. Ist's denn so schlimm?

Helena Andrejewna. Ja.

Astrow. Bleiben Sie doch … wie? Morgen in der Försterei …

Helena Andrejewna. Nein … Die Sache ist bereits entschieden … Und weil eben die Abreise entschieden ist, darum trete ich Ihnen so tapfer entgegen … Nur um eins bitte ich Sie: denken Sie besser von mir! Ich möchte, daß Sie mich achten.

Astrow. Ach … Macht eine ungeduldige Bewegung. Bleiben Sie, bitte. Sie haben doch sonst nichts zu tun auf dieser Welt, haben kein Lebensziel, keine Aufgabe, die Sie in Anspruch nähme, und werden früher oder später doch von Ihren Gefühlen hingerissen werden. Das ist unausbleiblich. Warum soll das nun gerade in Charkow oder Kursk geschehen, warum nicht hier, im Schoß der Natur? Es ist so poetisch hier, selbst der Herbst ist so schön … Wir haben die Försterei hier, verfallene Meiereien im Geschmack Turgenjews …

Helena Andrejewna. Wie komisch Sie doch sind! Ich bin böse auf Sie, und dennoch … werde ich mit Vergnügen an Sie zurückdenken. Sie sind ein interessanter, origineller Mensch. Ich werde Sie ja nie mehr wiedersehen, warum soll ich's dann verbergen? Ich habe mich in Sie ein klein wenig verguckt … nun, reichen wir uns die Hände und scheiden wir als Freunde … Behalten Sie mich in gutem Andenken.

Astrow hat ihr die Hand geschüttelt. Gut, so reisen Sie denn … Nachdenklich. Ein merkwürdiges Geschöpf sind Sie doch: auf der einen Seite sind Sie gutherzig und nicht ohne Seele, auf der andern ist etwas so Absonderliches in Ihrem Wesen. Da sind Sie nun mit Ihrem Gatten hierher gekommen – und all die arbeitsamen, emsigen Leute,die hier ihrem Tagwerk nachgingen, hatten nichts Eiligeres zu tun, als ihre Arbeit hinzuwerfen und sich nur noch für das Podagra Ihres Gatten und für - Sie zu interessieren. Sie beide – er wie Sie – haben uns mit Ihrer Müßiggängerei angesteckt. Ich habe mich hinreißen lassen, habe einen ganzen Monat hindurch nichts getan – und inzwischen gingen meine Patienten an ihren Krankheiten drauf, und in meinen Pflanzungen weideten die Bauern ihr Vieh … Wo Sie beide auch hintreten mögen – überall pflanzen Sie den Keim der Zerstörung … Ich sage das natürlich nur im Scherz, aber es bleibt doch immer … sonderbar, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie länger dablieben, Sie hier noch eine große Verwüstung anrichten würden. Ich würde zugrunde gehen, doch auch Sie würden am Ende … nicht gut dabei fahren. Nun, reisen Sie also. Finita la comedia!

Helena Andrejewna nimmt von seinem Tische einen Bleistift und versteckt ihn rasch. Diesen Bleistift nehme ich mir zum Andenken mit.

Astrow. Wie seltsam! … Da sind wir miteinander so gut bekanntgeworden, und nun sollen wir uns auf einmal nie wieder sehen! … So geht's auf der Welt … Dieser Onkel Wanja mit seinem Bukett … Doch jetzt, zum Abschied … erlauben Sie mir wohl … einen Kuß, ja? Er küßt sie auf die Wange. Na, also … so sit's recht!

Helena Andrejewna. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Sieht sich um. Komme, was da wolle - einmal im Leben! Umarmt ihn leidenschaftlich, dann reißen sich beide rasch voneinander los. Jetzt muß ich fort.

Astrow. Reisen Sie, so rasch wie möglich. Steigen Sie in de Wagen – und heidi!

Helena Andrejewna. Es scheint, sie kommen hierher. Beide horchen.

Astrow. Finita.

Serebrjakow, Wojnizki, Maria Wassiljewna mit einer Broschüre, Teljegin und Sonja treten ein.

Serebrjakow zu Wojnizki. Also: Wer noch einmal davon redet, der soll verwünscht sein. Ich hab' in diesen wenigen Stunden so viel erlebt und durchdacht, daß ich zu Nutz und Frommen der kommenden Geschlechter einen ganzen Traktat darüber schreiben könnte, wie man leben soll. Ich nehme deine Entschuldigungen gern entgegen und bitte dich meinerseits um Entschuldigung. Verzeih! Sie küssen sich dreimal.

Wojnizki. Du wirst dein Geld immer pünktlich bekommen, wie bisher. Alles soll beim alten bleiben.

Helena Andrejewna umarmt Sonja.

Serebrjakow küßt Maria Wassiljewna die Hand. Maman!

Maria Wassiljewna küßt ihn. Alexander … lassen Sie sich doch bitte wieder photographieren und schicken Sie mir Ihr Bild! Sie wissen, wie teuer Sie mir sind.

Teljegin. Leben Sie wohl, Exzellenz! Behalten Sie uns in gutem Angedenken!

Serebrjakow küßt seine Tochter. Adieu … Lebt alle wohl! Reicht Astrow die Hand. Ich danke Ihnen für Ihre liebenswürdige Gesellschaft … Ich achte Ihre Denkweise, Ihre Tendenzen und Ansichten, aber erlauben Sie einem alten Manne jetzt, beim Abschiednehmen, ein freies Wort: man muß handeln, Herrschaften, man muß handeln! Auf die Taten kommt es an, nicht auf die Worte! Allgemeines Sichverneigen. Ich wünsch' Ihnen alles Gute! Ab; hinter ihm Maria Wassiljewna und Sonja.

Wojnizki küßt Helena Andrejewna lange die Hand. Leben Sie wohl … verzeihen Sie … Wir werden uns nie mehr sehen …

Helena Andrejewna ganz aufgelöst. Leben Sie wohl, mein Lieber! Küßt seinen Kopf und geht ab.

Astrow zu Teljegin. Sag' doch draußen, Waffelkuchen, daß ich auch gleich meinen Wagen haben möchte.

Teljegin. Sofort, mein lieber Freund. Ab.

Astrow nimmt seine Zeichenutensilien vom Tische und legt sie in den Reisekoffer. Warum gibst du ihnen denn nicht das Geleit?

Wojnizki. Laß sie nur fahren, ich … ich kann nicht. Es ist mir so schwer ums Herz. Jetzt heißt es, so rasch wie möglich etwas vornehmen … arbeiten, arbeiten! Wühlt in den Papieren auf dem Tische. Pause. Man hört Schellengeläut.

Astrow. Sie sind fort. Der Professor ist jedenfalls sehr froh darüber. Den bringen, glaub' ich, zehn Pferde nicht wieder her.

Marina tritt ein. Sie sind fort. Nimmt in einem Sessel Platz und strickt.

Sonja tritt ein. Sie sind fort. Trocknet sich die augen. Gott gebe es, daß es zum Guten ausschlägt! Zum Onkel. Nun wollen wir aber rüstig ans Werk gehen, Onkel!

Wojnizki. Arbeiten, arbeiten …

Sonja. Schon sehr, sehr lange ist's her, daß wir hier zusammen an dem Tische gesessen haben. Zündet die lampe auf dem Tische an. Die Tinte scheint eingetrocknet zu sein. Nimmt das Tintenfaß, geht an das Spind und gießt Tinte ein. Ich bin so traurig darüber, daß sie fort sind.

Maria Wassiljewna tritt langsam ein. Sie sind fort. Setzt sich und liest in einer Broschüre.

Sonja setzt sich an den Tisch und blättert in einem Kontobuch. Vor allem wollen wir die Konten ausschreiben, Onkel Wanja. Wir sind mit allem im Rückstand. Heute wurde wieder nach den Rechnungen geschickt. Ans Werk also: Du schreibst immer die eine Rechnung, und ich die andere.

Wojnizki schreibt. »Rechnung … für Herrn … Beide schreiben schweigend. «

Marina gähnt. Ah-h-h … ich bin müde.

Astrow. Diese Stille … Die Federn kratzen, die Grille zirpt. Es ist so warm, so mollig … Man hat wirklich keine Lust fortzugehen! Man hört Schellengeläut. Der Wagen fährt vor … ich muß also Abschied von euch nehmen, meine lieben Freunde, Abschied von meinem Tisch, und heidi! Legt seine Zeichnung in eine Mappe.

Marina. Was hast du es denn so eilig? Bleib doch!

Astrow. Es geht nicht.

Wojnizki schreibt. »… bleiben von der alten Schuld zwei Rubel fünfundsiebzig Kopeken …«

Ein Knecht tritt ein.

Knecht. Michail Lwowitsch, der Wagen steht bereit.

Astrow. Ich hab's gehört. Reicht ihm die Reiseapotheke, den Koffer und die mappe. Da, trag das in den Wagen – aber sieh zu, daß du mir die Mappe nicht drückst!

Knecht. Sehr wohl … Ab.

Astrow. Nun, meine lieben Freunde … Schickt sich an, Abschied zu nehmen.

Sonja. Wann sehen wir uns wieder?

Astrow. Jedenfalls nicht früher als im Sommer. Im Winter kaum … Natürlich, wenn etwas vorfällt, dann lassen Sie mich's wissen, dann komm' ich. Drückt allen die Hände. Herzlichen Dank für Brot und Salz, für Eure Liebenswürdigkeit – mit einem Wort, für alles. Er tritt an Marina heran und küßt sie auf den Kopf. Leb' wohl, Alte!

Marina. Wartest du nicht mal bis zum Tee?

Astrow. Nein, liebes Altchen, ich danke.

Marina. Vielleicht ein Schnäpschen gefällig?

Astrow unentschlossen. Wenn ich bitten darf …

Marina ab.

Astrow nach einer pause. Mein Handpferd lahmt ein bisschen. Gestern hab' ich's bemerkt, als Petruschka es zur Tränke führte.

Wojnizki. Laß es frisch beschlagen.

Astrow. ich muß in Roschdestwennoje zur Schmiede fahren – unbedingt … Tritt an die Karte von Afrika heran und betrachtet sie. Muß es hier jetzt heiß sein – schrecklich!

Wojnizki. Das ist schon möglich!

Marina kommt mit einem Präsentierbrett zurück, auf dem sich ein Gläschen Branntwein und ein Brot befindet. Trink! Astrow trinkt den Branntwein. Wohl bekomm's dir, Väterchen! Verbeugt sich tief. Und nun verbeiß etwas Brot!

Astrow. Danke, nicht nötig … Also nochmals: ich wünsche euch alles Gute. Zu Marina. Begleit' mich nicht, Altchen … es ist nicht nötig. Ab; hinter ihm Sonja mit einer Kerze, um ihm das Geleit zu geben; Marina nimmt in ihrem Sessel Platz.

Wojnizki schreibt. »Am 2. Februar 20 Pfund Fastenöl … am 16. Februar wieder 20 Pfund Fastenöl … Gerstgraupe …«

Pause; man hört Schellengeläut.

Marina. Er ist fort.

Pause; Sonja kommt zurück und stellt die Kerze auf den Tisch.

Sonja. Er ist fort …

Wojnizki. Macht fünfzehn … fünfundzwanzig …

Sonja setzt sich und schreibt.

Marina gähnt. Ach, was für Sünder sind wir doch …

Teljegin tritt ein, auf den Zehen, setzt sich auf einen Stuhl neben der Tür und spielt leise auf der Gitarre.

Wojnizki zu Sonja, deren Haar streichelnd. Mein Kind, mir ist so schwer ums Herz! Ach, wenn du wüßtest, wie schwer!

Sonja. Was soll man schon tun – man muß leben! Pause. Und wir werden leben, Onkel Wanja, eine lange, lange Reihe von Tagen und von langen Abenden werden wir erleben; geduldig werden wir die Prüfungen ertragen, die uns das Schicksal sendet; wir werden für andere arbeiten, jetzt und in unsern alten Tagen, ohne Rast, und wenn dann unsere Stunde kommt, werden wir in Demut sterben, und dort, im Jenseits, werden wir sagen, daß wir gelitten haben, daß wir geweint haben, daß unser Los bitter war, und Gott wird sich unser erbarmen, und dann werden wir beide, Onkel – du und ich, lieber Onkel – in ein herrliches, schönes, freudenreiches Leben eingehen, wir werden frohlocken und auf unser einstiges Ungemach mit einem milden Lächeln zurückschauen – und werden ausruhen. Ich glaube daran, Onkel, ich glaube heiß, leidenschaftlich … Sie kniet vor ihm hin und legt ihren Kopf an seine Brust; mit müder Stimme Wir werden ausruhen! Teljegin spielt leise auf der Gitarre. Wir werden ausruhen! Wir werden die Engel singen hören, wir werden den Himmel in seiner ganzen Herrlichkeit sehen, werden sehen, wie alle irdischen Übel, alle unsere Leiden in unbegrenztem Mitleid aufgehen, das die Welt erfüllen wird, und unser Leben wird so still, so mild, so süß werden – wie eine Liebkosung. Ich glaube, glaube … Wischt ihm mit ihrem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Armer, armer Onkel Wanja, du weinst … Durch Tränen. Du hast in deinem Leben die Freude nicht kennengelernt, aber hab' nur Geduld, Onkel Wanja, hab' Geduld … Wir werden ausruhen … Umarmt ihn. Wir werden ausruhen! Man hört den Nachtwächter klopfen; Teljegin spielt leise, Maria Wassiljewna macht Notizen auf den Rändern der Broschüre; Marina strickt. Wir werden ausruhen!

*

Der Vorhang sinkt langsam.


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