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Erster Aufzug

Garten. Man sieht einen Teil des Wohnhauses samt der Terrasse. Unter einer alten Pappel an der Allee ein Tisch, auf dem der Tee serviert ist. Bänke, Stühle; auf einer der Bänke liegt eine Gitarre. Nicht weit von dem Tische eine Schaukel. – Zeit: drei Uhr nachmittags. Trübes Wetter. Marina, eine aufgedunsene, schwerfällige alte Frau, sitzt mit dem Strickstrumpf vor dem Samowar. Astrow geht auf und ab.

Marina schenkt ein Glas Tee ein. Trink, Väterchen!

Astrow nimmt zögernd das Glas. Hab' eigentlich keinen Appetit.

Marina. Vielleicht trinkst du ein Schnäpschen?

Astrow. Danke – ich trinke nicht alle Tage Branntwein. Und dann ist's auch so drückend schwül. Pause. Sag' mal, Altchen: wie lange ist's her, daß wir beide uns kennen?

Marina. sinnt nach. Wie lange? Da muß ich erst mal nachdenken … Du bist hier in unsere Gegend gekommen … wann war's doch gleich? … Sonjas Mutter war damals noch am Leben. Durch zwei Winter kamst du damals zu uns … na, das wird also elf Jahre her sein. Nachsinnend. Vielleicht auch schon länger …

Astrow. Hab' ich mich seit jener Zeit sehr verändert?

Marina. Freilich hast du dich sehr verändert. Damals warst du jung und hübsch, und jetzt bist du eben älter geworden. Auch so hübsch bist du nicht mehr. Na, und dann trinkst du auch gern ein Schnäpschen …

Astrow. Ja … in zehn Jahren bin ich wohl ein anderer Mensch geworden. Überarbeitet hab' ich mich, Altchen. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht bin ich auf den Beinen, Ruhe kenn' ich nicht, und wenn ich des Nachts unter meiner Bettdecke liege, schwebe ich beständig in Angst, dass man mich wieder zu einem Kranken holen könnte. Solange wir uns kennen, hab' ich nicht einen einzigen freien Tag gehabt. Wie soll man da nicht alt werden? Und dann ist dieses Leben schon an sich so langweilig, so dumm, so schmutzig … anwidern muss es einen. Rings um dich nichts als Sonderlinge, lauter Sonderlinge; lebt man mit der Gesellschaft zwei, drei Jahre zusammen, wird man selber zum Sonderling, eh' man's merkt. Das unvermeidliche Los! Dreht seinen langen Schnurrbart. Da – wie lang mein Schnurrbart gewachsen ist … was für ein dummer Schnurrbart! Ja, Altchen, auch ich bin ein Sonderling geworden! … Ganz verdummt bin ich, Gott sei Dank, noch nicht, das Gehirn ist immer noch auf seinem alten Fleck – aber die Empfindungen sind sozusagen abgestumpft. Ich habe keinen Wunsch, kein Bedürfnis, und ich liebe niemanden … Du bist vielleicht die einzige, die ich liebe. Küßt ihren Kopf. In meiner Kindheit hatte ich auch eine Kinderfrau – ganz so war sie, wie du bist …

Marina Möchtest du vielleicht was essen?

Astrow. Danke … In den großen Fasten neulich, in der dritten Woche, fuhr ich nach Malizkoje, wo eine Epidemie herrschte … Flecktyphus war's … In den Bauernhütten lag ein Kranker neben dem andern ... Alles voll Schmutz, voll Gestank, voll Rauch, Kälber und Ferkel lagen mit Menschen zusammen auf der Erde … Den ganzen Tag rannt' ich hin und her, nicht einen Augenblick Ruhe, nicht einen Tropfen zur Erfrischung. Dann komm' ich nach Hause, will mich verpusten – ja, läßt man mich denn dazu kommen? Da haben sie mir den Weichensteller ins Haus gebracht; ich leg' ihn auf den Tisch, um eine Operation an ihm vorzunehmen, und was passiert? Er stirbt mir unter den Händen, in der Narkose! Und wo ich's gerade am wenigsten brauchen kann, beginnt das Gefühl sich in mir zu regen. Und ich bekomme Gewissensbisse, als ob ich den armen Kerl absichtlich getötet hätte … Da saß ich nun, schloß die Augen und dachte so bei mir: ob wohl nach ein-, zweihundert Jahren die späteren Geschlechter, denen wir jetzt den Weg bahnen, auch nur ein freundliches Wort der Erinnerung für uns übrig haben werden? Was meinst du, Altchen?

Marina. Menschen werden es dir nicht lohnen, dafür wird Gott es dir lohnen.

Astrow. Das hast du schön gesagt … ich danke dir.

Wojnizki kommt vom Hause her; er hat nach dem Frühstück ein Schläfchen gemacht; seine Kleider sehen zerknittert aus. Er setzt sich auf eine Bank und rückt seine stutzerhafte Krawatte zurecht.

Wojnizki. Ja … Pause. Ja …

Astrow. Hast du ausgeschlafen?

Wojnizki. Ja … ganz gehörig. Gähnt. Seit der Herr Professor mit seiner Frau Gemahlin hier bei uns lebt, bin ich ganz aus dem Geleise geraten … ich schlafe zur Mittagszeit, esse allerhand merkwürdiges Zeug zusammen, trinke Wein … lauter ungesunde Dinge! Früher hatte ich nicht eine freie Minute, arbeitete in einem fort mit Sonja zusammen, – jetzt heißt es: Adieu, Arbeit! Sonja müht sich ganz allein, und ich schlafe, esse, trinke … Nein, das ist nicht mehr schön!

Marina schüttelt den Kopf. Das ist 'ne Wirtschaft! Der Professor steht um zwölf Uhr auf, und der Samowar kocht vom frühen Morgen an und wartet auf ihn. Früher, wie sie noch nicht da waren, aß man immer um ein Uhr zu Mittag, wie's überall Mode ist – und jetzt um sieben. In der Nacht liest der Professor und schreibt, und mit einem Mal, so in der zweiten Stunde, klingelt's … Was ist los? Tee will erhaben! Nun heißt es die Leute wecken und den Samowar aufstellen. Ach, das ist 'ne Wirtschaft!

Astrow. Wie lange bleiben Sie denn noch hier?

Wojnizki pfeift. Hundert Jahre. Der Professor hat beschlossen, hier seine Residenz aufzuschlagen.

Marina. Jetzt zum Beispiel … der Samowar steht schon seit zwei Stunden auf dem Tische, und sie sind spazierengegangen!

Wojnizki. Da kommen sie … reg' dich nicht auf, Altchen.

Man hört Stimmen; aus der Tiefe des Gartens kommen, von einem Spaziergang zurückkehrend, Serebrjakow, Helena Andrejewna, Sonja und Teljegin.

Serebrjakow. Herrlich, herrlich … eine wundervolle Landschaft!

Teljegin. Recht bemerkenswert, Exzellenz!

Sonja. Morgen zeigen wir dir mal unsere Forsten – ja, Papa?

Wojnizki. Herrschaften, bitte zum Tee!

Serebrjakow. Schickt mir den Tee in mein Kabinett, meine Lieben, seid so freundlich! Ich muß heute noch etwas tun.

Sonja. Unsere Forstwirtschaft wird dir sicher gefallen, Papa!

Helena Andrejewna, Serebrjakow und Sonja ab ins Haus; Teljegin tritt an den Tisch heran und setzt sich neben Marina.

Wojnizki. Das ist eine Hitze, eine Schwüle – und unser großer Gelehrter geht in Paletot und Galoschen, mit dem Regenschirm in der Hand, und in Handschuhen …

Astrow. Er ist eben ein vorsichtiger Herr!

Wojnizki. Und sie – wie schön sie ist, wie schön! Nie im Leben hab' ich ein reizenderes Weib gesehen.

Teljegin. Nun sagen Sie mal, Marina Timofejewna, was fehlt uns noch zum Glück? Ob ich durch die Felder fahre oder im schattigen Park hier spazierengehe oder mir den gedeckten Tisch betrachte, stets bin ich von unsäglichem Glück erfüllt. Das Wetter ist entzückend, die Vögelchen singen und jubeln, wir alle leben in Frieden und Eintracht – ist das nicht wundervoll? Nimmt ein Glas Tee, das Marina ihm reicht. Dank' Ihnen sehr, dank' Ihnen wirklich von Herzen!

Wojnizki schwärmerisch. Diese Augen … ein herrliches Weib!

Astrow. Na, nun erzähl' mal was, Iwan Petrowitsch!

Wojnizki träg. Was soll ich dir erzählen?

Astrow. Gibt's gar nichts Neues?

Wojnizki. Nichts. Alles beim alten. Ich bin derselbe, der ich immer war … das heißt: eigentlich nicht derselbe, denn ich stehe jetzt moralisch tiefer, bin ein Faulpelz, der nichts tut, und brumme immerzu, wie'n alter Griesgram. Na, und meine alte Dohle, Mamachen – die schwadroniert immer noch von der Frauenemanzipation. Mit dem einen Auge schielt sie ins Grab und mit dem andern späht sie in ihren gelehrten Scharteken nach der Morgenröte eines neuen Lebens.

Astrow. Und der Professor?

Wojnizki. Der Professor sitzt genau so wie sonst den ganzen geschlagenen Tag in seinem Kabinett und schreibt. Wie sagt doch der Dichter? »In Falten ganz gekraust die Denkerstirn – entringt er Od' um Ode seinem Hirn; nur schade, jammerschade, daß der Welt – nicht der Poet noch sein Poem gefällt!« Armes Papier! Er sollte lieber seine Selbstbiographie schreiben. Was für ein großartiges Sujet! Ein Professor a. D., verstehst du – ein alter Zwieback – ein gelehrter Stockfisch! … Podagra, Rheumatismus, Migräne, die Leber vor lauter Neid und Eifersucht geschwollen … Und dieser alte Stockfisch lebt auf dem Landgut seiner ersten Frau – nur, weil er muß, natürlich, da seine Mittel ihm nicht erlauben, in der Stadt zu leben. Jammert beständig über sein Unglück, während er in Wirklichkeit vom Schicksal geradezu verhätschelt ist. Nervös. Bedenk' doch mal, was für ein Glück der Kerl gehabt hat! Ein einfacher Küsterssohn, ein Stipendienschlucker, hat sich durch alle gelehrten Grade bis zum Katheder hinaufgedrängelt, ist Exzellenz geworden, hat einen Senator zum Schwiegervater gekriegt usw. usw. Doch das ist schließlich unwichtig. Doch nun weiter: fünfundzwanzig Jahre liest und schreibt der Mensch über die Kunst, und versteht dabei von der Kunst so gut wie gar nichts. Fünfundzwanzig Jahre lang kaut er fremde Gedanken über Realismus, Naturalismus und allerhand sonstigen Unsinn wieder, fünfundzwanzig Jahre lang liest und schreibt er über Dinge, die den klugen Leuten längst bekannt, den dummen aber höchst gleichgültig sind … fünfundzwanzig Jahre lang also hat er nichts weiter getan als leeres Stroh gedroschen – und nun seh' mal einer diesen Eigendünkel, den das hat, diese Ansprüche! Jetzt hat er seinen Abschied genommen – und keine lebendige Seele kennt ihn mehr, im Handumdrehen ist er wie verschollen. Er hat einfach diese fünfundzwanzig Jahre hindurch den Platz eines andern eingenommen. Und nun sieh nur, wie er einherschreitet: wie ein Halbgott!

Astrow. Hör' mal, ich glaube, du beneidest ihn bloß!

Wojnizki. Gewiß beneide ich ihn. Und was für Erfolge er bei den Frauen gehabt hat! Kein Don Juan könnte sich so vieler Siege rühmen. Seine erste Frau, meine Schwester, dieses schöne, liebenswürdige Geschöpf, das so edelmütig, so großherzig, so rein war wie der blaue Himmel, und mehr Verehrer hatte als er Schüler – die liebte ihn so, wie nur keusche Engel ebenso keusche und schöne Wesen, wie sie selber sind, lieben können. Meine gute Mama, seine Schwiegermutter, vergöttert ihn noch heute, und noch heute flößt er ihr förmlich ein heiliges Grauen ein. Seine zweite Frau, ein schönes, kluges Wesen – du hast sie ja eben gesehen – hat ihn geheiratet, als er schon ein Greis war; sie hat ihm ihre Jugend, ihr Schönheit, ihre Freiheit, ihren Glanz geopfert – weshalb, frag' ich, wofür?

Astrow. Ist sie dem Professor treu?

Wojnizki. Leider – ja.

Astrow. Warum »leider«?

Wojnizki. Weil diese Treue unecht ist von Anfang bis zu Ende. Es ist sozusagen eine rhetorische, doch keine logische Treue. Einem alten Mummelgreise, den man nicht leiden mag, die Treue halten, die Stimme der Jugend und das lebendige Gefühl in sich unterdrücken - das ist einfach unmoralisch.

Teljegin mit weinerlicher Stimme. Wanja, ich liebe es nicht, wenn du so sprichst. Das ist nicht schon, mein Lieber … Wer seine Gattin oder seinen Gatten betrügt, ist einfach ein ungetreuer Mensch – und der kann auch dem Vaterlande leicht untreu werden!

Wojnizki ärgerlich. Schraub' den Wasserhahn zu, Waffelkuchen!

Teljegin. Erlaube mal, lieber Wanja. Meine Frau ist mir gleich am ersten Tage nach der Hochzeit mit ihrem Geliebten durchgebrannt, weil mein Äußeres ihr nicht anziehend genug schien. Nun denn – ich habe meine eheliche Pflicht gegen sie seit jener Zeit auch nicht ein einziges Mal verletzt! Ich liebe sie bis auf den heutigen Tag, bin ihr heute noch treu und helfe ihr, soviel ich kann; mein Vermögen hab' ich hingegeben zur Erziehung der Kinderchen, die sie ihrem Geliebten geboren hat. Mein Glück hab' ich verloren, aber mein Stolz ist mir geblieben. Und sie? Ihre Jugend ist entflohen, ihre Schönheit ist mit der Zeit verwelkt, ihr Geliebter ist gestorben … sag', was ist ihr geblieben?

Sonja und Helena Andrejewna kommen aus dem Hause; etwas später Maria Wassiljewna, mit einem Buche; sie setzt sich und liest; man reicht ihr Tee, und sie trinkt, ohne hinzusehen.

Sonja zu Marina. Oben sind ein paar Bauern … geh' doch mal, Altchen, sprich mit ihnen! Den Tee werd' ich selbst einschenken.

Sie gießt Tee ein. Marina ab. Helena Andrejewna nimmt ihre Tasse und trinkt, auf der Schaukel sitzend.

Astrow zu Helena Andrejewna. Ich bin zu Ihrem Herrn Gemahl gekommen. Sie schreiben, er sei schwer krank an Rheumatismus und noch irgendwas, und nun stellt es sich heraus, daß er kerngesund ist!

Helena Andrejewna. Gestern abend hatte er seine Grillen, klagte über Schmerzen in den Beinen, und heute ist er ganz vergnügt …

Astrow. Und ich jage Hals über Kopf dreißig Werst weit hierher. Na, schadet nichts, es war ja nicht das erste Mal. Dafür bleib' ich bis morgen hier bei Ihnen, wenigstens kann ich mich mal ordentlich ausschlafen.

Sonja. Das ist ja wunderschön! Es kommt so selten vor, daß Sie einmal bei uns über Nacht bleiben. Sie haben wohl auch noch nicht zu Mittag gespeist?

Astrow. Nein, auch das noch nicht.

Sonja. Dann werden Sie mit uns speisen … wir essen jetzt um sieben Uhr. Trinkt. Der Tee ist ganz kalt.

Teljegin. Die Temperatur im Samowar ist schon beträchtlich gesunken.

Helena Andrejewna. Tut nichts, Iwan Iwanytsch, wir trinken auch kalt, wenn's sein muß.

Teljegin. Ich bitt' um Verzeihung … nicht Iwan Iwanytsch heiß' ich, sondern Ilja Iljitsch! … Ilja Iljitsch Teljegin oder, wie einige Leute mich wegen meines pockennarbigen Gesichtes nennen: Waffelkuchen. Ich hab' seiner Zeit unsere kleine Sonja aus der Taufe gehoben, und Se. Exzellenz, Ihr Herr Gemahl, kennen mich sehr gut. Ich lebe jetzt hier bei Ihnen auf dem Landgut … Ich speise mit Ihnen täglich zu Mittag, wie Sie vielleicht zu bemerken geruhten.

Sonja. Ilja Iljitsch ist unser Gehilfe, unsere rechte Hand. Zärtlich. Geben Sie Ihr Glas her, Patchen, ich werde Ihnen noch Tee eingießen.

Maria Wassiljewna jäh. Ach!

Sonja. Was gibt's denn, Großmamachen?

Maria Wassiljewna. Ich hab' versäumt, Alexander zu sagen … wie vergesslich man doch wird daß ich heute einen Brief aus Charkow bekommen habe, von Pawel Alexejewitsch … Er hat seine neue Broschüre geschickt …

Astrow. Interessant?

Maria Wassiljewna. Sehr interessant, aber zugleich … ich weiß nicht … etwas sonderbar. Er widerlegt jetzt das, was er vor sieben Jahren behauptet hat. Das ist schrecklich!

Wojnizki. Ich sehe gar nichts Schreckliches darin. Trinken Sie ruhig Ihren Tee, maman!

Maria Wassiljewna. Ich will aber reden!

Wojnizki. Wir reden und reden doch nun schon seit fünfzig Jahren und lesen ebenso lange Broschüren. Jetzt wär's endlich Zeit, damit aufzuhören.

Maria Wassiljewna. Du scheinst es aus irgendeinem Grunde nicht gern zu hören, daß ich rede. Verzeih, lieber Jean, aber im letzten Jahre hast du dich so verändert, daß ich dich nicht wiedererkenne … Du warst früher ein Mensch von festen Überzeugungen, eine leuchtende Individualität …

Wojnizki. O ja! Ich war eine leuchtende Individualität – die nur keinem Menschen Licht brachte ...

Pause. Ich – eine leuchtende Individualität! … Man kann wirklich keinen boshafteren Witz über mich machen. Ich bin jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Bis zum vorigen Jahre hab' ich ebenso wie Sie meinen Blick mit Ihren scholastischen Nebeln verdunkelt, um nur die Wirklichkeit des Lebens nicht zu sehen … und ich dachte, dass ich gut daran tue. Jetzt aber … o, wenn sie wüßten! Nächtelang schlaf' ich nicht aus Grimm und Ärger darüber, daß ich in so alberner Weise die Zeit verpaßt habe, da ich alles das haben konnte, was mir jetzt mein Alter versagt.

Sonja.. Nicht doch, Onkel Wanja, das klingt so traurig!

Maria Wassiljewna zu Wojnizki. Du scheinst deinen früheren Überzeugungen Schuld zu geben … aber nicht sie sind schuld, sondern du selbst. Du hast vergessen, daß die Überzeugungen an sich nichts bedeuten, daß sie ein toter Buchstabe sind … du hättest eine Tat vollbringen sollen.

Wojnizki. Eine Tat? Nicht jeder ist ein schreibendes Perpetuum mobile, wie Ihr Herr Professor.

Maria Wassiljewna. Was willst du damit sagen?

Sonja bittend. Großmamachen! Onkel Wanja! Ich bitt' euch!

Wojnizki. Ich bin schon still, ganz mausestill, und bitte um Entschuldigung.

Pause.

Helena Andrejewna. Das Wetter ist wirklich heute prächtig … nicht zu heiß …

Pause.

Wojnizki. Bei solchem Wetter muß es nett sein, sich aufzuhängen …

Teljegin stimmt die Gitarre. Marina geht um das Haus herum und ruft die Hühner.

Marina. Zip, zip, zip …

Sonja. Altchen, was wollten denn die Bauern?

Marina. Immer dasselbe … wegen des Rodelands sind sie gekommen. Zip, zip, zip …

Sonja. Was rufst du denn da?

Marina. Die scheckige Henne ist mit den Küchlein fort … Daß nur der Habicht nicht über sie gerät …

Ab. Teljegin spielt auf der Gitarre eine Polka; alle hören schweigend zu. Ein Arbeiter tritt auf.

Der Arbeiter. Ist der Herr Doktor da? Zu Astrow. Mit Verlaub, Michael Lwowitsch, man hat mich nach Ihnen geschickt.

Astrow. Woher?

Der Arbeiter. Aus der Fabrik.

Astrow ärgerlich. Danke ergebenst. Was bleibt mir übrig? Ich muß hin … Sucht mit den Augen seine Mütze. Wirklich ärgerlich, der Teufel mag's holen 

Sonja. Wie unangenehm. Aus der Fabrik kommen Sie doch zu Tisch?

Astrow. Nein, es wird schon zu spät sein … Er sucht. Wo ist eigentlich … Zu dem Arbeiter. Hör' mal, mein Lieber, hol' mir wenigstens ein Gläschen Branntwein! Der Arbeiter entfernt sich. Wo ist eigentlich … ah, da ist sie! Er hat seine Mütze gefunden. Bei Ostrowski kommt irgendwo ein Mensch »mit großem Schnurrbart und kleinen Fähigkeiten« vor … Der Mensch bin ich, sehen Sie! Na, ich empfehle mich, meine Herrschaften … Zu Helena Andrejewna. Wenn Sie mir mal die Ehre geben wollen, vielleicht mit Sofia Alexandrowna zusammen, werde ich mich aufrichtig freuen.

Ich habe nur ein ganz kleines Anwesen, höchstens dreißig Deßjatinen, aber dafür besitze ich, wenn Sie das interessiert, einen wahren Mustergarten und ein Baumschule, wie man sie auf tausend Werst in der Runde nicht wieder findet. Dicht daneben liegt die Kronsforstei … Der Förster ist alt und ewig krank … da hab' ich dann eigentlich die ganze Sorge für den Forst auf dem Halse.

Helena Andrejewna. Man sagte mir schon, daß Sie den Wald sehr lieben. Das mag alles recht nützlich sein, was Sie für ihn tun, aber behindert Sie das nicht in Ihrem eigentlichen Berufe? Sie sind doch Arzt!

Astrow. Der Himmel allein weiß, was unser eigentlicher Beruf ist.

Helena Andrejewna. Und ist's interessant?

Astrow. O ja, die Suche ist interessant.

Wojnizki ironisch. Sehr interessant.

Helena Andrejewna zu Astrow. Sie sind doch noch ein junger Mann, dem Aussehen nach  nu, sagen wir sechs-, siebenunddreißig … Ich glaub's gar nicht, daß es Sie so stark interessiert, wie Sie sagen. Immer nur Wald und Wald … das muß doch eintönig sein!

Sonja. Nein, es ist wirklich interessant. Jedes Jahr pflanzt Michail Lwowitsch junge Bäumchen aus, und er hat auch schon einen bronzene Medaille und ein Diplom bekommen. Er arbeitet auch dagegen, daß man den alten Wald gar zu sehr verwüste. Wenn Sie ihn hören, werden Sie ihm vollkommen recht geben. Er sagt, daß die Wälder ein Schmuck der Erde sind, daß den Menschen das Schöne begreifen lehren und ihn für erhabene Stimmungen empfänglich machen. Die Wälder mildern das strenge Klima, in Ländern mit mildem Klima aber braucht der Mensch nicht so viel Kraft auf den Kampf mit der Natur zu verwenden, und darum ist er dort sanfter, liebenswürdiger, schöner, impulsiver. Seine Stimme ist wohlklingender, seine Bewegungen sind graziöser. Wissenschaften und Künste blühen in solchen Ländern, ihre Philosophie predigt die Lebensfreude, die Beziehungen zur Frau sind vom Geiste der Schönheit geadelt …

Wojnizki lachend. Bravo, bravo! Das ist alles sehr hübsch gesagt, aber nicht überzeugend, zu Astrow und so wirst du mir schon gestatten, lieber Freund, daß ich wie bisher meine Öfen mit Holz heize und meine Speicher aus Holz baue.

Astrow. Du kannst die Öfen ebensogut mit Torf heizen und die Speicher aus Steinen bauen. Ich will nichts weiter sagen, wenn man den Wald aus Not niederschlägt, aber muß er darum verwüstet werden? Die russischen Wälder krachen unter dem Beil, Milliarden von Bäumen gehen zugrunde, das Wild, die Vögel, gehen ihrer Wohnstätten verlustig, die Flüsse versanden und trocknen aus, die herrlichsten Landschaften schwinden für immer dahin – und alles nur darum, weil der Mensch zu gedankenlos und zu träg ist, um sich zu bücken und sein Heizmaterial aus der Erde heraufzuholen. Zu Helena Andrejewna. Habe ich nicht recht, meine Gnädige? Man muß wirklich ein ganz unverständiger Barbar sein, um diese Schönheit, diese Pracht, im Ofen zu verbrennen, um zu vernichten, was man nicht wieder schaffen kann. Der Mensch besitzt Verstand und schöpferische Kraft, um das zu vermehren, wessen er bedarf – bisher jedoch hat er nichts geschaffen, sondern immer nur zerstört. Immer mehr schwinden die Wälder zusammen, das Klima hat sich verschlechtert, und unser Land wird immer armseliger, immer unansehnlicher. Zu Wojnizki. Du siehst mich ironisch an – was ich sage, scheint dir nicht im Ernst gesagt … nun, vielleicht ist's wirklich nichts weiter als eine Schrulle; wenn ich aber an den Bauernwäldchen vorübergehe, die ich vor dem Niederschlagen gerettet habe, oder wenn ich das Rauschen meines jungen Waldes höre, den ich mit meinen eigenen Händen gepflanzt habe – dann sage ich, daß das Klima meines Vaterlandes doch auch ein klein wenig in meiner Gewalt ist, und daß, wenn in tausend Jahren die Menschen sich glücklich fühlen werden, auch ich an der Begründung ihres Glücks ein klein wenig teilhaben werden. Wenn ich eine junge Birke pflanze und dann sehe, wie sie sich im Winde wiegt, dann erfüllt Stolz meine Seele, und ich … Er sieht den Arbeiter, der ihm auf einem Präsentierteller ein Glas Branntwein reicht. Indessen … trinkt es ist Zeit für mich. Das alles ist wohl nur eine Schrulle von mir. Habe die Ehre. Geht nach dem Hause zu. Der Arbeiter ab.

Sonja nimmt Astrows Arm und begleitet ihn. Wann werden Sie uns wieder besuchen?

Astrow. Ich weiß es nicht …

Sonja. Wieder erst in einem Monat?

Beide ab ins Haus; Maria Wassiljewna und Teljegin bleiben am Tische; Helena Andrejewna und Wojnizki entfernen sich vom Tische und treten näher der Terrasse hin.

Helena Andrejewna. Ihr Benehmen war wieder ganz unmöglich, Iwan Petrowitsch. Was brauchten Sie Ihre Mama mit dem Perpetuum mobile zu ärgern? Und heute beim Frühstück haben Sie wieder mit Alexander gestritten – wie kleinlich das ist!

Wojnizki. Wenn ich ihn doch nun mal hasse!

Helena Andrejewna. Dazu haben Sie keine Veranlassung. Alexander ist so wie alle anderen … jedenfalls nicht schlechter als Sie …

Wojnizki. Wenn Sie sich doch selbst mal beobachteten … wenn Sie Ihr Gesicht, Ihre Bewegungen sehen könnten! Diese Trägheit in Ihrem ganzen Wesen … Diese Unlust am Leben!

Helena Andrejewna. Trägheit … Unlust am Leben  – das stimmt vielleicht. Alle Welt redet es mir ja ein. Alle schelten meinen Mann und sehen mich mitleidig an: die Unglückliche, Sie ist die Frau eines Greises! O, ich begreife sie sehr wohl, die Beweggründe dieses Mitleids! Wie sagte doch Astrow vorhin? Ohne Vernunft verderbt ihr euren Wald, daß bald nichts mehr auf Erden davon übrig sein wird. Und ebenso vernunftlos verderbt ihr den Menschen, so daß, dank eurer Bemühungen, es bald auf Erden weder Treue, noch Keuschheit, noch Selbstaufopferung geben wird. Warum könnt ihr ein Weib, das nicht euch gehört, nicht gleichgültig ansehen? Weil in euch allen – der Doktor hat schon recht! – der Zerstörungsteufel steckt. Ihr schont weder Wälder, noch Vögel, noch Weiber, noch einer den andern …

Wojnizki. Hm – sie gefällt mir nicht, diese Philosophie!

Pause.

Helena Andrejewna. Dieser Doktor hat ein müdes, nervöses Gesicht. Ein interessantes Gesicht. Sonja gefällt er offenbar, sie ist in ihn verliebt, was ich wohl verstehen kann. Während wir hier sind, war er bereits dreimal da … ich weiß nicht, ich bin eigentlich schüchtern ihm gegenüber. Noch nie hab' ich so recht vom Herzen weg mit ihm gesprochen, er muß mich für bösartig halten. Ich glaube, Iwan Petrowitsch, wir zwei vertragen uns nur darum so gut, weil wir beide so trostlos langweilige Menschen sind. Wirklich langweilig! Sehen Sie mich doch nicht so an … Sie wissen, ich liebe das nicht.

Wojnizki. Kann ich Sie denn anders ansehen, wenn ich Sie liebe? Sie sind mein Glück, mein Leben, meine Jugend! Ich weiß ja, daß meine Aussicht auf Gegenliebe verschwindend gering – beinahe gleich Null ist, aber ich will ja auch nichts weiter, erlauben Sie mir nur, Sie anzusehen, Ihre Stimme zu hören …

Helena Andrejewna. Leiser! Man kann Sie ja hören!

Sie gehen nach dem Hause zu.

Wojnizki geht hinter ihr her. Gestatten Sie mir, von meiner Liebe zu sprechen, jagen Sie mich nicht fort – auch das ist für mich schon ein Glück ohnegleichen …

Helena Andrejewna. Sie sind wirklich ein Quälgeist …

Beide ab nach dem Hause; Teljegin greift in die Saiten und spielt eine Polka; Maria Wassiljewna macht eine Randbemerkung in der Broschüre.

Vorhang.


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