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Zweiter Aufzug

Speisezimmer im Hause Serebrjakows. – Nacht. – Man hört im Garten den Nachtwächter klopfen.

Serebrjakow sitzt in einem Fauteuil am Fenster und schlummert. Helena Andrejewna sitzt, gleichfalls schlummernd, neben ihm.

Serebrjakow erwachend. Wer ist da? Sonja, bist du es?

Helena Andrejewna. Ich bin's.

Serebrjakow. Du, Lenotschka … Ach, dieser unerträgliche Schmerz!

Helena Andrejewna. Dein Plaid ist heruntergerutscht. Wickelt ihm die Füße ein. Ich will das Fenster schließen, Alexander 

Serebrjakow. Laß nur, es ist mir so heiß … Ich hab' eben ein wenig geschlummert und träumte, mein linkes Bein gehöre nicht mir. Auf einmal erwachte ich von einem heftigen Schmerz. Nein, das ist kein Podagra, sondern Rheumatismus. Wie spät ist's denn?

Helena Andrejewna. Zwanzig Minuten nach zwölf. Pause

Serebrjakow. Such' mir doch mal morgen früh in der Bibliothek Batjuschkows Gedichte heraus. Wir haben sie doch?

Helena Andrejewna. Was?

Serebrjakow. Batjuschkows Gedichte solltest du mir morgen früh heraussuchen. Ich erinnere mich doch, daß wir den Band besaßen. Aber sag mal … wie kommt es … daß mir auf einmal das Atmen so schwer wird?

Helena Andrejewna. Du bist müde. Schon die zweite Nacht schläfst du nicht.

Serebrjakow. Turgenjew soll infolge des Podagras die Brustbräune bekommen haben. Ich fürchte, es wird mir ebenso gehen! Dieses verdammte, abscheuliche Alter! Der Teufel mag es holen! Seit ich alt geworden bin, bin ich mir selbst zuwider. Und euch allen muss es doch auch recht lästig sein, mich zu sehen.

Helena Andrejewna. Du sprichst von deinem Alter in einem Tone, als ob wir alle daran schuld wären, dass du alt bist.

Serebrjakow. Du bist es doch in allererster Reihe, der ich lästig bin! Helena Andrejewna steht auf und setzt sich in einiger Entfernung von ihm wieder hin. Gewiß, du hast ja recht. Ich kann das sehr wohl begreifen. Du bist jung, gesund schön, du willst leben – und ich bin ein Greis, beinahe schon eine Leiche. Zu dumm, daß ich immer noch am Leben bin. Aber wartet nur, ich werde euch bald von der Last befreien. Ich werde die Sache nicht mehr lang hinziehen.

Helena Andrejewna. Ich halte es nicht länger aus … Schweig, um Gottes willen!

Serebrjakow. Recht so: ich bin schuld daran, daß kein Mensch es mehr aushält, daß alle sich langweilen, alle ihre Jugend opfern – und ich bin der einzige, der das Leben genießt und zufrieden ist. Sehr gut! Sehr gut!

Helena Andrejewna. Schweig! Du quälst mich zu Tode!

Serebrjakow. Ich quäl' euch alle zu Tode. Natürlich!

Helena Andrejewna in Tränen. Das ist unerträglich. Sag' mal – was willst du von mir!

Serebrjakow. Nichts will ich!

Helena Andrejewna. Nun – dann sei still. Ich bitte dich darum.

Serebrjakow. Das ist doch sonderbar: wenn Iwan Petrowitsch etwas sagt oder Maria Wassiljewna, diese alte Idiotin – dann ist alles wunderschön, alle hören zu. Wenn ich aber nur den Mund auftue, fangen sie alle gleich an, sich unglücklich zu fühlen. Selbst meine Stimme finden sie unausstehlich. Nun gut, mag ich immerhin unausstehlich, mag ich ein Egoist, ein Despot sein – aber hab' ich denn nicht mal auf meine alten Tage ein klein wenig Recht darauf, ein Egoist zu sein? Hab' ich das nicht wirklich verdient? Hab' ich, so frage ich dich, wirklich gar keinen Anspruch auf ein ruhiges Alter, auf ein klein wenig Rücksicht von seiten meiner Mitmenschen?

Helena Andrejewna. Niemand denkt daran, dir dein Recht streitig zu machen. Das Fenster knarrt, vom Winde bewegt. Der Wind hat sich erhoben, ich werde das Fenster schließen. Schließt das Fenster. Es wird gleich regnen … Niemand, wie gesagt, macht dir deine Rechte streitig.

Pause. Der Wächter im Garten klopft und singt ein Lied.

Serebrjakow. Sein ganzes Leben im Dienst der Wissenschaft hinopfern, an sein Arbeitskabinett, sein Auditorium, seine ehrenwerten Kollegen gewöhnt sein – und dann mit einem Male, gleichsam über Nacht, hier in diesem Grabgewölbe erwachen, Tag für Tag lauter dumme Menschen um sich sehen, lauter alberne Gespräche anhören … ja, weißt du, das trag' einer mit Gleichmut! … Ich will leben, ich liebe den Erfolg, den Ruhm, das Geräusch – und hier bin ich wie in der Verbannung. Jeden Augenblick nach der Vergangenheit bangen, die Erfolge der andern beobachten und vor dem Tode zittern … nein, das halt' ich nicht aus! Dazu fehlt mir die Kraft! Und da wollen Sie mir noch nicht mal mein Alter verzeihen!

Helena Andrejewna. Wart' ein Weilchen, hab' Geduld: in fünf, sechs Jahren werde auch ich alt sein.

Sonja kommt herein.

Sonja. Du hast doch selbst nach dem Doktor Astrow schicken lassen, Papa – und jetzt, wo er da ist, willst du ihn nicht empfangen. Das ist nicht rücksichtsvoll. Nun haben wir den Herrn umsonst bemüht …

Serebrjakow. Was soll mir dein Astrow? Er versteht von der Medizin ebensoviel, wie ich von der Astronomie.

Sonja. Aber wir können doch wegen deines Podagras nicht die ganze medizinische Fakultät herkommen lassen!

Serebrjakow. Jedenfalls will ich mit diesem Narren nichts zu tun haben.

Sonja. Wie du willst. Setzt sich. Mir kann es gleich sein.

Serebrjakow. Wie spät ist es jetzt?

Helena Andrejewna. Bald ein Uhr.

Serebrjakow. Es ist so schwül hier … Sonja, bitte gib mir doch, bitte, die Tropfen da vom Tische!

Sonja. Gleich. Reicht ihm die Tropfen.

Serebrjakow gereizt. Nicht doch … nicht diese! Gar nichts darf man von euch verlangen!

Sonja. Sei doch nicht so launisch, Papa. Ich habe so viele andere Sorgen: morgen wird das Heu eingefahren, da muss ich zeitig aufstehen.

Wojnizki kommt, im Schlafrock und mit einer Kerze in der Hand.

Wojnizki. Ein Gewitter steigt auf. Es blitzt. Da! Helena und Sonja, ihr geht jetzt schlafen. Ich werde euch ablösen.

Serebrjakow erschrocken. Nein, nein! Laßt mich nicht mit ihm allein! Er wird mich totreden!

Wojnizki. Aber so laß sie doch auch mal zur Ruhe kommen! Sie schlafen schon die zweite Nacht nicht.

Serebrjakow. Gut, dann mögen sie schlafen gehen – aber auch du geh' fort! Ich bitte dich darum. Ich werde dir dafür dankbar sein. Im Namen unserer einstigen Freundschaft, widersprich nicht!

Wojnizki lächelnd. Unserer einstigen Freundschaft … einstigen … hm …

Sonja. Nicht doch, Onkel Wanja!

Serebrjakow zu seiner Gattin. Laß mich nicht mit ihm allein, Liebe! Er wird mich totreden!

Wojnizki. Die Sache wird wirklich schon lächerlich.

Marina kommt mit einer Kerze.

Sonja. Geh' doch schlafen, Altchen! Es ist doch schon spät!

Marina. Der Samowar ist noch nicht weggestellt. Hat nichts zu sagen.

Serebrjakow. Alle kommen um ihren Schlaf, alle sind erschöpft – nur ich schwelge im Glück!

Marina tritt zu Serebrjakow hin, zärtlich. Wie geht's denn, Väterchen? Tut's wieder weh? Ja, ja, meine Beine wollen auch nicht mehr recht folgen! Sie rückt ihm das Plaid zurecht. Das ist schon ein altes Leiden bei Ihnen! Ich weiß noch, wie Sonetschkas Mama ganze Nächte lang nicht schlief … immer hat sie sich darum gegrämt. Sie hatte Sie wirklich schon gar zu lieb, Väterchen! 

Pause. Alte Leute sind wie die Kinder, lassen sich gar zu gern bedauern … es will sie aber keiner bedauern. Küßt Serebrjakow auf die Schulter. Komm. Väterchen, komm ins Bett … Komm, Herzchen … ich will dir Lindenblütentee kochen, dir 'ne heiße Kruke für die Füßchen zurechtmachen … zu Gott beten will ich für dich …

Serebrjakow gerührt. Komm, meine liebe Marina!

Marina. Meine Beine, siehst du, wollen auch nicht mehr recht vorwärts. Führt ihn gemeinsam mit Sonja fort. Ja, die Verstorbene … die hat sich was gegrämt … immer geweint hat sie … Du warst damals noch klein und dumm, Sonjuschka … So recht, Väterchen … so recht! …

Serebrjakow, Sonja und Marina ab.

Helena Andrejewna. Ich bin wirklich ganz erschöpft. Kaum, daß ich mich auf den Beinen halte.

Wojnizki. Sie plagen sich mit ihm herum - und ich mit mir selbst. Das ist schon die dritte Nacht, die ich schlaflos verbringe.

Helena Andrejewna. Es wohnt kein Glück in diesem Hause. Ihre Mutter haßt alles – außer ihren Broschüren und dem Professor; der Professor ist beständig in Aufregung – er ist mißtrauisch gegen mich und hat vor Ihnen angst; Sonja ist auf ihren Vater und auf mich böse – schon seit vierzehn Tagen spricht sie nicht mit mir; Sie hassen Ihren Mann und zeigen Ihrer Mutter ganz offen vor allen Leuten Ihre Verachtung; ich bin im höchsten Grade nervös und war heute wohl zwanzigmal nahe daran, zu weinen … Es wohnt kein Glück in diesem Hause …

Wojnizki. Lassen wir die Philosophie!

Helena Andrejewna. Sie sind doch ein verständiger, gebildeter Mensch, Iwan Petrowitsch – so sollten Sie auch wissen, daß nicht die großen Katastrophen, die Verbrechen, Brände und so weiter die Welt zugrunde richten, sondern all die kleinen Feindseligkeiten und Geschäftigkeiten der Menschen, dieses abscheuliche Gezänk. Ihre Aufgabe sollte es sein, nicht ewig zu brummen, sondern die andern zu versöhnen!

Wojnizki. Versöhnen Sie mich erst mit mir selbst! Meine Teure … Er sucht ihre Hand an seine Lippen zu ziehen.

Helena Andrejewna. Lassen Sie das! Sie entzieht ihm die Hand. Sehen Sie!

Wojnizki. Der Regen ist gleich vorüber, die ganze Natur wird sich erfrischt fühlen und erleichtert aufatmen. Nur für mich allein bedeutet dieses Gewitter keine Erfrischung. Tag und Nacht quält mich der Gedanke, daß mein Leben unwiederbringlich verloren ist. Meine Vergangenheit wurde mit allerhand Narrenspossen vertrödelt … und meine Zukunft ist ohne Zweck und Sinn – einfach entsetzlich! Mein Leben, meine Liebe – was soll ich mit ihnen anfangen, sagen Sie!? Mein Gefühl geht zugrunde wie ein Sonnenstrahl, der in eine Höhle fällt, und auch ich selbst geh' zugrunde.

Helena Andrejewna. Wenn Sie mir von Ihrer Liebe sprechen, überkommt mich eine Art Stumpfsinn, ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Verzeihen Sie … ich finde wirklich keine Antwort für Sie. Sie will gehen. Gute Nacht!

Wojnizki vertritt ihr den Weg. Und wenn Sie wüßten, wie ich leide bei dem Gedanken, daß neben mir, unter demselben Dache, noch ein zweites Leben zugrunde geht – das Ihrige! Was zögern Sie noch? Welche verfluchte Philosophie kann Sie noch zurückhalten? Begreifen Sie doch, begreifen Sie …

Helena Andrejewna sieht ihn durchdringend an. Iwan Petrowitsch, Sie sind betrunken!

Wojnizki. Kann sein, kann schon sein …

Helena Andrejewna. Wo ist der Doktor?

Wojnizki. Dort … in meinem Zimmer übernachtet er. Kann sein … kann schon sein! Kann alles sein!

Helena Andrejewna. Warum haben Sie heute wieder getrunken?

Wojnizki. Es sieht doch wenigstens so aus, als ob man lebte. Lassen Sie mich trinken, Helena, schelten Sie mich nicht!

Helena Andrejewna. Sie haben doch früher nie getrunken und auch nie so viel geredet … Gehen Sie schlafen! Ich langweile mich in Ihrer Gesellschaft.

Wojnizki will wieder ihre Hand küssen. Meine Teure! … Meine Herrliche!

Helena Andrejewna ärgerlich. Lassen Sie mich in Frieden. Das wird mir zuletzt wirklich widerlich. Ab.

Wojnizki allein. Sie ist fort. Pause. Vor zehn Jahren hab' ich sie bei meiner verstorbenen Schwester getroffen. Damals war sie siebzehn und ich siebenunddreißig. Warum hab' ich mich damals nicht in sie verliebt und ihr einen Heiratsantrag gemacht? Die Sache lag doch so nahe! Dann wäre sie jetzt meine Frau … Ja! … Das Gewitter hätte uns beide aus dem Schlafe geweckt – sie wäre ganz erschrocken von dem Donner, und ich würde sie in meinen Armen halten und ihr zuflüstern: »Fürchte dich nicht, ich bin ja da!« O wunderbarer Gedanke – wie herrlich, ich lächle sogar! Doch, mein Gott, ich glaube – es ist nicht mehr ganz klar in meinem Kopfe … Warum muß ich schon so alt sein? Warum will sie mich nicht verstehen? Ihre Rhetorik, ihre flaue Moral, ihre trägen Gedanken über das Zugrundegehen der Welt - das alles ist mir in der Seele zuwider. Pause. O, wie bin ich betrogen! Ich habe diesen Professor, diesen jämmerlichen Podagristen, vergöttert. Ich habe für ihn wie ein Ochse gearbeitet. Ich habe mit Sonja zusammen den letzten Saft aus diesem Gute herausgepreßt. Wie die Hökerweiber haben wir mit Rüböl, mit Erbsen, mit Käse gehandelt und haben uns selber nicht satt gegessen, um nur aus lauter Groschen und Kopeken Tausende aufzuhäufen und ihm zu schicken. Ich war stolz auf ihn und auf seine Wissenschaft, ich lebte, ich atmete durch ihn. Alles, was er schrieb und dozierte, erschien mir genial … Herr Gott – und jetzt? Jetzt ist er pensioniert und nun sieht man erst das Fazit seines Lebens: nicht ein einziges Blatt wird dauernd bleiben von all seinem Wirken, er ist ein Unbekannter, ein Nichts! Eine Seifenblase! Und ich bin betrogen …

Astrow tritt ein, ohne Weste und Krawatte; er ist angeheitert; hinter ihm Teljegin mit der Gitarre.

Teljegin. Aber es schläft doch alles!

Astrow. Spiel' nur.

Teljegin beginnt leise zu spielen.

Astrow zu Wojnizki. Du bist allein? Die Damen nicht anwesend? Stemmt die Arme in die Seiten und singt: »Hat ein Haus von Betten voll, weiß nicht, wo er schlafen soll!« … Das Gewitter hat mich aus dem Schlafe geweckt, es regnet großartig. Wie spät ist's denn?

Wojnizki. Der Teufel mag's wissen.

Astrow. Es war mir doch, als ob ich Helena Andrejewnas Stimme gehört hätte!

Wojnizki. Sie war eben hier.

Astrow. Ein prächtiges Weib! Betrachtet die Fläschchen auf dem Tische. Lauter Medizin und Rezepte aus aller Welt: aus Charkow, aus Moskau, aus Tula … alle Städte des Erdballs hat er mit seinem Podagra belästigt. Ist er wirklich krank, oder simuliert er?

Wojnizki. Er ist krank.

Pause..

Astrow. Was bist du denn heut' so traurig? Tut dir der Professor so leid, oder was ist's sonst?

Wojnizki. Laß mich.

Astrow. Vielleicht bist du in die Frau Professor verliebt?

Wojnizki. Sie ist meine Vertraute.

Astrow. Ah … so weit haltet ihr schon?

Wojnizki. »Schon«? Was soll das heißen?

Astrow. Eine Frau wird in folgender Reihenfolge die Vertraute eines Mannes: ad 1 – Freundin, ad 2 - Geliebte, ad 3 – Vertraute.

Wojnizki. Eine sehr fade Philosophie.

Astrow. Meinst du? … Kannst vielleicht recht haben. Ich werde eben fad mit der Zeit. Du siehst, ich bin auch betrunken. Ich betrinke mich durchschnittlich etwa einmal im Jahre – dann werde ich furchtbar frech und zudringlich. Dann ist mir einfach alles schnuppe. Ich mache mich an die schwierigsten Operationen und führe sie tadellos aus; ich entwickle die entwickle die großartigsten Zukunftspläne und halte mich dabei nicht etwa für einen komischen Kauz, sondern bin fest überzeugt, daß ich der Menschheit einen ganz gewaltigen Nutzen bringe … ja, einen ganz gewaltigen! Ich habe dann auch mein eignes philosophisches System – ihr alle, meine Lieben, erscheint mir dann sozusagen als kleine Köfferchen, als Mikroben … Zu Teljegin. He, Waffelkuchen, spiel' mal!

Teljegin. Von Herzen gern, mein Lieber … aber begreif' doch: alles schläft im Hause!

Astrow. Spiel'! Teljegin fährt ganz leise über die Saiten. Ich möcht' was trinken … ich glaube, es ist noch ein Rest Kognak übriggeblieben. Trinkst du einen mit? Er sieht Sonja, die ins Zimmer tritt. Entschuldigen Sie … ich bin … ohne Krawatte. Entfernt sich rasch. Teljegin hinter ihm ab.

Sonja. Du hast wieder mit dem Doktor gekneipt, Onkel Wanja! Haben ein bißchen pokuliert, die gestrengen Herren! Na, beim Doktor ist man's ja gewohnt … aber du, Onkel? In deinen Jahren macht sich das wirklich nicht mehr nett.

Wojnizki. Die Jahre haben damit nichts zu tun. Wer kein wirkliches Leben kennt, sucht sich wenigstens ein Trugbild des Lebens vorzuspiegeln. Immer besser als nichts.

Sonja. Es regnet Tag für Tag, das Heu verfault uns auf der Wiese – und du unterhältst dich mit Trugbildern des Lebens. Um die Wirtschaft kümmerst du dich gar nicht mehr … Ich muß ganz allein arbeiten, bin schon völlig hin … Erschrocken. Onkel, du hast Tränen in den Augen!

Wojnizki. Was  Tränen? Nicht doch! 

Unsinn … Du hast mich eben ganz so angesehen wie deine verstorbene Mutter … Küßt ihr voll Rührung Gesicht und Hände. Meine Schwester … meine liebe, gute Schwester … wo ist sie jetzt? Wenn sie wüßte! Ach, wenn sie wüßte!

Sonja. Was denn, Onkel? Was wüßte?

Wojnizki. Wie traurig, ach … wie schwer! … Nichts weiter … Später mal … Nichts … Ich will gehen … Ab.

Sonja klopft an die Tür. Michail Lwowitsch! Schlafen Sie? Ach, bitte, einen Augenblick!

Astrow hinter der Tür. Sofort. Nach einer kurzen Pause ins Zimmer tretend, jetzt schon mit Weste und Krawatte. Was befehlen Sie?

Sonja. Lieber Herr Doktor, wenn Ihnen das Trinken Vergnügen macht, dann trinken Sie, soviel Sie wollen, aber animieren Sie, bitte, den Onkel nicht dazu. Es schadet ihm.

Astrow. Schön. Wir werden nicht mehr trinken. Pause. Ich fahre gleich nach Hause. Abgemacht. Bevor Sie angespannt haben, ist's hell draußen.

Sonja. Nicht doch, es regnet ja! Warten Sie bis zum Frühstück!

Astrow. Das Gewitter ist vorüber, wir haben nur ein Pröbchen davon abbekommen. Ich fahre. Rufen Sie mich, bitte, nicht mehr zu Ihrem Herrn Papa. Ich sage ihm – es ist Podagra, und er behauptet, es sei Rheumatismus. Ich bitte ihn, sich hinzulegen – und er sitzt. Und heute wollte er überhaupt nicht mit mir reden.

Sonja. Er ist verhätschelt. Sucht im Buffet. Wollen Sie einen Imbiß nehmen?

Astrow. Wenn ich bitten darf …

Sonja. Ich esse gern in der Nacht ein Häppchen. Es muß doch was da sein im Buffet. Man sagt, er habe bei den Frauen große Erfolge gehabt, die Damen hätten ihn verzogen … Da ist Käse, bitte, nehmen Sie! Beide stehen am Buffet und essen

Astrow. Ich hab heute nichts gegessen, immer nur getrunken. Ihr Vater hat einen schwierigen Charakter. Er langt eine Flasche aus dem Buffet heraus. Ist's erlaubt? Er gießt sich ein Gläschen voll und trinkt. Wir sind allein, da kann ich mal offen reden. In Ihrem Hause könnte ich's, glaub' ich, nicht einen Monat aushalten – ich würde ersticken in dieser Atmosphäre … Ihr Vater, der ganz in seinem Podagra und seinen Büchern aufgeht, Onkel Wanja mit seiner Hypochondrie, Ihre Großmutter, Ihre Stiefmama endlich ...

Sonja. Was ist mit meiner Stiefmama?

Astrow. An einem Menschen soll alles schön sein – Gesicht, die Kleider, die Seele, die Gedanken. Keine Frage, daß sie schön ist … aber sie tut doch nichts weiter, als daß sie ißt und schläft, spazierengeht und uns mit ihrer Schönheit bezaubert. Das ist alles. Sie kennt keine Pflichten, andre müssen für sie arbeiten. Ist es nicht so? Und ein müßiges Leben kann niemals rein sein. Pause. Übrigens - vielleicht bin ich zu streng in meinem Urteil. Ich habe keine Befriedigung gefunden im Leben, ganz wie Ihr Onkel Wanja, und so sind wir beide alte Brummbären geworden.

Sonja. Sie sind also mit dem Leben unzufrieden?

Astrow. Im allgemeinen liebe ich das Leben, aber unser russisches Leben, unser biederes Spießerleben, wie wir es hier auf dem Lande führen – das kann ich nicht leiden, das veracht' ich aus ganzem Herzen. Und was mein eignes, persönliches Leben anlangt, so kann ich, bei Gott, schon gar nichts Erfreuliches darin entdecken. Wenn man in dunkler Nacht durch den Wald schreitet und plötzlich in der Ferne ein Licht erblickt, dann vergißt man alles – die eigne Müdigkeit, und die Dunkelheit und die Dornenzweige, die einem ins Gesicht schlagen … Ich arbeite gewiß – das müssen Sie selbst sagen – wie kein zweiter Mensch im ganzen Bezirk. Das Schicksal spart mir die Dornen nicht, ja ich leide oft unerträglich – aber ich sehe kein Licht, das mir aus der Ferne winkte. Ich erwarte für mich schon längst nichts mehr, ich liebe die Menschen nicht... lange schon liebe ich niemanden …

Sonja. Niemanden?

Astrow. Nein. Nur für Ihre alte Kinderfrau Marina fühle ich eine gewisse Zärtlichkeit – aus Gewohnheit und alter Bekanntschaft. Unsere Bauern sind mir zu stumpf, zu unterentwickelt und zu schmutzig. Mit der Intelligenz hier ist's schwer zu leben … alle unseren guten Bekannten denken und fühlen so kleinlich, sie sehen nicht weiter, als ihre Nase reicht, mit einem Wort – sie sind dumm. Die wenigen aber, die über den Durchschnitt hinausragen, sind hysterisch, vom Geiste der Analyse, von der Sucht zu reflektieren angefressen .. Sie sind von Weltschmerz und Menschenhaß geplagt, leiden an einer krankhaften Verleumdungssucht, nähern sich den Menschen immer nur von der Seite, sehen jedermann scheel an und dekretieren sofort: »O, das ist ein Psychopath!« oder: »Das ist ein Phrasenheld!« Und wenn sie nicht wissen, was für ein Etikett sie einem auf die Stirn kleben sollen, dann heißt es: »Das ist ein Sonderling.« Ich bin zum Beispiel ein Freund des Waldes – das finden sie sonderbar; ich esse kein Fleisch – auch das ist sonderbar. Eine unmittelbare, keusche, ungezwungene Beziehung zu Menschen und Dingen, die gibt's eben nicht mehr … gibt es einfach nicht. Will trinken.

Sonja sucht ihn daran zu hindern. Nicht doch … ich bitte Sie, trinken Sie nicht mehr!

Astrow. Warum?

Sonja. Es steht Ihnen so gar nicht an! Sie sind ein so netter Mensch, haben eine so angenehme Stimme … Ja, noch mehr – Sie sind wie kein einziger von allen, die ich kenne: Sie sind schön. Weshalb wollen Sie ebenso sein wie all die gewöhnlichen Leute, die da trinken und Karten spielen? O, tun Sie das nicht, ich bitte Sie! Sie klagen immer, daß die Menschen nichts schaffen, sondern obendrein das, was ihnen eine höhere Macht verliehen hat, selbst zerstören … Warum … warum wollen Sie sich selbst zerstören? Das darf nicht sein, um keinen Preis … ich bitte, ich beschwöre Sie!

Astrow reicht ihr die Hand. Ich werde nicht mehr trinken.

Sonja. Geben Sie mir Ihr Wort darauf!

Astrow. Mein Ehrenwort.

Sonja drückt ihm fest die Hand. Ich danke Ihnen!

Astrow. Basta! Ich bin nüchtern geworden. Sehen Sie doch, ich bin schon ganz nüchtern und werde bis ans Ende meiner Tage so bleiben. Sieht auf die Uhr. Doch nun weiter im Text … wo hielt ich noch? Ach ja … also ich sage: meine Zeit ist vorüber, es ist vorbei mit mir. Ich bin gealtert, abgearbeitet und fad geworden.

Die Empfindungen sind abgestumpft, sehen Sie – ich glaube nicht, daß ich mich noch irgend jemandem so recht von Herzen anschließen könnte. Ich liebe niemanden und … werde niemanden mehr liebgewinnen. Was mich noch einigermaßen zu fesseln vermag – das ist die Schönheit. Gegen die bin ich nicht gleichgültig. Wenn zum Beispiel Helena Andrejewna wollte … ich glaube, sie könnte mir in einem Tage den Kopf verdrehen. Aber das ist eben nicht Liebe, nicht Anhänglichkeit … Bedeckt mit der Hand die Augen und fährt zusammen.

Sonja. Was ist Ihnen?

Astrow. Nichts weiter … Der Kranke fiel mir eben wieder ein, der mir in der Narkose gestorben ist …

Sonja. Den sollten Sie doch längst vergessen haben! Pause. Sagen Sie mal, Michail Lwowitsch … wenn ich so einen Freundin hätte oder eine jüngere Schwester, und wenn Sie nun in Erfahrung brächten, daß sie … na, sagen wir mal: Sie liebt – wie würden Sie sich dazu stellen?

Astrow achselzuckend. Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich gar nicht … ich würde ihr zu verstehen geben, daß ich sie nicht zu lieben vermag, daß mein Kopf von anderen Dingen in Anspruch genommen ist … Doch wenn ich fahren soll, ist's wirklich höchste Zeit. Leben Sie wohl, Verehrte, sonst kommen wir bis in den hellen Tag hinein mit unserm Plaudern nicht zu Ende. Drückt ihr die Hand. Ich gehe durchs Gastzimmer, wenn Sie erlauben, sonst hält mich Ihr Onkel noch zurück. Ab.

Sonja allein. Er hat mir nichts gesagt … Sein Herz, seine Seele sind mir noch verschlossen … und doch: warum fühle ich mich so beglückt? Lächelt glücklich. Ich sagte ihm: »Sie sind nett, Sie sind schön, Sie haben eine angenehme Stimme« … War das vielleicht unpassend? Seine Stimme hat so etwas Zitterndes, Liebkosendes … ich höre sie nachklingen in der Luft … Und das, was ich ihm sagte … von der jüngeren Schwester - das hat er nicht verstanden... Ringt die Hände. Wie schrecklich ist's doch, daß ich nicht schön bin! Ach, wie schrecklich! Und ich weiß, daß ich es nicht bin, ich weiß es ganz genau … Am letzten Sonntag, als ich aus der Kirche kam, hörte ich, wie man von mir sprach, eine Frau sagte: »Sie ist gut, sie ist edelmütig – nur schade, daß sie so gar nicht hübsch ist!« … Nicht hübsch ...

Helena Andrejewna tritt ein.

Helena Andrejewna öffnet die Fenster. Das Gewitter ist vorüber. Wie köstlich die Luft ist! Pause. Wo ist der Doktor?

Sonja. Er ist fort.

Pause.

Helena Andrejewna. Sophie!

Sonja. Was?

Helena Andrejewna. Wie lange werden Sie mit mir noch schmollen? Wir haben einander doch nichts getan! Warum sollen wir Feindinnen sein? Lassen wir es gut sein …

Sonja. Ich hatte die gleiche Absicht … Umarmt Helena. Wir wollen uns gut sein.

Helena Andrejewna. Von Herzen gut … Das ist ausgezeichnet. Beide sind gerührt.

Sonja. Ist Papa zu Bett?

Helena Andrejewna. Nein, er sitzt im Gastzimmer … Da haben wir nun wochenlang nicht miteinander gesprochen - Gott weiß, weshalb … Sieht das offene Buffet. Was ist denn das?

Sonja. Michail Lwowitsch hat gefrühstückt.

Helena Andrejewna. Da ist ja auch Wein … Kommen Sie, wir wollen Brüderschaft trinken!

Sonja. Mit Vergnügen.

Helena Andrejewna. Aus einem Glase! Sie gießt ein. Also – auf du und du?

Sonja. Auf du und du. Sie trinken und küssen sich. Ich wollte schon längst Frieden schließen, aber es war mir immer peinlich … Weint

Helena Andrejewna. Warum weinst du?

Sonja. Nichts, nur so …

Helena Andrejewna. Sieh doch, sie doch … Weint. Kleine Närrin, hast auch mich zum Weinen gebracht … Pause. Du bist mir böse, weil du meinst, dass ich deinen Vater aus Berechnung geheiratet habe. Wenn du meinen Schwüren glauben willst, dann schwöre ich dir: ich habe ihn aus Liebe geheiratet. Ich verehrte in ihm den großen Gelehrten, den berühmten Mann. Es war eine unechte, künstliche Liebe – damals aber hielt ich sie für echt. Ich fühle mich frei von Schuld. Und du hast mich vom Hochzeitstage an beständig mit deinen klugen, argwöhnischen Augen gequält …

Sonja. Nun, Friede, Friede! Laß uns vergessen!

Helena Andrejewna. Du darfst nicht so dreinschauen – es steht dir nicht! Man muß Vertrauen haben zu den Menschen, sonst kann man nicht leben 

Pause.

Sonja. Sag' mir auf Ehre und Gewissen, als Freundin, bist du glücklich?

Helena Andrejewna. Nein.

Sonja. Ich wußte es. Und noch eine Frage. Sag' mir offen: möchtest du wohl einen jungen Gatten haben?

Helena Andrejewna. Was für ein Kind du noch bist! Natürlich möcht' ich das! Lacht. Nun, frag' mich noch irgendwas, frag'!

Sonja. Gefällt dir der Doktor?

He Ja, sehr.

Sonja lacht. Ich mach' wohl jetzt ein recht dummes Gesicht … wie? Er ist jetzt fort - und ich höre immer noch seine Stimme und seine Schritte, und wenn ich nach dem dunklen Fenster da schaue, glaub' ich sein Gesicht zu sehen. Laß mich mal offen reden … aber ich kann dir das nicht so laut sagen, ich schäme mich. Komm in mein Zimmer, dort wollen wir plaudern … Ich seine dir wohl recht albern, wie? … Sag' mir doch irgendwas von ihm …

Helena Andrejewna. Was denn?

Sonja. Er ist doch so ein kluger Mensch, nicht wahr? Er kann alles, versteht alles … Menschen kuriert er … Bäume pflanzt er …

Helena Andrejewna. Die Bäume machen es nicht, so wenig wie die Medizin. Aber, meine Liebe: Er ist ein Talent! Weißt du, was das ist – ein Talent? Das ist ein Mensch, der Kühnheit und Schwung besitzt, der frei in die Welt hinausblickt … Er pflanzt ein Bäumchen und errät schon, was in tausend Jahren daraus geworden sein wird, träumt schon vom Glück der Menschheit … Solche Menschen sind selten, siehst du – die muß man lieben! … Er trinkt und ist manchmal grob … aber was tut das? Ein talentvoller Mensch kann in Rußland nicht rein bleiben. Bedenk' doch mal, was für ein Leben dieser Doktor führt! Die schmutzigen Straße, die Fröste, die Schneestürme, die weiten Entfernungen, das rohe, wilde Volk, die Krankheiten … wie kann ein Mensch, der unter solchen Umständen Tag für Tag schwer arbeitet, bis zu den Vierzigern ein Musterknabe bleiben? Küßt sie. Ich wünsch' dir von Herzen Glück, du verdienst es … Erhebt sich. Ich bin nur eine Episodenfigur, siehst du, und eine langweilige dazu. In der Musik, im Hause meines Gatten, in meinen Herzensromanen – überall, mit einem Wort, war ich nur eine Episodenfigur. Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, Sonja – ich bin sehr, sehr unglücklich! Geht erregt auf und ab. Es gibt für mich kein Glück in dieser Welt … Warum lachst du?

Sonja lacht, bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. Ich bin so glücklich … so glücklich!

Helena Andrejewna. Ich möcht' etwas spielen … ich habe solche Lust, ein wenig zu musizieren …

Sonja. Spiel'! Umarmt sie. Ich kann nicht schlafen ... Spiel'!

Helena Andrejewna. Dein Vater schläft nicht. Wenn er krank ist, regt ihn die Musik auf. Geh, frag' ihn. Wenn er nichts dagegen hat, spiele ich. Geh!

Sonja. Gleich. Ab.

Im Garten hört man das Klopfen des Wächters.

Helena Andrejewna. Ich habe schon lange nicht mehr gespielt. Ich werde spielen und weinen, weinen wie eine Närrin. Zum Fenster hinaus. Bist du's, Jefim, der da eben klopfte?

Stimme des Nachtwächters. Ich bin's.

Helena Andrejewna. Laß das Klopfen, der gnädige Herr ist krank.

Stimme des Nachtwächters. Gleich geh' ich. Pfeift die Hunde herbei. Heda, Maltschik, Schutschka!

Sonja kommt zurück. Er erlaubt es nicht.

Vorhang.


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