Robert Byr
Lydia
Robert Byr

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Auch die Hauptstädte der freien Kantone der Schweiz haben ihre Hof- und Galatage. Einen solchen feierte St. Gallen. Die altberühmte, schmucke und gewerbfleißige, aber ziemlich stille Stadt schien von einem Zauberstabe berührt und hatte ihr schönstes Festgewand angetan, die von allen Seiten herzuströmenden Gäste würdig zu empfangen.

Tannengrün und Blumen, Teppiche und Stoffe in allen Farben und mannigfaltigster Anordnung verzierten Straßen und Häuser. Allüberall flatterten Fähnchen und Flaggen bunt durcheinander, und auf den breiten, unregelmäßigen, sonnbeschienenen Plätzen mit ihren stattlichen Neubauten, den heiteren, villengeschmückten Außenstraßen, wie in den mitunter engen, winkligen Gassen der Altstadt, wo tiefe Schatten hineinfielen und die altertümlichen, kleinen Häuser mit ihren steinernen Erkern, phantastischen Ballonen und steilen Hohlziegeldächern noch schärfer profilierten, 405 waren damit eigentümliche und anziehende Effekte erzielt.

Ein ganzer Wald von jungen Fichten und Kiefern rundete die einspringenden Ecken des großen Hauptplatzes ab, und dichte Menschengruppen zogen von hier langsam, beinahe Schritt für Schritt, an den reichgeschmückten Gebäuden vorüber und durch die farbenreichen, malerischen Gassenprospekte hin, alles besehend, alles bestaunend und ergötzt von mancher Absonderlichkeit. Hier und dort zeigten die Verzierungen den sinnigsten Geschmack oder auch wohl den Prunk des Reichtums; wo aber das Geld nicht reichen wollte, hatte schließlich der Humor aushelfen müssen. Inmitten dünner Efeuranken, die eine ruinenhafte, zum Abbruch bestimmte Mauer nicht zu verstecken vermochten, tröstete der verheißungsvolle Spruch: »Später wird's schöner.«

Der Sprüche gab es überhaupt überall, wohin das Auge blickte, an den Häusern, an den Toren, an den quer über die Straße gezogenen Girlanden, nicht selten mit gelungener epigrammatischer Wendung, zuweilen sogar mit politischer Spitze, von deren Harmlosigkeit sich aber niemand verletzt fühlen konnte. Und vor jeder solchen Inschrift drängten sich festfreudige Leser, das Landvolk namentlich nahm's damit gar ernst und wollte keine unbeachtet lassen. So schob sich das Gedränge nur langsam vorwärts.

Mitten unter den heiter plaudernden Leuten kam dann eine Schar fremder Gäste; auch die Kolonie in Heiden hatte, wie jeder Nachbarort, sein Kontingent gestellt. Musternd und kritisierend durchschritten diese 406 sich meist eng zusammenhaltenden Gruppen die Stadt. Vor allem waren es die festlich geputzten Schweizer selbst, welche die Schaulust erregten, aber auch die mannigfaltigen Darstellungen und symbolischen Ausschmückungen. Die Hauptrolle spielte natürlich in Bild und Wort der Schützenkönig Tell für diese Tage, wo ja alles Schütze sein mußte, der »Berner Mutz« sogar, der vielleicht schon jahrhundertelang als friedlicher Brunnenwächter die durstige rote Zunge herausstreckte und von der spottlustigen Welt gar possierlich mit Käppi, Stutzen und Patrontasche entsprechend zum tapferen Landesverteidiger herausstaffiert worden war.

»Ach wie nett! Findest du nicht auch, Odo? Eine köstliche Idee.«

Der Kranke, über dessen Rollwägelchen sich die junge Frau jeden Augenblick herabbeugte, um ihn auf dies und jenes aufmerksam zu machen, mußte auch hier seine Beistimmung erklären. Wohl wäre er selbst lieber von diesem Ausfluge zurückgeblieben, doch das liebevolle Drängen der Gattin hatte wieder einmal gesiegt. Die Luft, die Bewegung, die Zerstreuung konnten ja nur gut tun. Lydia hatte es aufgegeben, dagegen anzukämpfen, da selbst der Arzt nach einigem Kopfschütteln achselzuckend die Meinung ausgesprochen hatte, versuchen könne man es ja, die Lähmung sei gewichen – wenn der Patient sich schone und man beizeiten an die Heimkehr denke – obwohl man genau achtgeben müsse –

Den Rest der Bedenken übertönte Jennys fröhliches Beifallklatschen. Sie hatte es ja gesagt. und nun durfte sie sich auf die Autorität berufen.

407 Es war auch deutlich zu merken, wie, seit sie nun die schattig-kühlen Gassen durchzogen, die Abspannung, die sich während der etwas langen Fahrt bei dem Rekonvaleszenten einstellte, gewichen. Das war doch alles so allerliebst, so hübsch, und mußte anregend wirken. Keine Anstrengung! Nein, gewiß keine Anstrengung. Mit der Stadt war man ja fertig, nun nur noch ein Weilchen auf den Festplatz, dann kehrte man, strikt wie verordnet, noch beizeiten heim.

»Doch hier noch eine Minute! Ach Gott, wie reizend das arrangiert ist! Nicht wahr, Odo? – Nein, und dieses zierliche Chörchen an dem alten Hause da! Nur einen einzigen Augenblick! Schade, daß unser Architekt, Herr Rodek, nicht mitgekommen ist, um uns eine kleine Erklärung zu geben. – Nein, nein, nicht Sie, lieber Graf; Sie verstehen ja nichts davon und blamieren sich gräßlich. – Ach, einzig! Sieh doch, Odo!« –

Endlich hatte man aber doch wieder die harrenden Wagen bestiegen, nur einige von den jüngeren Herren wollten den Weg zu Fuß machen und wurden alsbald von der Flut der Dahinwandernden verschlungen. Es war ein Wimmeln und Wogen auf der breiten, meist zwischen freundlichen Landhäusern laufenden schnurgeraden Straße, die, wohl eine halbe Gehstunde lang, beiderseits von bewimpelten Masten umsäumt, mit dem unabsehbaren Menschenzuge und der endlosen Wagenreihe eine überraschende Perspektive bot.

Die junge Frau war entzückt. Das war ein ganz andrer Anblick, als die Straße erst vor einer Stunde geboten. Damals saßen die meisten Leute noch bei 408 Tisch, in den Gasthäusern und Schenken, jetzt strömte alles zum Schießplatze hinaus. Von allen Höhen grüßten Flaggen, über jedem Häuschen an den grünen Lehnen wehten die Schweizer Farben, das weiße Kreuz im roten Felde. Die ganze Welt lachte in heller Festesfreude.

»Und um diesen schönen Tag hast du Gero gebracht!« wandte sich Jenny an ihre Schwester. Sie hatte sich lange an den bunten Bildern, an dem Gewühle frohherziger Menschen und den mitunter wunderlichen Erscheinungen geweidet, aber der Wagen rückte nur allmählich vor. Lydia verhielt sich schweigsam, und auch Baron Sarnberg hatte sich, von Sonnenschein und Staub belästigt, ein wenig müde in die Ecke gelehnt. Da machte sich denn die Lücke recht fühlbar, welche durch des gewohnten Gesellschafters Abreise entstanden. Lydias Einwendung, sie habe ihn ja nicht zu derselben genötigt, war eben nur geeignet, den schwesterlichen Unmut gegen sie zu schüren. »Wer sonst als du? Seine Berge hätten immerhin noch warten können, und er würde sie dir auch ganz geopfert haben, wenn du nur den Wunsch ausgesprochen. Statt dessen hast du ihn aber Knall und Fall vertrieben. Es würde mich gar nicht wundernehmen, wenn er endlich deiner Kapricen und Unstetheiten überdrüssig würde und sich deine Launen nicht weiter gefallen ließe.«

Mit seinem Lächeln nahm die Getadelte den in den letzten Stunden schon mehrfach wiedergekehrten Vorwurf auf, doch lautete ihre Antwort ruhig und ernst:

»Es ist keine Laune, sondern ein klar überlegter, fest gefaßter Entschluß.«

409 »Aber so sage doch nur, was dich zu solch unbegreiflicher Weigerung bringen konnte? Daß du keine Neigung für ihn fühlst, ist nicht wahr. Wenigstens kann von Abneigung keine Rede sein, du verstehst dich mit ihm, er ist dir sympathisch, das bleibt die Hauptsache. Mehr habe ich auch nicht empfunden, als ich Odo heiratete.«

»Am Ende ist es noch heute so,« ließ sich dieser mit einem leisen Seufzer vernehmen.

»Oh, wie abscheulich! Da sieh den häßlichen Mann! Meine Liebe bezweifeln, als ob ich sie dir nicht jahraus, jahrein, täglich, stündlich, ja jeden Augenblick bewiese. Ich sagte ja nur: als ich heiratete. In der Ehe ist das ganz anders, da lernt man die Liebe erst kennen, da entwickelt sich erst das Gefühl. Wie es mir ergangen, ist es Tausenden ergangen. Und ich möchte wissen, warum man mit Gero nicht glücklich werden sollte? Spanne deine Ansprüche noch so hoch, und am Ende wirst du noch unter all unsern Bekannten in ihm die meisten Vorzüge vereinigt finden. Er ist vom besten alten Adel – ein Wingerode eben – und reich wie ein Fürst. Denn unser Familienbesitz ist noch lange nicht alles. Jeden Einfall könnte seine Frau befriedigen, es könnte niemand beneidenswerter sein. Gero ist vielleicht nicht sehr geistreich, aber um so besser, so wird ihn doch nie der Ehrgeiz erfassen, eine politische Rolle zu spielen, und neben einem geistreichen Mann nimmt die Frau immer nur einen untergeordneten Platz ein; sie muß gewaltige Anstrengungen machen, um nicht dumm auszusehen. Den Geist behalten die Männer ohnedies für die Welt 410 – unter vier Augen merkt man oft gar wenig davon. Dafür ist Gero aber gutherzig, er würde ein sehr aufmerksamer Gatte sein. Und schön ist er auch, blond, aber das steht ihm gut, und welch ein Wuchs! Diese prächtig entwickelte Gestalt – einer von den antiken steinernen Sportsmen in den Galerien, nur daß er keine Marmorstatue ist, sondern wirklich lebt – voll Muskelfülle und Spannkraft, und dabei höchst elegant, immer das Neueste, alles comme il faut, Handschuhe von Paris, Kleider von London und Chaussure von Wien! Ich weiß wahrhaftig nicht, was man an ihm auszusetzen hätte.«

Lydia nickte leise vor sich hin. – Was wohl zu dieser Schilderung derjenige gesagt hätte, der ihr so direkt gemildertes Urteil über dies bewegliche, leichtherzige Wesen hart genannt hatte!

Auch auf Jennys Gatten war diese gründliche Vertiefung in die Eigenschaften eines andern Mannes nicht ohne Eindruck geblieben. Das schmerzliche Lächeln von vorhin zuckte wieder um die matten Lippen.

»Ich wünschte nur, daß du an mir ebensoviel gute Seiten entdecktest, wenn du mein Porträt zu malen hast.«

»O du Undankbarer!« schmollte die bei ihren Lobreden nach und nach in Eifer Geratene ein wenig errötend. »Es ist abscheulich, so empfindlich und eifersüchtig zu sein. Du verdienst gar nicht, daß man dich so sehr liebt. Jetzt bekommst du auch keinen Kuß.«

Im offenen Wagen hätte derselbe allerdings einigermaßen Aufsehen erregt, doch das würde für die lebhafte, erregbare junge Frau am Ende kein Hindernis gewesen 411 sein, aber ihre Aufmerksamkeit war jetzt anderweitig in Anspruch genommen. Die Fahrt hatte ein Ende.

Auf weitem grünem Wiesenplan zwischen bewaldeten Kuppen war außerhalb der Fabrikvorstadt St. Fiden eine zweite Stadt über Nacht aus der Erde gewachsen, um nach einem kurzen Blühen und Gedeihen von einer Woche zu verschwinden. Eine Stadt der Freude und des Genusses. Lust und Leben führten hier die Herrschaft.

Luftig auf einer Anhöhe stand die Festhalle. Der rohe Bretterbau hatte durch geschickte Nachhilfe ganz stattliche architektonische Formen angenommen. Ein leiser Wind schwellte die mächtigen Banner auf den beiden Türmen und die unzähligen Wimpel, die in den Farben aller Länder rings um den Bodensee all den befreundeten Nachbargästen frohen Willkommen boten. Das Bankett war bereits vorüber, aber noch weilten einzelne Gruppen in der Halle an den langen, von rotmützigen Kellnern flink umstreiften Tischen. Da gab's noch Wiedersehen zu feiern, junge Freundschaften zu schließen, und über manche Flasche, die ihrer Erlösung auf dem Eise entgegensah, tönte noch das Echo der während des Mahles gehaltenen Reden, ohne daß sich jemand von der im Mittelgange neugierig hindurchströmenden Menge stören ließ. Heitere Tonweisen durchfluteten, die Stimmen übertönend, das luftige Sparrenwerk. – Da krachte ein Böller, das Zeichen zum Beginn des Scheibenschießens, und ein ohrenbetäubendes Knittern und Knattern ging nun auf einmal los.

Baron Sarnberg saß wieder in seinem Rollwagen, 412 der Diener, welcher ihn schob, schlug die Richtung nach der jenseits einer kleinen Bodensenkung gelegenen Festwiese ein, und die Gesellschaft, die den Ausflug gemeinsam unternommen und sich hier wieder zusammengefunden, folgte dem allgemeinen Zuge. Immer stärker ward das Geknalle, je näher sie dem langgestreckten Schießstande kamen; das Pfeifen der fliegenden, das Geprassel der einschlagenden Geschosse wirkten unheimlich.

Hundertsechzig Posten nebeneinander und auf jedem steht ein Schütze im Anschlag! Hier und dort hebt sich das Gewehr und die Kugel fliegt dem Ziele zu – Schuß auf Schuß in ununterbrochener Folge.

»Wie, wenn dort drüben Menschen stünden!« sagte Baron Sarnberg düster.

Ein Schauer überrieselte Lydia.

»Furchtbar!« hauchte sie.

Wie aus der säuselnden Luft flüsterte eine Stimme ihr zu: »Ein Arzt muß Blut sehen können.«

»Wie du nur solch melancholischen Gedanken nachhängen kannst!« hielt die Baronin ihrem Manne vor. »Du mußt dich aufheitern. Wir sind ja dir zuliebe hierhergekommen, und nun verdirbst du dir und uns die Freude.«

»Ja, lieber Freund,« fiel der Graf ein, »ich wette, daß von all den teuern Schützenbrüdern keiner Ihre Auffassung teilt und daran denkt, wofür er sich übt. Da steckt jedem nur ein ›Best‹ im Kopfe. Sehen Sie nur, wie alle aufmerksam zählen.«

»Hurra! Hurra! Hoch!« Wie anschwellendes Meeresgebrause ging's durch die weite Halle und wälzte sich von einem Ende zum andern.

413 Der erste Becher ist ausgeschossen!

Immer höher schwillt der Jubel und trägt den Namen des Glücklichen, Bewunderten, Beneideten von Mund zu Mund, von der Halle hinaus zu den Spaziergängern, zu den Zechern, den Schaulustigen, in der Volksmenge hin, über den ganzen weiten Plan.

Ein großer Jahrmarkt lockt da draußen. Zur Linken gegen die Stadt zu Stand an Stand aus lose gelegten Brettern, lange Gassen, in denen das Landvolk wimmelt. Hier kauft das städtisch geputzte »Maidschi« blaue Seidenbänder, der Bursche seine roten Hosenträger, der durch seine Tracht weithin kenntliche Senn den breiten Ledergurt mit den blanken Messingkühen darauf. Kuchen, Hüte, Kinderspielzeug und Schuhwaren, Liköre, Gebetbücher und Basler »Leckerli«, alles findet seine Liebhaber. Auf der andern Seite sind die Schaubuden in regelrechte Straßen geordnet. Der Matrose da gibt eine naturhistorische Abhandlung über die hinter dem Segeltuche plätschernden Seehunde zum besten, gegenüber exerzieren Kanarienvögel ihre Kunststückchen, mit denen sie das tägliche Brot erwerben, welches der »Wilde« dort an der Ecke stolz verschmäht. Ihn ergötzen nur rohe Fische und unschuldige, ungebratene Tauben, wozu er sich die Tafelmusik auf dem grausen Muschelhorn selbst besorgt. In hohen Fisteltönen ladet hier ein halbwüchsiger Junge zu einer Schachpartie mit dem berühmten Automaten, dort verzerren gespenstige Wachsfiguren ihre leichenstarren Gesichter. Dressierte Hunde und Pferde wetteifern miteinander an Gelehrtheit, lebende und ausgestopfte Ungeheuer an 414 Widernatürlichkeit, und ein unvermeidlicher Photograph liefert mit taschenspielerischer Geschwindigkeit Soloporträt und Gruppenaufnahmen von glücklichen Liebespaaren. Nicht weniger als fünf Riesinnen machen sich in nächster, zum Vergleiche herausfordernder Nachbarschaft die Palme der Jugend, Kraft und Gewichtigkeit streitig. Vor Menagerien kreischen Papageien und Affen, vor Panoramen und Museen mit ihren schreienden Aushängebildern verstimmte Leierkasten; die türkische Trommel dröhnt den Grundbaß zu dem Zithergeklimper, das in der Bierhalle unter dem grünen Reisigdache die dralle Tirolerin den zusprechenden Gästen spendet. Dazwischen tönt wohl in einer augenblicklichen Pause das Brüllen einer Hyäne und der leise Kapselkrach der Zimmergewehre, mit denen um Messer und Gipspfeifen geschossen wird. Schreien und Singen, Angst und Jubelrufe, Lachen und Kindergeplärr, dazu das vereinzelte Knallen und dann wieder rasch folgendes Nachrollen der Schüsse – ein tolles Chaos voll Lust, Farbe und Lärm, in dem sich die unübersehbare Menge unermüdlich hin und wieder treibt, Lebenslust in jedem Blicke, Begehren auf jeder Lippe, Freude in jedem schweißperlenden Angesicht.

Selbst den kühler dreinsehenden vornehmen Besuchern hatte sich etwas von dieser elektrisierenden, berauschenden Gesamtstimmung mitgeteilt; ganz besonders entzückt war Jenny, und sie konnte es nicht begreifen, daß ihr Gatte die Empfänglichkeit für den Reiz dieses Schauspiels verloren hatte. Sie meinte ihm noch dies und jenes zeigen zu müssen, und war 415 fast ungehalten, als er behauptete, daß ihm von all dem Sonnenschein und der Unruhe schon die ganze Welt vor den Augen zu schwirren beginne. Solch deutlicher Äußerung der Erschöpfung aber mußte sie endlich doch nachgeben und den Rückweg nach den Wagen einschlagen.

Da ergoß sich eben schon ein Menschenschwall unter neuem Jubelsturm über die improvisirte Brücke, die zur Festhalle und dem Gabentempel führte. Der voranschreitenden Militärmusik folgte, scheinbar hoch zu Roß, der glückliche Schütze, der, eine Fahne in der Linken und in der Rechten den errungenen Silberbecher schwenkend, freundlich von den Schultern zweier stämmiger Enthusiasten auf die ihn mit begeisterten Hochrufen empfangenden Zuschauer herablächelte.

»Im Grunde genommen doch kein ganz müheloses Ehrenamt, solch eines Schützenkönigs!« meinte Graf Marchegg. »Wenn er so fortmacht, kann er sich bis Ende der Woche einen Wolf geritten haben.«

Dem Scherze aber ließ er die Mahnung folgen, doch noch beizeiten die Preise zu besehen, ehe sie davongetragen seien, und selbst Herr von Sarnberg ergab sich ohne Einwendung. Er konnte ja immerhin unten warten, indes seine Frau ihre Neugier oben auf der Rundgalerie des Gabentempels befriedigte.

Dazu war aber nicht so leicht zu kommen. Alles umdrängte den schlanken Säulenbau und wollte zu gleicher Zeit hinan, so daß die von oben Zurückkehrenden kaum die Menschenmauer durchbrechen konnten. Zwei Strömungen gab's hier, die eine freiwillige Bewegung fast zur Unmöglichkeit machten. Im Nu war die kleine 416 Gesellschaft zerrissen. Eine Woge hatte Lydia an den Fuß der Treppe getragen. Doch hier staute sich wieder alles, da Schildwachen die Herzudrängenden nur nach und nach in kleinen Häuschen hinanließen.

»Lueg, Uli, des muescht der merche,« sagte ein brauner, barhäuptiger Appenzeller Senn, der neben Lydia stand und dessen rote Weste zu den sonntäglich weißen aufgerollten Hemdärmeln einen frischen Kontrast bildete, indem er sein Söhnchen mit kräftiger Faust über all die Köpfe emporhob. »Chanscht's lesa? Des isch amal schön!« und den auf der Tempelpforte angebrachten Sinnspruch lesend, gab er ihn gleich auch in seinem biderben Dialekt zum besten:

»Ohn' Glück und Gunscht
Ischt alle Kunscht umsunscht.«

Beistimmendes Murmeln gab's hier und dort.

»Eine ganz pessimistische Weltanschauung,« ließ sich da eine Stimme vernehmen, die Lydia bekannt schien. »Meinen Sie nicht, Fräulein Wilma? Sie paßt gar nicht zu diesen prächtigen Gestalten. Welche Kraft, welche Gesundheit und durchweg – Vegetarianer! Nichts als Milch, Käse und Kartoffeln! Ist das nicht bewundernswert?«

Ehe noch eine Antwort erfolgte, kam eine Woge. Die Soldaten auf ihren Posten hatten die Passage wieder einmal freigegeben, und in demselben Augenblick, wo sie Professor Köchle und an seinem Arm Wilma Schneppe zu erkennen glaubte, fühlte sich Lydia auch schon fast ohne ihr Zutun die Stufen hinaufgetragen, während unten die nächste Woge aufbrandend zurückschlug.

417 Jetzt erst ließ Lydia Miß Marys Arm los, deren Bitten sie allein verhindert hatten, möglichst rasch den Rückweg aus der sie einpferchenden Menschenmasse zu suchen. Die beiden Mädchen konnten nun wieder freier aufatmen und sich den zirkulierenden Gruppen im Säulenrundgang, wo die Gaben ausgestellt waren, anschließen. Lydia, die etwas weniger Interesse für all die Waffen, Uhren, Platten, Service, Bestecke, Becher und Geldkassetten hatte und ziemlich flüchtig an all den Herrlichkeiten in Gold und Silber vorüberstreifte, ließ ihre Gefährtin bei deren pedantisch aufmerksamer Prüfung bald zurück. Sie betrachtete sich eben eine hübsche Jagdtrophäe, als sie sich plötzlich angesprochen sah.

»Ah, also auch herüben? – Ich habe die Damen schon früher bemerkt. Natürlich, ein so hübsches Fest!«

Es war niemand anders als Frau Schneppe, die hier das Recht der Wiederbegegnung geltend machte und endlich die ihr bisher immer versagte Gelegenheit zu einer Anknüpfung gefunden zu haben glaubte. Lydia zeigte jedoch nicht die geringste Neigung, eine niemals stattgehabte Bekanntschaft hier nachträglich so aus dem Stegreif anzuerkennen. Sie grüßte nur mit kalter Artigkeit und wollte ihren Weg fortsetzen, daran wurde sie aber durch Frau Schneppe verhindert, deren Gefühle unter dieser abweisenden Behandlung keineswegs an Freundlichkeit gewannen.

»Sie haben, wie ich sehe, Ihre Gesellschaft verloren; wenn Sie erlauben, begleite ich Sie ein Stückchen.«

»Ich danke sehr, ich glaube mich allein zu ihr zurückfinden zu können.«

418 Ein boshaftes Aufblitzen der kleinen Augen verriet den Ärger, welchen Frau Schneppe über diese stolze Ablehnung empfand, aber ihre dünnen Lippen behielten das süßsaure Lächeln bei.

»Ja, ja, die jungen Damen haben recht viel Selbstvertrauen, aber es könnte doch einmal zu Falle kommen. Ich habe meine Tochter auch nicht außer Augen gelassen, obwohl ich sie in bester, solidester Begleitung weiß. Man ist an solchen Tagen allerlei Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Na, wir können ja auch hier ein wenig stehenbleiben, wenn es Ihnen nichts verschlägt. Das Zusammentreffen fügt sich doch gar zu gut, denn ich war schon im Zweifel, ob ich Ihnen nicht schreiben sollte, um Sie zu warnen. Ja, zu warnen, denn ich meine es gut mit Ihnen, liebes Fräulein – zu warnen.«

»Und wovor, wenn ich bitten darf?«

»Man erfährt so allerlei, und ich halte es wirklich für meine Pflicht – obwohl Herr Professor Köchle sein Freund ist und ich alle Achtung vor dem Herrn Professor hege, der wirklich ein ausgezeichneter Mensch ist – so glaube ich doch nicht, daß hier das Sprichwort gilt: ›Sage mir, mit wem du umgehst‹ – Herr Rodek ist von ganz anderm Schlag und nimmt es mit der Moral vielleicht nicht so genau, und wenn der durch einen schlimmen Streich, den er Ihnen spielt, sich zu rächen vermag, so tut er es auch – schon aus Haß gegen die Aristokratie.«

Erst mit Ungeduld, dann mit wachsendem Erstaunen hatte Lydia diese Rede mit angehört, aus deren Umschweifen sie nicht klug zu werden vermochte. 419 Der Schluß aber trieb ihr eine Welle ihres stolzen Blutes ins Antlitz.

»Herr Rodek hat einen viel zu edeln Charakter, um eine Feigheit zu begehen. Übrigens wüßte ich nicht, was er zu rächen haben soll. Das muß ein Irrtum sein.«

Lydia hatte nicht daran gedacht, welche Blöße sie sich gab, indem sie so lebhaft für Werner eintrat, sie folgte eben nur einem unwiderstehlichen Drange dabei; Frau Schneppe aber lächelte schadenfroh.

»O nein, kein Irrtum. Ich sehe übrigens, daß ich eben zurechtkomme. Er könnte sonst mit Ihnen am Ende dasselbe Spiel treiben wie Ihr Herr Vater vor Jahren mit seiner Tante, die wohl auch durch ein Eheversprechen gekirrt wurde und es dann büßen mußte. Mein Gott, ein vornehmer Herr und ein armes Mädchen! Es ist immer wieder die Geschichte von Faust und Gretchen. Lassen Sie sich in Breslau nur von Sophie Weiße erzählen.«

»Sophie Weiße?«

»Ja, sie hat sich aus Gram und Scham in die Oder gestürzt, und ihr Schwager, der alte Herr Rodek, hat sich wegen der Schande erschossen, und weil er Knall und Fall entlassen wurde. Andre sprachen gar von einem Jäger des Landrats – aber daran glaube ich nicht. Sehen Sie, liebes Fräulein, das vergißt Ihnen der Sohn nicht, und wenn er freundlich mit Ihnen tut, so weiß er, warum. Nehmen Sie sich in acht!«

»Sie haben wohl geträumt,« versetzte Lydia mit der hoheitsvollen Ruhe einer Königin, wandte sich ab und ließ die Verblüffte stehen.

420 Aber als ihre Hand sich auf Miß Marys Arm schob, da zitterte sie, kein Zug von Trotz lag mehr in dem bleichen Gesicht, und hätte Frau Schneppe in diese verstört blickenden Augen sehen können, so wäre ihr Ingrimm über den stumpf abgeglittenen Pfeil rasch in jubelnde Schadenfreude verwandelt worden.

Lydia wußte selbst nicht, wie sie sich aus dem Gedränge gefunden, fast ohne Bewußtsein dessen, was sie tat, nahm sie auch ihren Sitz im Wagen ein – diesmal jedoch nicht mit Schwester und Schwager zusammen. Der letztere sah sehr angegriffen aus und sollte größere Bequemlichkeit auf der Rückfahrt haben. Bis der Fahrsessel aufgeschnürt war, hatte sich der erste Wagen bereits in Bewegung gesetzt. Die jungen Leute wollten das Fest so früh noch nicht verlassen, und so blieb Mistreß Huxley bei ihnen, der Reverend aber war mit den Zehen unter den eisenbeschlagenen Absatz eines derben Bauernschuhs geraten, und Miß Edith Boswell hatte das Volksgewühl überhaupt sehr unfein gefunden, wie sie sagte, in Wirklichkeit aber wahrscheinlich nur die Vertraulichkeit, mit der Graf Marchegg der Zitherspielerin aus dem Zillertal ihre »Gstanzln« ablernen wollte; so waren denn, da ihr Verehrer natürlicherweise ihren Geschmack teilen mußte, mit Lydia die vier Plätze besetzt.

Der Graf war sehr heiter und gesprächig während der Fahrt und beschrieb zum großen Erstaunen Master Huxleys seine wunderbaren Zentrumschüsse nach allen Scheiben Österreichs und Deutschlands. Lydia hörte die Worte nur wie das Knattern der immer 421 ferner und ferner verhallenden Schüsse. Sie wiederholte im stillen unablässig die Mitteilungen, welche sie scheinbar mit so viel kühler Gleichgültigkeit aufgenommen hatte und die doch ihre Seele bis auf den Grund aufwühlten.

Die erste Bestürzung war schon nach kurzem wieder größerer Gefaßtheit gewichen. Das empörte Blut schalt über die Leichtgläubigkeit und das kleinmütige Verzagen gegenüber der frechen Anklage, die eine nur allzu milde Abfertigung erfahren.

Wenn es auch klar war, daß allein die Bosheit in dem Wunsche, sich wenigstens an irgendeinem Mitgliede jener verhaßten übermütigen Koterie zu rächen und demselben eine schmerzhafte Wunde beizubringen, ebenso unbeholfen als unziemlich die Warnung zum Vorwande genommen, so blieb diese letztere doch nicht minder verletzend. Lydia aber übersah zuerst die Beleidigung in dem heftigen Sturm, der sie erfaßte; jetzt verachtete sie dieselbe, nur der Inhalt dieser bösen Einflüsterung beschäftigte sie unausgesetzt.

Gewiß, es war eine Lüge – es konnte nicht so sein, wie da erzählt worden! Ihr Vater, der streng rechtliche Mann mit dem edelsten Charakter – eine solche Handlung begehen? Unmöglich! Hätte man ihm dann die hohe Achtung gewährt, von deren Kundgebungen sie so oftmals selbst Zeuge gewesen! Wie aber konnte ein solches Gerücht entstehen? Denn eine derartige ehrenrührige Verleumdung aufs Geratewohl erfinden und ausstreuen, das wagte dies tückische, klatschsüchtige, dabei aber furchtsame und sicherlich jede Verantwortung scheuende Weib nicht! Gab es einen 422 Kern, dessen sich die Mythenbildung bemächtigt hatte? Die zischende Schlange hätte gefaßt und zur Rede gestellt werden müssen, so würde ein Mann gehandelt haben – nun war der Moment durch eine Regung weiblicher Schwäche versäumt, wie sich Lydia zum Vorwurf machte. – Gewißheit aber wollte sie wenigstens erlangen.

Sobald sie den Wagen verließ, fragte sie nach Werner. Er war ausgegangen. Eine Sekunde besann sie sich, dann trat sie bei seiner Mutter ein. Welcher Gegensatz da in dem stillen, dämmerigen Zimmer zu dem unruhigen Farbenkaleidoskop, von dem sie kam! Ihr war, als umfange der Friede hier besänftigend auch ihr Gemüt.

Die Augenkranke hatte, wiewohl eine Binde ihr noch alles Licht benahm, doch mit geschärftem Ohr die Eintretende sofort erkannt. Sie löste die auf dem Schoß ineinander geschlagenen Finger und streckte ihr freundlich die Hand entgegen.

»Schon zurück? So früh? Es ist doch hübsch gewesen. Sie müssen mir recht viel erzählen. Es ist wirklich schade, daß Werner nicht auch mitging.«

»Ihn habe ich eigentlich gesucht. Ich wollte eine Frage an ihn stellen,« erklärte Lydia.

»Das wird ihm leid tun. Er ist eben erst ausgegangen; ich habe ihn fortgetrieben. Er hat wieder den ganzen Tag gearbeitet. Freilich sagt er, es müsse sein und er hat mich sogar vorbereitet, daß er mich auf ein paar Tage verlassen dürfte, weil sein persönliches Eingreifen nötig erscheint, wenn Schaden verhütet werden soll. Nun, ich darf nicht fordern, daß 423 er mir noch größere Opfer bringe – jetzt kann ich ja auch geduldig warten.«

»Als ob Sie das nicht immer getan hätten!« entgegnete Lydia weich. »Ich wollte, Ihr Beispiel übte auch auf mich eine heilsame Wirkung.«

»Sie sind jung, liebes Kind. – Aber nun auch die Frage, denn ich merke es wohl an der Hand, wie sehr Sie aufgeregt sein müssen.«

»Ja, die Frage können auch Sie mir beantworten. Als Kinder hatten wir eine Erzieherin, ich erinnere mich noch recht gut ihrer. Unsre liebe, gute Sophie – Sophie Weiße glaube ich. –War das Ihre Verwandte?«

Die alte Frau war sehr ernst geworden.

»Ja – meine leibliche Schwester – aus meines Vaters zweiter Ehe – aber wie –«

»Und ist es wahr,« unterbrach Lydia Frau Rodek, sogleich aber auch mit durchbrechender Leidenschaftlichkeit sich selbst: »Nein, nein, es ist nicht wahr, daß mein Vater Sophie – Ihre Schwester zum – zum Selbstmord getrieben hat.«

»Zum Selbstmord? – Du lieber Himmel, wer sagt das?«

Die alte Frau hatte entsetzt die Hände gefaltet.

»Und nicht nur sie, auch Ihren Gatten,« bestätigte Lydia, und nun wiederholte sie mit Hinweglassung der gegen sie selbst gerichteten Spitze die angebliche Enthüllung Wort für Wort in überstürzender Hast.

Ihre Zuhörerin war sichtlich betroffen und entrüstet.

»Oh, das ist bös – sehr bös, solche Nachreden zu verbreiten!«

424 »Es ist also alles – alles nur eine Lüge!« rief Lydia aufatmend und ließ sich nun auch auf den Sessel neben der alten Dame nieder. Diese hob die Stirn von den Händen und suchte die Bitterkeit erst zu verwinden.

»Nein, alles nicht,« sagte sie leise und ihre Stimme mühsam festigend zu Lydia, welche diese Worte wie einen Stich empfand. »Aber so schlimm – so gar schlimm war's nicht. Das ist eine häßliche und böswillige Entstellung. Es ward uns durch Gottes Ratschluß eine schwere Prüfung auferlegt – aber daß eines sich dagegen aufgebäumt und mit eigner Hand – nein, so unchristlich ist keines gewesen, nicht meine arme Schwester, die mit frommer Ergebung ihr Los getragen bis ans Ende, und nicht mein braver Mann, der ebensowenig wie sie eine Ursache gehabt hätte, sich hinterrücks aus dem Leben fortzustehlen. Nein, Gott sei Dank, zu schämen brauchten wir uns nicht, und wenn's in den Augen der Leute eine Schande war, die uns widerfuhr, so war sie unverdient und nicht durch unser eignes Verschulden über uns gekommen. Von uns hat keines nach der Ehre gelangt, daß sie sich uns dann zum Spott in Unehre verkehrt hätte. Und wenn's auch eben keine so unerhörte Seltenheit ist, daß einmal ein Edelmann eine Pfarrerstochter zur Frau nimmt, so war doch mein Mann von allem Anfang an dagegen, wie wenn er den Ausgang vorausgesehen hätte. Nein, wir brauchten die Augen vor keinem Menschen niederzuschlagen – wir wahrlich nicht.«

Die Kranke war nun bei ihren Erinnerungen. Lydia 425 saß regungslos da und lauschte der schlichten Erzählung, in der keine Anklage erhoben, kein Vorwurf ausgesprochen wurde und die doch die Schatten zweier Opfer gegen den Urheber des Unglücks einer ganzen Familie aus dem Grabe beschwor. Die anfängliche Spannung der Zuhörerin hatte dem Staunen, der Überraschung Platz gemacht, am Schlusse aber saß Lydia niedergeschlagen da und seufzte tief auf.

»Ja, das ist jetzt schon eine alte Geschichte,« meinte wehmütig lächelnd die alte Frau, deren Hand eine unwillkürliche Bewegung nach dem Druckverband machte, als ob darunter eine heimliche Träne hervorquellen wolle. »Eine alte Geschichte.«

»Aber wahr – doch wahr! – Jetzt versteh' ich alles – alles.«

»Wie es gekommen?«

Lydia schwieg einen Augenblick. Sie konnte die Erzählerin nicht aus dem Irrtum reißen und ihr sagen, daß ihre Gedanken nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart weilten, wo sie jetzt die Motive so mancher Äußerung und Handlung zu erkennen glaubte, weit besser als bei dem Rückblick in ja längst entschwundene Zeit. Da war doch noch ein Punkt, und gerade derjenige, auf den so vieles ankam, unklar. Dem gab sie auch Ausdruck.

»Nur den Grund verstehe ich nicht, weshalb mein Vater zurücktrat – den Grund!«

»Ja, du lieber Gott – die Liebe kommt und geht, dann ist sie auch nicht immer so stark, daß sie jedes Bedenken besiegt. Man kann ja nicht wissen, was solch hochgestellter Herr für Beweggründe hat. Da 426 wollte es vielleicht die Familie nicht, oder es war bei Hof nicht gut angesehen, und man hat es ihm zu verstehen gegeben.«

»Nein, nein, das kann meinen Vater nicht bestimmt haben – sein Stolz war ganz andrer Art, der hätte ihn eher zum Trotz verleitet. Aber er hätte ihn auch abhalten sollen, eine solche Schuld auf sich zu laden, und das ist's, was –«

Sie hielt inne. Beruhigend sagte die alte Frau:

»Was nützt das Grübeln darüber – es ist lang vorbei und so arg am Ende auch nicht, als man es Ihnen vorgemacht.«

»Oh, traurig genug. Arme, arme Sophie! Und was müssen Sie geduldet haben bei so schweren Schicksalsschlägen, und wie muß in Ihnen Haß und Widerwillen angewachsen sein gegen den Urheber so vielen Unglücks! Es ist mir, als müßte ich Ihnen auf den Knien noch Abbitte leisten.«

Das tief erregte Mädchen war dabei wirklich zu Boden geglitten und hatte die welke schmale Hand der Matrone ergriffen, die sich vergeblich abmühte, ihre Rührung zu bekämpfen, und mit der freien Hand das Haar der auf ihren Schoß Herabgebeugten liebkosend streichelte.

»Sie können ja nichts dafür, liebes Kind. Nehmen Sie sich's doch nicht so zu Herzen! Jetzt ist ja alles, alles lange vorbei. – Und ich denke schon gar nicht mehr daran.«

»Sie – Sie trösten noch mich!« sagte Lydia, welche sich durch die letzte Unwahrheit, deren edle Absicht sie mit Rührung und Verehrung erfüllte, nicht 427 täuschen ließ. »Sie trösten, statt zurückstoßen. Sie sind gütig wie eine Mutter.«

»Wo der Kummer haust, dort soll der Trost einkehren; ihn versagen, ist unmenschlich. Und ist ein Mitgefühl, das sich so warm äußert, nicht auch wie eine Wohltat? Gott erhalte Ihnen das wahre, treue Herz. – Und hätte denn nicht meine Schwester Ihre Mutter werden sollen? – Mein liebes, liebes Kind!«

Lydia drückte ihre Lippen auf die zitternde Hand – sie war keines Wortes mächtig und verließ rasch das Zimmer, um ihre Bewegung zu beherrschen.

Beim ersten Schritt auf dem Korridor hielt sie betroffen vor einer Erscheinung still, welche sie hier zu begegnen nicht erwartet hatte.

»Sie – Herr Medizinalrat – hier?«

Der kleine, zartgebaute Mann mit den langen Greisenlocken erhob sein intelligentes, feingeschnittenes Antlitz zu ihr und streckte ihr vergnügt lächelnd die Hand entgegen.

»Na, endlich finde ich doch jemand,« scherzte er. »Das muß ich sagen, Tag und Nacht reisen und dann den Patienten ausgeflogen finden – ist ein wenig stark. Ich glaube zu einem Sterbenden zu kommen und treffe ihn beim Schützenfest. Na, ich gratuliere. Das nenne ich ärztliche Einwirkung schon durch das bloße Androhen des Erscheinens.«

»Wir hatten keine Ahnung von Ihrem Kommen.«

»Aber ich bin doch berufen worden! Vorgestern erhielt ich das Telegramm, worin mich Herr von Wingerode – Gero meine ich – aufforderte. Nun ist auch er nicht da.«

428 »O dann hat er, ohne es uns mitzuteilen, auf meinen Wunsch so gehandelt.«

»Ich bin also nicht überflüssig?«

Ein trübes Kopfschütteln gab Antwort auf seine Frage und stimmte auch ihn ernster.

»Mein Schwager,« sagte Lydia, »muß sogleich hier sein. Mich nimmt wunder, daß er nicht schon da ist. Er verlangte nur nach einem Glas Wasser, und da blieb der Wagen in Eggersried ein wenig zurück. – Aber Sie, Herr Medizinalrat, müssen doch ausruhen und etwas essen.«

»Alles bereits auf dem Schiffe besorgt.« Er hatte sie schon eine Weile forschend betrachtet und legte jetzt, da sie ihm nach der Türe voranschreiten wollte, die Fingerspitzen auf ihren Arm. »Etwas nicht in Ordnung? Sie sind doch nicht selbst krank? Eine Gemütsbewegung?«

Einen Moment zögerte sie, dann trat sie entschlossen aus sich heraus.

»Sie sind ja mit meinem Vater befreundet gewesen, Herr Medizinalrat. Sie verkehrten auch als Arzt im Hause Rodek. Ihr Name wurde mir soeben erst genannt. Sie müssen die Verhältnisse gekannt haben –«

»Das hab ich,« sagte er überrascht, doch mit ernster Ruhe und eine weitere Frage erwartend.

Lydia unterdrückte dieselbe aber. Die Örtlichkeit war für eine solche Auseinandersetzung nicht geeignet. Das schon seit einer Minute von der Treppe her tönende Geräusch wurde störender – eine Gruppe von Männern, geführt vom Kellner, kam den Korridor entlang gerade auf die Türe zu, deren Klinke Lydia erfaßte. Eines 429 der Dienstmädchen stürzte schreckensbleich und aufkreischend an ihr vorüber.

»Der Herr Baron – –« rief es, ohne zu vollenden.

»Ich bin zu spät gekommen,« sagte Doktor Brunner leise.

Die Männer brachten eine Leiche.

 


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