Robert Byr
Lydia
Robert Byr

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9

Es war schon spät in der Nacht; wohl zwölf Uhr vorüber. Werner hatte nicht mehr auf die Stunde gehorcht, lange schon saß er in seinen Fauteuil zurückgelehnt, den Finger zwischen den Seiten des Buches, in dem er gelesen und das jetzt, durch ein lebendigeres Wort verdrängt, auf seinem Knie lag. Das schwache Kerzenlicht erhellte kaum dies kleine Zimmer, das er neben dem größeren seiner Mutter im Freihof innen 366 hatte, aber sein Auge vermißte nicht die mangelnde Beleuchtung, es durchdrang die tiefen Schatten in den Winkeln und sah deutlich Zug um Zug die Gestalten, welche sich darin regten und einzeln oder gruppenweise aus demselben hervortraten.

Sie kamen und gingen so leise, so geisterhaft, als hätten sie keinen irdischen Leib mehr, und doch lebten sie, nickten, lächelten, winkten, und sie redeten ja auch, es klang so fern, nur wie ein Hauch und doch deutlich, jedes Wort war verständlich; hörte er denn nicht das zarte Vibrieren der hellen Stimme, die eben zu ihm sprach:

»Du wirst mich ein bißchen liebhaben und mein guter Bruder sein, nicht wahr, Werner?«

Und er sah in die feuchten blauen Augen, die ihn so treuherzig anblickten, und drückte halb stürmisch, halb schüchtern und verschämt, wie ein recht unfertiger Junge in den Tölpeljahren, einen brüderlichen Kuß auf diesen unter Tränen lächelnden Mund. Es wäre ja in der Tat auch zu komisch gewesen, wenn der lange Bursche mit dem ersten Flaum auf der Lippe und der Studentenmütze über dem Ohre dem jungen Mädchen, das kaum einige Jahre mehr zählte als er selber, mit dem Respekte eines Neffen hätte begegnen sollen. In der Tat, eine würdige kleine Tante! Vor einem Jahrzehnt oder dergleichen hatten sie ja noch miteinander gespielt und Sophiens Puppen eine große Kaffeevisite gegeben, damals, als er mit der Mutter bei Großvater zu Besuch gewesen in dem altertümlichen Städtchen an dem großen Strom, wo der Wein wuchs und die Kirche stand, in der Großvater alle Sonntage so schön predigte.

367 Er war schon damals ein Greis gewesen, jetzt lag er im Grabe, und darum trug Sophie das schwarze Kleid, in dem sie so zart aussah, und deshalb rannen ihr die Tränen über die blassen Wangen. Jetzt schien es, als zerflösse sie in Duft, aber war sie nicht immer so sachte und schwebend hingeglitten durch die engen Räume des alten Häuschens in Breslau? »Wie ein Engel,« behauptete Köchle. Auch er bewunderte sie, und es war nicht einmal so ganz und gar Scherz, als die beiden Kameraden sich feierlich zum Turniere herausforderten, wer das Recht haben sollte, den Handschuh seiner Dame auf dem Helm zu tragen.

Da stand aber die Gebieterin schon, wie aus dem Boden gewachsen.

»Meinen Handschuh brauch' ich selber,« meinte sie scherzhaft, aber um die Stirne lag es dabei wie tiefer Ernst. »Wie soll ich mich denn sonst dem Herrn Landrat vorstellen? Was würde der von mir denken, wenn ich nur mit einem angerückt käme? Eine Erzieherin, die an sich selbst keine Ordnung hält und sie seinen Kleinen beibringen soll? Ich muß mich schon andrer Kinder annehmen, denn ihr beide seid meiner Zucht und Lehre doch beinahe entwachsen.«

War das Haus nicht wie verödet, als sie hinwegzog? Zum Glücke brauchte auch er nicht mehr lange darin zu weilen. Über die Lust, in die Welt hinauszuziehen, vergißt der Jüngling ja so leicht, was er verläßt. Köchle hatte es nicht so gut, der gute Köchle, der seit Jahren in Kost und Wohnung bei der kleinen Beamtenfamilie untergebracht war, ging nicht mit an die Technische Hochschule, sondern blieb zurück, an 368 der Universität seine philologischen und theologischen Studien zu beenden. Ab und zu kam da wohl ein Brief – Sophie gehe es gut beim Landrat, der Landrat sei so freundlich, der Landrat habe neulich wieder im Hause eingesprochen; er verkehre jetzt so häufig – und wenn er zur Stadt komme, bringe er sehr oft Sophie mit sich und die älteste Kleine. Immer der Landrat!

Kam er da nicht eben über die Oderbrücke geschritten, die große, hagere Gestalt mit dem scharfgeschnittenen aristokratischen Kopfe straff aufgerichtet und stolz die Grüße der Vorübergehenden erwidernd? Und wie seine Augen unter den buschigen Brauen stachen, als er die Hand fest wie einen Schraubstock auf die Schulter des vierzehnjährigen Schulknaben legte! Da verflog aller Mut, auszukneifen, und alle Erfindungsgabe zu einer Notlüge.

»Wie heißt du, mein Bürschchen? So, Werner Rodek. Sage deinem Vater, daß du ein Taugenichts bist. Willst du aufs Eis, so geh hinab auf den Fluß, anstatt hier die Bahn so glatt zu schleifen, daß Menschen und Pferde die Beine brechen. Sie, Schutzmann, aber melden sich zur Strafe, damit Sie ein andermal solche Allotria nicht unter Ihren Augen hingehen lassen.« –

Der Schnee war verschwunden, die Bäume standen im vollen Laub, Staub wirbelte auf den Plätzen, und die Schweidnitzer Straße herab schnob ein feuriges Gespann. So fuhr nur der Landrat von Wingerode. Der lange, leise ergrauende Schnurrbart flatterte im Winde. Es war, als fliege die wilde Jagd einher, 369 und doch, wie hatte er die feurigen Tiere in seiner Gewalt! Ein Zug am Zügel, hochauf bäumten sie sich, als wollten sie sich überschlagen, aber sie standen wie festgemauert. Diesmal klang die tiefe Stimme weit freundlicher, wenn auch in barscher Kürze wie immer:

»Sind Sie nicht der junge Rodek? Lasse den Vater grüßen. Ragen ihm wohl über den Kopf. Trösten Sie nur das dumme Ding, das Sie da aus dem Wege gerissen. Braucht ja nicht zu weinen, ist ihm nichts geschehen – da, soll sich Kuchen kaufen. Adieu – brav von Ihnen gewesen.«

Und die Staubwolke verschlang wieder das dahinsausende Gefährt.

Ja, er hatte Silberfäden im kurzgeschorenen Haar, aber stramm und ehern war er noch immer. Den Männern mochte er imponieren, wie er aber den Frauen gefallen konnte, insonderheit einem jungen, frischen Mädchenherzen, das vermochte ein zwanzigjähriger Student in dem Vollbewußtsein seiner Weltweisheit nicht zu begreifen. Die Ferien waren lange nicht so schön wie das letzte Jahr. Und doch war Sophie wieder zu Hause. Jetzt ging sie nicht mehr schwarz, alles war hell an ihr, das Auge strahlte. Das Antlitz lächelte in süßer Rührung – das war die wunderbare Holdseligkeit, die von einer Braut ausgeht wie ein Glorienschein.

Braut! – Jawohl, Köchle hatte es schon geschrieben, das Unglaubliche, und nun konnte man's ja mit eignen Augen sehen. Wie sie sanft errötete, wenn man von dem Landrat sprach, wie sie glückselig 370 zu dem strengen Mann emporsah! Wenn er kam und ging, grüßte er wohl flüchtig den künftigen Neffen, aber solche Herablassung hinzunehmen ist nicht eines wackeren Burschen Art. Da weicht man lieber aus, trotz der künftigen Verwandtschaft, die als ein solches Glück gepriesen wurde.

Es war auch keins, er hatte es ja vorausgewußt und Köchle oft genug gesagt, da kam's – langsam, erst in den Briefen von zu Hause wie eine schwere, dicke Luft – dann leise Andeutungen – zuletzt eine bittere Anklage. Nun zeigte es sich ja, was an all der Leutseligkeit und Freundschaft hoher Herren war.

Alles war auseinander gegangen, alles vorbei. Warum, weswegen? Köchle wußte sowenig eine Antwort als die andern, und diesmal waren es die traurigsten Ferien, viel schlimmer als die im verflossenen Herbste.

Arme Sophie! Wie bleich sie war, wie langsam sie dahinschlich, um sich in die Sonne zu setzen; man fühlte selber den Schmerz in der Brust, wenn man sie hüsteln hörte.

Wie sie dort saß auf dem schmalen Bänkchen des schmalen Gartenstreifens, der zu dem kleinen Vorstadthäuschen gehörte, so geduldig, so still mit dem traurig-sanften Lächeln auf den Lippen, die großen Augen wie verloren, weit hinaus in die Ferne gewendet, wem hätte es das Herz nicht bewegt, das Blut zum Kochen gebracht? Und der Elende, der die langsam Erlöschende auf dem Gewissen hatte, der sein Gelöbnis gebrochen und das arme Kind ohne Grund, ohne Rechtfertigung verlassen und dem Hohne der Neidischen 371 und Mißgünstigen, der Verdächtigung selbst preisgegeben, er sollte ungestraft ausgehen? Fand sich denn keine Hand, den vornehmen, mächtigen Herrn für sein Bubenstück zu züchtigen? Dann war ja alles Unrecht gebilligt hier auf Erden und der Trost von einem ausgleichenden Zusammenhang zwischen Tat und Vergeltung nur ein Kindermärchen.

Ein Arm war da, an dem die Muskeln sich zum Zerreißen spannten. Sollte er denn nur zum Spiele den Schläger führen gelernt haben? Eine Waffe und dann auf die Mensur! Der Arm soll sich nicht umsonst erheben – er wird zu treffen wissen.

Aber er sinkt unter dem Griffe einer andern Hand. Kalt und hart faßte sie an, wie die Knochenhand des Todes. Auch die hohe, hagere Gestalt erinnerte an die des Sensenmannes, selbst die Stimme klang aus der hohlen Brust wie aus einem Grabe.

»Laß es sein, mein Sohn, der, den du suchst, ist weit von hier. Er hat es vorgezogen, eine Reise zu machen und all den Reden aus dem Wege zu gehen. Und wenn du ihm nachgingst, bis du ihn endlich gefunden hast, so würde dir nur dieselbe Antwort werden wie mir: ›Ich schlage mich nicht mit Ihnen.‹ Nein, er schlägt sich nicht mit uns. Wir sind ja nicht satisfaktionsfähig. Die Rodeks haben keinen Adelsbrief, und einen armseligen Subalternbeamten, den tötet man nicht, wenn er unbequem wird, man versetzt ihn nur, man drängt ihn fort aus seinem Amte. Töricht genug, wenn er sich das Unrecht nicht abkaufen lassen will!«

O wie deutlich die Worte heute noch klangen! 372 Und doch hatten sie in einem nicht recht gehabt, der unbequeme Mann war auch getötet worden – denn der Gram, der Unmut zehrten an ihm. Das waren die Geier an seiner Leber, und wie man die bleiche, verwelkte Blume hinausgetragen hatte auf den Gottesacker, so war auch an ihn die Reihe gekommen, an den zur Seite geschobenen, versetzten, zum Schweigen gebrachten störrischen Beamten. Er selbst war um seine Pensionierung eingeschritten.

»Kein Knecht! Kein Knecht! – Du sollst kein Knecht werden, der einen Herrn anerkennen muß. Bleib unabhängig!«

Das waren die Abschiedsworte an den Sohn, und damit war der zerstörte, vergällte Rest eines in Sorge und Arbeit verkümmerten Daseins zu Ende. Der Sohn aber hatte das Vermächtnis seines Vaters treu gehalten. Er bedurfte keiner Mahnung. Die Schemen durften in ihr Schattenreich zurückkehren. Ihm war die Antwort nicht entfallen, die er zu geben hatte auf jene vor wenig Stunden erst an ihn gestellte Frage voll naiver Verwunderung und demütigenden Zweifels.

Die beiden Grabkreuze hatte er gewiesen. Hätte er auch die verwischte Inschrift lesbar machen sollen?

»Was mir die übermütige Rasse getan, der du entstammst? – Hier! Hier!« – –

Wie aus einem tiefen Traum fuhr Werner auf, er hatte sich selbst geweckt und befürchtete durch das Geräusch des heftig auf den Tisch gestoßenen Buches auch den Schlaf der Mutter gestört zu haben. Sachte erhob er sich und ging auf die Verbindungstür zu, die er vorsichtig öffnete.

373 Kein Laut als das leise, ruhige Atmen der Schlummernden. Er lauschte ein paar Sekunden, drückte die Tür wieder unhörbar ins Schloß und kehrte an seinen Platz zurück. Noch mochte er nicht zur Ruhe gehen. Die Müdigkeit, die er von dem Ausfluge heimgebracht, war längst gewichen, und sein Geist rege, wie zur Zeit, wo er am besten schaffte. Doch auch zur Arbeit fand er sich heute nicht geeignet, das war nicht der heitere, klare, fleißige Kopf, der wie ein braver Schüler seine Aufgaben gutwillig erwartet, um sich nach Kräften zu lösen, der arbeitete heute auf eigne Rechnung. An die Stelle des zielbewußten Erdenkens waren die regellosen, unbeherrschbaren Einfälle getreten. Fremde Stimmen sprachen in ihm, fremde Bilder drängten sich auf. Ein schon vernommenes Wort nach dem andern wurde laut, ergänzte, umschrieb, vertiefte sich. Er mußte mit und vermochte sich nicht hinwegzuzwingen aus diesem Bannkreise.

Wie er von dem unerledigten Wort heute gesagt, das Eindruck gemacht, eben weil es nicht zum Antrag gekommen – es wirkte fort im Innern, es arbeitete weiter. Warum aber gerade das, was sie gesprochen? Hatte es denn solche Wichtigkeit? Mehr als die Aussprüche so manchen berühmten und gelehrten Mannes, die alsbald spurlos seinem Gedächtnis entschwunden waren? Worin bestand der Zauber, der ihn fesselte und so wider Willen zwang, sich mit dieser eigenartigen Erscheinung, mit ihrem Tun und Treiben, mit ihren Äußerungen und der Quelle, aus der sie fließen mochten, zu beschäftigen? Unleugbar 374 nahm all das Einfluß auf ihn, wenn auch nur den, ihn zum Widerstand zu reizen. Vielleicht nicht in dem Augenblicke selbst, wo sie sprach, doch sicher im nächsten Moment, wo er das Gehörte überlegte und mit allem andern in Zusammenhang brachte.

Es mochte ihm ja manches gefallen und ihn im ernsten Andrang gefangennehmen. Die Überlegenheit in Einzelheiten ließ sich nicht leugnen. Ein gewöhnliches Wesen war Lydia nicht; keine von jenen schlichten oder gezierten Mädchennaturen, wo man vom ersten Worte an bis auf den Grund der Seele blickt, gleichviel, ob durch das Medium eines einfachen oder verbildeten Geistes hindurch. So leicht ward es hier dem Auge nicht, da war nichts nach der Schablone, da war eigenartiges Leben, etwas Titanenhaftes, das weit über die Mittelhöhe der Alltagsgeschöpfchen hinausragte. Aber dennoch dieselbe Unzulänglichkeit auch, die das Riesengeschlecht über sein umgrenztes Herrschergebiet hinausgelockt und seinen Untergang herbeigeführt.

Wie traurig, wenn auch sie dies Los traf!

Und was tat es ihm?

Da war sie ja wieder, ihre Frage, die ihn so erbitterte, und doch hatte sie recht. Was tat es ihm? Welches Interesse nahm er an ihr? Sollte man nicht meinen, daß es – die Liebe sei?

Er lachte auf. Sein Mund verstummte. In Schreck und Unwillen schob seine Hand die Lichter weg, als wären sie selbst der törichte Gedanke, der ihn überfallen. Er sann nach.

Was wußte er von Liebe? Freilich hatte er 375 bisher im angestrengten Arbeiten, ehrgeizigen Ringen und in der vollen Hingabe an seinen dafür auch dankbaren und lohnenden Beruf nicht Zeit gefunden für solch zärtliches Gefühl. Was davon in ihm sich regte, blieb ungeteilt der Mutter gewidmet. Aber selbst, wenn er sich in der Erinnerung in jene Zeit zurückversetzte, wo er mit Sophie gescherzt und im stillen wie ein echter Schuljunge geseufzt, dünkte ihn die damalige Empfindung eine ganz andre als die unerklärliche Einwirkung, die gegenwärtig von diesem Mädchen wie von abwechselnd gegen ihn gekehrten magnetischen Polen ausging und ihn weit mehr abstieß als anzog.

Mochte auch etwas Bestechendes in dem klaren Verstande sein, der so manches zutreffende Urteil fällte, in der Größe, die sich über alles Hergebrachte hinwegsetzte, das für sich keinen andern Rechtsgrund als die Überlieferung aufzuweisen hat, in der Ruhe, die selbst das herausfordernde, trotzbietende Element zuweilen milderte, während sie zu ihm nicht wie das Weib zum Manne, sondern wie der Freund zum Freunde sprach: es blieb doch ein unausgeglichener Rest in diesen widerspruchsvollen Anlagen, ein Riß im Charakter, der Zorn und Widerwillen hervorrief.

Schön war sie, einer genialen Laune der Natur entsprungen, aber die Bildnerin hatte die Hand vor der Vollendung zurückgezogen und ihrer Schöpfung den hinreißenden Schimmer der Liebenswürdigkeit und weiblichen Anmut versagt. Sie hatte heißes Blut in die Adern gegossen, aber das Gemüt in das eiskalte Herz einzuschließen vergessen, das nun unerwärmt blieb.

376 In diesem Mangel mußte der Ursprung so vieler frappanter, doch auch aufreizender Überraschungen liegen, welche ihr Wesen bot. Dadurch verkehrte sich jeder Zug in sein Gegenteil. War nicht sogar die Unbefangenheit verletzend, mit der sie den Nächstbesten zum Vertrauten nicht nur ihres Schicksals, sondern auch ihrer Stimmungen machte? Ein Mädchen, das mit solchen Empfindungen, wie sie von Lydia kundgegeben worden, in die Ehe treten konnte, war doch nur eine Puppe aus einem Dutzendgeschäft, die kokettierte und kalkulierte und schließlich den breiten, ausgetretenen Weg hintrippelte – wie alle. Für dieses Spiel brauchte er wahrlich weder Genosse noch Zeuge zu sein.

War denn die Welt nicht weit genug, daß sie beide aneinander vorübergehen konnten, ohne sich berühren zu müssen? Nun hatte der Satyr Zufall sie dennoch zusammengeführt und meckerte sein schadenfrohes Lachen. Aber die sich einmal begegnet, konnten sich ausweichen in Zukunft. Ihm stand es frei, sich abzuwenden – mochte sie treiben, wohin sie wollte.

Während er so in heißem Grolle, der gar wenig zu dem gleichgültigen Achselzucken stimmte, über sein künftiges Verhalten entschied, hörte er plötzlich ein leises Klopfen an der Türe. Im ersten Augenblicke hielt er es für ein Zeichen der Mutter, aber das Geräusch war ja von der Gangseite gekommen. Jetzt erinnerte er sich auch, schon vorher das Schrillen der elektrischen Klingel und Stimmen auf dem Korridor vernommen zu haben. Solche Töne waren aber zu 377 gewöhnlich in dem großen Gasthofe, um ihnen besondere Beachtung zu schenken. Nur ein Nachklingen war in dem abgestumpften Ohr geblieben, und jetzt wurde Werner auch aufmerksam, denn eine Störung der Nachtruhe zu so vorgeschrittener Stunde kam doch selten vor.

Da klopfte es schon wieder, und jetzt konnte er ganz deutlich unterscheiden, daß man seinen Namen rief. Glaubte man ihn eingeschlafen, und versuchte das Stubenmädchen vielleicht, ihn zu wecken? Was wollte man von ihm? War etwas geschehen?

»Herr Rodek! Herr Rodek!«

Da war er auch schon an der Tür, denn all die Fragen und Vorstellungen innerhalb des Bereiches der Möglichkeit hatten blitzschnell seinen Kopf gekreuzt. Im Nu hatte er geöffnet, stand er auf der Schwelle und starrte, aufs Mächtigste überrascht, die weiße Gestalt an, die vor ihm auftauchte.

War auch dies eine Vision?

Doch nein, die Erscheinung sprach mit menschlicher, wenn auch zitternder Stimme, das Licht in ihrer Hand flackerte, aber die Formen, welche der matte Kerzenschein erkennen ließ, gehörten keinem Schemen an; das Leben fieberte in ihnen und steigerte die Schönheit zum Liebreiz. Aus Lydias bleichem und verstörtem Antlitz leuchteten die Augen in beredter Bitte, Werner jedoch hatte nur Blicke für die, angemessen der schwülen Sommernacht, leicht bekleidete Gestalt. Die plötzlich aus dem Schlafe Aufgescheuchte hatte sich nicht einmal Zeit genommen, in Pantoffeln zu schlüpfen. Die zierliche Linie des kräftigen Fußes 378 zeichnete sich deutlich auf dem dunkeln Laufteppich, und Werners Blick folgte derselben mit der Aufmerksamkeit des Modelleurs. Langsam aufwärts gleitend, streifte er den schlankgerundeten und doch kraftstrotzenden Arm, die herrliche Schulter und blieb endlich flammend an ihren Augen hängen.

Es lag in demselben dabei ein so befremdlicher, versengender Ausdruck, daß sie scheu zurückwich.

»O bitte, gehen Sie doch zu ihr!« sagte sie hastig flehend. »Es kommt niemand auf unser Klingeln – es scheint niemand darauf zu hören. Ich will Olga rufen.«

»In das obere Stockwerk hinauf?« sagte er, und als ob der in ihm angesammelte Ingrimm einen Ausweg haben müßte, fielen seine Spottworte scharf wie Geißelhiebe. »In solchem Kostüm? Oh, warum weichen Sie zurück? Ich bin vorurteilslos genug, demselben die ›Zweckmäßigkeit‹ nicht abzusprechen – zum Nachtwandeln.«

Als werde sie selbst erst jetzt die Mängel ihrer Toilette gewahr und derselben auch mit einem Male voll bewußt, senkte sie den Blick und errötete; doch ehe die jäh aufschießende tiefe Glut noch ihren Hals und Nacken erreicht, war auch schon die Kerze unter ihrem Hauch erloschen. Es war gut, daß sie mit so viel Geistesgegenwart die schützendste Hülle, die Dunkelheit, um sich gebreitet, denn so entging ihm ihre Verlegenheit, ihre Verwirrung, ihre brennende Scham, als er jetzt höhnisch fortzufahren begann:

»Warum verbergen Sie sich? Es handelt sich ja nur um eine Nuance der Mode.«

379 »Oh, wer daran denken kann, wenn es sich um Leben und Tod handelt!«

Der bebende, erstickte Ausruf unterbrach ihn, kam aber selbst zu keinem Schluß. War's ein Vorwurf – oder eine Entschuldigung? Eine Entschuldigung von ihr?

In dem matten Schein der fernen, halberloschenen Lampe war die weiße Gestalt wirklich einem Schatten gleich fortgehuscht.

Werner fuhr sich über die Stirne, wie wenn er aus einem Fieberdelirium erwachte. War nicht von einem Sterbenden die Rede gewesen? War nicht eine Aufforderung an ihn ergangen, die er, versunken in den faszinierenden Anblick, vollkommen überhörte? Sein Ohr aber hatte doch die Laute behalten. Jetzt kam auch schon das Stubenmädchen um die Ecke des Korridors, und das Schlürfen des Kellners, der den Nachtdienst hatte, ließ sich die Treppe herauf vernehmen.

Nun eilte auch Werner nach der ihm wohlbekannten Türe, die er nur angelehnt fand.

Eine Leiche schien da auf dem zerwühlten Bette zu liegen, und über dieselbe hingeworfen weinte und jammerte ein verzweifeltes Weib.

»Odo – Odo! Komm' doch zu dir – tu die Augen auf! Nicke doch! Allmächtiger Gott, wenn man nur wüßte, was man tun soll! Kein Mensch! – Ah, Gero!«

Aber trostlos ließ die erregt Aufgesprungene sich bei Werners Anblick wieder auf die Knie sinken, rang die Hände, starrte dem regungslosen Gatten in das 380 leichenfahle Angesicht und fuhr in ihren abgerissenen Ausrufen – wimmernd – schluchzend – aufkreischend fort:

»Odo! So wach doch auf! Hörst du, hörst! Ach, wenn doch nur Gero hier wäre! Warum mußte er denn gerade jetzt – er hätte auch mit zurückkommen können! Glauben Sie, daß er ohnmächtig ist? Wird er bald zu sich kommen? Nicht wahr, er ist nicht tot? Nein, nein, nein, nein, nein! Gott – allmächtiger Gott! Du kannst nicht so Schreckliches zulassen! Wenn du ihn sterben läßt, bist du machtlos – wie soll ich an dich glauben?! Wirke ein Wunder – o Herr! – und laß mir ihn! Er ist plötzlich so weiß geworden, so still – ein Aufstöhnen und dann kein Atemzug mehr. – Ich habe schon Wasser über ihn geschüttet – und wo ist Lydia? Warum läßt sie mich allein? – Ich fürchte mich so. – Odo, Odo!«

Sie hatte sich wieder über ihn gebeugt und lauschte mit verhaltenem Atem, bis die Scheu wieder in leidenschaftlichen Schmerz umschlug. Nun wurde es lebendig im Zimmer. Die Herbeieilenden gaben ihre Ratschläge, versuchten ihre Mittel. Werner, tief erschüttert, hatte sich selbst erboten, den Arzt zu holen.

Als er mit demselben zurückkam, da hatte Baron Sarnberg schon wieder einige Lebenszeichen gegeben, aber die Ohnmacht wich nur langsam, der Mund blieb verzogen, das linke Auge geschlossen. Der Arzt schüttelte den Kopf.

Diesmal handelte es sich nicht um eine vorübergehende Schwäche, der Kranke hatte einen Schlaganfall erlitten, und momentan war es noch unmöglich, den weiteren Verlauf vorherzusagen.

381 Die Baronin, die wie von Sinnen gewesen, hatte sich schon etwas beruhigt, aber sie weinte noch krampfhaft in den Armen ihrer Schwester, die in ihrem rasch übergeworfenen dunkeln Kleide ungewöhnlich bleich, aber gefaßt erschien und, Jenny ihrer Freundin überantwortend, dem Doktor sofort mit Geschick und Verständnis bereitwillig an die Hand ging.

Als Werner auf sein Zimmer zurückkehrte, sah der grauende Tag zum Fenster herein. Im Hause war es wieder still geworden, nicht so in seiner Brust. Dort hämmerte unruhig ein Vorwurf, und unzufrieden mit sich selbst, riß er das Fenster auf, um in der frischen, von den Bergen her streichenden Morgenluft die heiße Stirn zu kühlen.

 


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