Robert Byr
Lydia
Robert Byr

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5

Ein leichter Westwind strich über den See, kaum genügend, um ein Segel recht zu füllen, aber die Fläche kräuselte sich doch und lange Furchen liefen gegen Osten, das sogenannte Grundgewelle, und das Lindauer Dampfboot rollte ziemlich stark, da es auf seinem Kurse nach Rorschach von demselben in der Seite gefaßt wurde. Noch spannte sich der blaue Himmel fast wolkenlos über das weite Becken, aber das spiegelte die Farbe nicht mehr ungebrochen. Hellgrün, wie flüssiges Glas, schwollen die Wellen heran, um sich unter dem Buge in den Radschaufeln des emsig vorwärts strebenden Schiffes schäumend zu brechen.

»Ja, wir werden Regen bekommen,« machte Werner den hageren Mann, der auf dem Hinterdeck an seiner Seite saß, auf die schlechten Wetterzeichen aufmerksam. »Siehst du die Möwen, wie sie uns treue Gefolgschaft leisten und immer wieder auf die Wellen niederschießen? Sie sind fast so unruhig wie du selber, lieber Freund.«

»Sie baden eben und machen sich Bewegung.«

»Bewahre, das sind Karnivoren, wenn man Fische auch zum Fleische rechnen darf.«

»Natürlich, natürlich! Tier bleibt Tier, und mit deren Leichen haben wir nichts zu tun.«

»Nun, darin halten's die Möwen wohl auch ziemlich ähnlich,« meinte Werner lächelnd. »Sie fressen die 271 Fische lebendig. Wäre vielleicht zu erwägen, was denkst du? So bleib doch da! Ich wollte dir ja keinen Schauder über den Rücken treiben.«

Aber der Angerufene hatte schon wieder – das hundertste Mal auf der seit einer Stunde währenden Fahrt – seinen Sitz verlassen und war auf die andere Seite des Decks geeilt, um auch dort wieder einen Blick auf die Ufer und fernen Berge zu werfen. Er kam jedoch rasch genug wieder zurück und ließ sich ächzend auf die Bank niedergleiten.

»Ich weiß nicht, es dreht sich mir alles herum,« klagte er, und das nicht gerade unschöne, aber mehr erregte als ausdrucksvolle oder edel geschnittene Gesicht zeigte sich wirklich ziemlich fahl, auch die Augen hatten jenen stieren Blick, wie er den von Schwindel Befallenen eigen zu sein pflegt.

Werner nickte und hielt ihn fest am Arme.

»So bleib einmal sitzen,« sagte er. Kein Wunder, daß dir übel wird, wenn du immer hin und her tanzest. Sieh dort die Damen an, denen geht es auch nicht viel besser, aber sie halten sich wenigstens still. Wenn ich es mit meinem Magen wie du gemacht und ihm nicht wenigstens ein ordentliches Stück Beefsteak zugewendet hätte, so würde ich es dem armen Mißhandelten ebenfalls zutrauen, daß er revoltierte. Ich nähm' es ihm nicht einmal übel.«

»Im Gegenteile,« bekämpfte der andre diese vorgefaßte Meinung aufs eifrigste. »Nur deinem Vormalen solch widerlicher Bilder verdanke ich es, wenn ich –«

»Na, laß gut sein! Ich werde dich in deinen Schrullen nicht weiter beirren.«

272 »Schrullen, Schrullen? Höre!«

»Bleibe du bei deinem Brötchen und deiner sauersüßen Orange,« fuhr Werner, ohne auf den Ruf der Entrüstung zu achten, ruhig fort. »Ich wollte dich auch zuvor gar nicht reizen, sondern nur eine meteorologische Erklärung geben. Die Möwen verlegen sich nämlich auf den Fang der Fische, weil diese zu Hauf an die Oberfläche kommen, das aber tun dieselben zumeist vor schlechtem Wetter. Und ein andres Anzeichen dafür ist auch noch die Klarheit der Luft. Sieh einmal da vorne hin, wie deutlich der Berg, jeder Baum darauf, jedes Häuschen; meint man doch, man müßte jedes Menschenkind erkennen, das aus dem Fenster schaut!«

»Gegrüßt, du herrliches Ufer! Du Heimat des größten Sängers deutscher Zunge!« brach der Angeredete plötzlich, als ob die ganze Beweisführung für jeden andern Passagier auf dem Schiffe, nur nicht für ihn gehalten worden sei, in eine begeisterte Apostrophe aus. »Hier hat er gelebt, geträumt und gedichtet, hier ist aus dem Knaben der gottbegnadete Jüngling erwachsen. Wer möchte noch Zweifel daran hegen, der dies Gelände erblickt? Hier an seiner Geburtsstätte saß er auf dem Steine und sang seinen Schwanengesang, indem er hinabblickte auf das blaue Wasser, den herrlichen See, die Wiege deutschen Minnegesangs, wie ich ihn nennen möchte. Sag, springt dir hier nicht die Wahrheit auf? Von hier und nirgends anders geht das Licht aus, das heute noch nicht überstrahlte. Hier ist der Stammort Walters von der Vogelweide zu suchen.«

273 »Du möchtest ihn also der schwäbischen Dichterschule – erster Zyklus natürlich – einverleiben? Aber die Tiroler –«

»Um welchen großen Mann hätten sich nicht schon Städte, Länder, ja sogar Nationen gestritten? Kirchturmpatriotismus, Lokalverhimmelung, weiter nichts, Freund. In Tirol! Warum denn gerade in Tirol? Lächerlich, weil dort eine Vogelweide entdeckt worden und Leutold von Sewen, der in ähnlicher Weise wie Herr Walter sang, dort in der Nähe zu Hause gewesen sein soll? Aber Vogelweiden finden sich anderswo auch, und Sangesbrüder ebenfalls, und wo mehr als hier, wo sie alle beisammen saßen! Hier sind die Fundgruben der Nibelungenhandschriften und da drüben im Rheintal schrieb Rudolf von Ems seinen »Barlaam und Josaphat« und seinen »Guten Gerhart,« zur selben Zeit als Walter lebte; da sind die Klingenberg, die Sax zu Hause, Hugo von Montfort, Friedrich von Hausen, der Stoffler, der Hohenvelsen und wie sie alle heißen ringsum. Hier saß sein bester Freund, sein Schüler, der Truchseß des Abtes von St. Gallen, Ulrich von Singenberg, dessen Lieder ehedem sogar mit den seinen vermischt wurden – vermischt wurden, wohlverstanden! Und das ist der Punkt, auf den ich mich stütze. Es ist vor allem ein innerlicher, ein sprachlicher Grund – der Stil, die Wortschreibung, die Dialektfärbung – welcher hierher weist, aber auch das äußerliche Zubehör findet sich. An der Straße nach Heiden, bei Wartensee, liegt ein ›Vogelherd‹. Nun, was sagst du? Das ›Herd‹ stört dich? Aber kann nicht eine Verwechslung stattgefunden haben? 274 Doch nein, ich will nicht voreilig sein. Bei Untereggen, an der Straße von Rorschach nach St. Gallen, gibt es noch ein ›Vogtleiten‹ – leiten, in Österreich sehr gebräuchlich, kommt hier gar nicht vor. Das ist also nicht der ursprüngliche Name. Die Abschleifung liegt auf der Hand: ›Vogleiden‹, ›Vogelweide‹. Voriges Jahr hab ich nur herumgetastet; heuer muß es sich entscheiden; ich muß der Sache auf den Grund kommen. ›Vogelherd‹ oder ›Vogtleiten‹, das ist die Fragen

»Die ich dir noch ein wenig komplizieren will,« sagte Werner mit heiterer Schadenfreude. »Wie, wenn du schon an Ort und Stelle gesessen wärst, indes du danach suchtest? Eine Abschleifung einmal angenommen, kann sie auch den Vogel getroffen haben.«

»Vogel? – Weid! – Auf der Weid! Himmel, ein Licht! Ein Blitzstrahl genialer Eingebung!« rief in hell aufflammendem Forscherenthusiasmus Werners Begleiter, der schon wieder aufgesprungen war. Doch schwankend wendete er sich zurück zum Freunde. »Aber still! Kein Wort, keine Andeutung! Imponierend müssen wir mit der vollendeten Tatsache vor die Welt hintreten, dann ›setze ich mîne Wârheit des ze pfande‹. Bis dahin aber Geheimnis!«

Werner nickte. Das Vergnügen über den Erfolg seines harmlosen Scherzes war bereits einer andern Regung gewichen und seine Aufmerksamkeit von einem auffallenden Vorgang in Anspruch genommen, der auch von den übrigen Passagieren nicht unbemerkt geblieben war.

Das Schiff hatte sich Rorschach schon so weit 275 genähert, daß man eine ungewöhnliche Menschenmenge auf dem Hafendamm erkennen konnte, und einzelne Reisende, die ihre Feldstecher zu Hilfe genommen, gaben ihren Gefährten in einzelnen Schlagworten Kunde von dem, was sich dort zu begeben schien. War jemand ins Wasser gefallen, galt es ein Wettschwimmen, Wettrudern oder sonst ein Ereignis? – darüber konnten sich die Stimmen im Anfange nicht einigen, aber das Schiff hielt wacker seinen Kurs, mit jeder Sekunde wurden die Gruppen deutlicher, und endlich hatten sich Passagiere wie Schiffsmannschaft, die alle nach der Steuerbordseite drängten, dahin geeinigt, daß es sich nur um eine Wettfahrt mit Booten handeln könne.

Weshalb aber drängten sich denn so viele Zuschauer auf dem Damm? Es war doch gar nichts so Seltenes, hier ein paar Kähne schaukeln zu sehen, und wenn je einmal der Ehrgeiz zwischen zwei Rivalen aufgestachelt wurde, so interessierten sich dafür höchstens ein paar Müßiggänger oder unter dem Vorwand des Fischfangs auf der sonnigen Mauer lungernde Straßenjungen. Diesmal aber hatte sich ein förmliches Publikum eingefunden, nicht so zahlreich vielleicht als bei einem Match zwischen Cambridge und Oxford, aber immerhin ausgiebig genug für die kleine Stadt und ihre Fremdenkolonie.

Die Ursache ergab sich denn auch alsbald. Zuerst durch die Gläser, dann auch mit freiem Auge wurde man zweier Boote ansichtig, die auf kurze Entfernung voneinander, an dem Damm entlang, den Eingang in den Hafen zuzuhalten schienen. Die vier 276 Strohhüte in dem einen gehörten, wie sich nach und nach unterscheiden ließ, zu vier ziemlich dunkel gekleideten Frauengestalten, während die vier Herren in dem andern, ganz nach englischer Sitte, großschirmige blaue Jockeimützen und dazu Trikotleibchen trugen, aus denen ihre Arme von der Schulter ab nackt, wie die von Akrobaten, herausragten. Das war denn freilich ein ungewohnter Anblick für diese Gegend, der Aufsehen erregt haben mochte. Dazu der ungleiche Wettkampf zwischen Herren und Damen, und es wurde verständlich, wie die Menge so gespannt dem Fortgange desselben folgen mochte. Auch die auf dem Dampfschiffe Befindlichen nahmen bald lebhaften Anteil und natürlicherweise auch Partei.

Das Damenboot hatte wohl von Anfang an einen Vorsprung gehabt, der sich aber augenscheinlich verringerte. Die Besatzung legte sich tapfer in die Riemen, und es war hübsch, die gleichmäßige Bewegung der schlanken Gestalten zu beobachten, aber auf die Dauer waren die Kräfte einander nicht gewachsen. Das zweite Boot gewann offenbar an dem ersten, die Blauen schienen nicht gesonnen, Galanterie walten zu lassen, sie waren beinahe schon so nahe, die roten Bänder fassen zu können, die lustig von den hellen Strohhüten flatterten. Nach einigen Minuten war die Spitze des nachfolgenden Bootes in einer Linie mit dem Stern des voranfliegenden. Alle acht Ruderer legten sich gewaltig ein, und im nächsten Augenblicke mußte der Kampf entschieden sein.

Mittlerweile hatte aber auch das Dampfschiff nicht angehalten; es glitt jetzt rauschend dem Hafeneingange 277 zu, und ein fast einstimmiger Schreckensruf entrang sich den auf eine Bordseite zusammengedrängten Passagieren, dem Schreie vom Damm her antworteten. Alles winkte, kreischte, rief durcheinander, nur die Insassen der beiden Boote schienen sich nicht um die drohende Gefahr zu bekümmern und ruderten mit der gleichen verzweifelten Anstrengung weiter, als ob es ihnen eigens darum zu tun wäre, unter dem geradeswegs auf sie zukommenden mächtigen Buge begraben zu werden. Sie verloren ihre Kaltblütigkeit keinen Moment, ebensowenig wie der auf der Brücke kommandierende Kapitän des Dampfschiffes.

Er warf nur einen mißmutigen Blick auf die Wettenden und brummte etwas verdrießlich vor sich hin, was aber in dem Lärm niemand verstehen konnte. Der Steuermann aber hatte schon das Rad gedreht. Langsam fiel das Schiff ab und beschrieb einen leichten Bogen, um zwischen den Moleenden in den Hafen einzulaufen. Darauf hatten aber auch die Rudernden gerechnet und sich deshalb in ihrer Arbeit nicht stören lassen.

Das Ziel war wohl die Einfahrt in den Hafen selbst, denn eben dort, unterhalb des eisernen Leuchttürmchens, stand ein kleiner Kahn, von einem gemieteten Schiffer geführt, und in demselben, als Schiedsrichter, Graf Marchegg, eine kleine Starterfahne in der Hand.

Die Damen, schon halb geschlagen, suchten doch noch ihren Vorteil zu wahren und auf der innern Seite der Wendung zu bleiben, wodurch die Blauen gezwungen wurden, den größeren Kreis zu beschreiben. 278 Durch mächtiges Ausholen hofften sie dies auszugleichen. Mit großer Kühnheit wagten sie sich dabei in die unmittelbarste Nähe des eben einfahrenden und um des starken Wellenschlages willen heute ein wenig mehr von dem östlichen Mauerstumpfe abhaltenden Dampfschiffes. Das einzige, was sie dabei treffen konnte, war ein starkes Schaukeln, dies aber hob die Riemen auf der einen Seite aus dem Wasser, das Boot nahm dadurch augenblicklich eine schärfere Wendung und zwar dem Schiffe zu, und eins der Ruder kam unter die Radschaufel und wurde von derselben wie eine Binse geknickt.

Eine weitere Gefahr liefen sie dabei nicht, doch genügte die kleine Verwirrung, die Bewegung zu verlangsamen, und die Verzögerung kam den Roten zustatten. In scharfer Wendung schoß ihr Boot herum, und jubelnder Zuruf und wehende Tücher begrüßten vom Damm herab die Siegerinnen. Auch die Passagiere des Schiffes beteiligten sich daran, nur Werner stand, während sein Begleiter eifrig in die Hände klatschte, ernst und regungslos an der Brüstung. Im nächsten Moment aber war es, als wollte er sich ohne Zeitverlust über dieselbe hinweg in den See werfen.

Ein neuerlicher Schreckensschrei, von einem halben Hundert Menschen ausgestoßen, gellte durch die Luft.

In dem Augenblicke, wo die Gewinner am Ziele anlangten, rannte die Spitze ihres Bootes, das in Folge des Zusammentreffens vieler demselben sonst günstig gewordenen Umstände doch an Sicherheit der Steuerung einigermaßen verloren hatte, mit aller 279 Macht an die stilliegende Barke an, der Stoß brachte den fröhlich sein Fähnlein schwingenden und Beifall rufenden Richter aus dem Gleichgewichte, und ehe sich's jemand versah, waren Mann und Flagge verschwunden, als wenn sie weggezaubert wären.

Das Wasser klatschte auf und hatte den Grafen verschlungen. Es währte aber gar nicht lange und die Glatze erschien wieder über der noch nicht geglätteten Fläche. Eine der Ruderinnen, in dem knapp abliegenden Flanellkleide wie ein schlanker Matrose anzuschauen, erhob sich in dem Boote, neigte sich über den Rand und reichte dem Plätschernden die Hand, bis der Barkenführer endlich auch herzukam und dem glücklich Aufgefischten zurück in den Kahn und auf den Sitz half, von welchem er sich niemals so verwegen hätte erheben sollen.

Der kleine Unglücksfall hatte eine komische Wendung genommen, und unter Lachen und fröhlichem Zurufen löste sich die Spannung. Die Zuschauer verliefen sich allmählich vom Damm, die Passagiere verließen das Schiff, welches endlich angelegt hatte. Noch plauderten die meisten von dem Erlebten, nur Werner blieb einsilbig. Er wartete geduldig, bis seines Freundes Gepäck ausgeladen und auf den Bahnhof gebracht war. und dann stiegen beide zum ersten Stockwerk desselben hinauf.

Eine breite, von leichten Holzmatten beschattete Terrasse ladet hier zum Verweilen ein. Kühlende Luft fächelt vom Wasser her. Eine herrliche Aussicht über den Hafen und den breiten See hinweg bis zu dem nördlichen Ufer bei Langenargen und 280 Friedrichshafen bietet sich hier. In der Ferne ziehen schwarze Dampfschiffe unter ihren Rauchwimpeln dahin, zuweilen wohl auch ein paar weiße Segel, die den Schwingen einer im Fluge streichenden Möwe gleichen. Unmittelbar vor dem auf zierlichen Säulen ruhenden Balkon gehen und kommen die Züge der Eisenbahn, da wimmelt es zu jeder Tageszeit von Menschen; Schiffe werden geladen, die Kranen arbeiten, die Signalpfeife schrillt, die Schiffsglocke läutet, die Stimme des Portiers ruft zur Abfahrt, ein lebhaftes Treiben, wie in einer großen Handelsstadt. Und um auch denen die Zeit des Wartens zu kürzen, die kein Ergötzen daran finden, vom sichern Plätzchen aus sich der ruhigen Beschaulichkeit hinzugeben und all diese vorüberziehende bunte Welt Revue passieren zu lassen, hatten hier schon hübsche, flinke Schweizerinnen, die Gäste an den kleinen Tischen mit schäumendem Bier, einer guten Flasche Wein, erfrischendem Eis oder dem landesüblichen Kaffee zu bedienen.

»Nichts von allem – nur ein Glas Milch,« begehrte Werners Freund. Er hatte einen Tisch mit Beschlag belegt, der, wie es schien, frei war, denn es stand nur ein bis auf die kleine Neige geleertes Bierglas auf demselben. Ob dies in Beziehung zu der seltsamen Erscheinung stand, die da ganz in der Nähe lehnte, sich aufs Geländer stützte, so hinabsah auf das rege Bild und dichte Rauchwolken aus einer Zigarette darüber hinblies, ließ sich nicht so leicht feststellen. Eher gelang dies noch mit der Persönlichkeit selbst. Das kurzgeschnittene, zerwühlte Haar unter dem verwegenen Hut, der Klemmer auf dem kecken Näschen, 281 die Herrenkrawatte und Bluse mit der weißroten Burschenuhrkette vom Knopfloch zum Täschchen gehörten sicherlich einem lustigen Bruder Studio an; daß derselbe sich aber zur Erhöhung seiner Ferienfreuden einen unbequemen Damenrock – mochte derselbe auch noch so kurz zugemessen sein – übergehängt haben sollte, schien doch ein wenig zweifelhaft. Den Freunden blieb jedoch nicht lange Zeit, über die Fragen ins reine zu kommen, denn bevor sie sich noch setzen konnten, hatten sich auch schon unter den zuströmenden Fremden die beiden Damen Schneppe zu ihnen gefunden.

»Ah, ein scharmantes Zusammentreffen, Herr Rodek! Ich habe wohl von Ihrer Frau Mama gehört, daß Sie nach Lindau fuhren – aber daß Sie schon zurück sind – wohl mit dem Dampfschiff eben erst angekommen – Sie haben doch noch ein Plätzchen an dem Tische hier? – Das heißt, wenn wir die Herren nicht stören.«

Was bleibt dem Menschen übrig unter der sanften Daumschraube einer solchen rücksichtsvollen Bedingung? Auch Werner vermochte nicht zu widerstehen und murmelte, die Stühle rückend, etwas von Ehre und Vergnügen.

»Mein Freund, Professor Köchle, großer Sprachkundiger und Geschichtsforscher,« genügte er den erwartungsvoll auf ihn gerichteten Augen der beiden Damen.

»Ah wir haben schon gehört,« fiel Frau Schneppe verbindlich lächelnd ein. »Die Frau Wegbauinspektor hat uns bereits erzählt. Eine Jugendfreundschaft, die Herren waren Schulkameraden.«

282 »Das nun so eigentlich nicht,« meinte der Professor, der auf präzise Definitionen hielt, korrigieren zu müssen. »Ich wohnte nur während meines Gymnasiumbesuches in Breslau bei Rodeks im Hause. Seither sind wir nur selten zusammen gewesen.«

»In Breslau? So, so – dacht ich mir's doch!«

Eine weitere Ausführung dieser Bemerkung mußte Frau Schneppe jedoch unterlassen, da sich ihre Tochter unterdes schon des Professors bemächtigt hatte. Sie hielt darauf, nicht für ein schüchternes Gänschen genommen zu werden, und kam daher neuen Bekannten immer mit der freundlichsten Gesprächigkeit entgegen. Zudem sah sie heute besonders unternehmend aus mit dem für ihre groben Züge etwas zu schmalen Knabenhütchen, das zwar in der Form, aber keineswegs im Effekte jenem so sehr angefeindeten Hute Lydias glich. Zu seiner stillen Überraschung und Ergötzung sah aber Werner auch noch eine Nachbildung jenes »Klingelbeutels« von ihrer Hüfte baumeln, der in der Schilderung der Oxles und Boxles vor wenig Tagen noch eine so lächerliche Rolle gespielt. Für Wilma Schneppe hatte eben alles Neue unwiderstehlichen Reiz, sie fand keine Ruhe, bis sie es sich angeeignet hatte, und dies Los sah Werner jetzt auch seinem Freunde blühen.

»Da sind Sie also wohl mit dem Schnellzuge gekommen, Herr Professor? Waren vielleicht über Nacht in München? Die Fahrt ist so schön zwischen Kempten und Staufen – Immenstadt – dann der Bodensee. Und Herr Rodek ist Ihnen entgegengefahren, Sie abzuholen – ach, wie freundlich! Das wird aber auch 283 eine Freude gewesen sein. Und zur Feier des Wiedersehens werden die Jugendgefährten während der Seefahrt wohl ein paar Flaschen Rheinwein miteinander ausgestochen haben, kann ich mir denken.«

Der Professor hatte es ganz bequem gefunden, zu den sich selbst beantwortenden Fragen nur immer zu nicken, beim Schlusse aber gewann es fast den Anschein, als wolle er Einspruch erheben. Werner kam ihm zuvor.

»Was tun Sie, mein Fräulein? Sie fügen meinem Freunde eine tiefe Kränkung zu, indem Sie ihn fähig halten, eines sogenannten geistigen oder überhaupt nur anregenden Getränkes zu bedürfen. Ein Anhänger der ›natürlichen Lebensweise‹ braucht keine Anregung. Köchle ist mit Leib und Seele Vegetarianer.«

»Ach, Vegetarianer – das ist interessant!« riefen Mutter und Tochter zugleich in jener Mischung von Neugierde, halbem Wohlgefallen und heimlichem Grauen, mit denen man ein überseeisches Tier im Zoologischen Garten betrachtet.

»Wie ist's, Freund?« scherzte Werner, »hier bietet sich dir die Gelegenheit. Willst du dich nicht ein wenig als Wanderprediger auftun, vielleicht gewinnst du Proselyten?«

»Nein, wie merkwürdig!« verwunderte sich Frau Schneppe noch immer. »Sie essen also gar kein Fleisch? Aber doch Suppe? So eine Art Fleischextrakt?«

»Tierleichenbrühe? Nein.« Und ohne den Schreck zu beachten, den er mit diesem Worte der Fragestellerin eingejagt, fuhr er fort: »Welches Vorurteil, 284 daß der Mensch ohne diesen Tee von ausgelaugtem Eiweiß und Muskelfaserstoff nicht gedeihen könne! Besonders unsre deutsche Nation leidet daran, die Folgen sind auch auffällig genug. Kein Wunder, daß man ein eingefleischter Philister wird, wenn man jahraus, jahrein, Tag für Tag den Saft und das Stroh, welches wieder nur durch eine gewürzte, reizende und erhitzende Zugabe schmackhaft gemacht wird, genießt. Sehen Sie sich, meine Damen, doch nur die Völker von wahrhafter Lebensweisheit, die Volksklassen voll wirklicher Zufriedenheit und Glückseligkeit an: den Indier, der sich mit einer Handvoll Reis sättigt, den spanischen Maultiertreiber, der sich an einer Zwiebel genügen läßt, den Landmann der Campagna felice, der sich für ein Leckermaul hält, wenn er seinem Salatblatt den Geschmack von jungem Lauch beimengt. Der Bahnarbeiter aus Südtirol nährt sich von der Polenta, der Holzknecht des Salzkammergutes von seinen Nocken, der Provenzale von Artischocken und der Appenzeller Senn von Käse, und wie gesund sind sie dabei, welche Arbeit verrichten sie! Strotzt nicht auch Pferd und Rind, obwohl sie keine Fleischfresser sind? Und der Elephant, das größte, stärkste und klügste Tier, hält sich ebenfalls nur an vegetabilische Nahrung.«

»Auch das Kamel, Schiff der Wüste genannt,« ließ sich eine gedämpfte Stimme vernehmen.

Werner sah überrascht auf, merkte aber, daß er der einzige gewesen, welcher die Worte verstanden. Er saß auch der Fremden zunächst, die den geringschätzig musternden Seitenblick der beiden Damen wohl über 285 die Achsel erwidert, als diese sich an dem Tische niederließen, sich seither aber wieder dem See zugekehrt und in dichte Wolken des starken türkischen Tabaks gehüllt hatte. Das Gemurmel konnte von niemand anderm ausgegangen sein, und Werner zog es daher vor, zu schweigen, da die Stichelei von den andern doch im Eifer der Verhandlungen überhört worden und sein Verdruß zu sehr mit Lachlust gemischt war, um eine unerquickliche Szene herbeizuführen.

Frau Schneppe, die längst auf einen Abschnitt in dem lehrreichen Vortrage gewartet hatte, um ihrerseits wieder zu Worte zu kommen, hatte auch schon die Bemerkung hingeworfen, der Herr Professor scheine sich wirklich bei seinem Systeme recht wohl zu befinden.

»Nur,« fügte sie hinzu, »werden Sie dann Tantalusqualen an der Table d'hote erdulden müssen.«

»Im Gegenteil, Sie glauben nicht, wie reichhaltig dieselbe besetzt ist. Wir führen ein wahres Schwelgerleben, zumal in dieser Jahreszeit, wo die Birnen schon wieder zu reifen beginnen. Haferschleim, Kleienbrot, die feinsten Gemüse und das herrlichste frische Obst sind im Überflusse vorhanden, und wir ergeben uns diesen Genüssen mit dem Raffinement von Feinschmeckern. Es ist ein wahres Epikuräerleben, das wir führen, in der Tat, und dabei verhältnismäßig recht billig.«

»Da müssen Sie wohl einen eignen Akkord mit dem Wirte schließen, denn unsre Pension im Freihof finde ich eben nicht sehr niedrig. Mein Gott, man muß für die Gesundheit doch ein Opfer bringen!«

286 »Für die Gesundheit? Sie bringen die Gesundheit selbst zum Opfer!« rief Prozessor Köchle. »Und für den Ruin derselben geben Sie noch Ihr Geld aus. Ich in den Freihof oder irgend wohin, wo man die armen Kranken mit den stickstoffhaltigen Substanzen zu Tode füttert? Nein, das würde mir ja den ganzen Appetit verderben, wenn ich all diese Betörten sich in die schwere Betäubung des Verdauungsfiebers hineinkauen sehen müßte! Ich brauche eine freie, heitere Lebensanschauung und Klarheit, wie sie zu Geistesarbeiten unerläßlich ist. Ja, Klarheit, meine Gnädige.«

»Und die sucht sich mein Freund auf der Weid, der bekannten Naturheilanstalt bei St. Gallen, von der Sie gewiß schon gehört haben.«

»Ja, auf der Weid!« fiel der Professor begeistert ein. »Klarheit! Die suche ich auf der Weid, der mutmaßlichen Heimstätte –«

Er stockte plötzlich und verlor im Schreck, sein unschätzbares Geheimnis beinahe selbst vorzeitig preise gegeben zu haben, ganz und gar den Faden. Doch Werner half ihm gutmütig, wenn auch ein wenig ironisch ein.

»Der mutmaßlichen Heimstätte von Luft, Wasser und naturgemäßer Lebensweise,« worauf Köchle wie ein Echo bestätigend das letzte Wort wiederholte:

»Lebensweise.«

»Auf die Weid? Also nicht nach Heiden?«

»Ach, wie schade!« ergänzte Wilma den bedauernden Ausruf der Mutter, senkte aber gleich darauf, wie erschrocken über den ihr entschlüpften verräterischen 287 Seufzer, verschämt den Blick in das zu recht ungeschickter Stunde eben vor sie hingesetzte Bierglas. Warum hatte Mama doch auch nicht Milch bestellt!

Der holde Herzenslaut blieb jedoch nicht ganz ohne Eindruck auf den Professor. Er errötete sogar ein wenig, und das machte ihn geneigt, ihre Blässe auf denselben Anlaß zu schieben. Es dünkte ihm auch passend, ihr etwas zu sagen, das ihr sein sympathisches Gefühl kundtat.

»Sie sehen recht schlecht aus, mein Fräulein,« begann er demnach und begegnete ihrem betroffen aufblickenden Auge mit teilnehmenden Blicken. »Sie sollten wirklich etwas für sich tun. Sind Sie leidend?«

»Nicht eigentlich leidend, nur angegriffen,« sprang Frau Schneppe für das etwas ungnädig gewordene Töchterchen ein. »Ein wenig angegriffen vom Wachsen –«

»Aber, Mama, wenn man dich hört, sollte man glauben, ich sei noch ein Backfisch.«

»Ach nein, dafür hält man Sie nicht mehr,« versicherte der Professor treuherzig. »Ja, mit Wachsen werden Sie schon eine Weile aufgehört haben.«

»Aber die Ärzte sagen doch so, du weißt, liebe Wilma. Man hat ihr ja auch deshalb die Bergluft verordnet und Molken. Sie trinkt auch Bier aus Gründen der Diät.«

»Höchst verderbliche Gründe vom Standpunkt einer natürlichen Lebensweise.«

»Bier ist doch aus Gerste bereitet.«

»Aber die Gärung, meine Gnädige, die Gärung!«

»Ja, dann wäre es vielleicht besser gewesen, du hättest dir Kaffee geben lassen, mein Kind.«

288 »Das wäre noch schlimmer.«

»Der Kaffee?« rief Frau Schneppe ratlos. »Nun, der gehört doch unstreitig zu den Vegetabilien – und macht auch keine Gärung durch.«

»Reizmittel! Direkt auf Phantasie und Nerven wirkend. Der Mensch, der natürlich lebt, bedarf derselben nicht.«

»Der Reizmittel, meinst du?«

»Nein, der Phantasie und der Nerven,« beantwortete der Professor des Freundes Frage. »Ich meine nämlich das Bewußtsein, daß er dieselben besitzt – ihre gesteigerte, unnatürliche Funktion.«

»Hm! Also auch keine Inspiration?« Werner schüttelte den Kopf. »Mit dem bloßen Ausrechnen ist's nicht einmal bei der Baukunst getan – der andern Künste zu geschweigen. Da kommen wir schließlich wieder auf das Nest oder die Hütte zurück.«

»Mehr bedarf ja bekanntlich ein glücklich liebend Paar nicht,« nahm Frau Schneppe, der das Gespräch eine viel zu abstrakte Richtung einschlug, mit großer Geschicklichkeit das Schlagwort auf. »Aber wenn Sie so strenge sind, Herr Professor, so befürchte ich, daß Sie nur sehr schwer eine Frau finden dürften.«

Und sie lächelte ihm bei dieser scherzhaften Wendung auf das Schalkhafteste zu.

»Wie? Weil ich Phantasie und Nerven unstatthaft finde?«

»Nein – den Kaffee.«

»Ach so!« lachte der Professor auf, doch fügte er gleich darauf höchst ernsthaft bei: »Ich könnte in der 289 Tat nur eine Frau nehmen, die sich entschlösse – Vegetarianerin zu werden.«

»Kein kleines Verlangen!« scherzte Werner.

»Oh, was tut die Liebe nicht alles!« rief dagegen Wilma, ihr unnatürlich langes Schweigen endlich brechend, aus. Sie schob dabei mit Entschiedenheit ihr Bierglas zurück.

Ob es nun diese allegorische Handlung oder der gefühlvolle Ton des Ausrufs war, was die größere Wirkung machte, der Professor rückte mit sichtlichem Eifer seinen Sessel und schickte sich an, die Eindrucksfähigkeit dieses verständnisvollen Mädchengemüts für die Lehren des Vegetarianismus einer nähern Prüfung zu unterziehen.

»Ja, was tut die Liebe nicht alles,« übertrug Frau Schneppe den Ausruf ihrer Tochter kichernd auf einen andern Fall, der sie während des ganzen Gesprächs fortwährend beschäftigt hatte und der ihr nun keine Ruhe mehr ließ. »Sie läßt es sogar darauf ankommen, ins Wasser zu fallen, wie uns Fräulein von Wingerode gezeigt hat.«

»Wingerode?« fragte der Professor, durch den Namen überrascht.

»Kennen Sie dieselbe?« gab Frau Schneppe mit sprühender Neugierde zurück.

»Nein – nicht persönlich – ist mir auch ganz und gar gleichgültig,« entgegnete Professor Köchle und nahm den im Beginn unterbrochenen Vortrag nun im Ernste auf.

Sie aber ließ sich nicht täuschen. Gar wohl hatte sie den Blick bemerkt, mit dem er Werner gewissermaßen 290 fragend gestreift. Niemand von den vieren aber hatte es beachtet, daß auch die Fremde am Geländer sich bei Erwähnung des Namens aufgerichtet und, ihren Kneifer besser befestigend, umgewendet hatte. Das war aber nur für einen Augenblick gewesen, unmittelbar darauf kehrte sie der Gesellschaft wieder den Rücken zu.

 


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