Robert Byr
Lydia
Robert Byr

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7

Die Wetterprophezeiung Werners war eingetroffen. Der Umschlag war gekommen; am Himmel hingen graue Wolken tief herunter, so daß man sich auf dem Berge ganz von der übrigen Welt abgeschnitten meinen konnte, und der Regen hielt alles ans Zimmer gebannt.

Am ersten Tage freute man sich über die Abkühlung der Luft und auch wohl der Abwechslung, doch am zweiten Tage begann bereits die Melancholie ihren Einzug zu halten, nicht jene sanfte, verzagende und ergebungsvolle, die sich in sich selbst vertieft, sondern jene unruhige, ärgerliche, reizbare, welche die Jugend in der Stunde wohl viermal zum Barometer treibt, dem seines unglaublichen Phlegmas willen alle 316 möglichen Gebreste angedichtet werden, und selbst die älteren Gäste des Freihofs veranlaßt, von Zeit zu Zeit ans Fenster zu treten, um sich aus der Schattierung, dem Bau und Zug des Gewölks in ebenso wohlbegründeten als selten zutreffenden Schlußfolgerungen Rats über den Gang der Witterung zu holen.

Das Haus war groß, aber auch voll, und es gab Stunden, wo sich die Leute in den Salons doch allzu nahe auf den Nähten saßen, der undurchdringliche Qualm, welcher das Rauchzimmer füllte, nicht einmal mehr zu schneiden war, und die Wände durchaus keine Anlage dazu zeigen wollten, sich zu dehnen und auseinanderzuschieben. Und das wurde um so lästiger, da von einer allgemeinen Geselligkeit bei den unter ein Dach Zusammengepferchten doch eigentlich keine Rede war. Das ist nun einmal so in diesen modernen Musterphalansterien für die künftigen ideal-sozialen Allerweltsbeglückungsanstalten.

Die Gruppen sonderten sich möglichst, aber man kam einander doch in den Weg. Man konnte nicht den ganzen Tag Zeitungen lesen, eine Zigarre an der andern anzünden oder stundenlang über dem Billard liegen, wie Studiosus Olga Platow. Graf Marchegg hatte einen ganzen Vorrat von Schnadahüpfeln erschöpft und das Pianino gründlich verstimmt, das kleine Kricket, das man im Speisesaal eingerichtet, wurde immer wieder durch die Tafeldecker gestört, selbst an dem verzweifelten Versuch, einige Choräle zu singen, hatten die Misses schließlich, wie ihre Zuhörer schon längst, kein Vergnügen mehr gefunden, und die weißlichen Nebel zogen noch immer über die 317 Wiesen und hingen wie festgehakt in den Ästen der Tannenbäume. Man hatte sich zuletzt zu außerordentlichen Maßregeln aufgerafft, einer der jungen Herren hatte Gesellschaftsspiele vorgeschlagen, Graf Marchegg lebende Bilder zu arrangieren versprochen und der Sportsman war selber ausgezogen, irgendwo vielleicht ein Zimmergewehr oder, da sich dagegen voraussichtlich Einspruch erheben werde, wenigstens eine Bolzbüchse aufzutreiben, die zum Scheibenschießen verwendet werden konnte. Der Schützenstand ließ sich dann in einem der langen Korridore oder Säle leicht einrichten.

In Erwartung des Ergebnisses seiner Mission hatte sich die kleine, sonst immer zusammenhaltende Koterie vorläufig zerteilt. Als Lydia gesucht wurde, um sie zu einer Beratung des Komites für die Tableaux vivants einzuberufen, fand man sie in einer Ecke des Damensalons bei Frau Rodek und wenig geneigt, sich in der Diskussion stören zu lassen, in welche sie sich vertieft hatten. Mit Rücksicht auf die Anwesenden wurde sie bloß leise geführt. Es waren wenige Herren da, zumeist nur Damen, von denen ein Teil den großen Mitteltisch mit den illustrierten Journalen umlagerte, andre saßen mit einer Handarbeit in kleinen Plauderkränzchen beisammen, und nur einzelne hatten sich mit ihrer Lektüre in eine Fensternische geflüchtet.

Mochten die Bilder sich selbst stellen und andre ihren Witz anstrengen, Scharaden zu ersinnen, das Thema, welches Lydia mit der alten Dame verhandelte, hatte für sie zu viel Interesse, um es da 318 fallen zu lassen, wo ihr Schweigen gerade als ein ohnmächtiges Aufgeben der von ihr eingenommenen Position gedeutet werden konnte. Man sollte nicht glauben, daß sie sich wirklich der landläufigen Ansicht von dem Maß und der Einschränkung des weiblichen Geistes und Wirkungskreises gefangen gab. Warum sollte Lady Macbeth ein unbegreifliches, ein ungeheuerliches Weib sein, das Shakespeare nur gezeichnet hätte, um selbst in diesem über die Möglichkeit gesteigerten Beispiele die Unzulänglichkeit der Frauennatur an Kraft und Willen darzustellen?

Seit jenem Tage, wo sie der armen Augenleidenden aus dem Tell vorgelesen, hatte sie heute zum ersten Male wieder das bereitliegende Buch aufgenommen, mit dem die Kranke schon eine geraume Weile ihren Sohn erwartete. Er hatte versprochen, ihr bald zu folgen, und nun waren doch Stunden vergangen, und die Verteidigerinnen des Frauentums, die dennoch in so gegensätzlicher Auffassung auseinandergingen, waren von dieser ihr tiefstes Denken und Empfinden berührenden Erörterung so sehr in Anspruch genommen, daß sie es nicht bemerkten, als Werner neben ihnen stand, bis er sich selbst mit der Frage anmeldete, ob denn eine so selbstverständliche Sache noch eines solchen Ereiferns wert sei.

Seiner Mutter Ausspruch lautete nämlich dahin, daß Lady Macbeths Wahnsinn eben nur eine natürliche Folge des Mißverhältnisses zwischen den Schrecken der Schuld und der Widerstandskraft des weiblichen Nervensystems und des gemütstieferen Charakters sei.

»Selbstverständlich?« fragte Lydia in der Wärme 319 des Widerspruches. Es war das erste Wort, das sie wieder an ihn richtete, seit sie sich auf dem Altane in Rorschach unmutig von ihm gewendet. Doch er hatte bloß zu seiner Mutter gesprochen, und diese ließ ihn jetzt nicht zur Antwort kommen; seine scherzhafte Bemerkung hatte ihr nur ein flüchtiges Lächeln abgewonnen, die schon seit Stunden im stillen angehäuften Vorwürfe kamen zum Vorschein.

»Aber so lange! Du solltest dir hier ein paar Wochen Erholung gönnen und nun arbeitest du fast angestrengter als zu Hause.«

»Nein, nein, sei unbesorgt, das tu ich nicht, liebe Mutter. Aber wenn ich fort bin, darf darum doch nicht alles stillstehen.«

Es war vielleicht gut, daß die getrübten Augen die Blässe und Abspannung in seinen Zügen nicht wahrnehmen konnten. Werner sah wirklich abgearbeitet aus, aber er suchte es sich nicht merken zu lassen und unterdrückte sogar zum Teil den tiefen Atemzug der Müdigkeit, während er sich über die mächtige Stirne und durch das dichtstarrende, kurzgeschorene Haar strich.

»Und wozu hast du denn die Hilfsarbeiter, den Gesellschafter, wenn du alles selbst tun mußt?« schmollte die Mutter.

»Alles nicht. Den geschäftlichen, den finanziellen Teil, die Überwachung der technischen Ausführung und tausend und eine Kleinigkeit überlasse ich ihnen ja ohnehin; was aber die künstlerische Vorarbeit und alle darauf bezüglichen Details betrifft, das basiert auf einem einheitlichen Gedanken und will darum auch nur einen Kopf – der Hände können dann viele sein.«

320 »Auch der Kopf muß ausruhen. – Es ist lieb und freundlich von Ihnen, Fräulein,« wandte sie sich dann an Lydia, »daß Sie sich einer alten Frau annehmen, aber Sie täten doch ein besseres Werk, wenn Sie ihn ein wenig in Ihren heiteren Kreis zögen.«

»Dazu gehört möglicherweise mehr Kraft – selbst die Unzulänglichkeit des Willens nicht vorausgesetzt – als Shakespeare unserm Geschlechte zuschreibt. Er ist vielleicht zuweilen doch zu galant, wenn er uns immer zu den Stärkeren macht, denn das tut er ganz ohne Zweifel, und darum erlaube ich mir, gegen das ›Selbstverständlich‹ in aller Bescheidenheit Protest einzulegen, so selbstverständlich es mich auch abfertigen sollte. Aber ich lasse mir nun einmal nicht imponieren.«

Die Bitte der alten Frau war trotz dieser letzten Versicherung nicht ohne Wirkung geblieben, denn schon die Eröffnung dieses kleinen Krieges bewies einen freundlichen und versöhnlichen Sinn. Der neckische Ton aus diesem Munde hatte einen doppelten Reiz, weil er als etwas Ungeahntes überraschte. Doch war die Scherzrede nicht ohne ernsten Grundgedanken, und es geschah nicht absichtslos, daß sie das Gespräch wieder zu dem Gegenstande des unentschieden gebliebenen Streits zurückspielte.

Werner schien jedoch ihr erstes Wort wahr machen zu wollen. Er wich ihrem Blicke, der doch sichtlich ein Eingehen auf ihre Herausforderung erwartete, in gleichgültiger Zurückhaltung aus. Seinen als unanfechtbar hingeworfenen Ausspruch zu verfechten, gab er sich nicht die Mühe. Die Mutter war es, welche sich wieder hineinziehen ließ, und deren Einwurf bewog Lydia zur Begründung ihrer Angabe.

321 »Shakespeare hat ganz unverhohlen dargetan, wofür er die Männer schätzt und wo er das Heldentum sucht. Sehen Sie sich seine Stücke einmal an, da steht Lear, der geschwätzige Greis, mit seinen schwächlichen Rittern und Schwiegersöhnen drei Töchtern gegenüber, stark im Bösen wie im Guten; im Kaufmann von Venedig, Antonio, der langweilige phlegmatische Ehrenmann, der energischen, ihn geistig himmelhoch überragenden Porzia. Wo ist das Heldentum bei Hamlet oder Othello? Dort der geistreichelnde, sich immer selbst bespiegelnde Geck, hier der bornierte, schwerfällige und zuletzt in toller Raserei blind dahinstürmende afrikanische Büffel. Das sind meine Herren Bekannten von der Bühne her; einer ist mir widerwärtiger als der andre. Und in diesen Reigen hinein gehört auch Macbeth, der niemals König geworden wäre ohne seine Frau.«

»Eine höchst originelle Rezension! Was sagen Sie dazu?« rief Graf Marchegg, den Lydias lebhafte Worte herbeigezogen hatten, mit vollen Händen applaudierend, indem er sich mit seiner Frage an Werner wendete.

»Ja, sehr originell,« stimmte dieser kurz und mit ironischem Lächeln bei. Seine Mutter aber vermochte es trotz ihrer Jahre nicht, so kühl zu bleiben. Sie ereiferte sich ein wenig und schüttelte mit ernster Mißbilligung den Kopf.

»Das soll nun wohl gar ein Verdienst dieser abscheulichen Lady Macbeth sein?«

»Derlei hab' ich ja auch gar nicht behauptet,« entgegnete Lydia, die sich durch Werners Spott aufgestachelt fühlte, ebenfalls mit mehr Eifer. »Aber man findet es ja auch vom gewöhnlichen Standpunkt aus richtig 322 und lobenswert, daß eine Frau auf ihren Mann stolz und für ihn ehrgeizig sei. Bei ihr war der Hauptfehler, daß sie ihn für größer und stärker hielt, als er war. Aus dieser Erkenntnis entspringt ihr Wahnsinn. Macbeth zeigt sich von Anfang bis zu Ende als jammervoller Schwächling. Von den Prophezeiungen verlockt, läßt er sich schieben und treiben, ganz und gar unselbständig, feig vom Scheitel bis zur Sohle, der Gespenster sieht, wo seine Frau ein königliches Lächeln für ihre Gäste hat, der sich die Furcht wegschwatzt wie ein Kind im Finstern, und weil er sich für unverwundbar hält, bis zum letzten Augenblicke bramarbasiert. Qualis vir, talis oratio. Mir stehen nur eben keine Zitate zu Gebote.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet!« applaudierte Graf Marchegg. »Keine Zitate? Ein lateinisches sogar!«

Lydia zuckte geringschätzig lächelnd die Achseln.

»Eine Schulreminiszenz,« meinte sie. »Ich hatte Belege aus Shakespeare im Sinn. Das Sprichwort war mir nur eine Stütze.«

»Aber eine vortreffliche. Was sagen Sie, Herr Rodek?«

Der vom Grafen Angerufene war Lydias Ausführungen, in denen sich eine so ungewöhnliche Auffassung und Anschauungsweise und eine scharfe, wenngleich dem Paradoxen zuneigende Urteilskraft verriet, mit größerer Aufmerksamkeit gefolgt, als er zeigen wollte. Er wendete jedoch sein Auge jetzt, wo auch sie ihren Blick fragend auf ihn richtete, absichtlich weg, und der Ton, in welchem er antwortete, gab nur unwillkürlich eine größere Teilnahme kund, denn 323 eigentlich sollte er bloß gleichgültig, ja sogar gelangweilt klingen.

»Ich halte auf Sprichwörter nichts. Vielleicht träfe es besser zu, wenn auch hier dem Prinzipe nach die Frau für den Mann gesetzt worden wäre. Wie die Frau, so die Rede. Den Mann beurteilt der Verständige ohnedem nach der Tat.«

»Die ja heutzutage auch nur in Worten besteht.«

Werner würdigte diesem beinahe leidenschaftlichen Ausfall keine Antwort, und Lydia erhob sich, von solchem Schweigen sichtlich noch mehr verletzt, und trat mit Graf Marchegg zu ihrem Schwager, der in der letzten Fensternische, ganz am Ende des Zimmers, ein einsames Plätzchen zu ungestörter Lektüre gefunden hatte.

Frau Rodek konnte sich noch immer über die Aufstellung solch unerhörter Grundsätze nicht erholen, die ihrem ganzen Gefühl so schnurgerade zuwiderliefen.

»Furchtbar sind sie alle beide, diese Macbeths – Mann und Frau – furchtbar! Wie man nur Partei für sie nehmen kann!« sprach sie mit immer wiederkehrendem Kopfschütteln.

»Wie die Frau, so die Rede,« wiederholte ihr Sohn, und in einem Zusammenhange, der für sie vollkommen verständlich war, setzte er hinzu: »Die Kinder erben der Väter Blut, wenn sie auch für deren Taten unverantwortlich sind.«

Vielleicht wäre der Ausspruch nicht ohne Erwiderung geblieben, aber Frau Schneppe, die zwar nicht so nahe saß, daß sie jedes Wort hatte vernehmen können, aber doch immerhin einiges aus dem von 324 Lydias Seite zuletzt geführten Gespräche aufgefangen hatte, rückte ihren Sessel etwas heran und hielt den Moment für günstig, ihr eignes Urteil abzugeben. Sie zählte auf eine entgegenkommende Stimmung.

»Ich muß sagen, ich finde es überhaupt sonderbar, daß ein Fräulein sich so unverhohlen mit dergleichen Dingen beschäftigt. Ich würde meine Tochter nie in ein Stück von Shakespeare führen. Den Hamlet kennt sie aus der Oper, aber da versteht man doch nicht alles so genau. Und nun schon gar lesen! Da gibt es Schilderungen und Ausdrücke – na, da wollen wir lieber darüber schweigen.«

»Ich bin darin ganz Ihrer Ansicht, besonders was das letztere betrifft,« übernahm Werner die Erwiderung für seine Mutter, die eine so klare Zurückweisung doch nicht über sich gebracht hätte.

Für Frau Schneppe aber war wohl auch dieser Wink zu wenig deutlich; ehe ihre Tochter, welche denselben besser verstanden hatte, noch näher zuzurücken und sie zu warnen vermochte, hatte sie schon mit einem Blick des Einverständnisses kichernd erwidert:

»Ja, ja, die Welt lehrt für mancherlei Verständnis – aber man behält es für sich – besonders ein Mädchen sollte –«

Da ward sie aber von andrer Seite her unterbrochen, was ihr ziemlich unerwartet kam, denn sie fuhr mit einer fast komisch anzusehenden Betroffenheit herum, als Fräulein Platows Stimme an ihr Ohr schlug.

»Ei, nicht doch! Das gereifte Verständnis andern vorenthalten – das wäre ja Geiz. Und gerade dieses häßlichen Lasters halte ich Sie nicht für fähig.«

325 Lag denn dieses kecke Halbwesen überall im Hinterhalte? Frau Schneppe hat mit nicht geringem Unbehagen das Auftauchen desselben in der Pension wahrgenommen, aber durch das völlig indifferente Verhalten dieses neuen Zuwachses der »Oxles und Boxles« die anfängliche Unsicherheit wieder verloren. Jetzt war sie erschrocken, denn sie erkannte rasch, daß die Ruhe nur eine trügerische gewesen; aber nun versuchte sie es, nach einem vernichtend messenden Blicke, ihrerseits mit dem Ignorieren.

Die Misses am Mitteltisch steckten die Köpfe zusammen und lachten leise, aber ihre durch die lauten Worte des Studentleins erregte Aufmerksamkeit wurde in diesem Momente durch einen hellen Ruf abgelenkt.

»Das Barometer steigt!«

Arm in Arm mit Vetter Gero war die Baronin Sarnberg im Salon erschienen. Ihr rosiges, lachendes Gesicht strahlte förmlich vor Vergnügen.

»Nichts gefunden,« rapportierte der junge Mann. »Das Schießen wird hier viel zu wenig methodisch betrieben. Aber ich habe schon nach St. Gallen geschrieben –«

»Laß du jetzt deine Bolzbüchse,« unterbrach ihn die Baronin, »das Barometer steigt; morgen gibt es schön Wetter und wir machen unsre Partie auf das Wildkirchli.«

Freudige Ausrufe antworteten. Die jungen Leute sprangen auf. Alles sprach durcheinander, und es war eine Bewegung, als sollte in derselben Minute noch aufgebrochen werden.

»Rüsten Sie sich! Sie schließen sich doch an?«

326 rief Graf Marchegg, indem er sich für seine Figur möglichst eilig vorübertummelte, um mit Gero oder sonst jemand irgendeine Wichtigkeit zu besprechen, Werner zu.

»Danke, werde zu Hause bleiben,« lehnte dieser ab.

Die Mutter war nicht zufrieden mit solchem Entschlusse. Sie sprach dem Sohne zu, sich nicht so abzusondern. Auch er müsse etwas für seine abgespannten Nerven tun, sich Bewegung machen, Zerstreuung suchen. Sie werde den einen Tag schon auch allein ohne ihn zustande kommen. Werner mochte davon nichts hören.

»Recht so, Herr Rodek, wir wollen einander zu Hause Gesellschaft leisten,« sagte Baron Sarnberg, der seinen Platz, von der allgemeinen Unruhe ergriffen, einen Augenblick verlassen hatte. Damit war jedoch dessen Frau keineswegs einverstanden.

»Gut, dann werde ich mich an Gero halten,« schmollte sie. »Soll ich etwa auch Stuben hüten, weil du zu bequem bist? Willst du mir deinen starken Arm leihen, Gero, so ernenne ich dich für morgen zu meinem Ritter.«

»Mit Vergnügen, auch wenn ich dich tragen muß,« stellte sich der junge Athlet zur Verfügung. »Nur gleichen Schritt und Atem halten – ich kann auch an jeden Arm eine nehmen.«

»Ich verzichte,« erklärte ihm Lydia, der sein Anerbieten vermeint war, mit einer scherzhaften Verneigung.

»Wenn Sie es nicht verschmähen, sich auf mich zu stützen,« trug sich ihr Graf Marchegg mit einem 327 vielsagenden Blick an, der aber bei ihr nur ein spöttisches Lächeln hervorrief.

»Sie bringen sich ja selbst nicht hinauf.«

»Auf die Spitze des Säntis – auf den Chimborasso, wenn es sein muß, wenn mir eine schöne Hand da hinaufwinkte.«

»Aus den Wolken? Vielleicht die Ihrer Frau Gemahlin,« unterbrach Fräulein Platow seine Beteurungen, indem sie die frischgerollte Zigarette an ihren spöttisch lächelnden Lippen netzte, um sie zu schließen.

Der Graf schien zu stutzen. Er stieß dann einen sehr tiefen Seufzer aus und sagte mit der Miene eines Leichenbitters:

»Ach, liebes Fräulein, wozu Geister beschwören? Lassen wir die Gute ruhen. Ich bin ja nun schon sechs Monate aus der Trauer.«

So trübselig der Ton auch war, in welchem diese Aufklärung gegeben wurde, wollte es Werner doch erscheinen, als ob dabei ein heimliches Lächeln die Mundwinkel des Lebemannes umzucke. Es war ihm zuvor die Bedeutung der an Lydia gerichteten Phrasen nicht entgangen, und er konnte sich nicht verhehlen, daß dem Courmacher eine ruhige und unverkennbare Abfertigung zuteil geworden. Wenn also von den bösen Nachreden der Frau Schneppe noch etwas nicht ganz vom Unglauben Beseitigtes in ihm haften geblieben, meinte er jetzt auch die letzten Zweifel in dieser Beziehung verwerfen zu müssen, aber was konnte denn nicht alles auf Täuschung berechnetes Spiel sein? Hier zwischen dem kleinen Studenten 328 und Graf Marchegg wenigstens mußte ganz offenbar irgendeine Abmachung bestehen. Der schalkhafte Blick, den sie rasch wechselten, war zu genau von ihm beachtet worden. Den Eindruck konnte Olgas Ausruf der Überraschung nicht verwischen.

»Ist es möglich?« hatte sie erwidert, sich dann aber sofort an Frau Schneppe gewendet. »Da müssen Ihre sonst unfehlbaren Informationen doch wohl falsch gewesen sein. Nun sehen Sie einmal! Und ich hatte mich so fest auf Ihre Kenntnis der Personen und Verhältnisse verlassen. Sie sind da so genau eingeweiht in die Geheimnisse des Freihofs, daß man an Somnambulismus glauben sollte. Das kommt ja übrigens vor, daß man in einem oder dem andern einmal schlecht unterrichtet ist. Aber in Zukunft wollen wir die Quellenforschung schon kritischer betreiben, nicht wahr, Frau Schneppe?«

Die Angesprochene brachte zuerst kein Wort hervor. Mitten in einer Beratung, ob sich ihr altes blaues Kleid nicht in einen Matrosenanzug, wie ihn die Wingerode neulich getragen, für Wilma verwandeln lasse, und ob man den Regentag nicht am besten dazu verwende, waren die beiden Damen aufgestört worden. Die Tochter mußte sie erst anstoßen, ehe sie begriff, was im Werke war und wogegen sie sich zur Wehr setzen sollte.

Und im ersten Moment erkannte sie nicht einmal noch ganz, was ihr drohte. Sie sah nur das dreiste Näschen mit den aufgesteckten Gläsern sich gegenüber durch eine dichte Rauchwolke. Aber nun zeigte sich auch, daß hier wirklich etwas wie eine Verschwörung 329 im Gange war. Wie auf ein vorher verabredetes Zeichen hatte sich plötzlich wieder Ruhe eingestellt. Die Misses steckten ihre Köpfe wieder in die Reviews, allerdings nur, um dahinter mit gespannter Neugierde hervorzulauschen; aber auch sonst war es im Saale still geworden. Die absichtlich laut gesprochenen Worte hatten auch anderwärts Aufmerksamkeit erregt, was aber die zuversichtliche kleine Skandalmacherin durchaus nicht befangen machte. Sie hatte sich einen Sessel unmittelbar an die belagerte Bastion herangeschoben und eröffnete mit ihrer Zigarette das Feuer.

»Aber ich – ich bitte –« stotterte die derart Angegriffene fassungslos.

Fräulein Olga nickte ihr wie in vertrautester Freundschaft zu, lehnte sich noch weiter vor, wie zu einem heimlichen Geflüster, dämpfte ihre Stimme aber nicht im geringsten.

»Und was das Verständnis betrifft, da dürfen Sie mir gegenüber nicht hinter dem Berge halten, wenn wir so unter uns sind. So ein bißchen Klatsch und Verleumdung, das ist ja ein Hauptvergnügen – das dürfen wir uns nicht versagen. Wir wollen einmal der Reihe nach alle durchnehmen.«

»Wollten Sie nicht – mit dem Rauchen aufhören?«

Es sollte wohl eine andre Aufforderung kommen, aber die Stöße Wilmas und deren empörte Mienen vermochten der Mama nicht mehr Mut einzuflößen. Man konnte ja nicht wissen, was dieses schreckliche Wesen noch alles zur Sprache bringen mochte. Es ließ sich auch wirklich gar nicht stören, sondern meinte nur, es sei eine gar dicke Luft im Zimmer.

330 »Haben Sie etwas dagegen, meine Damen?« wandte sich Olga sodann an den Mitteltisch, und als von dort unter Kichern und Flüstern die Erklärung kam, es tue gar nichts, blies sie erst recht den Tabaksqualm Frau Schneppe unter die kreideweiß gewordene Nase. »Oh, nicht wahr, der Tabak säubert die Luft?«

»Aber nicht mir ins Gesicht – es ist hier überhaupt – ich bitte, Herr Rodek, wollen Sie sich nicht unser annehmen?«

Zwar mißfiel Werner die Art und Weise, wie man die Unliebsamen behandelte, dennoch fühlte er selbst zu wenig Mitleid für sie, um ihrem Aufruf Folge zu leisten.

»Wenn Sie es wünschen, will ich den Kellner rufen, damit Sie ihm Ihre Befehle erteilen.«

»Sie meinen, er solle die Fenster öffnen?« fiel Fräulein Olga noch immer im jovialsten Tone ein. »Ja, das wäre recht gut, Fenster und Türen, damit die Luft gereinigt werde und dieses widerliche Insektenvolk Abzug fände. Es gibt Schnaken hier, böses, giftiges Gezücht. Ich kann es nicht ausstehen und gehe ihm zu Leibe, wo ich kann. Was meinen Sie, Frau Schnepfe?«

»Ich bitte, wir heißen Schneppe!« schnitt hier Wilmas scharfhelle Stimme ein.

»Richtig, richtig, eine Verwechslung,« berichtigte Olga aufs bereitwilligste. »Ich hatte nicht an den Vegetarianismus gedacht. Ich begreife nicht, wie ich das vergaß – man wird doch bei Ihnen nicht an Fleisch erinnert – durch gar nichts, liebstes Fräulein – Schneppe.«

331 Der über Wilma hingleitende Blick ergänzte aufs deutlichste das Wort. Die tiefste Entrüstung, der nur ein ersticktes »Komm, Mama!« blieb, war natürlich.

»Man kann hier nicht atmen!« stöhnte die Mutter.

Endlich nahm sich ein Ritter der Bedrängten an. Der alte Mr. Huxley selber verließ seine »Times« und erklärte dem die Hausordnung brechenden Fräulein, daß die Zigarette im Damensalon auch einer Dame nicht gestattet sei. Sein schönes, ehrwürdiges Gesicht drückte aber große Verwunderung aus, und aufmerksam suchend erhob er den Blick, als die Getadelte ihre Behauptung von früher keck wiederholte.

»Böse, tückische Mücken sind hier, dear Mr. Huxley, die verfolgen und stechen die Menschen bis aufs Blut. Die müssen hinaus und die vertreibt nur der Tabaksrauch.«

Eine Wolke, um einen ganzen Schwarm zu ersticken, wälzte sich zu den Schneppes hinüber, Mutter und Tochter hielten ihr auch nicht mehr stand. Mit Blicken, die wie Dolche trafen, schossen sie an Olga vorüber, diese aber kam ihnen noch zuvor und öffnete ihnen, sich wie ein Kammerdiener verbeugend, weit die Türe.

»Sie gehen schon, meine liebe Frau Schneppe?« rief sie der stolz Hinausrauschenden zu. »Und ich glaube doch, es ist mir gelungen, die Luft zu reinigen. Aber ich will vor der Türe bleiben und kein Ärgernis geben mit meiner Zigarette. Man muß den Schnaken auch die Wiederkehr verleiden.«

Das letztere war zu dem guten Reverend gesprochen, der noch immer erstaunt war, daß er die 332 Mücken absolut nirgends entdecken konnte. Auch selbst das nun unverhohlen losbrechende Gelächter klärte ihn nicht über seinen harmlosen Irrtum auf.

Es war Leben und Gesprächigkeit in all die im Salon verteilten Gruppen gekommen. Mochten auch manche sich über das lärmende Treiben der kleinen Koterie, über das burschikose Auftreten des weiblichen Studenten und die Verletzung der Hausregel aufgehalten haben, direkt für die Vertriebenen wollte doch niemand Partei nehmen. Mutter und Tochter Schneppe hatten sich mit ihren zudringlichen Annäherungsversuchen und ihren bösen Zungen wenig Freunde erworben. Man gönnte ihnen die scharfe Lektion und übersah lächelnd dabei das Unzukömmliche in der eben miterlebten Szene.

Es schien nur einen einzigen Tadler zu geben, das war Werner. Auch bei ihm waren die Gefühle gemischt, und er hätte sich vielleicht beschieden, seine Meinung für sich zu behalten, wäre er nicht gewissermaßen dazu aufgefordert worden, dieselbe zu bekennen, als Baronin Sarnberg zu ihm und ihrem Gatten herantrat und sich ganz entzückt über den »allerliebsten tollen Streich« äußerte.

»Wir müssen eben Selbsthilfe üben, wenn uns die Herren im Stiche lassen,« erklärte sie auf seine erste halb ausweichende Antwort und verwandelte dadurch seine Zurückhaltung in Sarkasmus, das war ja so ganz ihrer Schwester Ton und Standpunkt, daß er sie selbst vor sich zu sehen meinte. – »Vielleicht werden wir uns künftig noch dazu entschließen, die Damen zu Hilfe zu rufen, wenn sie sich so tatkräftig erweisen. 333 Ein bißchen verkehrte Welt müßte ganz amüsant sein. Nur befürchte ich, daß bei solcher Durchführung einer aus den aristokratischen Kreisen der Residenz mit zweifelhafter Berechtigung hierher übertragenen Exklusivität der allgemeine Verkehr an wirklich vornehmer Manier schwerlich gewinnen, wohl aber die wohltuende, jedem Menschen seine Geltung gewährende Geselligkeit bestimmt Schaden leiden dürfte.«

Und wie es ihm fast war, als hätte er zu Lydia gesprochen, so mußte es auch ihr selbst gewesen sein, der leisen Röte nach zu urteilen, die ihr in die Wangen stieg. Er war nicht einmal überrascht, als er sie neben sich stehen sah und ihre Stimme hörte.

»Man sollte beinahe meinen, wenn man Sie so sprechen hört, Sie seien ein Anhänger jener – Schnaken. Aber nein, ich weiß, wie Sie eine von denselben hinterrücks Angegriffene in Schutz genommen haben. Olga hat mir alles wieder erzählt, und ich weiß, daß ich Ihnen Dank schulde.«

»Das muß ein Irrtum sein,« entgegnete Werner mit einer leichten, förmlichen Verbeugung, indem er gleichzeitig einen Schritt zurücktrat. »Ich habe nur überhaupt protestiert – nicht für Ihre Person ausschließlich. Es gelang mir nicht einmal, diese vertraulichen Mitteilungen erfolgreich abzulehnen.«

»Ah, Sie wollen keinen Dank.«

»Ich verdiene ihn nicht. Sie müssen ihn für Ihre Verteidigerin bewahren, die Damen wissen sich ja viel nachdrücklicher selbst zu helfen.«

Er wendete sich dabei, den Kopf abermals ein wenig neigend, und wollte zu seiner Mutter 334 zurückkehren. Lydia hielt ihn jedoch nach dem ersten Schritte an.

»Auf ein Wort noch, Herr Rodek,« sagte sie in einem Tone, der ihn zum Stillstehen zwang, doch änderte derselbe sich sogleich und wurde freundlich, ja fast herzlich bewegt. Selbst die gleichen Worte, welche schon auf der Terrasse in Rorschach gesprochen worden waren, klangen jetzt ganz anders. »Und was tut es Ihnen? frage ich Sie nochmals, denn ich fühle recht gut, daß sich Ihr Mißvergnügen nicht allein gegen Olga richtet. Sie haben etwas gegen mich, Sie weichen mir aus, Sie machen mich mit verantwortlich, Sie mißbilligen wohl sogar diese Frage. Aber ich lasse mich dadurch nicht abschrecken. Sie haben – wie Sie es auch deuten mögen, für mich ein Wort eingelegt, das ist ein Beweis freundlicher Gesinnung. Ich weiß das zu schätzen, Sie begehren keinen Dank – gut. Er soll Ihnen nicht unbequem werden. Es ist ein Zug Ihrer Individualität, und ich lasse sie gelten; üben aber auch Sie die gleiche Rücksicht. Gegen Männer tun Sie es, weshalb nicht gegen uns ebenfalls? Sie sind ein Freund jenes Professors – Köchle glaube ich – und doch stimmen Sie in vielem nicht überein. Es ist gewiß nicht nur der Vegetarianismus, über den Sie beide verschiedener Ansicht sind, oder irre ich mich?« Und als Werner lächelnd ihre Voraussetzung bestätigte, fuhr sie fort: »Und doch trennt Sie das nicht. Warum können wir beide nicht auch Freunde sein? Warum müssen wir unsre freie Bewegung gegenseitig behindern?«

»Wir beide – Freunde?« Es war ein Ausruf 335 des Erstaunens, dem sich diesmal kein Spott beimengte, wohl aber eine Regung fast wie zorniger Widerwillen.

Ihr leichtverletzter Stolz bäumte sich wieder auf.

»Nun, erlaubt das etwa Ihre Unduldsamkeit nicht? Ich hätte Sie nicht für so rauh gehalten.«

»Und was täte es Ihnen?«

Sie schwieg ebenso, wie er geschwiegen, als sie dieselbe Frage an ihn stellte. Aber nach einer Weile hob sich ihr Auge, das den Boden gesucht. Er wartete auf Antwort und er sollte sie haben.

»Ich meine, wir sollten die uns entfallenen Worte einander nicht wie Fangbälle zuwerfen, sonst könnte ich Ihnen erwidern, daß jene alle Geselligkeit störende Exklusivität nicht nur in aristokratischen Kreisen zu finden ist, wie das Beispiel zeigt. Der Trieb, welcher die Menschen ohne alle Nebenabsicht einander aufsuchen läßt, hat mich zu Ihnen geführt, nebstbei aber auch ein Gefühl, als hätte ich von unsrer ersten Begegnung her noch immer etwas bei Ihnen gutzumachen. Sie sehen, ich bin aufrichtig und ziehe die Wahrheit irgendeiner schmeichelhaften Wendung vor, durch die sich die Männer ja so leicht gewinnen lassen, auch wenn sie noch so unnahbar erscheinen. Also wenn Ihnen die Freundschaft nicht paßt, zum mindesten – keene Feendschaft niche.«

Ihr anfänglich ernster Ton war durch leise Ironie zu anscheinend heiterer Gleichgültigkeit hindurchgegangen. Lächelnd verließ sie ihn mit leichtem Nicken.

Er kehrte sich rasch nach ihr um und hätte nun die Hand ausstrecken mögen, die ihrige zu erfassen, die er übersehen, als sie geboten wurde. Lydia 336 jedoch befand sich schon nicht mehr in seinem Bereiche. Sie war in die Fensternische getreten und berührte die Schulter ihrer Schwester, diese hinwieder achtete nicht darauf.

Sie saß halb auf dem Schoße ihres Mannes, ohne sich daran zu kehren, ob irgendein Zeuge sie in dieser vertraulichen Stellung sah, und hatte den Arm um seinen Hals geschlungen, während sie mit süß kosender Stimme ihr früheres Schmollen und den daraus entsprungenen kleinen ehelichen Streit zu verwischen bemüht war.

»Du kindischer Mensch!« schalt sie ihn in den einschmeichelndsten Lauten. »Weißt du denn nicht, daß es für mich kein Vergnügen gibt ohne dich? Wo du fehlst, dort ist meine Freude weg. Wie kannst du einen Scherz nur für Ernst nehmen, Odo? Glaubst du wirklich, ich würde dich verlassen? Nicht, wenn man mir die Aussicht ins Paradies verspräche. Mögen sie sich unterhalten, wie sie wollen, ich bleibe bei meinem Männchen im Hause.«

»Nein, meinetwegen sollst du nicht entsagen. Gehst du nicht ohne mich, muß ich wohl mit.«

Ein Kuß belohnte den Nachgiebigen, dessen Wangen glühten und dessen Augen sich an der weichen und strahlenden Schönheit der jungen Frau entzündeten.

Es war, als ob ein holdes Liebeslied durch einen prosaischen Wächterruf grausam unterbrochen würde, da Lydia die in süßer Weltvergessenheit Versunkene mit wiederholter Mahnung aufstörte.

»Jenny, du vergißt dich!«

Lachend erhob sich die junge Frau, die weißen Zähne blitzten zwischen ihren feuchten Lippen.

337 »Ach, du weißt nicht wie ich mich amüsiere!« rief sie fröhlich. »Er ist so köstlich eifersüchtig.«

»Und du bist – so töricht.«

Wie herb das Wort klang! Sie waren sehr verschieden, die beiden Schwestern.

Werners Blick hatte sich wieder feindselig verfinstert.

»Wir beide Freunde? Das bleibt unmöglich!« kam's fast laut von seinen Lippen.

Die Worte aber wurden übertönt durch den heitern Lärm, der von der Tür her vernehmlich wurde. Fräulein Olga kam in den Saal gestürmt.

»Viktoria! Ausgeräuchert! Sie ziehen ab!« rief sie. Von allen Seiten gab es Fragen, und sich nicht wenig in die Brust werfend, erzählte das knirpsige Halbwesen: »Sie gingen natürlich direkt zur Frau Wirtin, Beschwerde zu erheben, und drohten den Platz zu räumen. Es wurde ihnen vollkommen recht gegeben, aber zugleich auch vorgestellt, daß sich da schwer etwas machen ließe – man könne doch nicht verlangen, daß – und so weiter. Kurz und gut – hin und her – man begehrte die Rechnung, man verläßt noch heute den Freihof und, wie es scheint, Heiden. Die Luft wird rein, die Miasmen ziehen ab. Ausgeräuchert, ausgetrieben!«

Lachen, Händeklatschen, Zurufe, die Siegerin wurde beglückwünscht und gefeiert. In das rauschende Durcheinander klangen etwas schrill die Töne des Pianos, an das sich Graf Marchegg gesetzt.

»Die Bremsen san giftig
Und nach neamd sein G'schmack,
Und wann ma's gar nimma loskriagt,
Aft raukt ma Tabak –«

338 improvisierte er sattelfest nach einer seiner Lieblingsmelodien, schloß mit einem Juchzer, den die »Ausgeräucherten« wohl bis in ihr Zimmer hinaufhören mochten, und ging dann, während ein Halbdutzend Stimmen jubelnd und möglichst distonierend einfiel, mit einer kühnen Schwenkung in den Höllengalopp aus dem Orpheus über.

Das war die Ruhe eines Regentags.

 


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