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Bild: Ludwig Berwald

Es schien, als wäre jede Widerstandskraft in Barbara Bryk gebrochen. Sie redete nichts, aß nichts, arbeitete nichts. Zu furchtbar hatte sie der letzte Schlag getroffen. Was nun werden sollte, wußte sie nicht. Sterben war das beste. Und darum hatte es keine Not: mit dem Winter mußte der Hunger kommen, mit dem Hunger das Ende.

Ächzend griff sie sich manchmal an den Kopf. Sie konnte es noch immer nicht verstehen. Um sich für Seweryn zu retten, hatte sie das Spiel begonnen. Eben dadurch verlor sie ihn. Die Hoffnung hatte sie bisher gehalten. Jetzt brach sie unter dem zusammen, was sie sich ihm zuliebe auferlegt.

Alle glaubten, sie sei eine Hexe. Seweryn glaubte es auch. Es war keiner, der anderer Meinung war.

Und dann, immer öfter, kam der verrückte Gedanke: Vielleicht haben sie alle recht, vielleicht bin ich's! So groß war ihre Verwirrung, daß sie in Angst vor sich selbst zusammenschauerte.

»Teufelsliebchen – Hexe!« murmelte sie vor sich hin. Sie fing an, sich im Dunkeln zu fürchten. Aus unruhigem Schlaf fuhr sie auf. Sie duckte sich scheu, sie zitterte. Vor wem?

Wer rettete sie vor sich selber? Einer, der stärker war! Und eine Stimme sprach dann wohl: »Mit Eurer Erlaubnis, ich bin stärker!« Das war Roman Czarnecki, der Waldhüter. Oder war es Seweryn Kalinka?

Wenn sie ruhiger wurde, wehrte sie sich gegen die verwirrten Gedanken, die sie ängstigten. Sie überlegte. Im Winter, wenn alle Wege verschneit waren, war sie aufs Dorf angewiesen. Im Dorf bekam sie nichts. Da konnte sie samt der Pani Eusebia verhungern. Und Seweryn Kalinka, den sie liebte, würde noch lachen dazu. Wie eine Aussätzige gemieden, hier verhungern in der Öde – das konnte die heilige Jungfrau nicht zulassen, das war zu furchtbar!

Wie ein gemartertes Tier schrie sie; fiebernd sprang sie auf. So durfte es nicht kommen; es mußte noch anders werden. Der Propst sollte es verkünden, daß sie keine Hexe war! Auf den Knieen wollte sie vor Seweryn liegen – er liebte sie ja doch noch, er mußte ihr ja glauben, er hatte ja schon das vorige Mal geschwankt. Wie ein Hund wollte sie ihm nachkriechen, bis er sie aufnahm, bis er sie erlöste. Es war ja kein Leben so!

Erschöpft vom langen Hungern, ermattet durch die ewigen Gedanken, durch die Erregungen des Wiedersehens, schlich sie um das Dorf wie das Wild um die verbotenen Felder. Ließ sich ein Mensch blicken, verkroch sie sich. Nur auf einen wartete sie in fieberhafter Spannung. Ihre Augen lagen in dunklen Ringen. Ihr Schritt, der einst so fest, fast herrisch aufgetreten, war schwankend und unsicher geworden.

Und der eine wollte und wollte nicht kommen. Im Regen kauerte sie; der frühe Novemberabend schlich über die leeren Felder; vom Wege her knarrten die nackten Äste kahler Bäume im Wind. Lichter brannten im Dorf. Eins davon leuchtete besonders hell – es kam aus der Schenke.

Sie starrte mit brennendem Auge darauf hin. Vielleicht saß Seweryn Kalinka bei diesem Licht!

Er saß wirklich dabei. Warm und dunstig war der Schenkraum. Man fand den Burschen jetzt überhaupt nur noch hier im Kruge. Was ihm von seinem Verdienst, von allen Ersparnissen noch übrig geblieben war, jagte er durch die Gurgel.

»Nicht ich trinke – der Kummer trinkt!« sagte er, wenn die anderen ihn ermahnten.

Den schweren Kopf in die Hände gestützt, saß er jetzt da. Die Stube war leer. Nur der Schmied trank nebenan den abendlichen Magenwärmer.

Seweryn Kalinka stöhnte. Ein Stachel war ihm seit der Unterredung mit Barbara im Herzen zurückgeblieben. Er zweifelte keinen Augenblick, daß sie wirklich die Hexe war. Und doch mußte er immer wieder denken, wie sie aufgeschrien: »Glaub' mir, ich bin's nicht!« Dreimal hatte sie ihm die Geschichte erzählt, wie sie dazu gekommen sei, sich für ein Teufelsliebchen auszugeben. Wenn sie nun recht hatte, wenn nur die Liebe zu ihm sie zu dem bösen Spiel getrieben –!

Bild: Ludwig Berwald

»Ich halt's nicht aus!« brüllte er plötzlich und schlug mit der Faust heftig auf den Tisch. Die Gläser tanzten, der Schmied schrak empor. Stöhnend legte der Bursch den Kopf auf die Arme. »Stell gleich die ganze Flasche hin!«

Und gierig trank er mit einem Zug fast ein Viertel der Flasche leer.

»Freundchen, Freundchen,« sagte der Schmied kopfschüttelnd, »ich bin ein alter Mann, hört mich: Glas ist gut, Flasche ist schlimm. Hütet Euch!«

Er hob nicht mal den Kopf. »Alter Mann,« murmelte er. Und lauter: »Helfen könnt Ihr mir doch nicht.«

Der Schmied rückte näher. Das ganze Dorf kannte den Kummer Seweryn Kalinkas.

»Was ist da zu machen? Wollt Ihr Eure Jugend an eine Hexe hängen?«

»Hexe – Hexe? Ist sie denn eine? Höll' und Tod, ist sie denn eine, Pan? Wie ein Mühlrad läuft's mir durch den Kopf – surr, surr, surr, surr – immerzu denk' ich: Spuck aus, laß sie laufen! Und immer hör' ich, wie sie schreit: ich bin keine! Hab' mit ihr gesprochen, hört zu, was sie sagt, ratet mir, seid barmherzig!«

Er erzählte abgerissen, was er von ihr vernommen, was ihn quälte.

»Meister,« schloß er weinerlich, »wenn ich weiß, sie ist das Teufelsliebchen – gut! Ich lass' sie laufen, ich geh' weg, ich spuck' aus vor ihr! Wenn ich weiß, sie ist es nicht – ich fall' ihr zu Füßen, ich dien' ihr mein ganzes Leben. Aber was weiß ich? Wer hat recht? Wem glaub' ich? Das macht mich verrückt, verrückt. Ich komme nicht los davon!« Und wieder trank er.

Nachdenklich starrte der Schmied vor sich hin, wobei er mit der Hand mechanisch über die grauen Kinnstoppeln fuhr. Plötzlich legte er die Hand fest auf die Schulter des Burschen.

»Ich weiß was!« sagte er leise. »Es gibt ein Mittel, Seweryn Kalinka, das deinen Kummer wendet.«

Der Riese zitterte. Er war schon halb betrunken, aber die paar Worte ernüchterten ihn. »Pan,« keuchte er, »habt die Gnade – redet!«

»Nicht viel zu reden. Habt Ihr noch nie von Hexenproben gehört? Nein? Äh, Ihr seid jung, unerfahren – ich jedoch bin alt. Vor langen Zeiten, als es noch keine Ketzer gab, fing der Satan Seelen wie jetzt. Kam der eine kam der andere und zeigte mit Fingern: Seht das Teufelsliebchen, die Hexe! Der könnt' es beschwören, jener … es war kein Zweifel – nun, nun, nun, ob sie auch schrie, man hat sie verbrannt bei lebendigem Leibe. Jedoch, wie Ihr Euch denken könnt, nicht immer wußte man es genau. Einer sagt so, der andere so … was kann da sein, wozu hat man die Hexenprobe? Ein Mittelchen, von Gott selbst offenbart …«

Seweryn Kalinka war aufgesprungen. »Euer Wohlgeboren, tötet mich nicht! Mein Leben werd' ich Euch dankbar sein, Euch dienen … nur sprecht. Pan!«

Der Schmied lachte in sich hinein. »Alte Köpfe arbeiten nicht mehr so schnell … jedoch mein Großvater selig … er war noch dabei und hat erzählt. Erzählt von Wasser und Feuer.« Scharf sah er den Burschen an. »Wißt Ihr, Seweryn Kalinka, ob die Pani Barbara zur Probe bereit ist? Es schmeckt nicht gut, wenn die heilige Jungfrau ihre Hilfe verweigert.«

»Sie ist bereit, Schmied, sie muß es, sie wird es … heute, morgen; je eher, umso besser! Was soll sie tun, was soll ich ihr sagen?«

»Jecku, seid Ihr wild! Ein alter Mann … nichts red' ich, nur fällt mir ein: Da war eine Hexe in Bielsko. Das ganze Dorf wußte, sie war eine, jedoch man wollte Gewißheit. Wird her sein vierzig Jahr', fünfzig Jahr', wer zählt das so genau? Schön, die Hexenprobe! Man hat sie gebracht und ein Eisen rotgeglüht. Darauf sollt' sie laufen mit nackten Füßen. Vorher haben alle gebetet zur heiligen Jungfrau, daß die Wahrheit an den Tag käm'. War sie unschuldig, die Hex', sollt' die heilige Jungfrau sie behüten und sie sicher und unverletzt über die Glut führen. War sie schuldig … äh, das Eisen brennt wie höllisches Feuer!«

»Und – fragte der Bursch mit glühendem Kopf.

»Schuldig war sie. Pan! Keiner half ihr, soviel Heilige es von droben mit ansahen. In Czernagora jedoch soll eine andere drübergegangen sein wie über Sand … nicht ein Fleckchen hat die rote Glut versengt, weiß waren die Sohlen wie Schnee. Nun, nun … man erzählt so Geschichten. Besser, als wenn man still sitzt.« –

Seweryn Kalinka hockte mit wüstem Kopf im Krug, bis das Licht herabbrannte. Dann trieb er sich in der Nacht herum. Es ging ihm wie Barbara Bryk: auch er wußte nicht mehr aus und ein.

Aber reden wollte er mit ihr. Als der Morgen dämmerte, warf er sich für ein paar Stunden aufs Bett. Der Kopf war ihm, als er aufstand, nur noch schwerer. Er hatte viel geträumt: mit nackten Füßen schritt Barbara Bryk über das glühende Eisen, das sie nicht versengte. Alle fielen auf die Kniee, er aber nahm die Unschuldige in seinen Arm und dankte der heiligen Gottesmutter.

Unaufhörlich mußte er an die Hexenprobe denken. Ein fanatischer Glaube faßte ihn: wenn Barbara Bryk unschuldig war, dann mußte sich die Gottesmutter ihrer und seiner Qualen erbarmen! Und war sie schuldig – Tod und Hölle, dann mochte sie brennen! Mit ihm war es dann doch aus.

Er verließ das Dorf und ging in die Felder. Es dauerte nicht lange, da tönte ein Schrei. Wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat und ihn wiederfindet, jagte Barbara Bryk auf ihn zu. Das Haar löste sich auf einer Seite. Ihr Gesicht totenblaß, übernächtig, abgemagert.

Er erschrak vor ihr.

Sie merkte es nicht. Sie fieberte. Und sie streckte die Arme aus; sie, die Stolze, bettelte in Demut. Sie lachte nicht mehr höhnisch, schrie nicht mehr, brauste nicht auf. Sie war ganz müde und zerschlagen. »Glaub's nicht, stell' mich auf die Probe, frag' den Lehrer, den Propst« – immer die alte Litanei.

Da rückte er heraus, ob sie beweisen wolle, daß sie die Wahrheit rede. Und stockend redete er von sich, seiner Verzweiflung, seiner Liebe. Ob sie alles tun wolle, was er verlange.

Ein Schauer durchlief sie. Sie schloß die Augen: »Alles!« Eine wilde Seligkeit war in ihr, daß er überhaupt sprach. Eine überströmende Dankbarkeit, in der sie ihm am liebsten den Rocksaum geküßt hätte. Sie wagte es nicht.

Schweigend stand er vor ihr mit mächtig arbeitender Brust. »Morgen um dieselbe Zeit – hier wieder,« brachte er dann hervor. Und als könne er sie nicht mehr sehen, wandte er sich und ging schweren Schrittes dem Dorfe zu.

Sie war am nächsten Tag stundenlang vorher da, um ihn nicht zu versäumen. Ihr Gesicht war leicht gerötet. Sie hoffte wieder, daß alles werden würde wie einst. Es war nicht mehr, daß Seweryn Kalinka sie heiraten sollte. Es war nur, daß sie wieder Mensch unter Menschen sein sollte, daß der furchtbare Bann von ihr genommen ward, daß sie nicht mehr wie ein räudiger Hund – schlimmer als der – von den Türen verjagt ward.

»Barbara Bryk,« sprach der Bursch, und ein Glühen stand in seinen Augen, »willst du beweisen, daß du nicht eine Buhlerin des Satans gewesen? Willst du tun, was wir von dir verlangen? Die heilige Jungfrau selbst soll entscheiden – so oder so –! Bitt' zu ihr, daß sie dir gnädig ist, bitt' zu ihr auf den Knieen, bitt' zu ihr zwei Tage lang!« Und durch die Zähne fügte er hinzu: »Ich bitt' auch!«

Sie verstand ihn nicht; sie suchte in seinen Augen nach einer Erklärung, scheu, demütig, voll Angst. Die Augen glühten in einem inneren Feuer.

»Willst du's bestehen, Barbara Bryk? Willst du dich reinigen?«

Sie hing noch immer an ihm, an seinen Augen.

»Ja ist ja, nein nein! Sprich!«

»Ja!« sagte sie.

Eine wilde Angst schien über ihn zu kommen.

»Sag nur ja, wenn du unschuldig bist!« rief er, und es schüttelte den Riesen förmlich. »Dir selbst zulieb, Barbara Bryk! Sonst sag nichts und lauf – lauf – so weit du kannst!« Er sah sie zitternd, gequält, flehend an.

»Ja!« wiederholte sie.

Seine Brust ward frei; hell flog es über sein Gesicht. »Dann komm Sonntag früh, wenn in der Stadt die ersten Glocken läuten, ins Dorf. Da bin ich!« Und als sie den Kopf hochwarf: »Es tut dir keiner etwas. Nicht wir, nur die heilige Jungfrau. Wirst du kommen?«

Ihr Blick suchte irr von neuem in seinem Gesicht. Sie wollte fragen, sie zögerte – da sah sie, wie er die Lippen zusammenpreßte. »Ich werde kommen!«

Stille. Nur ein Krähenruf über den Feldern.

Plötzlich warf er die Arme hoch: »Wenn's doch wahr wär' – heilige Mutter Gottes, wenn's doch wahr wär'!« Und übermächtig packte es ihn, daß er die Arme ausstreckte: »Barbara!«

Sie sah es, hörte es, konnte es nicht glauben, wollte weinen, jubeln, seine Kniee umklammern –

Da riß er sich selbst schon zurück. »Leb' wohl! Die heilige Jungfrau sei mit dir!« –

Es war ein Freitag, ein Fasttag. Er ging nicht in den Krug. Er ging zum Schmied. Der Sonnabend kam. Seweryn Kalinka fastete auch den Sonnabend. Er lag vor dem Kruzifix auf den Knieen und stöhnte. Wenn er nicht betete, verließ ihn die Unruhe nicht.

Mit ernsten Gesichtern raunte man im Dorf. Auf der Straße, im Krug, in den Häusern ward getuschelt. Roman Czarnecki trank jeden Sonnabend abend im Krug ein paar Gläschen. Er hörte das Raunen auch. Es interessierte ihn. Er verließ die Schenkstube erst um Mitternacht.

So ward es Sonntag morgen. Pani Eusebia schlief noch, als Barbara Bryk aufstand. Sie machte leise wie ein Dieb. Sie zog den guten Rock an, flocht das Haar. Die Ohrringe, die großen, ließ sie fort. Seweryn Kalinka hatte sie damals, beim ersten Wiedersehen, kaum bemerkt.

Sie hatte Freitag und Sonnabend inbrünstig gebetet. Sie rief auch jetzt in dämmernder Frühe die heilige Jungfrau an. Eine ängstliche Erwartung und große Hoffnung war in ihr. Die Nacht hatte sie darüber wenig schlafen können. Als sie in die Frische hinaustrat, zitterte sie am ganzen Leibe vor Frost. Sie biß die Zähne zusammen und kämpfte Fieber und Erschöpfung nieder. So schritt sie dem Dorfe zu.

Ganz Radolice war zu dieser Stunde auf den Beinen. Eine seltsame Aufregung hatte sich der Leute bemächtigt. Aber sie machte sich nicht wie sonst in Lärm und Geschrei Luft. Man dämpfte die Stimme, sprach leise, nickte sich nur zu. Und alle hatten ein Ziel: die Schmiede.

Die Schmiede lag am Anfang des Dorfes. Vor ihr, über die Landstraße hinweg, war ein großer freier Platz, sandig, mit spärlichen Gräsern besetzt. Ein Tümpel, auf dem sich des Sommers die Gänse und Enten tummelten, schloß sich daran.

Hier machten die Dörfler, die schon zum Kirchgang gerüstet waren, halt. Die Männer mit breitkrempigen, schwarzen Hüten, dem langen Rock, dem bunten Einsatz der Weste. Die Weiber in den besten Kleidern. Fast jede trug den Rosenkranz.

Kein lautes Wort ward gesprochen. Abwechselnd flogen die Blicke hinüber zu Seweryn Kalinka und nach der Schmiede.

Bild: Ludwig Berwald

In der Schmiede glühte schon seit geraumer Weile das Feuer und pustete der Blasebalg. Die Flammen loderten um den alten Schmied.

Draußen, am meisten gegen die Straße vorgeschoben, stand Seweryn Kalinka. Sein Gesicht war blasser als sonst. Seine Augen glühten. Dem ganzen Gesicht war der verbissene fanatische Ausdruck ausgeprägt. Die rechte Hand hatte sich geballt, als sollte sie nicht zittern.

Es war eine merkwürdige, stille Versammlung. Immer neue Dörfler stießen dazu, begrüßten die anderen durch ein Nicken, flüsterten mit den Nachbarn.

Plötzlich reckten sich die Hälse. Ein Murmeln lief von Mund zu Mund. Alle blickten nach der Landstraße.

»Sie kommt! – Sie kommt wirklich!« Staunen, Neugier, Erregung färbte die halblauten Rufe. Kein Blick ward mehr vom Wege verwandt.

Etwas abseits von den übrigen stand Roman Czarnecki. Er atmete tief, als er Barbara Bryk erblickte.

Sie war, ohne den Blick zu heben, näher geschritten. Da mochte sie fühlen, daß so viel Augen sich auf sie richteten. Sie hob erschreckt den Kopf und blieb wie gebannt stehen. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Unschlüssig trat sie einen Schritt zurück, eine entsetzte Frage in den Augen.

Aus dem Geflüster hob sich ein lauter Ruf: »Barbara Bryk!«

Sie zuckte zusammen. Seweryn Kalinka ging nicht auf sie zu, er stand unbeweglich. Aber sein Ruf schien sie zu bannen. Langsam kam sie heran. Eine Blutwelle nach der anderen färbte ihr Gesicht.

Die ersten Reihen drängten zurück; ein breiter freier Gang entstand, in dessen Mitte der baumlange Bursch trat.

Als hätte er die Worte eingelernt, sprach er: »Tritt näher heran, Barbara Bryk, und bitte die heilige Jungfrau um ihren Beistand. Diese hier sind da, niemand hat sie gerufen. Du weißt, was alle sagen. Ist der Satan zu ihr in den Schornstein gefahren?«

Ein Murmeln: »Ja … ja …« Es schwoll an und ab.

»Ist diese hier eine Hexe? Hat sie Unglück gebracht über mich, über euch alle, über das Dorf?«

»Sie hat, Herr … beim heiligen Gott!« Zehn, zwanzig, dreißig riefen es.

»Barbara Bryk, nun hörst du es. Du jedoch sagst: du bist es nicht. Du sagst, du hast dich nur so gestellt. Du sagst, du bist unschuldig. Wer kann aufstehen und sprechen: Das ist wahr … das ist unwahr? Kannst du dein Herz zeigen? Können wir sehen, was deine Gedanken sind? Nur die Heiligen im Himmel wissen sie – die gebenedeite Jungfrau. Zu ihr beten wir, daß sie es offenbar macht. Schätzerin der Unschuld … Rächerin der Schuld, sieh herab, zeige uns deinen Willen, segne sie, daß sie über rotes Feuer wie über Sand geht, wenn keine Schuld sie trifft. Königin des Himmels, erbarme dich!«

Wie Ekstase war es über ihn gekommen. Er nahm den Hut ab, kniete nieder, betete inbrünstig. Und alle Versammelten ihm nach. Die Häupter entblößten sich, die Weiber fielen auf die Kniee, zögernd folgten die Männer. Wie eine mächtige religiöse Bewegung ergriff es sie. Die Lippen murmelten Gebete, die Finger tasteten zitternd nach den Perlen des Rosenkranzes. Ein Murmeln, Stöhnen, Seufzen …

Barbara Bryk stand allein. Während Seweryn Kalinka gesprochen, hatte sie nur einmal, Erbarmen heischend, die gequälten Blicke erhoben. Das Frösteln durchlief sie in unregelmäßigen Pausen. Einmal drehte sich alles im Kreise um sie. Steh fest! dachte sie. Nur jetzt feststehen. Und wieder sah sie auf. Sie begriff nichts. Sie wollte schreien: Was wollen die Menschen hier? Sie trat einen Schritt vor, um mit einem Satze allem zu entfliehen, davonzujagen wie ein gehetztes Wild. Aber wie gebannt haftete ihr Fuß am Boden. Und nun stand sie ganz allein, in den knieenden Scharen die einzige, die nicht kniete, stand, als wäre sie nicht die Verklagte, sondern die Richterin. Wenn sie nur begriffe, was das alles heißen sollte! Ach, aber ihr Kopf war heiß, dumpf.

Sie sah zur Seite. Und plötzlich wurden ihre Augen größer. Noch einer stand – Roman Czarnecki, der Waldhüter. Das Haupt hatte auch er entblößt. Er schien jedoch nicht zu beten. Einen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann wandte der Waldhüter den seinen. Er spähte hinaus, als ob er angestrengt horche, die Landstraße hinunter, als müsse von dorther noch jemand kommen.

Seweryn Kalinka war der erste, der sich erhob. Noch stärker, glühender, fanatischer war im Gebet sein Glaube geworden. »Sie wird helfen, sie wird entscheiden – Gottesmutter, reine, gebenedeite!« rief er inbrünstig. Und dann: »Barbara Bryk, bist du bereit?«

Sie sah ihn wie geistesabwesend an. Ihre Arme hingen schlaff herunter.

Eine unheimliche Stille ringsum.

»Schürze dein Kleid!«

Sie öffnete den Mund, wie um zu fragen. Er wiederholte die Worte. Mechanisch tat sie nach seinem Gebot.

»Zieh die Schuhe ab!«

Tonlos beugte sie sich unter seinem Blick nieder und fing an, das Band aufzuknüpfen. Aber mitten darin hob sie das Haupt. »Was soll das – Seweryn Kalinka, was willst du von mir?« Es war ein Aufschrei der Qual.

Die Menge murrte.

Da sank Barbara Bryk gleichsam in sich selbst zusammen. Kein Blutstropfen war in ihrem Gesicht. Sie zog die Schuhe aus, dann aus seinen Befehl die Strümpfe. Sie zitterte selbst nicht mehr. Wie eine Gliederpuppe tat sie alles.

»Platz da! Zur Seite!«

Die Leute stoben auseinander. Ein etwa zwei Meter langes, glühendes Eisen, an dessen Ende die Rotglut fast in Weißglut überging, ward aus der Schmiede mit Hilfe von langen Dornen herübergeschafft.

»Heilige Jungfrau, sieh herab!« rief Seweryn Kalinka wieder. »Führe sie, wenn sie unschuldig ist, darüber, daß ihr Fuß auf kühlen Federn nicht weicher geht. – Barbara Bryk, nun beweise, daß du unschuldig bist!«

Mit starren Augen sah sie dem glühenden Eisen entgegen. Jetzt erst fing sie an zu verstehen. Ein gepreßter Schrei entrang sich ihr. Eine sengende Hitze berührte ihren Fuß, daß sie zurückwich. »Seweryn Kalinka, erbarm' dich!« rief sie in Angst und Entsetzen Ihre Stimme kreischte. »Erbarm' dich, erbarm' dich!« Und sie warf sich auf die Kniee vor ihm. »Laß mich fort, töte mich nicht, erbarm' dich! Hast mich ja lieb gehabt – – Maria und Joseph, ich bin keine Hexe, hört es alle, helft mir!«

»Die Probe!« scholl's aus der Menge. »Die Probe!« heulten zwanzig, dreißig Stimmen nach. Über alle hinweg klang die des Burschen: »Fürchte dich nicht, Barbara Bryk. Wenn du des Teufels Liebste nicht bist, sengt kein Härchen. Vorwärts – vorwärts. Die Heiligen sehen herab.«

»Erbarm' dich!« Es war ein Wimmern.

Aber seine Augen glühten immer stärker. »Besteh die Probe – auf!«

»Die Hexe will nicht – setzt sie 'rauf,« höhnte es durcheinander. Es gab keine Gnade.

Da wurde Barbara Bryk ganz still. Sie erhob sich. Sie sah den Burschen an. Haß, Liebe, Qual – alles war aus ihrem Blick entschwunden. Er war starr, kalt. Inmitten der erregten Menge war sie jetzt die einzige, die ruhig war. Es war eine steinerne Ruhe.

Sie hob den Blick zum Himmel.

Totenstille war plötzlich eingetreten. Barbara Bryk ging mit ihrem alten, festen Schritt, den sie jetzt wiedergefunden – mit dem Schritt, der gleichsam von der Erde Besitz nahm –, auf das glühende Eisen zu.

Bild: Ludwig Berwald

»Halt, halt!« schrie da eine rauhe Stimme. »Warten! Laßt sie beten!« Es war Roman Czarnecki. Er drängte sich ungestüm vor.

»Nicht warten! Ruhig sein! Die Probe –« scholl es als Antwort aus der Menge. Finstere Blicke trafen den Störenfried, der sich schon abgewandt hatte und wieder hinaus- und die Straße hinunterspähte.

»Die Probe! Vorwärts, vorwärts!« rief auch Seweryn Kalinka. Barbara Bryk sah ihn kalt an. Er zuckte zusammen, ward unruhig.

Dann hob sie den Fuß und setzte ihn auf das rotglühende Eisen.

Ein gellender, markerschütternder Schrei. Sie warf die Arme hoch, taumelte zurück, brach zusammen.

Einen Augenblick hörte man keinen Atemzug. Dann in wüstem Durcheinander: »Hexe! Satansbrut! – Die heilige Jungfrau hat entschieden! – Tötet sie! Verbrennt die Hexe!«

Ein halberstickter Wehruf dazwischen: »Barbara!« Als wäre das Furchtbarste Wahrheit geworden, griff Seweryn Kalinka nach einem Halt.

»Tötet sie! Verbrennt die Hexe ganz!«

Die Vordersten stürzen zu, schwere Knüppel werden sichtbar, in fanatischer Wut drängen die Weiber voran.

In Sekunden spielt sich das ab. Schon sausen die Knüppel durch die Luft. Da ruft eine heisere Stimme: »Der Gendarm! Der Gendarm!«

Einen Moment stutzt alles. In diesem Moment springt Roman Czarnecki vor. Die nächsten schleudert er beiseite.

»Jeden schieß' ich nieder, der sie anrührt!«

Seine Stimme überschlägt sich. Den gespannten Revolver in der Rechten, den Hirschfänger in der Linken, steht er neben dem zusammengebrochenen Mädchen. Er schäumt vor Wut. In seinen Augen flammt es: er hat den Revolver nicht zum Spaß.

Einen Moment lang hat der jähe Zwischenfall allen die Sprache geraubt. Dann tönen aus den hinteren, geschützten Reihen Verwünschungen.

»Packt den Grünrock! Wie kommt der Grünrock hierher? … Auch er hält's mit dem Satan! – Schlagt ihn nieder, psia krew!«

Ein paar Steine fliegen von drüben.

»Ich schieß'!« Das ist wieder der Waldhüter. Wie ein Raubtier, sprungbereit, steht er da, den Kopf in den Nacken geschoben.

Von neuem weichen die ersten Reihen weiter zurück. Lauter werden die Verwünschungen der Hinterleute. Aber keiner hat Lust, mit dem Revolver Bekanntschaft zu machen.

Die Älteren schleichen scheu beiseite. Nach der wilden Aufregung greift jähe Ernüchterung Platz. Nur die Burschen bleiben zurück und ein paar Weiber. Lukas Woronicz ballt die Faust in der Tasche.

Hin und her fliegen die Verwünschungen.

»Schlagt ihn tot!« ruft Sigmund Rej immer wieder. »Wir alle zugleich auf ihn!«

Roman Czarnecki beißt die Zähne zusammen. Er weiß, daß er gegen alle nicht aufkommt. Schon ziehen die stärksten Burschen sich zusammen. Höhnischer, drohender werden die Worte.

Da tönt der Hufschlag eines näher galoppierenden Pferdes heran. Ein heiserer Laut bricht aus der Kehle des Waldhüters.

»Der Gendarm – psia krew!«

Diesmal ist er's wirklich. Mit einem Fluch machen die Burschen, daß sie wegkommen. Kreischend stieben die Weiber auseinander. Nächst dem Satan fürchtet man in Radolice keinen mehr als den Gendarm.

Nur einer ist außer dem Waldhüter noch stehen geblieben: Seweryn Kalinka. Als hätte ihn der Blitz getroffen, als hätte er die Sprache verloren, steht er da. Mit aller Inbrunst hatte er die Gottesmutter angefleht. Sie hatte entschieden, Barbara Bryk hatte gelogen: sie war's, sie war's doch … die Hexe!

Das hat ihn halb sinnlos gemacht. Schlaff hängen seine Arme. Er starrt auf die bewußtlos Daliegende …

Roman Czarnecki hat inzwischen in fliegender Eile dem Gendarm alles auseinandergesetzt. »Während Sie den da vornehmen, Pan Wachtmeister, hol' ich ein Tragholz!« Er nahm's, wo er's fand. Einen Burschen bringt er auch mit, der ihm widerwillig folgt.

Barbara Bryk wird aus die Bahre gelegt, die sonst zum Tragen des Holzes dient. Der Bursch legt das vordere Band über die Schultern und packt an, der Waldhüter das Hintere.

Das Mädchen liegt noch bewußtlos da. Auf der Hälfte des Weges schlägt sie die Augen auf. Sie krümmt sich vor Schmerz, schreit, wimmert. Dann sieht sie erst Roman Czarnecki. Ganz plötzlich ist sie still – sie erkennt ihn. Aber der Waldhüter hat kein Wort für sie. Schweigend schreitet er vorwärts.

So bringt man der Pani Eusebia die Tochter ins Haus.

* * *

 


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