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Der Sommer wurde sehr heiß. Die Felder standen gut. Aber Barbara Bryk seufzte, wenn sie die Felder sah, und die Pani Eusebia kam über das Ächzen und Stöhnen überhaupt nicht mehr hinweg. Sie mußte beim Behacken der Kartoffeln helfen und jammerte in einem fort.

»Es war sündhaft, leugne nicht! Gott wird uns strafen! Kein Mensch kommt mehr, selbst die Hunde laufen – o Jesus Maria! Und wer wird bei der Ernte helfen – he? Voriges Jahr, vorvoriges Jahr stritten sie darum. Gleich ein halbes Dutzend – alle wollten sie dabei sein. Ritsch, ratsch – ein halb Dutzend Sensen schaffen. Du aber brauchtest nur zu lachen und ›Schön' Dank!‹ zu sagen, da waren sie zufrieden. Diesmal jedoch, was meinst du, wer uns das Korn schneidet? Und wenn wir einen Sack voll Taler geben – o Jesus Maria!«

Barbara Bryk lockerte mit der Hacke die Erde weiter. Das alles wußte sie selber. Manchmal hatte sie schon daran gedacht. »Wird schon werden!« erwiderte sie. Man merkte ihr an, daß sie des ewigen Jammerns müde war. »Schließlich mäh' ich allein!«

Die Alte lachte auf, sagte aber nichts. Schweigend arbeitete jede weiter.

Es bestand seit einiger Zeit eine dumpfe Spannung zwischen ihnen, je unangenehmer sich die Folgen des trügerischen Spieles bemerkbar machten. Der Reiz der Neuheit, die Freude über die wohlgelungene List war bald verflogen. Auch die Dörfler hatten sich mit der neuen Lage der Dinge abgefunden. Die Burschen hatten ihre Mädchen und dachten nicht mehr daran, der »Hexe« nachzustellen und Kopf und Kragen dabei zu riskieren. Und hatten die Weiber in der ersten Zeit ihr heimlich Grauen so weit überwunden, daß sie die Pani Eusebia ausgefragt hatten, so oft sie nur ins Dorf kam – seit die Neugier befriedigt war, hielten sie sich sorgsam zurück. So geschah es, daß nicht nur Barbara, sondern auch ihre Mutter einer jähen Vereinsamung anheimfielen. Das kränkte besonders die Alte, die gern ein Schwätzchen machte. Und es erwuchs ein Groll in ihr gegen die Tochter, die solche unleidliche Lage herbeigeführt.

Tagtäglich ächzte und schalt sie; nichts war ihr mehr recht. Sie behauptete sogar, ihre Gesundheit litte unter dem ewigen Ärger, daß sie wohl bald nach den heiligen Sterbesakramenten werde schicken müssen.

Barbara hatte zuerst gelacht, dann der Mutter achselzuckend vorgehalten, daß ja diese Vereinsamung nicht lange mehr dauern würde. Als das Klagen mit dem Fortschreiten des Sommers immer schlimmer ward, schwieg sie. Und oft lag ihr ein heftiges Wort auf der Zunge, das sie nur mühsam verschluckte.

Wäre die Pani Eusebia nicht gar so ausschließlich mit sich selbst beschäftigt gewesen, so hätte sie gemerkt, daß auch ihre Tochter bedrückt war. Auch sie litt unter der furchtbaren Stille, die sie umgab. Sie wünschte jetzt manchmal, daß es zwischen ihr und den Burschen Kampf gäbe. Sie sandte oft trotzig die Blicke umher, ob es nicht einem einfiele, sie zu beschimpfen oder sonstwie mit ihr anzufangen. Aber kaum hatte sie das Dorf betreten, so stob groß und klein auseinander und in die Häuser. Und wer doch an ihr vorbei mußte, ging vorbei mit gesenkten Augen und in möglichst weitem Bogen.

Immer wieder mußte sie sich vorstellen, daß alles für ein hohes Ziel geschah, alles um Seweryns willen, um nicht zu verzagen. Sie zählte die Tage bis zu seiner Rückkehr und erlebte schon im voraus den schönsten: den Tag, an dem sie ihm sagen konnte: Ich hab' mein Versprechen gehalten, die Wölfe haben mich nicht gefressen! Wenn sie ihm dann erzählte, mit welch höllischem Liebsten sie die Dörfler gescheucht – hei, was er dann lachen würde! Lachen, lachen und sie küssen …

Überhaupt waren es nur zwei Menschen, an die sie öfters dachte. Eben an Seweryn, den Sachsengänger, und daneben, fast öfter noch, an Roman Czarnecki, den Waldhüter.

Sie hatte ihm seltsam nachgestarrt, als er das letzte Mal von ihr gegangen. Ein Zittern war ihr durch alle Glieder gelaufen. Glaubte er nicht an ihr Bündnis mit dem Satan? Nicht an Hexen? Hatte er sie nicht verstanden? Wie er so ruhig gesagt, daß er stärker wäre als ihr feuriger Liebster, hatte sie es selbst einen Moment geglaubt. Sie hatte nicht lachen können.

Ein seltsamer Mensch. Der einzige, der mit ihr redete. Und da sie ganz allein auf sich selbst angewiesen war, zerbrach sie sich oft den Kopf über ihn. –

Die Ernte kam. Da fremde Schnitter durch Radolice zogen und dem Gesindel allerlei zuzutrauen war, legte Barbara Bryk den Revolver zurecht. Zur Abschreckung beschrieb auch der Satan feurige Kreise über der Hütte und fuhr in den Schornstein.

»Sie werden uns in Ruh' lassen!« sagte das Mädchen und schloß die Stalltüren.

»So sehr, daß das Getreide uns verkommen kann!«

Überall wurden die Sensen geschärft. Von früh bis spät war alles auf den Feldern beschäftigt. Hinter der Reihe der Mäher die sammelnden und bindenden Dirnen. Hier wurden die geschichteten Garben auf den Wagen gepackt, dort wurde der Rechen geführt. Die Gesichter waren rot und schweißig, aber die stinken Hände schafften unverdrossen.

Mit finsterem Gesicht sah derweil Barbara Bryk auf die paar Morgen Landes, die zu ihrem Häuschen gehörten.

Man konnte bieten, was man wollte: keiner wollte sich zu den Bryks verdingen. »Lieber hungern als das Sündengeld, sprachen die Leute.

»Sie soll ihrem Liebsten einen Gruß sagen, daß er ihr hilft!« redete Lukas Woronicz. »Von uns ist keiner so dumm!«

Tapfer hatte das Mädchen angefangen, die Sense zu führen. Aber sie war nicht geübt genug: das war Männerarbeit, die kein Weib tat. Unregelmäßig schnitt sie, die Arme ermatteten, verzweifelt warf sie die Sense fort und sich selbst auf den Rain daneben. Das Weinen war ihr nahe.

Was half's – so weit sie kam, kam sie. Von neuem begann sie zu arbeiten.

»Schlechter Schnitt, schlechter Schnitt, Pani,« sagte plötzlich jemand neben ihr.

Als ging es um Leben und Seligkeit, mähte sie fort.

»Dadurch wird es nicht besser, Pani,« sprach Roman Czarnecki weiter.

Es schien ihr, als ob er sie und ihre Schwäche verhöhnen wollte. »Mit dem Mund kann's jeder!« stieß sie hervor.

Sie hörte, wie er sich bewegte, etwas hinwarf. Mit halbem Blick sah sie hinter sich. Er hatte das Gewehr an einen Baum gelehnt, seinen Rock ausgezogen und an einen Ast gehängt und warf jetzt den derben Stock fort, den er führte.

»Mit Eurer Erlaubnis: man macht das so!«

Ohne weiteres nahm er ihr die Sense aus der Hand. Sie hatte die Lippen zusammengepreßt, weigerte sich aber nicht. Gleichmäßig und ruhig fraß sich die blanke Sense ins Korn hinein.

»Steht nicht so da, Pani! Ihr könnt schon lesen. Heut' ist besser wie morgen.«

Gehorsam folgte sie ihm. In der glühenden Hitze arbeiteten sie nebeneinander. Eine Stunde verging, eine zweite. Unaufhörlich blitzte das Sensenblatt in der Sonne, unaufhörlich fielen mit leichtem Rauschen die goldgelben Ähren in ganzen Schwaden. Der Schweiß lief dem Waldhüter vom Gesicht, doch schien er keine Ermüdung zu kennen. Und mechanisch schaffte Barbara Bryk ihm nach.

Kaum, daß ein Wort fiel! Die Luft allein sprach um sie: sie brodelte leise und sang ihnen in die Ohren.

Plötzlich pfiff Roman Czarnecki vor sich hin und sah nach der Sonne. »Zeit für mich. Der Wald braucht mich auch. Morgen bin ich früh da. Am Morgen schneidet's sich besser.«

Ein Bündel Ähren in der Hand, stand das Mädchen vor ihm. Sie hatte gleichzeitig mit ihm in der Arbeit innegehalten. Nun sah sie schweigend, wie er seinen Rock wieder anzog.

Sie fühlte, daß sie etwas sprechen mußte. »Pan!« sagte sie. Es klang herausgepreßt, seltsam.

Bild: Ludwig Berwald

Er hatte die Büchse schon wieder geschultert.

»Ich … dank' Euch. Immerzu muß ich Euch danken!« Scham und Trotz war in der Stimme.

»Hab' ich nicht verlangt, Euer Wohlgeboren.«

Sie nahm neue Ähren auf. »Habt Ihr … keine Furcht?«

Ein halbes Lachen zog über sein Gesicht. »Vor Euch, Pani? Nein!«

Die Sonne hatte ihr Gesicht heiß und rot gemacht. Jetzt ward es noch röter und heißer. »Kommt nicht morgen früh. Ich will's nicht … und ich will's nicht. Keiner hat Euch gerufen!«

»Stimmt genau. Aber da Euer starker Liebster nicht hilft – wer soll das Korn schneiden? Was sagt' ich, Pani? Ihr braucht einen stärkeren Freund. Maria Joseph, die Hölle ist weit.«

Wieder das halbe Lachen. Es lag mehr in der Stimmfärbung, als in seinen Mienen.

Barbara Bryk biß die Zähne zusammen. »Spottet nicht,« rief sie. Und leise: »Sonst dreht er Euch den Hals um.«

»Hab' noch Verwendung dafür! Also auf morgen! Man soll das Korn schneiden, solange die Sonne scheint.« Er ging. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um. »Ich vergaß, Pani! Wenn der Satan bald wieder in Euren Schornstein fährt, so seid klüger und bindet die Fackel an eine längere Stange. Könnt sie aus dem Walde holen. Sonst merken selbst die Wölfe im Dorfe bald, wie's mit Eurem höllischen Liebsten steht!«

Ein kurzer Schrei. Roman Czarnecki kehrte sich nicht daran. Er ging im gewöhnlichen Schritt.

Hätte Barbara Bryk einen Revolver bei sich gehabt, so hätte sie den Waldhüter jetzt erschossen.

Kerzengerade stand sie – inmitten der heißen, flimmernden Sonne, der goldenen Ähren. Dann sanken ihre Arme schlaff. Und als Roman Czarnecki nicht mehr zu sehen war, kauerte sie sich, als fehle ihr die Kraft, sich aufrecht zu halten, auf den Boden und legte das Gesicht gegen ein Garbenbündel. –

Vor dem Einschlafen beschloß sie, morgen früh überhaupt nicht aufs Feld zu gehen und jedes Zusammentreffen zu vermeiden. Aber es ließ ihr keine Ruhe. Um fünf Uhr erwachte sie. Um sechs Uhr war sie draußen.

Da stand Roman Czarnecki schon in voller Arbeit. Er hatte seine eigene Sense mitgebracht, und nach dem Strich, den er schon gemäht hatte, mußte er bereits gute zwei Stunden geschafft haben.

Gegen Mittag wurde er fertig. Er warf die Sense hin, dehnte sich. Die Muskeln traten voll und kräftig an seinen Armen, über die das Hemd gekrempt war, hervor. Es schienen eiserne Muskeln zu sein.

»Braucht Ihr mich wieder, Pani, so ruft mich!« sagte er. Das war sein Abschied.

Barbara Bryk hätte aufschreien mögen. Ihr war, als müsse sie sich mit aller Kraft gegen ihn wehren. Sie wußte, daß Seweryn recht hatte, daß dieser Waldhüter der Gefährlichste von allen war. Sie sah sich um, ob nicht etwas von ihm da war, das sie zerbrechen und vernichten konnte. Es wäre gut gewesen – gleichsam eine Befreiung.

Aber Roman Czarnecki hatte alles mitgenommen, auch die Sense.

Da erinnerte sie sich mit Inbrunst an Seweryn Kalinka, und ihr ganzes Denken war ein verzweifeltes Gebet, daß er bald zurückkäme.

»Bald – bald!« murmelte sie. Sonst frißt mich der Wolf doch! fügte sie in Gedanken bei. Aber nein – das war unmöglich – unmöglich!

Sie sah lange vor sich hin, ehe sie daran ging, die Garben zu binden. –

Da das Getreide schneller, als irgend jemand es gedacht, geschnitten war, hatte sich die Pani Eusebia ein klein wenig beruhigt. Umso aufgeregter war das Dorf.

Von den anderen Äckern aus hatte man noch Mittags vorher das Korn auf den Feldern der Bryks schwanken sehen – am Mittag des nächsten Tages war es gemäht. Da keiner aus dem Dorfe geholfen, so hatte man auch hier seine Vermutungen.

Der Windmüller ward bestimmt, das Teufelskorn nicht zu mahlen. Er gab nach, weil er sonst die Kundschaft des ganzen Dorfes verloren hätte. Man erwog, ob man nicht beim Propste in der Stadt vorstellig werden sollte. Die jungen Mädchen, Barbara Bryks alte Feindinnen, hetzten auch hier wieder am meisten.

Da geschah es, daß beim Schulzen eine Viehkrankheit ausbrach. Sie verbreitete sich weiter. Hie und da fiel ein Stück. Die Erregung war ungeheuer. Das hatte niemand anders getan als die »Hexe«, aus Rache dafür, weil niemand sich für die Ernte bei ihr hatte verdingen wollen. Es war sonnenklar.

Niemals war im arbeitsreichen Sommer der Krug so überfüllt gewesen wie jetzt. Und nur über ein Thema ward debattiert: Wie schützen wir uns, unser Vieh, unsere Kinder vor der Helfershelferin des Satans?

»Schlagt die ganze Brut tot!« schrie der Sohn des Schulzen. »Dann sind wir sie am sichersten los!«

Aber es tauchten gewichtige Bedenken auf. Die Macht des Bösen war groß. Und ging man tätlich vor, so hatte auch der Herr Gendarm noch ein Wörtlein zu reden. So ward beschlossen, jenes Mittel anzuwenden, welches das Dorf einst von der anderen Hexe, der Madurowicz, befreit hatte. Man wollte die Bryks einfach aushungern und unmöglich machen. Jeder gelobte, ihnen weder etwas zu verkaufen noch sich irgendwie mit ihnen abzugeben. Dann wollte man sehen, wer es länger aushielt: die beiden Weibsen oder das Dorf.

Als die Pani Eusebia bald darauf wie gewöhnlich im Kruge ein paar notwendige Einkäufe machen wollte, legte der Wirt die breite Hand auf den Schenktisch und sagte:

»Sucht nicht nach Geld, Pani! Ich verkaufe Euch doch nichts!«

Fassungslos starrte das alte Weib ihn an. Sie fragte, schimpfte, bat – der Wirt ging gleichmütig seiner Beschäftigung nach und ließ sich nicht im geringsten stören. Er schwieg hartnäckig.

Da raufte sich Pani Eusebia das Haar und schrie, daß es weit nach draußen gellte.

»Macht keinen Lärm hier und schert Euch fort. Die Zeichen der heiligen drei Könige stehen über der Tür. Da ist nichts für Euch zu suchen.«

Am ganzen Leibe zitternd verließ die Alte die Schenke. Aber sie brauchte dies und das, sie mußte es haben. Vielleicht lieh ihr eine gefällige Bäuerin, was sie im Kruge vergebens begehrt. Sie klopfte an eine Tür nach der anderen – immer das gleiche Achselzucken, das gleiche Schweigen. Kaum einen Fluch gönnte man ihr.

Sie konnte zuletzt kaum noch vorwärts. Sie hatte sich heiser geschrieen und geheult. Das ergrauende Haar, das sie verzweifelt gerauft, hing ihr unordentlich um den Kopf; die schielenden Augen waren gerötet.

Die Pani Julia Kobylek war ihre letzte Hoffnung. Aber auch sie schien stumm und taub zu sein.

Da packte es die Pani Eusebia, daß sie mit letzter Kraft aufschrie: »Erbarmt Euch, Freundin, Gönnerin – es ist ja nicht wahr, Barbara ist keine Hexe, belogen haben wir Euch, wegen der Wölfe, damit sie ablassen … beim heiligen Blut Christi, erbarmt Euch, ich sprech' die Wahrheit!«

»Und warum fällt das Vieh?« höhnte die Pani Julia. Doch als hätte sie schon zu viel gesagt, machte sie eine unmutige Bewegung und schlug der Alten die Tür vor der Nase zu.

Stumpf und gebrochen, den Henkelkorb noch so leer, wie sie ihn mitgebracht, schleppte sie sich zurück. Erst als sie zu Hause ihrer Tochter ansichtig ward, brach der aufgehäufte Groll los.

»Rabenkind, Satansbrut!« Mit Händen und Füßen stieß sie nach ihr. »Verflucht die Stunde, wo ich dir folgte! Hab' gewußt, daß es kein gutes Ende nimmt! O Jecku, Jecku!«

Barbara Bryk begriff erst ganz allmählich, was passiert war. Wortlos nahm sie den leeren Korb. Nach drei Stunden war sie wieder da. Aus einem entgegengesetzt liegenden Dorfe hatte sie das Notwendige besorgt.

Es ward eine schreckliche Zeit. Die Schande, die sie noch im Alter erlebte, fraß am Mark der Pani Eusebia. Seit ihr auch das Dorf abgeschnitten war, kam sie sich wie in einem furchtbaren Gefängnis vor. Gemieden wie die Pest, ohne die Möglichkeit, mit jemandem zu reden, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft aller, die seit mehr als vierzig Jahren ihren täglichen Umgang gebildet, kauerte sie in einem Winkel oder lief unermüdlich durch die zwei Stuben, die Ställe, über den Hof, als verfolge sie jemand. Barbara durfte ihr gar nicht in die Nähe kommen.

Noch immer trug das Mädchen vor ihrer Mutter den Kopf hoch. Wenn sie jedoch allein war, neigte sie ihn tief. Es kam jetzt zuweilen eine so große Schlaffheit über sie. Die Schränke waren leer, aber sie konnte nicht so viel Willenskraft aufbringen, die drei Stunden zu wandern und neue Vorräte einzukaufen. Es kam noch dazu, daß man auch in dem entfernteren Dorfe schon anfing, sie mit scheelen Blicken anzusehen. Die Radolicer mochten gewarnt haben.

So hungerte sie lieber. Ihr tat es nichts. Aber ihre Mutter magerte in der steten Aufregung und bei dem häufigen Ausbleiben der Mahlzeiten mehr und mehr ab. Eines Abends war sie ganz schwach. Sie sprach irre, wie im Fieber, daß Barbara ein Grauen bekam. So ging das nicht weiter – das sah sie ein. Die Pani Eusebia mußte etwas Kräftiges essen.

Sie zermarterte sich den Kopf. In Radolice und dem anderen Dorfe gab es nichts für sie. Ehe sie nach der Stadt kam, war es Nacht. Es blieb nur einer, der vielleicht helfen konnte: Roman Czarnecki, der Waldhüter.

Aber ehe sie zu dem gegangen wäre, hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, hätte sie die Mutter sterben lassen.

Ihr Kopf glühte. Der Abend schritt vor. Das Rauschen des Waldes kam herüber.

Plötzlich stand Barbara Bryk auf. Mit großen Augen starrte sie nach dem Rande des Waldes. Dort bewegte sich etwas. Wer war's? Roman Czarnecki?

Bis zum Halse schlug ihr das Herz in Furcht und Bangen. Erst als sie schärfer spähte, ward ihr leichter. Es war nur ein Reh, das auf die Felder trat.

Nur ein Reh!

Bild: Ludwig Berwald

Sie sah sich scheu um. Ihre Mutter ächzte und redete drinnen noch immer.

Nur ein Reh. Aber das Reh konnte sie retten. Wozu hatte sie schießen gelernt? Wozu war Roman Czarnecki ihr Lehrmeister gewesen?

Dunkler ward der Abend. Die fernen Lichter des Dorfes erloschen. Mehr und mehr Schmaltiere traten aus den Wäldern. Das Wildern war verboten. Ihren Vater hatten sie deswegen mehr als einmal ins Gefängnis gesteckt.

Sie stand auf, holte die Jagdflinte, prüfte sie. Dann zog sie in einem neuen Gedanken den untersten Schub einer wackeligen Kommode auf. Hier lagen vom Vater alte Sachen. Sie sahen abgetragen aus und rochen muffig. Wenn sie ertappt wurde, aber noch rechtzeitig fliehen konnte, würde jeder sie für einen Burschen aus dem Dorfe halten.

Knapp ein halbes Stündchen später schlich sie in Manneskleidung aus dem Hause. Pani Eusebia war vor Erschöpfung eingeschlafen. Bald darauf fiel ein Schuß. In der stillen Nacht rollte er lang hin.

Als die Mutter aufwachte, sah sie die Flammen im Herde züngeln und eine dunkle Gestalt davor. Sie schrie laut auf.

»Ich bin's, Mutter,« sagte Barbara mit dunkler Stimme. »Bleib wach – hast lange genug keinen guten Bissen gegessen.« –

Die Pani erholte sich in den nächsten Tagen bei den kräftigen Fleischgerichten ganz ersichtlich. Sie hatte die Tochter oft von der Seite angesehen, aber sie war's von ihrem Manne gewöhnt, nie zu fragen, woher ein Stück Wildbret stammte. Wenn man zu viel weiß, dachte sie, ist es auch nicht gut.

Was nicht gegessen ward, vergrub Barbara Bryk im Hofe, neben dem Stalle.

So ging wieder eine Zeit hin, die Kartoffelernte konnte bald beginnen. Es hatte sich nichts geändert. Roman Czarnecki war ein paarmal am Hause vorbeigestrichen und hatte einmal auch einige Worte mit dem Mädchen gesprochen. Aber sie ließ ihn gleich stehen. Nachdenklich war er weitergegangen. Und immer von neuem die ermüdende Eintönigkeit dieses Lebens! Die Mutter hatte es noch einmal im Dorfe versucht. Es war ihr noch schlimmer ergangen wie das letzte Mal. Wieder sank sie in sich zusammen, wieder hörte Barbara ihr irres Ächzen, wieder riß sie sich aus der Stumpfheit und Schlaffheit auf und griff zur Waffe.

Sternig war die Nacht, durch die der Wind ging. Nach langem vergeblichem Umherstreichen lehnte Barbara Bryk sich müde gegen einen Baum. Hier mußte das Wild vorbeiwechseln. Die Waffe schußbereit, spähte sie umher.

Aber sie hatte kein Glück. Eine Stunde verging – noch war kein Ästlein unter dem scheuen Huf des Wildes geknickt.

Hin und wieder das Rauschen oben in den Wipfeln, das elektrische Knistern im Moose. Fiel ein Zapfen mit kurzem Schall von den Kiefern, faßte sie die Flinte fester. Irgend welche Furcht hier im nächtigen Walde kannte sie nicht. Und doch, als sie fast reglos über eine Stunde so stand, ward es ihr unheimlich. Die Erregungen all der Tage wirkten nach. So weit war's mit ihr gekommen, daß sie hier auf Schleichpfaden ging, gleichsam im Kampf mit allen – in einem Kampf, der ihre Mutter, der sie aufrieb. Ob sie das Leben so aushielt, bis Seweryn Kalinka wieder da war?

Mitten in Wald und Nacht, wo sie nur ihr Herz klopfen hörte, kam die wilde Sehnsucht über sie. Wonach? Nach Geborgensein, nach der früheren Ruhe, nach einem, der stärker war als alle, daß er sie schützen konnte.

Wer war stärker als alle?

Sie wurde rot und atmete so heftig, daß der Rock ihres Vaters, den sie trug, sich über der Brust spannte. Als könne sie keine Luft kriegen, riß sie die Knopflöcher auf.

Da war es ihr, als hörte sie ein Geräusch, das sich wiederholte. Gleich, als käme etwas näher.

Wieder Stille. Es war wohl nichts gewesen.

Rechts von ihr lag eine kleine Waldwiese. Schon wollte sie zurückgehen, als drüben ein Rehbock auftauchte, witterte und langsam dann die Wiese überschritt, ab und zu äsend.

Ein stärkerer Luftzug erhob sich. Es ward ihr kühl. Vorsichtig knöpfte sie den Rock zu, hob die Flinte.

Das Tier mochte sich sicher fühlen. Es kam immer näher. Hinter ihm, wo der Wald über der Wiese wieder begann, tauchten zwischen den Stämmen noch vier, fünf Rehe auf.

Barbara Bryk hielt den Atem an. Immer näher kam der Bock. Jetzt stand er, sich verhältnismäßig scharf gegen den helleren Hintergrund der Wiese silhouettierend, gerade zwischen zwei Stämmen. Aber als käme ihm etwas nicht geheuer vor, warf er plötzlich unruhig den Kopf hoch und witterte von neuem.

Barbara Bryk wußte: es war zehn gegen eins zu wetten, daß er im nächsten Augenblick auf und davon ging. Sekundenlang suchte sie – dann fiel der Schuß. Hochauf bäumte das Tier, ging in ungleichen, schwächer werdenden Sprüngen bis zur Mitte der Wiese und brach dort zusammen.

Das Mädchen stand noch auf dem alten Fleck. Als nach der grenzenlosen Stille all der Stunden jetzt, ein vielfaches Echo weckend, der Schuß mit scharfem Rollen das geheimnisvolle Schweigen der Nacht durchrissen hatte, überfiel sie eine Todesangst. Ihr war, als müsse sie in wahnsinnigem Lauf davonjagen, daß sie nur fort kam von hier.

Sie biß die Zähne zusammen. Das erlegte Tier durfte nicht liegen bleiben. Scheu und unsicher trat sie auf die Lichtung. Der Bock war tot. Sie seilte mit einem Strick, den sie mitgenommen, die Beine zusammen. So war's am besten möglich, die Beute nach Hause zu schaffen.

Während sie so vor dem Wilde hockte und in fiebernder Hast schnürte, war's ihr wieder, als höre sie etwas. Oder war es ihr Herz, das so laut klopfte?

Plötzlich ein Knacken, als würde ein Hahn gespannt, ein rauhes: »Halt, Schurke!« – ein Schatten, der mit vorgestrecktem Gewehr über die Wiese flog –

»Jesus Maria!« Ein furchtbarer Schrei. Blitzschnell war Barbara Bryk aufgesprungen – zu spät! Sie kam nur wenig weit. Ein eiserner Griff packte sie. Den Griff hätte sie unter tausend anderen erkannt.

»Such' dich lange genug, Bürschchen! Zeig' dein Gesicht – man kennt dich!«

In verzweifelter Gegenwehr schlug Barbara Bryk um sich und bog das Gesicht zur Seite. Ihre Kräfte schienen sich zu verdoppeln. Unter einem wilden Stoß taumelte der Waldhüter zurück.

» Psia krew, willst du noch mehr?«

Wie Schraubstöcke umfaßten seine Finger ihre Arme, rissen sie zurück, hoben sie empor und schleuderten sie zu Boden, daß ihr der Schädel dröhnte und sie stöhnend, in halber Betäubung, liegen blieb. Im selben Augenblick preßte sich sein Knie gegen ihre Brust, während er den Strick aus der Tasche nahm, um sie zu fesseln.

»Nun, Mieczyslaw Osdowski, wie schmeckt die Jagd?«

In jäher Atemnot bäumte sie sich empor; der Hut, der ihr Gesicht beschattet hatte, fiel zurück; ihr Haar löste sich.

»Tod und Hölle!« schrie Roman Czarnecki auf. Als äffe ihn eine Erscheinung, erhob er sich taumelnd und griff sich an den Kopf. Nur sein schwerer Atem war hörbar. »Pani, seid Ihr … das wirklich?«

Sie antwortete nicht. Noch halb betäubt von der Gewalt des Stoßes, mit dem er sie zu Boden geschleudert, lag sie da mit geschlossenen Augen – totenblaß. Das erlegte Wild lag weiter drüben.

Nacht und Wald rauschten.

»Hab' ich Euch … deshalb schießen gelehrt?«

Wieder nur das Rauschen. Kurz lachte der Waldhüter auf.

»Ihr habt mir … viele Nächte gekostet. Die Spuren fand ich. Dies ist das zweite Stück.«

Bild: Ludwig Berwald

Seine Stirn verfinsterte sich, als er des Waldfrevels gedachte.

Als er immer noch keine Antwort bekam, als die Augen sich gar nicht öffnen wollten, rüttelte er sie.

»Pani!« Er beugte sich auf sie nieder. »Pani!«

Barbara Bryk war halb wach. Sie hatte keine Furcht mehr. Sie machte die Augen nicht auf.

Er nahm sie empor. »Pani!«

Die Stimme ward leiser, der Atem kürzer, rascher. Und jäh preßte er die geschmeidige Gestalt, die er im Arm hielt, plötzlich an sich, und sein Mund küßte heiß und durstig ihre Lippen.

Es war ein kurzer Augenblick. Ein Schauer lief durch den Körper des Mädchens. Das war das einzige Lebenszeichen.

Als käme er rasch wieder zur Besinnung, ließ Roman Czarnecki sie zurück ins Gras gleiten. Dann schritt er, gleichsam gegen sich selbst zornig, mit schweren Schritten auf und ab, ohne ihrer zu achten.

Nach einiger Zeit öffnete sie die Augen. Die Augen folgten ihm bei seinem Auf- und Abschreiten unablässig. Endlich merkte er es.

»Steht auf!«

Sie tat's.

»Woher habt Ihr die Kleider?«

»Noch vom … Vater!«

»So.« Ein prüfender Blick. »Zieht Eure an, Pani, wenn's beliebt. Soll ich Euch so ins Gefängnis bringen?«

Sie zuckte zusammen, antwortete aber nicht.

Plötzlich blieb er vor ihr stehen. »Ich bin vom Grafen für den Wald bestellt, Pani. Wenn Ihr noch einmal wagt, Euch hier blicken zu lassen und zu schießen, dann … dann …« Seine Augen blitzten durch die Dämmerung im Zorn.

Sie duckte sich, wie wenn ein Gewitter über sie hinginge.

»Lauft!« schrie er dann heiser.

Rasch, aber unsicher schritt sie davon.

»Heda, wohin wollt Ihr? Dort liegt Euer Haus. Und was Ihr da geschossen habt, nehmt mit, psia krew! Ich darf's nicht!«

Sie folgte dem Befehl und warf sich das Wild auf die Schulter. Sie hörte, wie Roman Czarnecki zornig die Gräser mit dem Stocke zerhieb.

Und so schnell sie konnte, gebeugt unter der Last, mit verworrenem Herzen und verworrenen Sinnen, lief sie vorwärts und hielt nicht ein, ob es ihr auch manchmal war, als müßten ihr jeden Augenblick die Kniee brechen.

* * *

 


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