Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Adana.

Um zehn Uhr früh fuhren der Hauptmann und Irfan auf einer Lokomotive weg; sie sollten am späten Nachmittag bei der zerstörten Brücke sein, von dort über den Amanuspass reiten und in den Seitentälern des Passes die nötigen Untersuchungen durchführen. Lukri hatte die Erlaubnis nach Mercine zu fahren um Verwandte zu besuchen. Ich blieb in Adana zurück mit dem Ingenieur. Abends um sieben Uhr war eine Konferenz mit dem Kommandanten angesetzt. Der noch junge General, den ich schon bei der Ankunft am Bahnhof gesehen hatte, sprach kaum französisch, ich bestellte den Ingenieur um sieben Uhr zum Übersetzen, ging auf mein Zimmer schlafen und hiess den albanischen Portier mich um halb sieben wecken.

Es war der heisseste Tag der ganzen Expedition; 50 Grad maass man. Alles war still, auch auf der Strasse keine Bewegung. Ich sah vom Bett aus durch den Spalt der Vorhänge ein Rudel Büffel im ockergelben Flusswasser stehen, unbeweglich an einem der Pfeiler von Trajans langer und niedriger Brücke. Eine alte französische Standuhr mit der Jahreszahl 1848 stand auf einer Truhe im getünchten Zimmer. Sie lief und zeigte die Stunden zu früh, ich stellte sie ab. Das ganze Hotel war voll von Schlafenden, man hörte sie von allen Seiten durch die dünnen Wände, schnarchen. Im Hofe hörte man streiten, einer sprach eindringlich, der andere rief dazwischen, dann schrien beide; nun hörte man wie jemand vom Bett sprang, zum Fenster lief und dann ein einziges Wort zu den Streitenden hinunterbrüllte, worauf sie beide gleichzeitig in einem Misston abbrachen, so dass man plötzlich die seltenen Reiter auf der Strasse und das träge Rauschen des Stromes hörte. Fliegen und Moskitos gab es keine, weil das Zimmer Meerluft hatte und fast täglich plötzliche Stürme diese Seite des Hauses trafen. Aber das Atmen war schwer, man sog mit Anstrengung die dichte, heisse Luft in die Lungen; von dem hölzernen Fenstersims, den die Sonne traf, kam es wie Brandgeruch. Wie ich am Einschlafen war, trat ein Limonadenverkäufer ohne anzuklopfen ins Zimmer, ich trank vier Gläser Zitronenlimonade, schlief sodann nur noch kurz und musste mich gleich anziehn; jede Bewegung war wie ein weiter Weg, immer wieder hielt man inne und war ohne Atem.

Dann kam der Adjutant, den mir das Kommando zugeteilt hatte. Er war jung und schwächlich, stammte aus Konja, war der einzige Sohn alter Eltern und litt an schwerer Malaria. Er war vom Treppensteigen so erschöpft, dass er mich sofort bat, sitzen zu dürfen. Ich liess ihm Getränke kommen. Wir konnten uns schwer verständigen, er sprach fehlerhaft französisch und einige Worte deutsch. Bis um fünf Minuten vor sieben traf der Ingenieur nicht ein; ich schickte einen Burschen, um ihn im Hause zu suchen. Wir mussten wegfahren, der Kiosk des Kommandanten lag ausserhalb der Stadt.

Nur unter tätigen Verfassungen vergeht die Zeit, endlos erschien sie bei diesem nur noch Ertragen der Hitze. Die Luft hatte aus der wehenden Frische der durch das Blut mit jeder Freude und Sehnsucht unerschöpflich flutenden, kühlen und leuchtenden Kraft sich gewandelt, nun war sie ein fremder und unheilvoller Stoff geworden, voll Fieber und Angst an der Grenze seiner eigenen Natur, brauend in der Glut, versammelt zum Aufbruch, um in den Kreis der Naturgewalten zu stürzen und das Gefährliche in sich jähe zu befreien.

Die meisten der Hütten in den engen, langen Strassen waren noch geschlossenen einer Kreuzung standen zwei heruntergekommene europäische Weiber in grotesken Hüten. Ismyil, der Adjutant, schlief zurückgelehnt; wie bleiches, schmelzendes Wachs war sein Gesicht mit dem offenen Mund. Während der Fahrt kreuzten wir ein Automobil, zwei Franzosen in Tropenhelmen lagen mit leidenden Gesichtern in den Kissen. Ausser dieser Marmontlimousine und den Weibern sahen wir nichts auf der ganzen Strecke als Hunde – und Katzenkadaver am Wegrand. Und doch von allen diesen ununterbrochenen Fahrten im Wagen, im Automobil, in der Bahn, sechs Wochen lang tagaus tagein, ist mir diese Strecke vom Hotel zum Korpskommandanten in einer Weise erinnerlich, dass ich sie in jedem Augenblick mit geschlossenen Augen wieder beginnen und erleben kann, mit ihrer Atembeklemmung, dem Fäulnisgeruch, dem Blenden der weissgetünchten Moscheen. Dann dieses Hinauskommen in die Ebene, wo die Stadt sich verliert, wo europäische Neubauten halbvollendet wieder zusammenbrechen, wo der Friedhof der französischen Soldaten mit Monumenten für die Offiziere und Kreuzen für die Gemeinen verstaubt an der Strasse liegt, nicht weit davon die Villa des französischen Konsulats aus rotem Backstein mit Türmchen und Erkern, im Garten verdorrte Koniferen und Palmen. Daneben verödete Fabrikgebäude und rostiges Eisen bei trockenen Tümpeln.

Die öde Traurigkeit der Stadtgrenzen zivilisierter Gegenden, hier im besonderen der Spuren europäischer Technik, die der orientalischen Landschaft zerstreut und zufällig gegenübersteht, diese Entmutigung, die aus den in der freien Gegend sich verlierenden Baugründen und Industrien uns entgegenkommt, alle diese Verdüsterungen entstammen der plötzlich spürbaren Gegenwart des Vergänglichen, wovon nichts so sehr Form und Sprache ist, als die Technik und ihre Werke, messbar am Unvergänglichen der Natur, welcher sie entgegentreten. Menschliche Werke ertragen die Gegenwart der Natur nur dann, wenn sie sich in ihr verlieren wie die Hütte und das Zelt, oder wenn sie ihr und ihren Gesetzen entsteigen wie die Architektur reiner Zeitalter und grosser Visionen, Man kann in Buchten, in liebliche und erhabene Täler, ja auf machtvolle Höhen Werke stellen als Wohnungen für Menschen und Götter, dergestalt, dass sie dastehen wie ein Ausklang und Schlussakkord der Natur, aber was will man diesen ungeheuren Ebenen entgegenbringen, das nicht von ihnen verschlungen würde, das nicht wie weggespültes und auf dem Trockenen verdorrtes Strandgut daläge. Und doch auch hier vermögen Wirkungen einzutreten, die mit Schönheit dies Schale und Zweideutige solch verlorener Grenzen erheben und erlösen; das Licht vor allem, das ewig neu in den niemals sich gleichenden Vorgang von Wind, Woge und Atmen der Erde hereinbricht. Dann aber vermag dies auch, entgegen den Vorgängen, in denen das Vergängliche, das Unrichtige und der Irrtum sich enthüllen, eine Kraft unseres Innern; sie löst das Grauen mit der Hoffnung, das Vergängliche mit der Weisheit und sie vermag alles sinnreich in jenen Bezirk aufzunehmen, wo das Menschliche, das Sündhafte und das Tapfere gleichermaassen die Würde seiner schweren und einsamen Probe und tiefsinnigen Bedeutung erhält. Solchergestalt, beim raschen Sinken des Tages, wandelten sich mir die hingeworfenen Reste, fahle Mauern und zerfressenes Metall, Zeichen unseres europäischen Zeitalters und seiner Flucht, einsame Zeugen eines zweifelhaften Geistes vor der teilnahmslosen Weite, wandelte sich mir all dies in dem gedankenvollen Lichte der kurzen Dämmerung. Aus Angst und Unbehagen erhob es sich zu einer traurigen Erhabenheit, aus der Ahnung; dass der ewigen Dauer, die das Ereignis und seine Gestalten hinunterspült, auch wir angehören, hindurchgetragen durch die Flucht der Erscheinung.

Wir fuhren nun auf Gras wegen zwischen den Reben und unter den von Baum zu Baum gezogenen Reblauben. Starker Duft der reifen Trauben ging mit dem Meerwind, der sich beim Dunkelwerden erhoben hatte und in die Ebene einströmte. Unsere Pferde wurden frischer, das Handpferd galoppierte, nun war auch der Adjutant aufgewacht, ihn schauderte in der Kühle, der Kutscher wurde lebendig, er riss eine Traube herunter aus dem hohen Laubgehänge und reichte sie uns. Von den Rebhäusern sah man Lichter, Lachen und Zurufe hörte man, Gestalten mit weissen Zähnen und Augen duckten sich auf dem engen Weg am Wagen vorbei; unter den grossen Ulmen auf den viereckigen Grasplätzen zwischen den Rebgängen sah man im Ungewissen Schein der Laternen Früchte tragende Diener und Speisende, im Dunkel das Glühen der Pfeifen. Man hörte die Stimmen der Frauen und spürte ihre Nähe in ihren weichen seidenen Gewändern, scheu und neugierig.

Der General bewohnte während der heissen Monate, wie die meisten höheren Offiziere der Garnison und des Korps, einen grossen Kiosk in den Reben. Wir fuhren an der unbeweglichen Doppelwache vorbei, wendeten und parierten auf einem geräumigen Grasplatz; der General, der mit den anderen Herren unter einer alten Ulme auf den Teppichen sass, sprang mit dieser wunderbaren Biegsamkeit seiner Rasse auf, ging uns dann ruhig entgegen und stellte mich dem Generalobersten und zwei höheren Truppenoffizieren vor. Ein Militärarzt konnte etwas französisch, die anderen sprachen nur türkisch. Wir setzten uns schweigend auf die Teppiche, tranken den heissen Kaffee und rauchten. Ich wartete immer auf den Ingenieur; ich fragte, da ich besorgte er möchte im Trunk in Händel und Gefahr geraten sein, den Militärarzt, ob in Adana etwas zu besorgen sei; er verneinte: man sei hier Europäer und ihre Ausschweifungen gewohnt, sagte er. Der General wurde aufmerksam, liess sich meine Frage wiederholen, hierauf erhielten zwei Ordonnanzen den Auftrag den Ingenieur zu suchen. Wir begannen unsere Besprechung; ich verstand aber schlecht aus den gebrochenen Übersetzungen, man breitete eine Landkarte aus und beleuchtete sie grell mit Azetylenlaternen. Neugierige, die sich in einiger Entfernung hinter den Rebwänden herangedrängt hatten, mussten verscheucht werden. Die Ordonnanzen trieben die Zuschauer ins Dunkel ohne zu reden. Ich versuchte etwas auseinanderzusetzen, vereinfachte den Gedankengang mit allen Mitteln, stellte die Beziehungen um, und umschrieb, um der Übersetzung entgegen zu kommen; es war aber vergeblich. Der Adjutant und der Arzt versuchten immer beide zu erklären und widersprachen sich. Der General, der aufgerichtet sass, lächelte, kauerte sich sodann zusammen, bot mir mit grosser Verbindlichkeit eine Zigarette an und liess Raki bringen; er winkte mit den Augen ab, hob die Besprechung auf, es wurden grosse Teppiche gebreitet, andere Gäste waren erwartet, die Türken begannen unter sich zu reden, immer wieder trank man mir zu.

Jetzt kam ein erster Wagen, ein älterer Herr stieg aus, sein Diener war ihm behilflich. Der Herr war in einen schwarzen Gehrock gekleidet, er trug weisse Hosen und gelbe Schuhe, auf dem Ärmel das Abzeichen des Roten Halbmondes; er trat mit grösster Verbindlichkeit in den Kreis, höchst verschieden von den Türken; seine Gebärden waren einschmeichelnd und ironisch zugleich, seine vollkommene Würde lag in der spürbaren Intelligenz. Er war ein jüdischer Grosskaufmann und hiess Joseph. Wie er in unserem Kreis Platz genommen hatte, begannen wir sofort unsere Verhandlungen wieder; er sprach fliessend französisch, englisch und italienisch, er übersetzte hervorragend; das Sachliche legte er klar und überlegen aus, als angesehener Bürger und kluger weit bekannter Kaufmann. In der Form war zu viel selbstgefällige und ängstliche Überredung, dabei gab er fast unmerklich manches von meiner Art den Türken und vieles der ihren mir selbst preis. Wie ich diese doppelte kleine Wendung seiner Liebenswürdigkeit einmal festzuhalten andeutete, begann er mich zu betrachten und während sein Mund immer noch weiter sprach und die untere Gesichtshälfte denselben Ausdruck behielt, sprach aus den Augen klug forschender und verächtlicher Ernst. Nach einiger Zeit der Verhandlung begann er in das Gespräch allgemeine Bemerkungen von höherem Gewicht einzustreuen, sodann wurde er durchaus wesentlich, sprach mit Ernst über anziehende Gegenstände, brach sodann mit einer deutlichen Rücksicht auf die Türken jedoch ab und frug mich, ob ich für den späteren Abend sein Gast sein wollte; ich sagte zu. Nun wurde ein reichliches «Mehze» aufgetragen; wie wir schon speisten, kam ein hoher Gouvernementsbeamter, ein früherer Diplomat, er litt schwer an Wechselfieber und war überdrüssig und müde. Er war vor dem Krieg in Paris und Rom auf Posten gewesen, hatte aus finanziellen Gründen quittiert und lebte nun erbittert und müde in der Provinz. Er begrüsste die Offiziere mit halb europäischem Gruss, indem er winkte; er gab dem General die Hand, nickte Joseph flüchtig zu und setzte sich zu mir, worauf er ganz ohne die Gegenwart der anderen zu achten, mit einer Art Ungeduld nach der Möglichkeit des Vorhandenseins gemeinsamer Bekannter zu fragen begann, Namen aufzählte, Frauen beschrieb und als Neuigkeit uralte Geschichten aus Paris und Italien erzählte über Leute, die sich nun seither schon längst über die Geschichten der jüngeren Generation alterieren können. Er gebrauchte Ausdrücke von vor zwanzig Jahren, er erwärmte sich über verschollene Streitfragen, erzählte uralte Spässe, schimpfte über Restaurants, die es schon lange nicht mehr gibt, und dabei war er so leidend, dass ihm die Zähne in der Nachtluft aufeinanderschlugen. «Wir sind hier alle malariakrank», sagte er, «der letzte Fiakerkutscher ist es.» Ich musste über den Ausdruck Fiakerkutscher lächeln, und sofort nickte Joseph mir zu; «jedermann ist hier krank», sagte auch er, «man hält das Klima nur mit der grössten Nüchternheit aus; solch ein armer Teufel, ein Arabatschi oder Schiffer, die können sich kein Chinin kaufen, wir verteilen vom Roten Halbmond aus bestmöglichst an die Bevölkerung, aber durch den langen Krieg ist dies alles hier sehr schwierig geworden» … «Wir haben hier» schnitt der Diplomat ihm das Wort ab, «einen kleinen Klub gegründet, sehr bescheiden, man tut was man kann, ich hoffe, Sie machen mir morgen das Vergnügen.» Man rauchte wieder, die Offiziere kauerten um den jungen und kraftvollen General wie schöne Tiere und sprachen wenig. Joseph war verstummt, der Diplomat erzählte noch allerlei Geschichten. Es wurde immer kühler; im Wind, der von der See herwehte, waren die letzten Moskitos verschwunden. Es war nun ein grosses Sausen in dem nächtlich bevölkerten Rebgelände; die Lauben schwankten leise, die Laternen wiegten. Joseph liess sich seinen Mantel bringen, ich wollte mich erheben und aufbrechen, da sagte mir in der allgemeinen Stille ein Oberleutnant, ein junger Bursch, der die ganze Zeit im Schatten gesessen hatte unvermittelt auf deutsch und wie ein Kind, das etwas auf dem Herzen hat: «Haben Sie Kapitän von Mücke gekannt?» und dann wie ich verneinte, «er war mein Freund, er war ein Held und ich liebe ihn». Ein sonderbarer Blick Josephs ging zwischen uns; der General aber nahm meine frühere Bewegung des Aufbruchs entgegen und verabschiedete uns in dieser herzlichen und biederen Weise, die dem Türken geläufig ist. Mitten in unserem Abschied kamen die Ordonnanzen wieder und meldeten, sie hätten in der ganzen Stadt den Ingenieur bis jetzt nicht gefunden. Der General schien beunruhigt, liess mir aber sagen, es sei eine Unmöglichkeit, dass ihm etwas geschehen sei. Der Diplomat jedoch wiegte bedenklich mit dem Kopf und schaute mich an, als wisse er viele Geschichten von geheimnisvoll verschwundenen Fremden; «es ist doch sehr langweilig», sagte er, «sehr langweilig». Ich schlug Joseph vor, mich in seinem Wagen mitzunehmen, er hatte wundervolle Pferde, grosse Braune mit viel Blut; wir fuhren sehr rasch durch die rauschenden Gänge davon; die Sterne hatten über der wogenden Last fruchtbeladener Zweige und betauter Blätter einen eisig zitternden Glanz. «Helden», sagte mir Joseph, «hörten Sie eben, wie der Oberleutnant den deutschen Seeoffizier einen Helden nannte? Es gibt im Orient den Helden nicht, innerhalb der Notwendigkeit ist kein Raum für den Helden. Der Sieger, der Gahzi, ist der von Allah gewählte zu hohen Ehren bestimmte und gezwungene und, mit geliehener göttlicher Macht über Andere, Gewaltige. Das Hervortreten im Wettkampf erscheint dem Orientalen schamlos und spielerisch. Die Griechen haben, die Welt vom Menschen aus betrachtend, den Helden, den Heroen, den Halbgott und die Götter geschaffen und jeden von allen Seiten frei wie ihre Bilder in die Luft gestellt, als einmaligen Gegenspieler des Gesetzes, und jeder dergestalt Erschaffene war ein Rebell gegen die Ordnung der Welt.» Indem er sprach, hatte er eine eigentümliche Bewegung mit der rechten Hand, er skandierte seine Sätze.

Wir waren am Ende der Reblauben angelangt, die Pferde setzten mit einem Galoppsprung über die schattengefüllte Mulde, die zur Chaussee hinüberführte, weiss lagen die Ebene und die Stadt im Mondschein. «Dass dich des Tages die Sonne und des Nachts der Mond nicht steche», fiel mir ein; der Kutscher lag zurück, die Pferde versuchten durchzugehen dem Stall zu. «Dieser Narr», brummte Joseph zerstreut – «halt sie! so halt sie doch!» rief er, wie wir gegen einen Stein sprangen. Die Palmen in dem dürren Grunde warfen sich wie Fontänen dem Mondlicht entgegen; zwischen Steinen, wo in der Glut des Tages kein Kraut, kein Moos mehr gedieh, standen sie, eine Gebärde des Überflusses, nun im Nachtwind, wetzten ihre metallischen Blätter aufeinander, schneidender als Schilf, und sie glänzten wie Messer. Die Stadt trug auf den hellen Würfeln ihrer Häuser einen unbeweglichen Glanz, aus dem die bleichen Kuppeln und Minarete aufstiegen, den Sternen zu, die nun wie Kugeln erschienen, jede mit ihrer durchleuchteten Sphäre.

Dann hatten wir die Stadt erreicht, die Pferde schnoben und zogen in einem schönen glatten Trab durch die langen Strassen und geschickt zwischen dem Gedränge der anderen Fuhrwerke hindurch. Alles war auf den Strassen und auf den Dächern, immer noch zogen neue Gestalten aus den dunklen Häusern ins Freie und aus den Gärten auf die luftigen Terrassen hinauf. «Ich muss», sagte ich zu Joseph, «bevor wir zu Ihnen gehen, beim Hotel vorfahren, um nach dem Dolmetsch zu fragen, es beunruhigt mich.» – «Was ist das für eine Sache?» fragte mich der Alte zerstreut, als hätte er nicht davon gehört. Ich erklärte ihm den Fall nochmals. In diesem Augenblick hielt unser Wagen an, wir waren vor Josephs Haus; er gab dem Kutscher einen Befehl, dieser pfiff auf den Fingern, ein Diener öffnete die Haustüre und trat an den Schlag, Joseph sagte ihm etwas, der Diener verschwand wieder, gleich darauf kam ein kleiner grauer Mann heraus, sprach längere Zeit mit seinem Herrn, er schien ihm einen zusammenhängenden Bericht mitzuteilen, Joseph blieb sehr herrisch und aufmerksam zurückgelehnt, worauf er dann die Erzählung plötzlich abbrach und kurze Instruktionen erteilte, hin und wieder wies er auch auf mich. Wir fuhren zum Hotel, der Ingenieur war nicht da. Nun ging es zurück zu Josephs Haus. «Beunruhigen Sie sich nicht, die Polizei wird ihn nicht finden», sagte er lachend. Durch eine halbdunkle Halle des Hauses betraten wir den Garten. Man brachte Liegestühle und es wurde ein kaltes Essen mit vorzüglichen griechischen Weinen aufgetragen. Am Springbrunnen sassen wir; es war erfrischend kühl. Auf den erleuchteten Dächern der Häuser, rings um den grossen Garten, war ein lebendiges Getriebe unter Zelten an Tischen und auf niedrigen Betten; nichts war geheim in dem starken Mondlicht.

Ich erzählte von den Bektaschjimönchen. Joseph sprach von den geistigen Zusammenhängen dieses Ordens, von ihrem nun erloschenen aber im Beginne eigenartigen Zug gegen alles Fanatische, Sektirische und Endgültige, eine schwebende milde Kultur, sonderbare Spiegelung des frühen mittelalterlichen Humanismus, ohne den Blick auf den Einzelnen aber. Eine eudämonistische Lehre der dem Gleichnis völlig hingegebenen Gemeinschaft. «Eine seelische Heilkunst» sagte Joseph, «als Geheimwissenschaft war es, denn in der Tat ist die Askese beispielsweise, wie jede metaphysische Richtung innerhalb des physischen Daseins der Gewalt eines Giftes vergleichbar, das gebändigt, weise, überlegen und gleichsam metaphorisch gehandhabt sein will. Anders ist es ja mit keinem der absoluten Begriffe, man nehme welchen man immer wolle, die Freiheit beispielsweise, welch starker Trank und wie zerstörend.» Und er schweifte ab, sprach von der Erziehung als der höchsten Heilkunst. «Die Souveränität» sagte er, «eines Menschen in sich selbst pflege er zu messen an der Art, wie man die Kräfte seiner Leidenschaften seinen höheren Zwecken dienstbar mache. Seine Natur möge gebunden oder hingerissen sein, wenn er einer wirklichen Regierung seiner selbst fähig sei, das Niedrige dem Hohen zu unterstellen vermöge, so sei der ganze Sinn der Erziehung erfüllt.» Dann sprach er von Politik. Er wusste die neuesten Nachrichten von der Friedenskonferenz aus Lausanne. «Das kann doch überhaupt noch nicht hier sein», sagte ich ihm. «Es ist mir soeben gemeldet worden», antwortete er. In diesem Augenblick kam der kleine Alte wieder, er beugte sich zu seinem Herrn und berichtete etwas. «Der Ingenieur ist von meinen Leuten gefunden», sagte darauf Joseph zu mir, «er braucht aber einen Arzt, am besten ist, wir nehmen uns gleich der Sache an.» Ich wollte abwehren und anbieten allein mit dem Boten hinzugehen. «Nein», sagte mein Gastgeber, «es wäre besser, Sie blieben überhaupt hier, aber da ich nicht weiss, wie es mit seiner Gesundheit steht, müssen Sie dabei sein, wenn der Arzt ihn sieht.» Er schickte den Alten wieder weg, um den Arzt zu holen. Dann fuhr er unbeirrt fort über Politik zu reden, über die Stellung der Minoritäten im Türkischen Reich, über den Levantehandel und die französischen Aspirationen, die europäische Politik, den Charakter der Völker; er sprach, als hätte er sie alle von Kindheit auf gekannt und als werde er sie noch alle begraben, um die darauffolgenden dann in denselben Irrtümern wieder heranwachsen zu sehen. Ich erzählte ihm, was Irfan mir von Russland und von Trotzki erzählt hatte. «Nein, so ist Trotzki nicht», sagte er und schüttelte leise den Kopf, «ich werde Ihnen sagen, wie er ist; dieser Irfan ist viel zu eitel um ein Urteil über Menschen überhaupt zu haben; bei ihm gibt es nur zwei Alternativen, er ist geschmeichelt oder verletzt, und wenn ihm scheinbares Wohlwollen von einer mächtigen Persönlichkeit erwiesen wird, so übertreibt er sich diese Persönlichkeit, um selbst dadurch an Ansehen zu gewinnen.» – «Kennen Sie Irfan?» fragte ich ihn. «Nein, aber ich bin unterrichtet über ihn», sagte er. «Seien Sie niemals ernst mit ihm», fuhr er fort, «bis am Schluss der Expedition nicht, lassen Sie ihn möglichst im Ungewissen über Ihre Absichten, bewundern Sie seinen Glanz, es wird sich auch dadurch lohnen, dass er immer mehr entfaltet, denn er hat grosse Reserven.» Nun kam der Arzt mit raschen Schritten durch das Haus in den Garten, der alte Bote folgte ihm. «Wir gehen», sagte Joseph; man reichte mir einen Fez und einen kaftanartigen Mantel.

Wir gingen durch den Garten, dann über einen kleinen Platz in eine lange, übelriechende Gasse, eine Treppe hinauf, durch ein Haus, dessen Tür angelehnt stand, hindurch, wieder durch einen Hof in eine Gasse; wir begegneten niemand, an einer Ecke kauerte einer, er stand auf und sagte dem Alten etwas, wir traten seitlich, wie mir schien, in ein Gewölbe zwei Stufen abwärts, dort warteten wir etwa zehn Minuten, eine Polizeipatrouille, drei Mann, ging vorbei. Wir traten wieder auf die Gasse hinaus. Joseph ging mit grosser Schnelligkeit und fast unhörbar. Wir hielten, nachdem wir wieder einen Mann gekreuzt, mit dem man einige Worte wechselte. Der Führer klopfte an einer Haustür; sie wurde sofort aufgezogen und wir traten ein. In einem schwach erleuchteten Wohnraum waren wir. Auf den Kissen lagen einige Männer verschiedenen Alters herum; sie rauchten Nargilehs. Sie grüssten mit der Hand, man sprach nicht mit ihnen, ging durch das Zimmer weiter durch einen Korridor, wo ein alter Herr vor der nächsten Türe auf einem Lehnstuhl sass und in einem Buche vor sich hinmurmelnd las. Wie er Joseph sah, stand er auf, verneigte sich tief und gab ihm die Hand. Die Tür wurde von innen aufgestossen. Ein junger Mann in einem gelben Anzug aus Tropenstoff trat rasch heraus, er war rothaarig, kurzsichtig und trug einen Zwicker. Nach einer kurzen fragenden Begrüssung mit Joseph trat er auf mich zu und sagte mir: «Verzeihen Sie, dass Sie so spät benachrichtigt wurden, ich wusste nicht, dass Sie eine Abmachung mit dem General hatten.» Er liess mich, Joseph und den Arzt hinein, drängte dann an uns vorüber; «ich geh voraus», sagte er. Wir hörten Musik, es roch süss nach Opium. Der Raum war grell mit Azetylen beleuchtet, getüncht, leer, in der Ecke war ein geschlossener Vorhang; auf einem Divan lag starr auf dem Rücken mit offenem Mund der Ingenieur. Er rührte sich nicht, ich glaubte, er sei tot. Der Arzt aber lächelte; «lassen Sie mich nur hier», sagte er, «warten Sie nur, ich werde Sie gleich rufen». Wieder ging der unangenehme Mensch mit dem Zwicker voran, durch eine Tür zwei Stufen abwärts in einen halbdunklen, ganz mit grünen Stoffen behängten Raum. Am Boden erhoben sich undeutliche Gestalten und riefen uns zu; wir tasteten vorwärts, etwas strich an mir vorbei. Wir liessen uns auf Kissen nieder, das Auge gewöhnte sich an die Dunkelheit. Opiumraucher lagen rings herum. Zwei Weiber bedienten die Pfeifen, die eine kam zu mir, kniete nieder, stützte sich auf die Hände; wie eine Katze streckte sie den bleichen Kopf vor, sie hatte Goldstaub in den rostigen Haaren und grüngraue Augen mit irrenden braunen Flecken. Was sie mir sagte, verstand ich nicht, ich drehte mich um, sie fasste mich am Arm, Joseph aber riss sie weg mit einem rauhen Zuruf, sie rollte ins Zimmer, kroch gleich wieder davon und machte sich damit zu schaffen, die schmierige, zähe, fadenziehende Masse des Opiums auf das Rauchbesteck zu streichen. Mir war übel von der Luft in dem öden Verliess. Ich sprang auf. «Nein, so warten Sie doch bitte, man wird uns gleich ein Zimmer geben», rief Joseph und schaute mich klug, neugierig und belustigt an, durch den Dunst in der widerlichen Beleuchtung halb wohlwollend und halb fratzenhaft. Ich kümmerte mich nicht mehr um ihn, ging die Treppe hinauf und wollte öffnen, die Tür war von aussen geschlossen; ich schlug mit der Faust darauf. Joseph sprang auf. «Was machen Sie denn!» rief er ganz gereizt. «So lassen Sie doch das, es wird Ihnen ganz gewiss nichts geschehen. – Warten Sie doch bitte», sagte er darauf, «es wird ja gleich jemand kommen.» Die Rothaarige wollte wieder an mich heran, sie tanzte zwischen mir und Joseph hin und her, wie auf seine Erlaubnis wartend, dann kam sie hinauf gegen mich, völlig im Tanzschritt. In diesem Moment wurde von aussen die Türe geöffnet, das Azetylenlicht traf einen zum blind werden, die Raucher und Schläfer bewegten sich, stöhnten etwas, ich drückte mich sofort durch den offenen Spalt, schlug die Türe zu und drehte den Schlüssel wieder hinter mir.

Der Ingenieur sass ohne Rock vornübergeneigt, er schaute glasig vor sich hin, der Arzt hielt seinen Arm. «Kommen Sie ins Hotel und schlafen Sie Ihren Rausch aus», sagte ich zu ihm. Er wollte etwas antworten, es wurde ihm aber sofort wieder übel. «Warten Sie auf ihn», sagte der Arzt, «er wird gleich so weit sein, warten Sie bitte, es ist besser. – Vielleicht  … er zeigte wieder auf die Tür aus der ich kam. «Nein», sagte ich ihm, «ich warte vorn!» Ich ging durch den Gang und setzte mich zu den Nargilehrauchern, liess mir eine Pfeife bringen und kauerte mich in eine Ecke. Alle betrachteten mich, sie begannen über mich zu reden; mein Nachbar, ein hagerer gelber Mensch im schwarzen Kaftan drehte sein schmales Gesicht mit der scharfen Nase zu mir, er schaute auf mich aus einem ganz kleinen Spalt seiner roten angeschwollenen Lider und sagte etwas zu mir. Ich tat sofort, als hörte ich drinnen jemand rufen, als überhörte ich ihn, stand auf und ging wieder zum Ingenieur zurück. Da war nun auch Joseph, er trocknete sich die Stirn. «Ah da sind Sie ja!» sagte er, «wenn es Ihnen recht ist, gehen wir jetzt in das Zimmer, das ich reservieren liess. Der da» er wies auf den Ingenieur, «schläft jetzt ruhig durch bis zum Morgen, man sollte ihn nicht wecken. Wir können noch allerlei reden bis sechs Uhr früh und Sie werden ein eigentümliches Stück orientalischen Lebens sehen!»

Mittlerweile waren die Männer aus dem vorderen Zimmer, die Nargilehraucher, neugierig nachgedrängt; sie standen in der Tür und schützten sich die Augen gegen das grelle Licht mit der Hand. Sie zeigten auf mich, fragten Joseph etwas, dieser aber wies sie herrisch zurück. Ein Neger kam aus dem Opiumgelass und holte uns, das Zimmer war bereit; wieder gingen wir durch den beizenden blauen Dunst im Dunkel hindurch. Gegenüber der Treppe hob der Neger den Wandvorhang, öffnete eine schwarz gestrichene Brettertür und wir kamen in ein frisch ausgeräumtes grosses Zimmer, das ganz mit hellroten Smyrnateppichen ausgeschlagen war. Man hatte gelüftet und zwar gegen den Hof hinaus; man roch noch einen modrigen Geruch, ein Gemisch von Nacht, eingeschlossener Wolle, toten Mäusen und altem Alkohol. Auf einem Rauchtisch brannte eine rote Ampel, in der Mitte des Zimmers drei Kerzen in einem hängenden Bronzeleuchter europäischen Ursprungs. Wir setzten uns auf die Kissen und begannen Wein zu trinken. Der Neger schenkte ein. «Nun lasse ich tanzen», sagte Joseph und legte sich zurück in die Ecke. Er schickte den Neger. Zwei Mulatten kamen herein, der eine brachte ein Instrument zwischen Cimbal und Zither, der andere eine Geige, Sie fingen gleich an zu spielen, vor sich hin wie im Schlafe. Lauter tonlose orientalische Weisen, bei denen der Rhythmus sich aus einer dämonischlasziven Besessenheit nicht erhebt. Eine braune Person mit Spangen um die Knöchel, einem roten Gürtel, nacktem Oberkörper, kurz geschnittenem schwarzem Haar und grossen gelben Ohrringen fing an eckige Figuren, zuerst ruhig schleifend, dann stampfend in grosser Aufregung zu gehen; sie war ganz mit ihrem Tanz beschäftigt. Joseph betrachtete mich während der Vorführung beständig; «und das langweilt Sie?» sagte er, «bei Ihnen macht man doch nichts anderes als solche Vorführungen. Das war doch die grosse Entdeckung der letzten Jahre bei Ihnen!» Ich hatte dieses selbe Gefühl der Öde, das ich bei der Betrachtung späterer orientalischer Teppiche meistens hatte und bei allen Tanzvorführungen stets gehabt habe. Alles erschien mir dabei immer wie das gleiche aussichtslose Grundmotiv der dunkeln, ewig wiederkehrenden und in sich zusammenbrechenden Leidenschaft, das Spiel auch von jammervollem Zwang, nichts auf der Welt so unerlöst wie diese Tänze, und wieder fiel mir die Fassade der Moschee Mehmets des Wahnsinnigen ein. «Eine Entdeckung war es nicht», sagte ich zu Joseph, «es war eben das Vordringen des Ostens. – Schicken Sie die Frau weg», sagte ich. Sie blieb stehen und zeigte sich, man warf ihr Geld hin, sie nahm es wie ein Tier einen Happen rohes Fleisch, dann fragte sie mit einer tiefen heiseren Stimme etwas. «Sie fragt, warum sie Ihnen nicht gefalle», sagte Joseph. «Lassen wir die nächste kommen», lachte er, «Sie werden sehen, das ist die richtige Erziehung für Sie; wie kann man etwas so Wichtiges auf der Welt nicht begreifen; von hier bis Japan ist aus dem Tanz die Gewalt des Weltteils zu lesen, wie an einem Pegelstande. Alles ist im Reigen, viel mehr als in Ihrem überlieferten Musikwesen, diesem Aufrauschen und Sinken, das auch nicht aus sich hinaus kann. – Und das ist es», fuhr er fort, «die Griechen stürzten vorwärts und verloren immer alles, um alles zu gewinnen. Dabei verbrannten sie sich, wie sie ihre Leichen verbrannten. Ihr Europäer aber, ihr konserviert das Vergangene und beschwert euch damit, aber es ist tot, und im Augenblick der Not seid ihr so beladen, dass euch nur noch geringe Kräfte zur Abwehr taugen. Der Osten aber hat immer alles gegenwärtig, in einem ungeheuren Tanz kann er es auswirken, nichts widersteht dieser Gewalt und im Tanze schlingt er es wieder in sich zurück, wie die Ebbe die Flut verschlingt, und kein Tropfen geht verloren.»

Nun kam die nächste, es ging mir wie bei der ersten; scheinbar sollten Angst und Qual von ihr dargestellt werden, auf Josephs Gesicht spiegelte sich dies. Die dritte war blond und hatte helle Augen, sie war schlank und schön, ärgerlich kam sie und mit einer gewissen Hoheit herein. Sie trug kleine zerrissene Atlasschuhe, helle Strümpfe und ein beinahe aus Fetzen zurecht gemachtes Kostüm, eine Andeutung des alten Ballettkleides, nur dass die kurzen Röcke nicht den Reif bildeten, sondern anschliessend waren wie das Gewand eines griechischen Jünglings; Schultern und Arme waren frei. Sie ging durchs Zimmer, schaute uns an, zuerst träge und hoffnungslos, dann mit einem gewissen Erstaunen. Die Musikanten begannen; immer noch stand sie und schaute, sie hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt in einer Gebärde, die mich sehr rührte, wie eine Tanzschülerin auf einem Bilde von Degas. Joseph rief ihr etwas zu; sie machte eine kleine Grimasse gegen ihn, schüttelte den Kopf, warf die Lippen auf und schloss die Augen. Dann trat sie vor mit einigen flüchtigen Pas, sie chassierte seitwärts, hielt plötzlich, warf die Arme in die Luft und ergab sich dem Rhythmus ganz, der sie nun trug. Die finsteren Mulatten spielten ein russisches Lied. Sie aber zog mit der Melodie, auf den Spitzen zeichnete sie die Kurven des Gesanges, die Bewegung, die von der Erde den gebäumten schmalen Rücken hinaufzog, ergriff ihr leichtes Haupt, das vom Übermaasse des Liedes beschwert, sich mit gespannter Kehle in den Nacken legte und zwischen die Schultern sank, die wie Flügel glänzten. Die Bewegung flutete zurück über Brust und Arme, und verschwand in dem tragenden, fliehenden Schritt, der nichts mehr hatte von dem tierischen Zwang, dem die anderen mit zitternden Lenden stampfend sich unterzogen. Das Beschwingte der in sich selbst erfüllten Freude war in dem Dahinziehen dieser weissen Glieder. Zwischen einem zauberhaften Erinnern und völliger Hoffnungslosigkeit vollzog sich dies. Sie sang ganz still in sich die Weise mit, einmal schaute sie aufblickte mich an voll Angst, sie lächelte, brach dann plötzlich ab im Tanze, blieb stehen und senkte sich, ganz in Beschämung und Widerwillen. Ich stand auf und brachte ihr mein Glas mit Wein gefüllt. Sie dankte auf türkisch sehr rasch und wie ein junges Mädchen. Dann nahm sie von mir eine Zigarette, sie wollte gehen, Joseph winkte ihr, uns zu verlassen. Sie zögerte einen Moment und fragte mich dann, ob ich ein Grieche sei, immer auf türkisch. Bei dem ganzen kleinen Gebärdenspiel hatte ich nicht gesprochen, da Joseph mich gewarnt hatte. Jetzt sagte ich zu ihr: «Nein, ich bin kein Grieche, aber Sie sind eine Russin und eine Frau aus der Gesellschaft.» Sie zog ein wenig die Schultern hoch, als friere sie, drückte das kleine Kinn ganz gegen den Hals und nickte rasch. «Bleiben Sie hier diesen Abend», sagte ich ihr, «wir reden zusammen»; ich führte sie zum Kissen. «Das geht nicht», sagte mir Joseph; sie blieb ängstlich stehen, schaute von ihm zu mir. «Tun Sie das nicht», sagte er zu mir. Sie wollte gehen. «Bleiben Sie», sagte ich nun und liess sie links von mir niedersitzen, so, dass ich zwischen ihr und Joseph war; aber jetzt kam der Rothaarige mit dem Zwicker herein, er bekam einen hässlichen Blick, fuhr die Russin an, zeigte auf die Tür. «Warten Sie, bis man Sie ruft! Haben Sie verstanden?» sagte ich zu ihm; er schlich weg wie ein räudiger Hund. «Also weiter», befahl Joseph dem Neger, der uns Kaffee brachte. Ich weiss nicht, was er alles vorführen liess, ich war still geworden, schaute nicht mehr, hörte der kleinen Russin zu, die mir sehr eilig eine Menge Geschichten erzählte über ihre Flucht aus Russland, ihre Jugend, ihre Trostlosigkeit, ihre Liebe zu einem französischen Offizier, dem sie aus Konstantinopel hierher gefolgt war und der sie bei der Wiedereroberung durch die Türken verlassen hatte. Von Zeit zu Zeit schnupfte sie ihr weisses Pulver, sie wurde immer gesprächiger. Vor Joseph indessen spielten sich wilde Szenen ab; eine Schar kleiner Buben war eingedrungen, sie machten einen grossen Lärm.

Jetzt ging die Türe wieder auf und es kamen der Ingenieur und der Arzt. Der Ingenieur kam mit gerührter Herzlichkeit auf mich zu und er sagte der Russin einige freundliche Spässe. Joseph rauchte Opium und war ganz in den Anblick seiner Veranstaltungen vertieft, während das Gesindel um ihn herumkroch. «Hören Sie», sagte ich dem Ingenieur, «setzen Sie sich»; er meinte, ich würde ihn zur Rede stellen und er bekam wieder sein Kindergesicht. «Nein», sagte ich, «nicht das, aber ich glaube folgendes: ich glaube, bei der grossen Hitze wird die Reise zu anstrengend sein für Sie, Sie sind nur als Privatmann hier, durch nichts gebunden, wollen Sie nicht nach Brussa zurückkehren und auf dem Weg dorthin diese Frau nach Konstantinopel bringen und schauen, dass für sie gesorgt wird? was sagen Sie dazu?» Er schaute die junge Person hilflos an, sie war ganz starr geworden, zitterte am ganzen Leib, eine grosse Unruhe ging plötzlich durchs Zimmer. Josephs Pantomimen brachen ab, er selbst wandte sich mühsam von seinem Rauchbesteck, schaute hinüber mit gelben Augen; er begriff aber sofort, ernüchterte sich, setzte sich auf. Der Ingenieur starrte immer noch auf die junge Frau – «Ja», sagte er plötzlich, «ich tus.» Ganz fasziniert schauten sie sich gegenseitig in die Augen, sonderbar erschüttert beide auf diese freie Spanne Zeit hin, wo sie sich in Ruhe und ohne diese schreckliche Einsamkeit nun gemeinsam vergiften konnten, beides gute und schöne Menschen, beide zerstört – oder vielleicht konnte zwischen ihnen etwas geschehen, das sie rettete. Ich weiss es nicht, habe auch vom nächsten Tage an nie mehr etwas von ihnen gehört. – «Diese Frau ist schwer krank», sagte mir Joseph; es traf sie aber nicht mehr, was er sagte, sie sass leise zitternd zusammengekauert in der Ecke und hielt die Fäuste vor die Augen.

Nun rannte durch die Tür eine schöne Zigeunerin herein, sie tanzte sofort das andere Gesindel aus dem Zimmer heraus. Wie ein Pferd im brennenden Stall raste sie und prallte gegen die Wände. Ihre ganze lebenslange Wildheit und Flucht war in dem einen engen Raum gefangen und raste sich in einem Augenblicke aus. Die Lichter flackerten. Die Mulatten spielten böse und wild. Ich stand nun auf um zu gehen. Sie war herrlich, unverwüstlich, zäh, all dem Moder und Tode dieses elenden Schlupfwinkels gegenüber unverwundbar. Sie reinigte die Luft. Joseph aber schimpfte wohlwollend und aufgebracht. «Ihr seid alle kindisch», sagte er. «Nichts habt ihr begriffen von dem heutigen Abend. Garnichts ist bezeichnender für die Kleinheit eurer Betrachtungsweise als die plötzliche tätige Teilnahme an diesem einen zufälligen Wesen, dieses eitle Eingreifenwollen. Nichts habt ihr gespürt von heute, von den Grenzen, wo wirkliche Sinnlichkeit beginnt, wo ein Ganzes sich formt, die Gewalten sich zeigen. Mit euch ist alles vergeblich. Ihr seid Dilettanten, sentimentale komische Kerle, es ist nicht der Mühe wert, euch irgend etwas zu zeigen.» Er war ganz betrunken, aber noch hell im Geist. Die Wirkung der Pfeife, die er geraucht hatte, war verflogen, er schien auch kein Unbehagen zu spüren. «Diese Russin, ein Fetzen, ein Überbleibsel von diesem Irrtum, den Asien aus sich ausgespien, eine Leiche, eine letzte Sklavin, was soll euch die? Was?» – Ich nahm ihn am Arme; «Herr Joseph», sagte ich ihm, «lassen Sie uns die kleine Russin, wir lieben solche Einzelheiten, dafür sind wir ja eben anders»; er wurde einen Augenblick nachdenklich, «aber was wollt ihr denn mit ihr machen?» sagte er. «Man muss doch einen Zweck und einen Plan haben, wenn man etwas tut?» – «Nein», sagte ihm der Ingenieur mit Pathos, «man muss keinen Zweck haben, man muss kein Ziel haben, man muss Grundsätze haben!» – «All das ist Neugier, nicht endenwollende Neugier, was daraus wird, nicht abwarten können, bequeme Hingabe an die Sensation der Möglichkeit und dies alles ist so bezeichnend.»

«Waren Sie eigentlich in Petersburg?» frug mich plötzlich die Russin; solch ein Ton lag in der Frage, dass ich es ganz unvermittelt als völlig unmöglich empfand, sie in dieser Umgebung zu sehen. – «Nein», sagte ich ihr rasch und dann zu Joseph: «Sie wissen doch ganz genau, was Solidarität ist, Sie müssen doch diesen kleinen Vorgang ohne weiteres begreifen!» – «Ich weiss es», sagte er, «aber, dass man das auch bei euch weiss, das ist mir neu und da stimmt auch irgend etwas nicht; bei euch verrät ja immer einer den anderen und das nennt ihr dann Ehrgeiz und soziale Frage und weiss ich was für verhüllte Bezeichnungen.» Wir gaben dann der Musik und den Tänzerinnen Geld, es war endlos, was das Haus für Scharen barg; Joseph warf Papier aus einem Lederbeutel, er wollte aber immer noch keine Anstalten machen zum Gehen, immer noch lag er und sprach, es wurde aber zusehends sinnloser, was er sagte. Jetzt kam noch der Kampf wegen der Russin mit dem Roten. Er schrie, sie gehöre ihm, sie sei ihm Geld schuldig, eine ganze Horde schrie mit ihm. Wir hätten uns der Bande nicht erwehren können; aus anderen Zimmern kamen Leute, die Buben fassten uns um die Beine und an den Röcken, Joseph schaute zu; als es aber am ärgsten wurde, stand er plötzlich auf, rief zwei Worte laut; die Zuschauer lachten, der Rote duckte sich. Das Gesindel fuhr in die Ecken und wir zogen ab, voran Joseph, dann der Arzt und der Ingenieur mit der kleinen Person in ihren Ballettfetzen. Ich winkte dem scheusslichen Direktor beim Hinausgehen freundlich zum Abschied. Und wie wir auf die Gasse traten, war es vier Uhr früh und heller Tag. Ich weiss noch, dass der Ingenieur sehr energisch war im Hotel und immer von dem interalliierten Visum sprach für die Russin. Beim verschlafenen Portier bestellte er türkische Frauenkleider für den nächsten Morgen. Er sagte mir gute Nacht wie gewöhnlich und ich sah ihn nicht mehr. Ich schlief bis halb vier Uhr nachmittags. Er war schon fort. Geweckt wurde ich vom Diplomaten, dieser holte mich in seinem Wagen zum Frühstück in den Klub. Während wir speisten, kam eine Einladung vom Hotel nachgeschickt zu einer Jagd auf Gazellen, die man für uns veranstaltete. Um sechs Uhr wurde die Jagdgesellschaft gemeldet.

Wieder blies der Seewind, die Hitze wich. Wir setzten uns zu Pferde und ritten über die Brücke. An der Stadtgrenze in Holzverschlägen waren die Esel des Pascha untergebracht. Wir stiegen ab, gingen in den umzäunten Auslauf auf eine kleine Bretterestrade; die Esel wurden herausgelassen, sie stürzten blaugrau glänzend wie Fische, die man ins Wasser zurückwirft, und begannen in wilden Sprüngen durcheinander zu laufen. Sie waren sehr schön: scheue, heftige Gebilde, wie mit Elektrizität geladen. Der Stallmeister und Falkenier, ein grosser dunkler Araber, stellte sich mitten unter die gebäumten und in Lanzaden geworfenen Tiere. Er schlug mit einem langen Lederriemen durch die Luft. Die Tiere stoben auseinander und jedes nahm seinen Platz ein. Sie galoppierten im Kreis, um sich aber sofort wieder zu verwirren; der Stallmeister zog ihnen sausend den Riemen um die Köpfe, diesmal aber nützte es nichts, und nun begannen zwei Hengste zu kämpfen. Sie schlugen sich dröhnend mit den Vorderhufen, stiegen, bissen sich, schrien wie die Löwen, die anderen Esel feuerten sie an mit ohrenzerreissendem Geschrei. Der Pascha sprang auf und befahl, Knechte rannten aus dem Schuppen, packten die Tiere, rangen mit ihnen, drängten sie in den Stall zurück. Dann sassen wir wieder auf und ritten weiter. Die Ebene lag im Wind, stellenweise wehte aus dem gelben und violetten Schimmer Staub auf, dort liefen Treiber hinter Gebüschen, nun brach auch die Herde hervor, gelb wie der Sand auf dem sie lief. Wir galoppierten ihr nach; vorne der Falkenier, er trug das ruhige bedeckte Tier auf der Faust. Wir teilten uns in drei Gruppen, um die Gazellen einzukreisen, ihre Schnelligkeit hätte sie gerettet, aber Treiber, aufspringend aus dem Gebüsch, jagten sie in der Richtung auf die Furt, von der sie kamen, zurück. Man sah, wie der Leitbock sich bäumend herumwarf. Jetzt hielten wir an. Der Falkenier stand auf in den Bügeln, zog dem Vogel die Mütze weg, nahm ihm die Fussfessel, hob die Hand, indem er sie drehte, dass die sinkende Sonne den befreiten Jäger nicht blende. Das Pferd war regungslos. Der Falkenier hob und senkte den Arm, der Vogel begann heftig nach dem Handschuh zu hacken, schlug mit den Flügeln, sträubte die Federn des Halses, lockerte das Genick, tanzte, zog sich zusammen, der Falkenier nahm den Arm zurück, setzte sich und warf dann wie zum Faustschlag die Hand in die Luft, selbst aus dem Sattel aufschnellend; mit geschlossenen Flügeln stieg der Vogel in die Höhe des Wurfes, sank ein wenig zurück und öffnete sausend die Fittiche, fing die Luft, schlug sie nach links, drehte in Schraubenwindung geworfen immer schneller hinan, stieg, wurde klein, stiess den Jagdruf aus und stürzte plötzlich schwindelhaft wie ein schwarzer Stein sausend nieder, die vorderste Gazelle treffend, die eben aus einer Erdwelle auftauchend, gegen uns herangaloppierte. Sie erblickte uns, spürte den Vogel, wollte wenden in wirrer Flucht, aber er sass ihr schon im Gestänge, schlug ihr die sanften Augen mit den Flügeln, traf sie mit dem Schnabel und schon brach sie nieder. Ein einzelner Reiter war herangesprengt, er sprang im vollen Jagen vom Pferd, gab dem Tier den Fangschuss aus der Pistole, schon war auch der rasch berittene Falkenier an seiner Seite, er azte den Falken und warf ihm dann die Kappe über die gelben nach der Ferne starr blickenden Augen. Der Reiter aber, der geschossen hatte, war Irfan; bald kam auch der Hauptmann, sie hatten ihre Fahrt früher geendet als geplant. Wir kehrten um. Die Ebene wurde von farbigen Schauern überweht, das Licht jagte auf ihr, als finde es keinen Ausweg mehr und mit einem ritten wir durch die Nacht. – Noch am selben Abend konnten wir in den Taurus weiterfahren.

*

 


 << zurück weiter >>