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Talas-Caesarea.

Wie wir Talas uns näherten und die am Felsgebirg hinangebauten, aus Marmor gefügten, im Ebenmaasse ruhenden Häuser hell im Licht der Mittagssonne sichtbar wurden, da spürte ich eine eigene Scheu und unruhvolle Freude, die in diesem Augenblick beinah unheimliche Welt zu betreten, deren Wesen ich irgendwie von ferneher entstammte, die mir aber nun gänzlich versunken war, da wir durch Steppen und staubige Ansiedlungen, Lehm und kauernde Gestalten zogen. Wir fuhren ein und mich überfiel es plötzlich, in einer Stadt zu sein, im würdigen, uralten Gebilde, da feste, eichene Türen vor dem Ergehen des einzelnen sich schliessen, das äussere Leben, das öffentliche, aus allen bedingt, allen auferlegt, am Markte als im Herzen des Gemeinwesens sich abspielt. Aus vergitterten Fensterhöhlen schaute man auf uns hinunter, und der Widerhall unserer Fahrt klang von den glatten Mauern schallend zurück; auf Stühlen sassen die Greise, über der Erde aufgerichtet, erhöht wie Könige; unverhüllte Frauen stiegen langsam steinerne Treppen hinunter, sie trugen Wasserkrüge auf dem Haupt, ihre Augen waren frei auf uns gerichtet, und ihre Lippen sprachen die ewige Sprache der Freude. Wir waren bei byzantinischen Griechen, hier war alles wie vordem, die Paläste mit den breiten, gezierten Zinnen, den steinernen Löwen über den Portalen des Vorhofs, die Bürgerhäuser mit den tiefen Türen und den spitzen, maurischen Fenstern, den Wendeltreppen, Erkern und Balkonen. Jünglinge liefen an uns vorüber und boten ihre Dienste, die alles enthüllende Sprache redeten sie mit spielender, lässiger Übung, mit dieser ironischen Verlogenheit beteuerten sie, die dem Überlegenen eignet welcher der Unterworfene zu sein durch das Geschick der Völker gezwungen ward. Sie führten uns zum Markt, wo andere ihre Spiele trieben, Zeitungen verkauften, schrien und stritten, in ruhigem Kreise um alte Redner standen, die die Rede mit sinnfälliger Gebärde begleiteten.

Unser Gastfreund, der nahe am Markt wohnte, empfing uns auf der Schwelle des Hauses, Frau und Töchter hiessen uns eintreten; man hatte uns Bäder gerichtet in steinernen Wannen. Zur Mahlzeit aber sassen wir auf hohen Sesseln mit Armlehnen, Cuperwein brachte der Hausherr, ein reicher Teppichhändler, aus seinem Keller. «Diese Menschen hier sind alle so schön als verworfen,» sagte Irfan, «sie sind unvermischt geblieben seit dem Altertum; sie sprechen türkisch und ein älteres Griechisch zugleich; da sie sich während des Krieges nicht zum Feinde schlugen, blieben sie leidlich verschont.» Mit Auszeichnung behandelte der Grieche den kemalistischen Offizier, uns Europäern aber zeigte er eine ruhige und höfliche Überlegenheit. Im grossen, hellen Raum aus Stein in dem wir speisten, standen Reste von Statuen an den Wänden; sie schauten auf uns tafelnde Gäste mit ihren aus der Vergänglichkeit geretteten Mienen. Ich war mit dem Ingenieur in dem Raum zurückgeblieben; ein helles Mädchenhaupt stand auf dunkler Säule; er blieb lange davor stehen, wollte es einmal scheu berühren, und wich dann zurück, so als liesse er einem andern den Vortritt zu einem heimlich ihm bewussten, für immer entrückten Glück; dann verliess er still das Zimmer. Ich blieb nun allein vor dem jungen Antlitz, das mich erschreckte und mit sonderbarer Frage traf. – Nun hörte ich Stimmen lebendiger Frauen im Flur, es waren die Töchter des Gastfreundes, die mich neugierig suchten, mich sogleich mit zwei Worten verstanden, da ich nach den andern fragte und mich, indem sie einen kleinen Bruder, ein blondes Kind an der Hand führten, freundlich zum Markte begleiteten.

Dort war ein Fest in der Sonne. Gaukler waren da, die in roten Röcken durch silberne Reifen sprangen. Sie trugen schwarze Masken und sie zauberten auf einem sonnigen Viereck der breiten Marmorplatten mit dunkeln, hölzernen Würfeln und Pyramiden. Die jüngere der Schwestern, die mich begleiteten, hatte dunkle Augen und blondes, krauses Haar, sie war nicht gross aber von höchstem Ebenmaass, schlank und biegsam; ich nannte sie Chrysëis, sie aber lachte und sagte mir, dass sie Helena heisse; ihre Freude war der Tanz und unablässig schaute sie nach dem hohen Seil das am Ende des Marktes von einer alten Ulme zu der vergoldeten Zinne eines Palastes gespannt war. Nun trat ein greiser Gaukler vor die Menge; er ward mit Jubel begrüsst; sein Gesicht war erdbraun, sein Haar weiss wie seine starken Zähne, und seine Artistenaugen hatten die Farbe, die hinter den Lidern träger Katzen hervorscheint; er war ganz in enganliegenden Goldstoff gekleidet, ruhig ging er zum Baum, er sprang auf, zog sich mit wenig Zügen hinan und stand sodann im Geäst; dann brach er langsam aus den rauschenden Blättern vor. Die Menge verstummte; eine grosse Wolke stand hinter dem ersten Teil des Seils, den er zu durchmessen hatte; man hörte keinen Atemzug mehr als er nun seinen Weg betrat und ohne Glanz vor der Wolke niederkniete; er öffnete den kleinen Schirm, schöpfte damit in sanften Kreisen ausholend nach Luft, erhob sich, als steige er von einer fremden Kraft gehoben; nun stand er, nur noch mit dem Atem schien er sich zu tragen: – langsam trat er vorwärts – zitternd lief das Spiel der Muskeln an dem hagern Körper vom erhobenen Arm mit dem Schirm hinunter in den Schwerpunkt des greifenden Fusses; frei, klafterhoch über den steinernen Platten des Marktes, zog er vorüber; jetzt noch ohne Glanz vor einer hohen, getürmten Wolke, dann aber, frei hinaustretend vor die flutende Weite des Azurs, flammte er auf; uralt erschien er in seinem versteinerten Tanz und zugleich von einer seltsamen Ironie ewiger Jugend umwittert; er hob und senkte sich auf der leuchtenden, schlaffen Schnur, beugte sich nieder und erstand gewaltig vor der Helle in eiserner Folge des Gleichgewichts.

In diesem Augenblick hörte man plötzlich lauten Lärm, klirrender Hufschlag erklang, und mit einem Satz sprengte ein flüchtiger arabischer Rappe aus einer der dunkeln Seitengassen hinaus auf den Markt, mitten in die Menge. Schreiend stoben Frauen und Kinder auseinander, als ein Jüngling, dunkel und schlank wie das Tier, sich dem Gebäumten entgegenwarf und ihn an Mähne und Nüstern fasste. Der Tänzer aber blieb, er stürzte nicht, er stand und schöpfte die Luft, seine ganze Haltung war nun voll von qualvoller Spannung, er lächelte wie im grössten Schmerz; schrittweise und ohne Schönheit, als trete er jammervoll auf glühendes Eisen, zog er langsam rückwärts, während unten die Menge noch wogte und schrie, der Rappe den Marmor hämmerte, die Kinder in die Gassen flohen; – er zog zurück zum Baum, rutschte hinunter von Ast zu Ast, – wie ein getroffener schwerer Vogel, blieb am Stamme gelehnt stehen, schaute starr vor sich hin, – die Hand am Herz. Ich spürte nun, dass auch ein anderer ihn betrachtete aus der Menge; ich folgte dem Blick, es war der Ingenieur. Er ging auf den Alten zu, fasste ihn gütig am Arm und reichte ihm seine Flasche, jener aber trank in grossen Zügen daraus. Ich spürte für den Ingenieur eine grosse Anhänglichkeit, ich hätte immer gerne etwas für ihn getan, aber es war alles im Fluss bei ihm, stürzte vorbei und was man ihm gab, das wurde hineingerissen.

Am Nachmittag hatten wir harte Arbeit, die Schwierigkeiten mehrten sich. Ich versuchte immer, dem Ingenieur zur Geltung zu verhelfen, er übersetzte bisweilen in Ergänzung zu Irfan, wurde aber stets von den andern beiseite gedrängt und besonders der Hauptmann war ungeduldig gegen ihn. Um sechs Uhr waren die Besprechungen fertig. Ich ging nun durch die Stadt. Auf den Treppen vor den Häusern erhoben sich die dunkel gekleideten Griechen und grüssten; ich ging ins Bad und dann in den Garten unseres Wirtes. Helena sass am Springbrunnen; wir warfen zusammen weisse Steine nach dem Strahl. Wenn sie traf, lachte sie und schüttelte die Locken zurück; ihr Lachen tönte wie der Fall der grossen, klaren Tropfen auf die klingende Fläche. Sie sass im Licht, das durch die Blätter fiel, und wenn es tanzte auf ihrem hellen Kleid, versuchte sie es mit der Hand zu verscheuchen. Immer wieder sagte sie mir etwas, das ich nicht verstand; während sie sprach machte sie ein besorgtes und fragendes Gesicht, schaute mich gross an aus ihren dunklen Augen, dann musste sie lachen, weil ich den Kopf schüttelte; ich erfasste kein Wort; die harte türkische Sprache bekam in ihrem Munde eine leichte und stolze Art, sie ging spielend und heiter um mit dem schweren Stoff, dann aber wiederholte sie das Gesprochene auf Griechisch und es war, wie wenn Licht auf einen Diamant fällt. Nun, wie ich immer nicht verstand, erhob sie sich und winkte mir aufzumerken. Sie trat auf den Brunnenrand und ging rings um das Becken, genau so, wie der alte Gaukler auf dem durchleuchteten Seil, aber ohne jeden Spott und ohne Übertreibung tat sie es; sie schaute plötzlich mit dem Ausdruck des Schreckens zur Seite, stieg dann herunter und hielt die Hand aufs Herz. Nun kam unser Gastgeber, er begrüsste mich freundlich, sprach in gebrochenem Französisch mit mir, und während seine Tochter auf dem Brunnenrand sitzend eine Blume in kleine Stücke zerpflückte, die sie fest ins Wasser warf, sagte er mir: «Es hätte leicht ein Unglück geschehen können heute mit dem Pferd des Kommandanten. Gut, dass der junge Mann es gleich gehalten hat!» «Ja» sagte ich, «es war schön, mit welcher Raschheit er das erschrockene Tier aus dem Gedränge brachte!» «Er ist ein geschickter Bursche» erwiderte der Grieche, «er ist der Bräutigam unserer Nachbarstochter, der Sohn eines Schusters; der arme Kerl, das Mädchen quält ihn, sie ist eine sonderbare Person, wie verwunschen, er ist schon der dritte, den sie mächtig anzieht, und dann ist es immer, wie wenn eine dunkle Macht sie abhielte; die Leute meinen, sie sei verhext» sagte er lächelnd. Helena hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, wie wenn sie verstünde was wir sprachen. Sie schaute vom Vater zu mir, – dann ging einen Augenblick ein grosser Ernst über ihr Gesicht, das schönste, was im Ausdruck eines jungen und freudigen Wesens geschehen kann.

Jetzt hörte ich Irfans Pfiff, die vier ersten Töne von «Sambre et Meuse». Er kam durch den Garten in weissen Schuhen fast unhörbar, er schlug Quart und Quint mit dem Spazierstock in der Luft, dann hob er, wie er uns sah, seine Augenbrauen in die Luft in seiner belustigten Weise. Ich schlug ihm vor, noch etwas in der Stadt zu spazieren; zum Abendessen um halb neun Uhr erwarteten wir die Offiziere der Garnison. Irfan wäre gerne noch etwas bei dem Mädchen geblieben, aber er war in seiner raschen Weise sofort bereit mir gefällig zu sein. Es war noch sehr warm in den Strassen. Am obern Rande der Stadt, dort, wo sie sich in spärliche Gärten und das Gerölle des Gebirges verliert, setzten wir uns auf die Zinnen eines halb zerfallenen Turmes. Man sah zum Schneegipfel hinauf, der im Widerscheine westlicher Röte stand, das weisse Caesarea leuchtete wie im Brand aus der Ebene, die sich jenseits der Städte bis zu den Hügeln verlor von denen wir hinuntergestiegen waren. Wundervolle Vögel von der Art der Raben, aber blau wie Saphire, flogen um unsern Turm. «Hier beengt es mich schon» sagte Irfan, «diese späten Reste vergangener Völker hausen da zusammen, ruhmredig und verschlagen, jeder will etwas bedeuten, jeder drängt sich in die Sache des andern, sie schliessen sich ab in ihren engen Häusern, wo sie wie auf Thronen sitzen und kleine, hämische Könige spielen, jeder für sich, aber es ist kein Geheimnis um sie; die Weiber verraten sich am Brunnen und die Männer am Markt, alles ist öffentlich und in furchtbarem Schwätzen verzehrt es sich.» Dann erzählte er von Persien, das waren seine schönsten Erinnerungen, er versuchte immer persische Verse zu sprechen. Wie wir wieder langsam zurückgingen traf man schon auf lauter bekannte Gesichter; mit freundlicher Neugier betrachtete man uns; wir kamen auf den grossen Platz der angefüllt war von abendlichen Spaziergängern; die Redenden verstummten, ein Greis brach mitten in seiner Ansprache ab. Sie verneigten sich und schauten uns neugierig an. Das Gerücht, das uralte, städtische, das vertraute, lief um.

Wie wir zurückkehrten, standen Helena und ihr Vater vor dem Hause. Wir sprachen mit ihnen. Alle Vorübergehenden grüssten sie mit grösster Achtung zuerst. Einmal lief auch der Pferdebändiger vom Nachmittag vorbei; er verneigte sich hastig und grüsste nach türkischer Art; mir schien, Helena schaue ihn flüchtig an mit einem eigenen Blick. Sie neigte gleich das Haupt, aber im Weiterlaufen drehte er sich nochmals um. Dann kamen unsere Gäste. Der Empfang und das Diner waren kurz. Die Herren hatten strengen Dienst und wenig Zeit; um halb elf Uhr abends schon fuhren und ritten sie klirrend durch die griechischen Gassen davon.

Ich stieg allein auf das flache Dach des Hauses. Die Nacht war hell. Die Schneespitze glänzte schwach. Auf allen Dächern war Leben, ferne Musik wehte herüber. Von den Mädchen vernahm ich nichts. Man sah in den Saal, den ich eben verlassen hatte, in dem andern, im rechten Winkel angebauten Trakt des Hauses. Die Statuen waren beleuchtet, am Tische sassen noch Lukri, der Ingenieur und Irfan. Irfan erzählte; man hörte nicht was er sagte, aber man vernahm bisweilen seine etwas schrille Stimme. Man sah, wie er ein Messer vom Tische nahm, einen Dolchstoss durch die Luft führte, dann auf sich zeigte, hierauf einen Verwundeten nachahmte, man sah auch, wie Lukri dem Ingenieur ungläubig zunickte. Dann verabschiedeten sie sich, Lukri schaute auf die Uhr und verliess eilig das Zimmer; dann ging Irfan nach höflichem Abschied vom Ingenieur, dieser blieb noch einen Augenblick, nahm das Weinglas in die Hand, stellte es aber wieder hin und verliess das Zimmer so rasch, dass die Lichter beinah verlöschten. Sie schwankten noch eine Weile, dann wurde die Luft ruhig und im ruhigen Schein waren die Statuen wieder allein.

Aus dem Torbogen des gegenüberliegenden Hauses trat nun eine junge dunkle Frau. Sie legte die Hand vor die Augen und wartete lange unbeweglich; dann kam ein Priester, der wie ein Magier aussah, er stieg die Gasse hinan, ohne sich zu eilen, er begrüsste die junge Frau und trat mit ihr in das Haus. Bald darauf sodann kam ein Knabe, gefolgt von zwei alten Leuten, einer Frau und einem Mann; auch diese verschwanden in der dunklen Türöffnung. Später, nach einer halben Stunde etwa, schlich ein Hund hinaus; er heulte gegen den Mond und gegen das auf der Kirche leuchtende Goldkreuz. Gleich darauflegte er sich mitten auf die Gasse um zu schlafen. Wieder tönte Musik von ferneher, wie Bruchstücke Gregorianischer Chöre. Nun kam die junge Frau wieder; sie brachte einen Sessel und setzte sich zu der Lampe an der Hausecke; das Lampenlicht fiel auf ihr Gesicht das voll von ernster Weichheit war, kühl und ebenmässig, wie aus Stein geschnitten. Sie regte sich nicht, und ich sah aus den grossoffenen Augen die Tränen steigen und fliessen. Nichts veränderte sich im Ausdruck; alles blieb unentstellt, nichts geschah von der Verzerrung wo der Schmerz das Menschliche vertreibt, es blieb in diesem, aus so viel denkenden Geschlechtern immer wieder übereinandergelegten und zum höchsten Ebenmaasse gelangten Antlitz eine volle Klarheit und Würde; Bitterkeit war einzig um den Mund gesammelt, und nur dieser allein schien so freudlos geschlossen, als sei das schöne Wesen, dessen Sprache er zu künden hatte, erst hinter dem eigenen Schicksal und zu spät geboren, als verlaufe nun dieses Dasein im Leeren, unbetroffen von der sich andrängenden Wirklichkeit, versunkenem Traume völlig verfallen.

Plötzlich hörte ich nackte Füsse eilig laufen; es war der Pferdebändiger; er kam die Gasse hinauf mit einem Sprung durch das Licht und er duckte sich zu Füssen des Mädchens nieder. Er sah auf zu ihr, sie liess ihm die Hände nicht, er begann rasch und wundervoll in griechischer Sprache zu reden, alles redete an ihm. Sie hob nur leise das Kinn, senkte die Lider und ein Zittern ging über ihre Schultern. Dann aber langsam geschah die Verwandlung, die einzige, die es gibt, und unter der einzigen Kraft geschehend, die sie vermag, unter der Liebe. – Alles wurde sie nun zugleich da sie sich zu ihm niederbeugte, Geliebte, Kind und Mutter in herrlichem Wechsel, und hundert Gestalten zogen hinter ihren Zügen, auferstehend unablässig aus der Tiefe der Geschlechter; die versunkenen Schwestern in dieser einen nun wieder gerufen zur Freude des Augenblicks, zur Verzeihung und zum Opfer.

Während ich dem schönen und reinen Vorgange zuschaute, betrat der Bruder unseres Gastgebers das Dach, ein älterer, ernster Mann, den ich schon auf der Treppe kurz gesehen hatte. Er sah mich und wollte sich gleich unter Entschuldigungen wieder zurückziehen; ich bat ihn zu bleiben. Er setzte sich, nahm das Fez vom Haupt und schaute wie ich zu dem jungen Paare hinüber, das nun verstummt war. «Reisen Sie noch lange so und noch weit?» frug mich der Alte – «wohl noch fast einen Monat» sagte ich – «viel Trauriges sehen Sie» meinte er, «jetzt ist es schwer zu leben hier; wir waren ein kluges Volk und über vieles haben wir gedacht, aber es ist hart, über nichts mehr zu gebieten und sich allem zu unterziehen.» – Während wir sprachen, begann der Jüngling leidenschaftlicher und lauter zu seiner Geliebten zu reden, aber sie war nun wieder ganz versunken und fremd geworden, sie starrte vor sich hin und sah ihn nicht in unheimlicher Weise.

Nun geschah es, dass die tief herabgebrannten Lichter im Saale wieder flackerten, die Türe war aufgegangen, ich schaute hin, Helena war in das Zimmer getreten; sie ging langsam gegen den Tisch, blieb stehn, und blickte, selbst hell beleuchtet, mit schmal geöffneten Lippen und sinnenden Augen ins Dunkel hinaus. Sie blieb so eine kleine Weile, dann senkte sie das schöne Haupt leise nach der linken Schulter, ging um den Tisch, nahm alle Blumen aus den Schalen, legte sie in ihren blossen Arm, und nochmals blieb sie sinnend stehn. Drunten aber, auf der Gasse, wo das Mädchen immer noch zu Boden starrte, war der Jüngling nun plötzlich von dem Anblick im Fenster beunruhigt und ergriffen, bald schaute er wie gebannt nach oben, bald gepeinigt zu der finstern Braut. Er fuhr mit der Hand in einer weiten Gebärde vor dem Gesicht vorüber, als verscheuchte er etwas. – Helena aber blieb noch eine Weile stehn, und löschte sodann alle Lichter, eines ums andere, aber wie die zwei letzten noch brannten, erwachte die Nachbarin in der Gasse aus ihrer Versunkenheit. Sie schaute auf den Jüngling zu ihren Füssen und dann im Schreck seinem Blick folgend, nach dem Saal. Nun löschte das letzte der Lichter; im Dunkel verliess Helena das Gemach, unten aber war das Mädchen hastig aufgestanden, hatte sich zurückgeneigt in einer Bewegung des grössten Schmerzes, dann aber setzte sie sich wieder still, schaute zu Boden wie vordem, und fuhr dem Burschen übers Haar, immer wieder, mit zitternder Hand und wie in grossem Mitleid.

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