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11

Wieder war fast ein Jahr vorbei. Der Winter war gekommen und gegangen, und der Frühling, die traurigste Jahreszeit im Hochpustertale, verwandelte die winterlichen Schneemassen in ein Meer von braunem Schlamme, das sich über Wege und Stege ergoß. Da war es noch am besten, bergauf zu wandern, wo die steilen Pfade die Feuchtigkeit abfließen ließen und auf dem sonnigen Gelände hier und da ein schüchternes Blümchen aufsproßte.

So war denn auch Liese an einem Sonntagnachmittag mit Moidl auf den Berg gegangen. Als die Mädchen den Silvesterhof erreicht hatten, zeigte ihnen ein Blick durch's Stubenfenster, daß der alte Bauer am Ofen und Scholastika am großen Tische friedlich eingeschlummert waren. Die beiden ließen sich darum in der Küche nieder und saßen einige Zeit plaudernd neben dem Herde, bis für Liese die Stunde der Heimkehr da war.

Moidl wollte sie ein Stück Weges begleiten. Kaum aber hatten die Mädchen den Fuß vor die Schwelle gesetzt, da erblickten sie Veitl, der mit hochrotem Kopfe und wankendem Schritte den Fußpfad zum Silvesterhofe emporstieg. Moidl wußte, daß ihr Bruder in angeheitertem Zustande kein ungefährlicher Geselle sei, und sie ängstigte sich für den alten Vater, da noch keiner von den beiden Knechten heimgekehrt war. Sie faßte Liese am Arm, flüchtete mit ihr in die Stube und verriegelte die Türe.

Bei ihrem raschen Eintritte fuhren beide Schläfer empor.

»Er bringt schon wieder einen Rausch mit,« erklärte Moidl. Einen Namen zu nennen schien ihr überflüssig, denn Veitl hatte sich in den letzten Jahren zu einem richtigen Vollsäufer entwickelt.

»Wird nicht so arg sein, hast grad den Vater aufwecken müssen mit deinem Geschrei,« tadelte Scholastika, indes der Alte auf der Ofenbank verstört umherblickte.

Im nächsten Augenblicke erschütterte ein wuchtiger Faustschlag die Türe.

Liese schrie auf und klammerte sich ängstlich an Moidls Rockfalten.

»Ach was, er tut ja nichts!« verteidigte Scholastika den Bruder. »Wenn er ein Gläslein zu viel hat, geht er gewöhnlich in seine Kammer und schlaft ein wie ein neutauft's Kind!«

»Aufmachen! Zum Teufel!« lallte es draußen.

»Mach dich weiter und geh' ins Bett!« rief Moidl durch das Schlüsselloch zurück; aber der Betrunkene vor der Tür fuhr fort zu fluchen und zu poltern.

»Geh, Moidl, gib einen Fried' und mach keinen solchen Spektakel,« grollte die Stiefschwester. Und als Moidl von der Tür etwas zurückgetreten war, schob sie schnell den Riegel zurück und öffnete.

Wie ein gereizter Stier, den Kopf nach vorne geneigt, stürzte der Betrunkene in die Stube.

Schreiend flüchtete sich Liese hinter den Ofen, und auch Scholastika nahm jetzt den Türflügel zur Deckung. Moidl aber sprang entschlossen vor den hilflosen Vater hin. Im nächsten Augenblicke hatte sie einen Faustschlag ins Gesicht bekommen, der sie zu seinen Füßen hinstreckte.

Sie erhob sich aber gleich wieder, obschon sie aus Mund und Nase blutete, und ihr Gesicht mit dem Taschentuche bedeckend floh sie hinaus.

Während sie sich am Brunnen wusch, überzeugte sie sich, daß sie nicht schwer verletzt sei; sie begnügte sich daher, den frischen Wasserstrahl immer wieder mit beiden Händen aufzufangen und ihr Gesicht damit zu besprengen.

Da plötzlich kam Liese herbei.

»Geschwind, geschwind, Moidl! Deinem Vater ist schlecht worden!« rief sie atemlos.

Moidl eilte zurück in die Stube. Da saß der Vater am Ofen, das Gesicht aschfahl, die Schläfen eingesunken, den Unterkiefer schlaff herabhängend. Nur mit Mühe vermochte Scholastika ihn zu stützen.

Mit einem Blicke überschaute Moidl die Lage. Es kam eisige Ruhe über sie.

»Liese, bleib da und hilf der Scholastika,« gebot sie. Und: »Mach dich hinaus!« fuhr sie den Bruder an.

Als aber der, nur wenig ernüchtert, sinnlos vor sich hinstierte, packte sie ihn an der Schulter und schob ihn in seine Schlafkammer. Dann eilte sie, des Blutes nicht achtend, das ihr stets aufs neue hervorquoll, bergab bis zum nächsten Gehöfte, wo eine mitleidige Seele sich bereit erklärte, um einen Priester zu laufen.

Als Moidl ins Haus zurückkehrte, fand sie den Vater noch immer in den Armen Scholastikas, die ganz ratlos war. Erst Moidl brachte ihn zu Bette. Sie hüllte seinen Kopf in ein essiggetränktes Tuch und rieb seine Hände mit Branntwein, um ihn zu beleben. Sie hoffte nichts, sie dachte nur mehr daran, die Pflichten des Augenblicks zu erfüllen, die traurigen letzten Pflichten kindlicher Liebe.

Wie alles gekommen war, das brauchte ihr niemand zu sagen. Der Vater hatte sie zusammenstürzen, hatte ihr Blut fließen sehen unter der Hand des Bruders – das hatte ihm den Todesstoß versetzt. »O mein Gott, hättest grad den Veitl gutwillig in die Stube gelassen!« jammerte Scholastika, die, auf der anderen Seite des Lagers stehend, sinnverwirrt an dem roten Federbett herumnestelte.

Moidl schwieg. Sie war es ja längst gewöhnt, an allem schuld zu haben!

Bei einbrechender Dunkelheit kam der Priester mit dem Allerheiligsten. Aber umsonst versuchte er die Aufmerksamkeit des Sterbenden zu wecken; er mußte sich begnügen, ihm die heilige Ölung zu spenden. Scholastika heulte laut, Liese weinte still vor sich hin; nur Moidl blieb ruhig und tränenlos. Kaum war die Salbung vollbracht, so hob sich die Brust des Alten mit lautem Stöhnen – noch ein paar Atemzüge, und es war vorbei.

Nun war endlich einer von den Knechten heimgekehrt. Moidl sandte ihn gleich in den Markt hinab, um mit dem Meßner das Begräbnis zu besprechen. Auch Liese sollte er zu Bachmanns Hause geleiten, denn so spät durfte sie nicht allein wandern. Moidl dachte an alles, gleich als sei nichts vorgefallen.

Erst als sie sich allein beim Vater sah, sank sie laut schluchzend an seinem Bette nieder.

Scholastika war in Veitls Kammer geeilt, um ihm das Geschehene mitzuteilen. Der aber lag noch immer in schwerem Schlafe. Da kehrte sie in die Stube zurück, wo sie die Schwester, aufgelöst in Schmerz, an des Vaters Leiche traf.

»Ja, in Gottes Namen, jetzt müssen wir ihm grad die ewige Ruhe vergönnen,« brummte sie. »Aber glauben hätt'st mir sollen und keine solche Metten machen und den Vater nicht erschrecken.«

Moidl hörte nicht, was die Schwester sagte; sie wußte jetzt nur, daß sie keine Heimat mehr habe.

Zwei Tage später wurde Peter Piffrader, der Silvesterbauer, in die geweihte Erde gebettet. Die Andächtigen, die dem Sarge gefolgt waren, besprengten den Grabhügel mit Weihwasser und traten dann gruppenweise den Heimweg an. Dabei wurde dem Verstorbenen nicht eben viel Gutes nachgerühmt, obschon er in Handel und Wandel stets redlich gewesen war und seine Christenpflichten pünktlich erfüllt hatte. Aber ein freundliches Wort oder wohl gar eine Gefälligkeit von ihm erhalten zu haben, dessen konnte sich niemand erinnern. Man rühmte nur seine Sparsamkeit, und einige schelmische Burschen behaupteten, so oft ein Klingelbeutel in der Kirche herumgewandert sei, habe sich der Piffrader stets ängstlich an einen Pfeiler gedrückt, und zwar an die Seite, wo der Klingelbeutel gerade nicht war. Doch sprach man weniger von der Person des Verstorbenen, als von seinem jähen Tode, der den Leuten fast geheimnisvoll schien. Denn daß Vater Peter vor Schrecken gestorben sei, »weil die Moidl so eine Metten gemacht habe«, wie Scholastika eifrig verbreitete, das schien den meisten doch unwahrscheinlich.

Gleich nach dem Begräbnisse trennte sich Moidl von den Heimkehrenden. In dieser Stunde bitterster Verlassenheit war es einer, zu dem ihr Herz sie mächtig zog: der unglückliche Spitalpfründner Michel.

Die Hausmagd hatte dem Kranken in ihrer rauhen, aber wohlmeinenden Art den Tod seines Bruders berichtet, aber er hatte der Mitteilung scheinbar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Erst als Moidl eintrat, bleich, traurig, ein schwarzes Tüchlein um den Hals, hob er den schweren Kopf empor und fragte: »Moidl, ist's wahr?«

»Wahr ist's,« sagte sie und setzte sich zu ihm.

»Die gesunden Leut' sterben, die frischen Leut' sterben,« murmelte er; denn er hatte den Bruder noch vor Augen in der Fülle männlicher Kraft, wie er ihn zuletzt gesehen hatte vor vielen Jahren.

Moidl suchte ihm begreiflich zu machen, daß ihr Vater schon lange gekränkelt habe, aber Michel pflegte selten auf das zu achten, was man ihm sagte.

»Ich weiß schon,« fuhr er halblaut fort, »ich bin dem Peter allzeit feil gewesen. Ein anderer wär' doch zuzeiten gekommen und hätt' gefragt: Michel, wie lebst? Aber so sind wir alle, wir Silvesterkinder! Wir haben kein Herz nicht im Leib; alle zusammen haben wir keins!«

»O Vetter, Vetter, da sagt Ihr wohl zu viel!« unterbrach ihn Moidl mit erstickter Stimme.

Er widerrief nicht und widersprach nicht, es war ihm unmöglich, einen Gedanken lange festzuhalten. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und seufzte: »Sterben, o sterben!« Eine unendliche Sehnsucht klang aus diesem Seufzer.

Plötzlich erhob er die gesenkte Stirne. »Moidele,« bat er, »mach' mir einen guten Gedanken, bald du's nächste Mal kirchfahrten gehst.«

Erstaunt blickte sie ihn an. Noch nie, solange sie ihn besuchte, hatte er eine Bitte, hatte er den leisesten Wunsch geäußert.

Sie schwieg. Sie fand den Mut nicht, ihm zu sagen, daß sie das Kirchfahren aufgegeben habe für immer. Anfangs war es ihr ein furchtbares Opfer gewesen, jetzt war ihr wohl dabei. Sie war ja so schwach und elend; schon der Weg vom Berge herab dünkte sie etwas Schweres und Großes.

»Los'!« Michel legte die Hand auf ihren Arm, als habe er Wichtiges mitzuteilen.

Sie neigte den Kopf zu ihm, wie zu einem Kinde, das ein Geheimnis sagen will.

»Los'!« wiederholte er, ihren Arm krampfhaft umklammernd, »du hast schon ein Herz, du! Vielleicht richtest du etwas aus bei der Himmelmutter! Wie's mich gepackt hat, hat mich meine Mutter auf den Luschariberg führen wollen; aber eh' wir gegangen sind, ist sie gestorben, und nachdem hab' ich niemand mehr gehabt. Geh', Moidl, geh' du auf den Luschariberg anstatt meiner; du richtest schon etwas aus, du ... o gewiß!«

Das Mädchen preßte die Lippen aufeinander und sagte weder Ja noch Nein. Sie fühlte, daß sie bleich wurde, daß ihr Blut sich zum Herzen drängte.

Warum erschrak sie? Hatte Michels Wort denn Bedeutung? Hatte sie ihn nicht stets wie ein Kind betrachtet mit jener mitleidigen Liebe, die man den Kleinen und Schwachen zollt? Warum erhob sich jetzt auf einmal in der tiefsten Tiefe ihres widerstrebenden Herzens ein Ruf, der sich nicht übertäuben ließ: Geh! gehorche!?

Maria Luschari!

Sie hatte wohl oft von diesem Gnadenorte gehört. Sie wußte, daß er tief drinnen im Kärntnerlande liege, und daß rüstige Männer Tagereisen machten, um ihn zu erreichen. Mehr aber wußte sie nicht. Sie hatte sich nie danach erkundigt, hatte nie daran gedacht, den Ort zu besuchen, selbst nicht in den ersten Zeiten ihres Wallfahrtsdranges, wo ihre Kräfte noch ungebrochen waren und die Begeisterung des Vertrauens sie aufrecht hielt. Die Schrecknisse des Altbekannten, Geheimnisvollen umgaben für sie jenes ferne Bergesheiligtum. Schon der Gedanke, Tag für Tag durch fremdes Land ziehen zu müssen, machte sie schaudern. Würde sie nicht erliegen vor Erreichung des Zieles?

Und dennoch rief es in ihr fort und fort: Geh! geh!

Rasch erhob sie sich, wortlos. Sie vergaß beim Fortgehen ihre Finger ins Weihwasser zu tauchen und den Kranken zu segnen, wie sonst. Gleich nachher stand sie in Meister Bachmanns Werkstätte.

Die Stunde war vorgerückt, aber es war noch heller Tag. Der Meister erspähte gleich die traurige Besucherin.

»Ah, Moidele, das ist brav, daß du kommst! Grad früher hat meine Vrena gesagt: die Moidl sollt' doch ein bissel bei uns ausrasten, eh' sie heimgeht.«

Suchend schweiften Moidls Augen umher; dann stammelte sie befangen: »Ich hab' Euch danken wollen, Meister, daß Ihr Vaters Kreuz gar so schön gemacht habt; völlig zu schön dünkt mich's für Bauersleut'.«

»Ist gern geschehen, aber bedanken mußt dich beim Kandel, nicht bei mir.«

»Wo ist er denn?« fragte sie leise.

»Im Hof draußen; er kommt geschwind, wenn du etwa ein bissel warten willst.«

Aber Moidl eilte hinaus. Da stand Kandidus vor einem Stoße von Brettern, die er zu zählen schien. Als er ihre Schritte hörte, wandte er sich um.

»Arme Seel', bist du's!« rief er, ihr die Hand entgegenstreckend. Er meinte, sie sei gekommen, um Linderung ihres Schmerzes zu suchen. Er wollte Trostgründe anführen, sie aber fiel ihm in die Rede.

»O Kandidus, könnt' ich dir's grad sagen, wie mir ums Herz ist!«

»Ich glaub's dir! Es ist hart, die Eltern verlieren. Hab's selber probiert, aber für dich ist's doppelt hart.«

»O,« rief sie leidenschaftlich, »ich bin krank und bin verachtet und hab' keinen Vater mehr und keine Heimat! Aber das wär' noch alles leicht ... das Ärgste ist der Fluch ... o Kandidus, der Fluch ist das Ärgste!«

»Du hast ihn nicht verdient,« entgegnete er sanft; »und in den Himmel kannst deswegen doch kommen.«

Sie schwieg eine Zeit lang, dann begann sie in ruhigerem Tone: »Ich bin jetzt nie mehr kirchfahrten gewesen, weißt ... ein völlig's Jahr nimmer.«

»Ich weiß es; seit der Zeit ist mir ein Stein vom Herzen.«

»Aber heut,« fuhr sie gesenkten Blickes fort, »heut bin ich fragen kommen, ob ich nicht grad einmal noch gehn darf, ein einzig's Mal, ein letztes Mal.«

Er sah sie groß an. »Wie meinst das?«

»Ich mein', wenn du's nicht haben willst, nachdem geh' ich nicht.«

»Nimmst du's grad so?«

Er war gerührt von ihrem demütigen Gehorsam. Dann sah er sie an, wie sie vor ihm stand, bleich und zitternd. War es nicht am Ende doch unrecht gewesen, sich ihrem kindlich gläubigen Drange zu widersetzen? Und war jetzt ihr Elend nicht allzu groß für Menschentrost und Menschenhilfe?

»Geh' in Gottes Namen, Moidl,« sagte er mit bebender Stimme; »geh' nur, es wird etwa doch Gottes Wille sein.«

In diesem Augenblicke hörte er seinen Namen rufen. »Der Meister braucht mich,« entschuldigte er sich, und sich zurückwendend rief er noch: »Ich komm' gleich wieder.«

Er hielt Wort; aber Moidl hatte nicht auf ihn gewartet. Er suchte sie im Hause, ob etwa Veronika um sie wisse, doch vergebens. Sie war weg!


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