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Sechstes Buch.
Die Pest.

Erstes Kapitel.
Der Zufluchtsort der Liebenden.

An den Ufern eines der schönsten Seen Oberitaliens stand das Lieblingsschloß Adrians di Castello, wohin sich in sanfteren, weniger von den Interessen des Vaterlandes in Anspruch genommenen Augenblicken oft seine Seele innig sehnte; dorthin zog sich, nachdem er seine höfischeren und hervorragenderen Begleiter bei der Gesandtschaft nach Neapel entlassen, nach seiner unglücklichen Wiederkehr nach Rom der junge Edelmann zurück. Von den Entlassenen schlossen sich die meisten den Baronen an; der junge Annibaldi, den sein kühnes, ehrgeiziges Wesen fest an den Tribun kettete, hielt sich neutral; er begab sich auf sein Kastell in der Campagna und kehrte erst nach der Vertreibung Rienzis nach Rom zurück.

Der Zufluchtsort von Irenes Geliebten war ganz geeignet, seine melancholischen Träumereien zu nähren. Ohne unbedingt eine Feste genannt werden zu können, war er doch stark genug, um jedem Angriff der Gebirgsräuber oder kleinen Tyrannen in der Nachbarschaft zu widerstehen, während die grauen Mauern und die massiven Türme der feudalen Architektur durch die Marmorsäulen und eingelegten Fußböden des Gebäudes, welches durch einen früheren Besitzer aus den Materialien halb zerstörter altrömischer Villen aufgeführt worden war, eine wild anmutige Abwechselung erhielten. Auf einer grünen Erhöhung, die sich sanft gegen den See hinabsenkte, erhob sich das stattliche Schloß und warf weit und dunkel seinen Schatten über die schöne Wasserfläche hin; daneben stürzte von den hohen, waldigen Bergen im Hintergrunde in unregelmäßigem, geschlängeltem Laufe ein Wasserfall herab – hier durch das Gebüsch versteckt, dort in hellem großen Becken; neben diesem zeugte ein kleiner, mit halb verwischten Buchstaben beschriebener Springbrunnen von der entschwundenen Pracht des klassischen Altertums – eine Erinnerung an den Besitzer und den Dichter, deren Namen sogar verloren gegangen waren. Durch Moose und Leberkraut und wohlriechende Kräuter sich hindurchwindend, trug von dort ein kleiner versteckter Bach die Fülle seiner Wasser in den See. Und hier wuchs unter derberen, weniger zarten Pflanzen des Nordens, wild und malerisch mancher in früheren Zeiten aus dem sonnigeren Osten verpflanzte Baum, ohne in dem goldenen Klima, das beinahe jedes Naturprodukt wie mit Muttersorgfalt hegt, zu verderben oder zu verkümmern. Der Ort war entlegen und einsam. Die aus den entfernten Städten hierher führenden Straßen waren verschlungen, schwierig, bergig und wimmelten von Räubern. Wenige Hütten und ein kleines, eine Viertelmeile von dem Ufer des Sees entferntes Kloster waren die nächsten bewohnten Orte; und außer einigen Pilgern, welche gelegentlich dorthin kamen, oder einem verirrten Reisenden, wurde das einsame Schloß selten von jemand betreten. Es war gerade der Ort, der einem der Welt überdrüssigen Manne Ruhe bot und die Erinnerungen begünstigte, die in wollüstiger Ueppigkeit an den Trümmern der Leidenschaft emporranken. Und derjenige, dessen Geist, edel und selbständig, die Einsamkeit ertragen kann, hätte die ganze Erde vergebens nach einem schöneren und ungestörteren Aufenthalt durchsuchen können.

Aber nicht zu solcher Einsamkeit hatten die früheren Träume Adrians den Ort bestimmt. Hier – hatte er gedacht – sollte ein herrliches Wesen herrschen – hier sollte die Liebe ihre Freistatt finden, und hierher, wenn endlich die Liebe fremde Gäste duldete, hierher hätten Reichtum und Geistesverwandtschaft alle edleren, gebildeteren Geister eingeladen, welche das unruhige Italien wieder zu beleben anfingen und ein zweites Reich der Poesie, der Wissenschaft und Kunst verhießen. Der anmutigen und romantischen, aber etwas nachdenklichen und trägen Gemütsart des jungen Edelmannes, der mehr für ruhige und zivilisierte, als für stürmische und barbarische Zeiten paßte, bot der Ehrgeiz keinen Lohn, der ihn so gereizt hätte, wie gelehrte Muße und durch geistige Genüsse verschönerte Ruhe. In seiner durch den Einfluß Petrarcas bestimmten Jugend und noch als Mann, hatte er von einem glücklicheren Vaucluse geträumt, das nicht ohne eine Laura bleiben sollte. Die Träumereien, welche mit diesem Orte das Bild Irenes verwebt hatten, ließen noch immer ihren Schatten dort auftauchen, und da Zeit und Trennung nur seine leidenschaftlichen Gedanken nährten, nahmen seine Melancholie und seine Liebe an Tiefe und Innigkeit zu.

In diesem einsamen Zufluchtsort – der selbst, während ich ihn beschreibe (denn meine Augen haben ihn gesehen, mein Fuß hat ihn betreten und mein Herz sehnt sich noch danach), der, sage ich, während ich ihn schildere, mir, und vielleicht auch dem freundlichen Leser, als ein angenehmer und willkommener Ruhepunkt nach den Stürmen der Tätigkeit und den Wechselfällen des Lebens, welche so lange unsere Erzählung in Anspruch genommen, erscheint – in diesem einsamen Zufluchtsort verlebte Adrian den Winter, der dieses bezaubernde Klima mit einem so milden Wechsel heimsucht. Das Geräusch der Außenwelt drang nur als schwaches, unbestimmtes Gemurmel zu seinem Ohr. Er erfuhr nur unvollkommen und mit vielen Widersprüchen die Neuigkeiten, die wie ein Blitz über Italien hereinbrachen, daß der außerordentliche, hochstrebende Mann – selbst eine Revolution – der das Interesse von ganz Europa, die glänzendsten Hoffnungen der Enthusiasten, die verschwenderische Schmeichelei der Großen, den tiefsten Schrecken der Despoten, die kühnsten Bestrebungen aller Freigeister erweckt hatte, plötzlich von seiner Höhe herabgestürzt worden, sein Name gebrandmarkt, sein Kopf geächtet worden sei. Dieses Ereignis, das sich gegen das Ende des Dezember zutrug, kam im Anfang des März durch einen wandernden Pilger, etwas mehr als zwei Monate, nachdem es sich begeben, zu Adrians Kunde; im März dieses schrecklichen Jahres 1348, das Europa, und besonders Italien durch die greuliche Pest, deren die Geschichte erwähnt, verwüstet sah, bejammernswert ebenso sehr wegen der Zahl, als wegen der Berühmtheit seiner Opfer, und doch seltsamerweise mit manchen nicht ungefälligen Bildern durch die Anmut Boccaccios und die Beredsamkeit Petrarcas verkettet.

Der Pilger, welcher Adrian von der Revolution in Rom benachrichtigte, war nicht imstande, ihm Aufschluß über die augenblickliche Lage Rienzis oder seiner Familie zu geben. Man wußte nur, daß der Tribun und seine Gattin entflohen waren, niemand aber wußte wohin. Viele vermuteten, sie seien bereits tot, Opfer der zahlreichen Räuber, die unmittelbar nach dem Fall des Tribunen sich wieder in ihren früheren Schlupfwinkeln festgesetzt hatten und weder Alter noch Geschlecht, weder Reichtum noch Armut verschonten. Da alles, was den Extribun betraf, Gegenstand lebhaften Interesses war, so hatte der Pilger auch erfahren, daß Rienzis Schwester vor seinem Fall Rom verlassen habe, aber man wußte nicht, wohin sie geführt worden war.

Diese Nachrichten rissen Adrian sogleich aus seinem träumerischen Leben. So war denn Irene in der Lage, die sein Brief zu schildern gewagt hatte – von ihrem Bruder getrennt, von ihrer Höhe gefallen, verlassen und ohne Freunde. »Jetzt,« sagte der edle und hochherzige Liebende, »kann sie die Meinige werden ohne Vorwurf für meinen Namen. Welche Fehler Rienzi auch begangen haben mag, so ist sie nicht darein verflochten. Ihre Hände sind nicht rot von dem Blute meiner Verwandten; auch kann niemand sagen, daß Adrian di Castello sich mit einem Fürsten verbinde, dessen Macht auf den Trümmern des Hauses Colonna erbaut sei. Die Colonna sind wieder in ihrer Macht – triumphieren wieder – Rienzi ist nichts – Unglück und Jammer vereinigen mich auf einmal mit derjenigen, welche sie betroffen!«

Aber wie sollte er diese romantischen Entschlüsse ausführen, da Irenes Aufenthaltsort unbekannt war? Er faßte den Entschluß, sich nach Rom zu begeben, um dort die nötigen Nachforschungen anzustellen; er berief demzufolge seine Leute und verkündigte ihnen – frohe Botschaft – die nahe Reise! Der Harnisch verließ die Rüstkammer – das Banner die Halle – und nach zwei Tagen geschäftigen Treibens war die Quelle, bei der Adrian so manchen Träumereien nachgehangen, nur noch von den Vögeln des wiederkehrenden Frühlings besucht, und die nächtliche Lampe warf nicht mehr ihren einsamen Strahl von seinem Zimmer im Turme über den Spiegel des verlassenen Sees.

Zweites Kapitel.
Der Suchende.

An einem hellen, drückend heißen, schwülen Morgen sah man einen Reiter die unebene Straße sich hinwenden, von deren Höhe unter Feigenbäumen, Weinstöcken und Oliven der Reisende nach und nach das reizende Tal des Arno und die Giebel und Dome von Florenz vor seinen Augen ausgebreitet sieht. Aber nicht mit den dem Reisenden gewöhnlichen Blicken der Bewunderung und des Ergötzens zog dieser einsame Reiter dahin, und diese Mittagssonne strahlte nicht auf das gewöhnliche Treiben, die Freude und Tätigkeit des toskanischen Lebens herab. Alles war still, leer und ruhig, und selbst in dem Lichte des Himmels glaubte man einen krankhaften, geisterartigen Schein zu erblicken. Von den Hütten an der Straße waren einige verschlossen und verriegelt, andere standen offen, dem Anschein nach ohne Bewohner. Der Pflug stand still, der Spinnrocken arbeitete nicht, Pferd und Mensch hatten einen traurigen Feiertag. Ein Fluch, finsterer als der Fluch Kains, lag auf dem Lande! Hie und da ging eine einzelne Gestalt, gewöhnlich in der düsteren Tracht der Mönche, über die Straße, erhob gegen den Reisenden ein gelbes, stieres Antlitz, eilte dann weiter und verschwand unter einem Dache, von wo ein schwaches Todesröcheln herdrang, das ohne die ausnehmende Stille ringsumher wohl kaum weiter, als bis zur Schwelle gedrungen wäre. Als der Reisende sich der Stadt näherte, wurde die Szene weniger einsam, aber fürchterlicher. Da sah man Karren und Sänften, ganz in dicke Decken gewickelt, und in denselben solche, welche ihr Heil in der Flucht suchten, nicht bedenkend, daß die Pest überall war! Und als die traurigen Fuhrwerke, von Pferden gezogen, die schwerfällig ihre schattenähnlichen Gerippe fortschleppten, vorüberkamen, unterbrach bisweilen ein Schrei die Stille, in welcher sie sich bewegten, und das Pferd des Reisenden scheute, wenn ein Unglücklicher, an dem die Krankheit ausgebrochen, mit selbstsüchtiger Unmenschlichkeit von seinen Gefährten von dem Fuhrwerk herabgeworfen und am Wege liegen gelassen wurde, um da umzukommen. Hart am Tore hielt ein Wagen, und ein Mann mit einer Maske warf dessen Inhalt in einen grünen, schlammigen Graben, der sich an der Straße hinzog. Es waren Röcke und Kleider aller Art von dem verschiedensten Werte; der gestickte Mantel des Stutzers, Hut und Schleier einer Dame und die Lumpen des Bauern. Während der Reiter der Arbeit des Maskierten zusah, erblickte er eine Herde Schweine, die mager und halb verhungert, in der Hoffnung, Futter zu finden, auf die Stelle losstürzten, und der Reisende schauderte, wenn er dachte, welches Futter sie gefunden haben mochten! Aber ehe er noch das Tor erreicht hatte, fielen diejenigen von den Tieren, welche am eifrigsten in dem ansteckenden Haufen gewühlt hatten, tot unter den anderen nieder. Boccaccio erzählt, daß er denselben Vorfall mit angesehen.

»Ho, ho,« sagte der Mann mit der Maske, und seine hohle Stimme tönte unter der Vermummung hervor noch hohler – »kommst du hierher, um zu sterben, Fremdling? Sieh, dein schöner Mantel vom feinsten Tuch mit Goldstickerei wird dich nicht vor dem Gavocciolo Die Beule, das verhängnisvolle Symptom. schützen. Reite zu, reite zu – heute ein hübscher Bissen für den Kuß einer Dame, morgen zu schlecht für Ratten und Würmer!«

Ohne auf diesen gräßlichen Willkomm zu antworten, setzte Adrian, denn dieser war es, seinen Weg fort. Die Tore standen weit offen; dies war das erschreckendste Zeichen, denn anfangs hatte man die äußerste Vorsicht bei dem Eintritt von Fremden gebraucht. Jetzt war alle Sorgfalt, alle Vorsicht, alle Wachsamkeit vergebens. Dreimal neue Wächter waren auf diesen Posten gestorben und die Beamten, welche deren Nachfolger ernennen sollten, waren auch tot! Gesetz und Polizei, Sanitätskommissionen und Rettungsausschüsse, alles hat der Tod gelähmt! Die Pest tötete selbst die Kunst, die gesellige Einheit, die Harmonie und den Mechanismus der Zivilisation, als wären auch diese von Fleisch und Bein gewesen!

So zog der Liebende stumm und einsam auf seiner Nachforschung nach der Geliebten weiter, entschlossen, seine Verlobte zu finden und zu retten, und geleitet durch diese Wildnis des Schreckens von der seligen Hoffnung jener unerhörten Leidenschaft, der edelsten, wenn alles edel, der niedrigsten, wenn alles niedrig ist! Er kam auf einen großen, geräumigen Platz, an dem der höchste und vornehmste Adel Italiens residierte. Der Fremde war nun allein, und der Hufschlag seines mutigen Rosses tönte geisterhaft und schauerlich in seinem eigenen Ohr, als, wie er gerade um die Ecke einer von hier ausmündenden Straße bog, er eine Frau mit einem Kinde auf den Armen sich fortschleichen sah, während ein anderes, gleichfalls noch ganz jung, sich an ihrem Kleide festhielt. Sie hielt sich einen großen Blumenstrauß unter die Nase (eine beliebte Art, um, wie man glaubte, die Ansteckung abzuhalten) und murmelte gegen die vor Hunger wimmernden Kinder: »Ja, ja, ihr sollt zu essen bekommen! Genug zu essen für diejenigen, welche noch am Leben sind. Aber ach, die noch am Leben sind!« – und sie sah sich nach allen Seiten um, ob kein Kranker in der Nähe sei. Adrian hielt an.

»Gute Frau,« sagte er, »könnt Ihr mir den Weg zeigen nach dem Kloster – –«

»Fort, Mann, fort!« kreischte das Weib.

»Ach!« sagte Adrian mit traurigem Lächeln, »seht Ihr denn nicht, daß ich bis jetzt noch nicht zu denen gehöre, welche anstecken können?«

Aber die Frau floh, ohne weiter auf ihn zu hören; doch nach wenigen Schritten wurde sie durch das Kind aufgehalten, das sich an sie hing.

»Mutter, Mutter!« rief es, »ich bin krank – ich kann nicht mehr weiter.«

Das Weib blieb stehen, schob das Kleid des Kindes hinweg, sah unter dem Arme die verhängnisvolle Pestbeule und floh, ihr eigenes Fleisch und Blut im Stiche lassend, über den Platz hin. Der Schrei gellte lange in Adrians Ohr, obwohl er die Ursache desselben nicht kannte; die Mutter fürchtete nicht für ihr Kind, sondern für sich selbst. Die Stimme der Natur wurde in dieser Stadt des Todes so wenig geachtet als im Grabe selbst! Adrian ritt in stärkerem Schritt weiter und kam endlich vor eine stattliche Kirche; ihre Türen standen weit offen, und er sah darin mehrere Mönche (keine anderen Betenden waren in der Kirche, und diese trugen Masken) um den Altar versammelt, welche das Miserere Domine sangen; die Diener Gottes in einer Stadt, welche sich bisher der frömmsten Einwohnerschaft gerühmt hatte, ohne Herde!

Der junge Ritter hielt vor der Tür und wartete, bis der Gottesdienst vorüber war und die Mönche die Treppe herab auf die Straße kamen.

»Heilige Väter,« sagte er dann, »darf ich euch um die Güte bitten, mir den nächsten Weg nach dem Kloster Santa Maria de' Pazzi zu sagen?«

»Sohn,« erwiderte eines der antlitzlosen Gespenster, denn so sahen sie in ihren sterbetuchähnlichen Kleidern und plumpen Masken aus, »Sohn, zieh deiner Wege weiter, und Gott sei mit dir. Räuber oder Schwärmer nehmen vielleicht jetzt das heilige Kloster ein, das Ihr nanntet. Die Aebtissin ist tot und manche Schwester schläft mit ihr. Die Nonnen sind vor der Ansteckung geflohen.«

Adrian sank beinahe vom Pferde, und als er wie eingewurzelt auf der Stelle hielt, zog die düstere Prozession weiter, in feierlichem Tone durch die verlassenen Straßen die Mönchshymne singend:

Bei der Mutter und dem Sohn,
Der für uns am Kreuze starb,
Gib uns nicht der Sünden Lohn.
Miserere Domine!

Als sich seine Betäubung verlor, holte Adrian die Brüder wieder ein, und als sie den Refrain ihres Gesanges wiederholt hatten, redete er sie nochmals an.

»Heilige Väter, entlaßt mich nicht so. Vielleicht kann ich von der einen, die ich suche, doch noch etwas in dem Kloster hören. Sagt mir, welchen Weg ich dorthin einzuschlagen habe.«

»Störe uns nicht, Sohn,« sagte der Mönch, welcher vorhin gesprochen hatte. »Es ist ein schlimmes Vorzeichen für dich, daß du so die Anrufungen der Diener des Himmels unterbrichst.«

»Verzeiht, verzeiht. Ich will reichliche Buße tun, viele Messen bezahlen: aber ich suche eine teure Freundin – der Weg – der Weg – –«

»Rechts, bis Ihr an die erste Brücke kommt. Jenseits der dritten Brücke, an dem Flusse, findet Ihr das Kloster,« sagte ein anderer Mönch, gerührt durch Adrians Eifer.

»Gott segne Euch, heiliger Vater,« stammelte der Ritter und spornte sein Pferd nach der angegebenen Richtung. Die Brüder achteten nicht auf ihn, sondern begannen wieder ihren Gesang. Vermischt mit dem Klang der Hufschläge seines Pferdes auf dem dröhnenden Pflaster drang zu dem Ohr des Reiters die flehentliche Hymne:

» Miserere Domine!«

Ungeduldig flog Adrian mit krankem Herzen in vollem Galopp durch die Straßen. Er kam über den Marktplatz – dieser war leer wie die Wüste – durch die düsteren, verrammelten Straßen, in welchen das Geschrei der Guelfen und Ghibellinen so oft die Ritterschaft und den Adel von Florenz angefeuert hatte. Jetzt lagen miteinander vermengt in Gruben und Grüften Guelfen und Ghibellinen, Rittersporen und Bettlerkrücken. Im Vergleich mit dieser Stille wäre das Geräusch, selbst eines Bürgerkrieges, ein Segen gewesen! Die erste Brücke, das Ufer, die zweite, die dritte Brücke waren erreicht, und Adrian hielt endlich sein Pferd vor den Mauern des Klosters an; er band es an das Portal, wo das halb aus den Angeln gerissene Tor offen stand, durchschritt den Hof, erreichte die gegenüberliegende Tür, die zu dem Hauptgebäude führte, kam an das Gitter, jetzt keine Schranke mehr für die ausseitige Welt, und als er hier einen Augenblick innehielt, um Atem und Kraft zu schöpfen, drang wildes Gelächter und lauter Gesang, unterbrochen und vermischt mit Flüchen, zu seinem Ohr. Er stieß die Gittertür beiseite, trat ein und gelangte, diesen Tönen folgend, in das Refektorium. An diesem Versammlungsort der strengen, sich kasteienden Bräute des Himmels sah er jetzt, um den oberen Tisch, früher für den Gebrauch der Aebtissin bestimmt, eine seltsame, unordentliche Räuberhorde versammelt, die auf den ersten Anblick allen Ständen anzugehören schien, denn einige trugen Sarsche oder gar Lumpen, andere waren aufs prächtigste mit Seide und Sammet, mit Federn und Mantel geschmückt. Aber ein zweiter Blick zeigte deutlich genug, daß die Gesellen meistens von einem Schlage waren, und daß die Pracht der glänzender Gekleideten nur die Beute aus unbewachten Palästen oder verlassenen Bazars war; denn unter mit Juwelen besetzten Federhüten blickten grimmige, ungewaschene, unbarbierte Gesichter hervor, über welche die langen Locken der Brüder vom Fache der scharfen Messer und der Mietlingswaffe, wie diese sie damals zu tragen anfingen, herabhingen, die ihnen oft statt einer Maske dienten. Unter diesen wilden Gesellen sah man viele Weiber, junge und von mittlerem Alter, häßliche und hübsche, und Adrian ergriff ein frommer Schauder, als er unter den weiten Gewändern und entblößten Nacken dieser handwerksmäßigen Buhlerinnen die heilige Kleidung und den Rosenkranz von Nonnen erblickte. Weinflaschen, reiche Schüsseln, Gold- und Silbergefäße, meistens zu heiligen Gebräuchen bestimmt, bedeckten die Tafel. Als der junge Römer wie gebannt auf der Schwelle stehen blieb, rief ihm der Mann, der die Rolle des Präsidenten bei dem Gelage führte, ein großer, schwarzbrauner Geselle, mit einer tiefen Schramme im Gesicht, die, über die ganze linke Wange und Oberlippe sich erstreckend, seinen groben Gesichtszügen einen unnatürlichen Ausdruck gab, zu: »Kommt herein, Mann, kommt herein – was steht Ihr so erstaunt und stumm da? Wir sind gastfreie Zecher und heißen jedermann willkommen. Hier sind Wein und Weiber. Des Herrn Bischofs Wein und der Frau Aebtissin Weiber!

Singt fröhlich hier dem königlichen Tode,
Der mit dem Hauch ein Heer zerstreut,
Um den Palast zu plündern, Kerker öffnet,
Ehrliche Leute von dem Strick befreit.
Laßt die Mächt'gen sich fürchten, hoch lebe die Pest!
Wenn der Reiche tot, feiert der Arme ein Fest.
Hoch lebe die Pest! Befreie sie immer nur
Den Schurken von der Kett', die Nonne vom Schwur,
Dem Schließer bring' sie Tod, den Gefangenen gebe sie los,
Hurra, du Erdenplag', mir ist dein Segen groß!«

Ehe dieser furchtbare Vers zu Ende war, verließ Adrian, der wohl fühlte, daß unter solchen Orgien ihm keine Wahrscheinlichkeit für erfolgreiche Nachforschungen blühe, das entheiligte Gemach und floh, kaum Atem schöpfend, so groß war das Entsetzen, das ihn erfaßt hatte, bis er wieder im Hofe unter dem heißen, ungesunden, drückenden Sonnenlicht stand, das für die Szenen, welches es beleuchtete, eine geeignete Atmosphäre schien. Gleichwohl beschloß er, den Ort nicht zu verlassen, ohne noch weitere Nachforschungen angestellt zu haben, und während er nachdenkend und unschlüssig außerhalb des Hofes stand, erblickte er ganz nahe eine kleine Kapelle, durch deren hohe Fenster schwach, und durch das Tageslicht gedämpft, der Schein von Kerzen schimmerte. Er wandte sich gegen die Tür, trat ein und sah neben dem Allerheiligsten eine einzige Nonne knieend beten. In dem engen Flügel zeigte sich ihm auf einer langen Tafel (an deren beiden Enden die schlanken, unseligen Kerzen brannten, deren Strahlen ihn hergezogen hatten) der Faltenwurf einiger Leichentücher, die halbdeutlichen Umrisse toter Menschengestalten. Ergriffen von der traurigen Heiligkeit des Ortes und dem rührenden Anblick der einsamen, aufopfernden Wächterin der Toten, kniete Adrian selbst nieder und betete inbrünstig.

Als er sich mit etwas erleichtertem Herzen erhob, stand auch die Nonne auf und erstaunte, als sie seiner ansichtig wurde.

»Unglücklicher Mann!« sagte sie mit einer Stimme, die, leise, schwach und feierlich, geisterartig lautete – »welches Verhängnis führt dich hierher? Siehst du nicht, daß du dich bei Leichen befindest, welche die Pest berührte – du atmest die Luft, welche vernichtet! Hinweg! suche inmitten der Zerstörung einen Ort, den der schwarze Feind noch nicht heimgesucht hat!«

»Heilige Jungfrau,« antwortete Adrian, »die Gefahr, der Ihr ausgesetzt seid, schreckt mich nicht; – ich suche ein Wesen, dessen Leben mir teurer ist als mein eigenes.«

»Ich sehe aus dem Gesagten, daß du erst kürzlich nach Florenz gekommen bist! Hier verläßt der Sohn den Vater und die Mutter ihr Kind. Wenn das Leben am hoffnungslosesten ist, klammert man sich an dasselbe, als wäre es das Heil der Unsterblichkeit! Aber für mich allein hat der Tod keine Schrecken. Lange von der Welt getrennt, habe ich meine Schwestern dahinsterben – das Haus Gottes entheiligen – seinen Altar umstürzen sehen, und ich kümmere mich nicht darum, ob ich die Letzte bin, welche die Pest übrig läßt, lebendig und dem Eide getreu.«

Die Nonne schwieg einige Augenblicke, blickte ernsthaft auf das gesunde Antlitz und die unerschütterte Gestalt Adrians, seufzte tief und fuhr dann fort: »Fremdling, warum fliehst du nicht? Du könntest eine Lebende ebensogut in den angefüllten Gräbern und in der Verwesung des Todes suchen wie in dieser Stadt.«

»Schwester und Braut des heiligen Erlösers!« entgegnete der Römer mit gefalteten Händen, » ein Wort, ich flehe dich an. Du gehörst, wie ich vermute, zu der Schwesterschaft jenes verlassenen Klosters; sage mir, weißt du, ob Irene di Gabrini Rienzis Familienname war Gabrini. – die Schwester des gefallenen Tribunen von Rom, die bei der verstorbenen Aebtissin auf Besuch war, noch unter den Lebenden ist.«

»So bist du denn ihr Bruder?« sagte die Nonne. »Bist du jener gefallene Sohn des Morgens?«

»Ich bin ihr Verlobter,« versetzte Adrian traurig. »Sprich!«

»O, Fleisch! Fleisch! wie bleibst du Sieger bis ans Ende selbst mitten unter den Triumphen und in dem Lazarett der Verwesung!« sagte die Nonne. »Eitler Mann! denke nicht an solche fleischlichen Bande; mache deinen Frieden mit dem Himmel, denn wahrlich, deine Tage sind gezählt!«

»Weib!« rief Adrian ungeduldig, »sprich mir nicht von mir selbst, und lästere nicht auf Bande, deren Heiligkeit du nicht verstehen kannst. Ich frage dich noch einmal, bei deiner Hoffnung auf Gnade und Barmherzigkeit, lebt Irene noch?«

Die Nonne wurde von dem Feuer des jungen Liebenden ergriffen und nach einer Pause, die ihm wie ein Jahrhundert voll Todesangst erschien, erwiderte sie: »Das Mädchen, von dem du sprichst, starb nicht mit den gemeinsamen Tod. Als die wenig Uebriggebliebenen sich zerstreuten, verließ sie das Kloster – ich weiß nicht, wohin sie sich wendete; aber sie hat Freunde in Florenz – ihre Namen kann ich dir nicht sagen.«

»Gott segne dich, heilige Schwester! Gott segne dich! Wie lange ist es her, seit sie das Kloster verließ?«

»Vier Tage sind verflossen, seit die Räuber und Buhlerinnen von dem Hause der heiligen Maria Besitz genommen haben,« erwiderte die Nonne unter Seufzen, »und sie ersetzten die Schwesterschaft schnell.«

»Vier Tage! und du kannst mir keinen weiteren Aufschluß geben?«

»Keinen – doch halt, junger Mann!« und die Nonne dämpfte, als sie ihm näher kam, ihre Stimme zu einem leisen Flüstern, »frage die BecchiniNach dem in Florenz üblichen Gebrauch wurden die Toten durch Bürger von gleichem Range zu ihrer Ruhestätte getragen; aber die Pest hatte einen neuen Erwerbszweig ins Leben gerufen, und Männer aus der niedrigsten Hefe des Volks unterzogen sich gegen ungeheure Bezahlung dem Dienste, die irdischen Reste der Opfer hinauszutragen. Diese nannte man Becchini.

Adrian bebte zurück, bekreuzte sich eilig und verließ das Kloster ohne weitere Erwiderung. Er bestieg sein Pferd wieder und ritt in das Innere der schweigenden Stadt zurück. Schenken und Gasthöfe gab es nicht mehr, aber die Paläste der verstorbenen Fürsten standen dem lebendigen Fremden offen. Er trat in einen derselben – eine geräumige, glänzende Behausung. In den Krippen der Ställe fand er noch Futter; aber die Pferde, zu jener Zeit in den Städten Italiens ein Anzeichen von Stand und Reichtum, waren mit denen, welche sie gefüttert, dahin. Der hochgeborene Ritter unterzog sich dem Dienste des Stallknechtes, nahm das schwere Sattelzeug ab, band sein Pferd an die Raufe, und als das müde Tier, die Schrecknisse ringsumher nicht erkennend, gierig über sein Futter herfiel, wandte sich sein junger Herr hinweg und murmelte: »Getreuer Diener und einziger Gefährte! möge die Pest, die weder Menschen noch Tiere schont, dich verschonen und mögest du mich mit erleichtertem Herzen von dannen tragen!«

Eine geräumige Halle, mit Waffen und Bannern behangen, eine breite Flucht von Marmortreppen, deren Wände mit den steifen Umrissen und grellen Farben jener Zeit bemalt waren, führte in die ungeheuren, mit Sammet und Goldstoffen behängten Zimmer – aber alles war still in denselben wie das Grab. Er warf sich auf die Polster, welche in der Mitte des Zimmers aufgehäuft lagen, denn, wie schon seit mehreren Tagen, war er auch an diesem Morgen weit geritten und fühlte sich an Leib und Gliedern erschöpft und müde; aber er fand keine Ruhe. Ungeduld, Angst, Hoffnung und Furcht nagten an seinem Herzen und machten seine Pulse fliegen, und nach einem kurzen und vergeblichen Versuch, seine Gedanken zu beruhigen und einen Plan zu erfolgreicheren Nachforschungen auszudenken, als wenn er sich bloß dem Zufall überließ, erhob er sich und ging durch die Zimmer in einer unbegründeten Hoffnung, welche nur der Zufall erfüllen konnte.

Man konnte leicht sehen, daß er seine Wohnung in dem Palast eines der Fürsten des Landes aufgeschlagen hatte, und der Glanz von allem, was ihn umgab, überstrahlte bei weitem die barbarische und rohe Pracht der wenig verfeinerten und reichen Römer. Hier lag die Laute, welche zuletzt gespielt worden war – das zuletzt gelesene vergoldete Buch mit Malereien; dort standen traulich zusammengerückte Sitze, als ob die Dame und ihr Geliebter hier geflüstert hätten.

»Und solche Verödung,« dachte Adrian, »kann bald die Spur des unbegrüßten Gastes verschlingen, wie sie die des verschwundenen Besitzers verschlang.«

Endlich trat er in einen Saal, worin noch eine mit Weinflaschen, gläsernen Bechern, mit Silber, verwelkten Blumen und halbfaulen Früchten und Fleischspeisen besetzte Tafel stand. Auf der einen Seite öffneten sich in der Tapete Flügeltüren nach einer breiten Treppenflucht, welche zu einem kleinen Garten hinter dem Hofe führte, wo ein Springbrunnen munter plätscherte – das einzige, was, den Fremden ausgenommen, hier noch Leben zeigte! Auf den Stufen lag ein karmesinroter Mantel und unter diesem ein Damenhandschuh. Die Reliquien schienen dem Herzen des Liebenden von der letzten Werbung und dem letzten Lebewohl eines Geliebten zu zeugen. Er seufzte laut, und da er fühlte, daß er seine ganze Kraft nötig haben werde, füllte er einen der Becher aus einer halb leeren Flasche Cyperwein. Er leerte den Becher – und fühlte sich gestärkt. »Jetzt,« sagte er, »wieder an meine Aufgabe! Ich will forteilen,« als er plötzlich schwere Tritte durch die Zimmer kommen hörte, die er verlassen glaubte – sie kamen näher – und Adrian sah zwei ungeheure, unheilverkündende Gestalten in das Gemach treten. Sie waren in grobes, schwarzes Tuch gehüllt, ihre Arme waren entblößt, und sie trugen große, unförmliche Masken, die bis auf die Brust gingen und nur drei kleine, runde Oeffnungen für Augen und Mund hatten. Colonna zog sein Schwert halb aus der Scheide, denn Gestalt und Aussehen dieser Besucher waren nicht eben geeignet, Vertrauen einzuflößen.

»O!« sagte der eine, »der Palast hat heute einen neuen Gast bekommen. Fürchte uns nicht, Fremdling; Raum und Reichtum ist ja genug hier für alle noch Lebenden in Florenz! Per Bacco! aber hier ist noch ein silberner Becher übrig – wie kommt das?« Mit diesen Worten ergriff der Mann den Becher, den Adrian soeben geleert hatte und steckte ihn in seinen Busen. Dann wandte er sich gegen Adrian, dessen Hand noch immer auf dem Griff des Schwertes ruhte, und sagte mit lautem Lachen, das gebrochen und gedämpft durch seine Maske drang, »o, wir schneiden keine Kehlen ab, Signor; der Unsichtbare erspart uns diese Mühe. Wir sind ehrliche Leute, Diener des Staates, und kommen nur, um nachzusehen, ob der Karren heute abend hier zu halten hat.«

»So seid Ihr also – –«

»Becchini!«

Adrians Blut erstarrte. Der Becchino fuhr fort: »Und bleibt Ihr während Eures Aufenthaltes in Florenz in diesem Hause, Signor?«

»Ja, wenn der rechtmäßige Besitzer es nicht beansprucht.«

»Ha! ha! Rechtmäßiger Besitzer! Die Pest ist jetzt Herrin über alles! Nun, ich habe drei stattliche Gesellschaften gekannt, welche diesen Palast letzte Woche inne hatten, und habe sie alle begraben – alle! Es ist ein recht anständiges Haus, das gute Kundschaft liefert. Seid Ihr allein?«

»Augenblicklich, ja.«

»Zeigt uns, wo Ihr schlaft, daß wir wissen, wo wir Euch zu suchen haben. Ihr werdet unser, wie ich sehe, in den drei nächsten Tagen nicht bedürfen.«

»Ihr seid artige Bewillkommner!« sagte Adrian; »aber hört auf mich. Könnt Ihr die Lebenden ebensogut auffinden, wie Ihr die Toten begrabt? Ich suche ein Mädchen in dieser Stadt, wenn Ihr sie ausfindig macht, soll es ein Jahr Eures Leichenverdienstes aufwiegen!«

»Nein, nein! Das geht über unseren Beruf. Ebensogut am Strande ein Sandkorn suchen, wie ein lebendes Wesen in geschlossenen Häusern und gähnenden Grüften; aber wenn Ihr die armen Totengräber vorausbezahlen wollt, verspreche ich Euch den ersten Platz in einer neuen Leichengrube; sie wird gerade zu der Zeit fertig werden, wo Ihr einer solchen bedürft.«

»Hier,« sagte Adrian, indem er dem Elenden einige Goldstücke hinwarf, »hier! und wenn Ihr mir einen angenehmen Dienst erweisen wollt, so verlaßt mich wenigstens, so lange ich lebe, oder ich kann Euch auch diese Mühe ersparen.« Damit verließ er das Zimmer.

Der Becchino, welcher das Wort geführt hatte, folgte ihm. »Ihr seid großmütig, Signor, haltet; Ihr werdet frischere Speisen brauchen können als diese verschimmelten Ueberreste. Ich will Euch mit dem Besten versehen, so lange – so lange Ihr noch etwas bedürft. Und hört – wen wünscht Ihr denn, daß ich aufsuche?«

Diese Frage hielt Adrian zurück. Er sagte ihm Irenes Namen und alle näheren Umstände, die er selbst kannte; und mit wundem Herzen beschrieb er Haare, Züge und Gestalt des geliebten, geheiligten Wesens, die einem Dichter hätten Stoff geben können und jetzt für einen Totengräber als Leitfaden dienten.

Die unheilvolle Erscheinung schüttelte den Kopf, als Adrian zu sprechen aufhörte. »Volle fünfhundert Beschreibungen hörte ich in den ersten Tagen der Pest, als es hier noch solche Geschöpfe, wie Geliebte und Liebende gab; es ist ein schöner Katalog, und es wird ein Stolz für einen armen Becchino sein, so viele Reize zu entdecken oder auch nur zu begraben! Ich will mein möglichstes tun; inzwischen kann ich Euch, wenn Ihr in der Eile Eure Zeit noch aufs beste benützen wollt, manches hübsche Gesicht und manche anmutige Gestalt empfehlen – –«

»Hinweg, Satan!« murmelte Adrian, »ich Narr, mußte ich meine Zeit an einen Menschen wie dich verschwenden!«

Das Gelächter des Totengräbers folgte seinen Schritten. Diesen ganzen Tag durchwanderte Adrian die Stadt, aber Suchen und Nachfragen blieben gleich erfolglos; alle, denen er begegnete und die er fragte, schienen ihn als einen Wahnsinnigen zu betrachten, und überdies waren sie von der Art, daß er sich nicht viel Vorschub in seinem Bestreben von ihnen hätte versprechen dürfen. Wilde Banden unordentlicher, betrunkener Zecher, Prozessionen von Mönchen, oder hie und da einzelne Individuen, welche schnell vorübereilten und jede Annäherung, jede Anrede scheuten, waren die einzigen Wanderer in den grauenvollen Straßen, bis die Sonne düster und gelb hinter den Hügeln unterging und die Dunkelheit den geräuschlosen Schritt der Pest umhüllte.

Drittes Kapitel.
Die Blüten unter den Gräbern.

Adrian fand, daß die Becchini Sorge getragen hatten, den Hunger nicht der Pest zuvorkommen zu lassen; das Bankett der Toten war hinweggeräumt und frische Speisen und Weine aller Art – denn hieran hatte Florenz damals Ueberfluß – standen auf der Tafel. Er genoß von den Erfrischungen, jedoch sehr mäßig, und schauderte davor zurück, Ruhe in Betten zu suchen, unter deren prächtigen Decken der Tod in neuerer Zeit so geschäftig gewesen war, schloß sorgfältig Türen und Fenster, wickelte sich in seinen Mantel und legte sich in dem Zimmer, in welchem er gegessen hatte, auf Polstern zur Ruhe nieder. Ermattung warf ihn in einen unruhigen Schlummer, aus dem er plötzlich durch Rollen eines auf der Straße fahrenden Karrens und durch das Geklingel von Glocken geweckt wurde. Er horchte, wie der Karren von Haus zu Haus fuhr und sein Getöse sich endlich in der Ferne verlor. – Er schlief in dieser Nacht nicht mehr!

Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, als er schon seine Nachforschungen fortsetzte; es war noch früh, als er an einer Kirche vorüberging, aus deren Tür zwei reich gekleidete Damen kamen, die den jungen Kavalier aufmerksam durch ihre Masken zu betrachten schienen. Der Anblick hielt auch ihn fest, als eine der Damen sagte: »Schöner Signor, Ihr seid allzukühn, daß Ihr keine Maske tragt und auch nicht an Blumen riecht.«

»Dame, ich trage keine Maske, weil ich gern erkannt werden möchte, ich durchsuche diesen unseligen Ort nach einem Wesen, dessen Verschwinden mir Verlust des Lebens ist.«

»Er ist jung, anmutig, offenbar von vornehmer Abkunft, und die Pest hat ihn noch nicht berührt; er wird für unsere Zwecke taugen,« flüsterte eine der Damen der anderen zu.

»So denke ich auch,« versetzte ihre Begleiterin, dann wandte sie sich an Adrian und sagte: »Ihr suchet eine, mit der Ihr nicht vermählt seid, da Ihr so zärtlich sucht.«

»Das ist wahr.«

»Jung und schön ist sie, hat dunkles Haar und einen schneeweißen Nacken; ich will Euch zu derselben führen.«

»Signora!«

»Folgt uns!«

»Wißt Ihr, wer ich bin, und wen ich suche?«

»Ja.«

»Könnt Ihr mir wirklich etwas von Irene sagen?«

»Ich kann; folgt mir!«

»Zu ihr?«

»Ja, ja; folgt uns!«

Die Damen gingen weiter, wie wenn sie eine Fortsetzung des Gespräches nicht zu wünschen schienen. Erstaunt, zweifelnd und wie in einem Traume folgte ihnen Adrian. Ihre Kleidung, ihr Benehmen und das reine Toskanisch der einen, die ihn angeredet hatte, zeugten für ihre Geburt und hohen Stand; aber alles andere war ein Rätsel, das er nicht lösen konnte.

Sie erreichten eine der Brücken, wo eine Sänfte und ein Diener zu Pferd, einen Zelter am Zügel haltend, ihrer warteten. Die Damen stiegen in die Sänfte und diejenige, welche zuvor mit Adrian gesprochen, bat ihn, auf dem Zelter zu folgen.

»Aber sagt mir – –« begann er.

»Keine Fragen, Herr Ritter,« sagte sie ungeduldig; »folgt schweigend den Lebenden, oder bleibt bei den Toten, wie Ihr für gut findet.«

Hierauf setzte sich die Sänfte in Bewegung und Adrian bestieg ganz verwundert den Zelter und folgte seinen seltsamen Führerinnen, die in ziemlich raschem Schritte vorwärts eilten. Sie kamen über die Brücke, ließen den Fluß hinter sich und erstiegen bald eine sanfte Anhöhe, wo grünende Bäume und Blumen statt der dumpfen Mauern und leeren Straßen ihren Blicken begegneten. Nachdem sie etwas weniger als eine halbe Stunde so dahingezogen waren, schlugen sie einen Wiesenpfad ein, der etwas von der Straße abführte, und kamen plötzlich an die Säulenhallen eines schönen, stattlichen Palastes. Hier stiegen die Damen aus ihrer Sänfte, und Adrian, der vergeblich versucht hatte, den Diener zum Reden zu bringen, stieg gleichfalls ab und folgte ihnen durch einen geräumigen Hof, der zu beiden Seiten mit Blumenstöcken und Orangenbäumen gefüllt war, und durch eine weite Halle in den inneren Raum des Viereckes, wo er sich nun an einem der lieblichsten Orte befand, die je ein Auge gesehen oder ein Dichter besungen. Gebüsche und Lorbeeren und Myrten öffneten sich auf beiden Seiten zu mit Jasmin und Rosen überhangenem Durchblicke und Arkaden, in deren Hintergrunde man Bildsäulen oder wasserreiche Springbrunnen erblickte; vorn war der freie Platz durch Reihen von mit Blumen gefüllten Vasen auf marmornen Fußgestellen eingeschlossen, und breite, allmählich sich erhebende Treppenfluchten von dem weißesten Marmor führten, von Terrasse zu Terrasse, alle mit Bildsäulen und Springbrunnen geschmückt, einen hohen, aber sanft sich erhebenden grünen Hügel hinauf. Fern in der weiten, abwechselnden, üppigen Landschaft waren Weinberge und Olivenhaine, die Villen und Dörfer des Arnotales, das der Silberstrom durchschnitt, zerstreut, während die Stadt mit all ihrer Ruhe, aber ohne ihre Schrecken, ihre Dächer und Kirchtürme gegen die Sonne erhob. Vögel von allerlei Farbe und Gesang, zum Teil frei, zum Teil in Geflechten von Golddraht, trillerten ringsumher, und mitten auf dem Rasen ruhten vier unmaskierte, reich gekleidete Damen, deren älteste kaum mehr als zwanzig Jahre schien, und fünf Kavaliere, jung und hübsch, deren juwelenbesetzte Kleidung und goldene Ketten ihren Rang verrieten. Wein und Früchte standen auf einem anderen Tisch zur Seite, und musikalische Instrumente, Schachbretter und Tricktracktafeln lagen untereinander umher. Eine so schöne Gruppe, eine so anmutige Szene sah Adrian nun hier, und zwar inmitten der schauderhaften Pest Italiens! – eine Gruppe und eine Szene, wie sie uns wohl aus den Blättern des heiteren Boccaccio wieder auftauchen mag!

Als man Adrian und seine Begleiterinnen sich nähern sah, stand die Gesellschaft augenblicklich auf, und eine der Damen, welche auf ihrem Haupte einen Kranz von Lorbeerblättern trug, schritt den anderen voraus und rief: »Wohl getan, meine Mariana! willkommen bei der Rückkehr, meine schönen Untertaninnen. Und auch Ihr, mein Herr, seid hier willkommen.«

Die beiden Führerinnen des Colonna hatten mittlerweile ihre Masken abgenommen, und die eine, welche ihn angeredet hatte, schüttelte ihre langen Rabenlocken über ein glänzendes, lachendes Auge und eine Wange, deren natürliche Olivenfarbe jetzt in ein leichtes Rot überging, und wandte sich zu ihm, ehe er die ihm gewordene Begrüßung hatte erwidern können.

»Herr Ritter,« sagte sie, »Ihr seht jetzt, wozu ich Euch angelockt habe. Gesteht, daß dies angenehmer ist als der Anblick und die Töne in der Stadt, die wir soeben verließen. Ihr seht mich erstaunt an. Seht, meine Königin, wie sprachlos der Zauber Eures Hofes unseren neuen Gefährten gemacht hat; ich versichere Euch, er könnte schnell genug reden, wenn er nur mit uns zu verkehren hätte; ja, ich sah mich genötigt, ihm Stillschweigen aufzuerlegen.«

»O! so habt Ihr ihn noch nicht über die Sitten und den Ursprung des Hofes belehrt, in den er tritt?« sagte die Dame mit dem Lorbeerkranz.

»Nein, meine Königin, ich dachte, jede Schilderung an einem Orte, wie es unser armes Florenz gegenwärtig ist, würde ihren Zweck verfehlen. Meine Aufgabe ist gelöst, ich trete ihn Euer Gnaden ab!«

Mit diesen Worten hüpfte die Dame leicht hinweg und begann kokettierend ihre Locken vor dem glatten Spiegel eines Marmorbeckens zu ordnen, dessen Wasser über den Rand auf das Gras herunterträufelte; hie und da blickte sie verstohlen nach dem Fremden und blieb nahe genug, um alles zu hören, was gesprochen wurde.

»Vor allem, Signor, erlaube uns,« sagte die Dame, welche Königin betitelt wurde, »nach deinem Namen, deinem Stande und deinem Geburtsort zu fragen.«

»Madame,« erwiderte Adrian, »als ich hierher kam, ließ ich mir nicht träumen, daß ich Fragen zu beantworten haben würde, die mich selbst betreffen; was Euch aber zu fragen beliebt, muß mir zu beantworten belieben. Ich bin Adrian di Castello, von dem römischen Hause Colonna.«

»Eine edle Säule eines edlen Hauses!« Hier spielt Bulwer wieder mit den beiden Wörtern Colonna und Colonne, die gleichlautend ausgesprochen werden, wie dies in einem früheren Teile des Werkes schon der Fall war. Der Uebers. antwortete die Königin. »Was uns betrifft, hinsichtlich deren Eure Neugier vielleicht rege geworden, so wisset, wir sind sechs Damen aus Florenz. Verlassen von unseren Verwandten und Beschützern, oder derselben beraubt, faßten wir den Entschluß, uns in diesen Palast zurückzuziehen, wo, wenn der Tod sich naht, er die Hälfte seiner Schrecknisse verliert; und da uns die Gelehrten sagen, daß Traurigkeit die schreckliche Krankheit befördere, so sehet Ihr in uns geschworene Feindinnen derselben. Sechs uns bekannte Kavaliere verstanden sich dazu, uns zu begleiten. Unsere Tage, seien es deren noch viele oder wenige, verbringen wir mit allen nur erdenklichen Zerstreuungen. Musik und Tanz, heitere Erzählungen und fröhliche Gesänge füllen neben so geringem Wechsel der Umgebung wie vom Rasen in den Schatten, von der Allee zur Quelle, unsere Zeit aus und bereiten uns für den friedlichen Schlaf und glücklichen Traum vor. Abwechselnd ist immer eine der Damen Königin unseres anmutigen Hofes, wie heute mich das Los getroffen. Das ganze Gesetzbuch unserer Verfassung besteht in einer einzigen Regel – daß nichts Trauriges Zutritt findet. Wir wollen leben, als wäre jene Stadt gar nicht vorhanden, und als ob (setzte die schöne Königin mit einem leisen Seufzer hinzu) Jugend, Anmut und Schönheit ewig dauern könnten. Einer unserer Ritter verließ uns törichterweise auf einen Tag mit dem Versprechen, wieder zurückzukehren; wir haben ihn nicht mehr gesehen und wollen keine Vermutungen darüber anstellen, was ihn betroffen haben mag. Es wurde notwendig, seine Stelle zu ersetzen; wir warfen das Los, wer seinen Nachfolger aufsuchen sollte; es fiel auf die Damen, die – ich hoffe nicht zu Eurer Unzufriedenheit – Euch hierher gebracht haben. Schöner Signor, meine Erklärung ist zu Ende.«

»Ach, liebenswürdige Königin,« sagte Adrian, energisch, aber vergebens gegen die bittere Enttäuschung ankämpfend, die er fühlte – »ich kann kein Genosse Eures glücklichen Kreises werden; schon in meiner Person verletze ich Euer oberstes Gesetz. Ich bin vollständig von einem traurigen, angstvollen Gedanken durchdrungen, dem alle Heiterkeit als Gottlosigkeit erschiene. Unter Lebenden und Toten suche ich nach einem Wesen, über dessen Schicksal ich im ungewissen bin, und durch die Worte, welche meine schöne Führerin fallen ließ, wurde ich von meinem traurigen Bemühen abgelenkt und hierher gelockt. Erlaubt nur, holde Dame, daß ich nach Florenz zurückkehre.«

Die Königin blickte in stummem Aerger auf die schwarzäugige Mariana, die den Blick ebenso bedeutungsvoll zurückgab, dann plötzlich auf Adrian zuging und sagte: »Aber, Signor, wenn ich dennoch mein Versprechen hielte, wenn ich imstande wäre, dich der Gesundheit und des Wohlergehens deiner – deiner Irene zu versichern?«

»Irene!« wiederholte Adrian erstaunt, denn er vergaß in diesem Augenblick, daß er zuvor den Namen derjenigen, die er suchte, genannt hatte – »Irene – Irene di Gabrini, Schwester des einst so berühmten Rienzi?«

»Dieselbe,« versetzte Mariana rasch; »ich kannte sie, wie ich Euch gesagt. Nein, Signor, ich täusche Euch nicht. Allerdings kann ich Euch nicht zu ihr bringen, aber um so besser – sie ging vor vielen Tagen schon nach einer der lombardischen Städte, wohin, wie man sagt, die Geißel noch nicht gedrungen ist. Ist, edler Herr, jetzt Euer Herz nicht erleichtert? und wollt Ihr sobald den Hof der Anmut verlassen und vielleicht,« setzte sie mit einem sanften Blick aus ihren großen, schwarzen Augen hinzu – »der Liebe?«

»Darf ich Euch in Wahrheit glauben?« sagte Adrian ganz entzückt, doch aber noch halb im Zweifel.

»Sollte ich einen treuen Liebenden, wie Ihr zu sein scheint, hintergehen wollen? Seid hierüber ruhig. Nun, Königin, ich bitte dich, nimm deinen neuen Untertanen auf.«

Die Königin reichte Adrian die Hand und führte ihn zu der Gruppe, die in einiger Entfernung noch immer auf dem Grasplatze stand. Sie empfingen ihn wie einen Bruder und verziehen ihm aus Artigkeit gegen sein gutes Aussehen und seinen berühmten Namen gar bald seine etwas zerstreute Höflichkeit.

Die Königin klatschte in die Hände, und die Gesellschaft setzte sich wieder auf dem Rasen nieder, jede Dame neben ihren Kavalier. »Ihr, Mariana, wenn Ihr nicht zu müde seid,« sagte die Königin, »sollt die Laute nehmen und diese lärmenden Heuschrecken zum Schweigen bringen, die so anmaßend um uns her zirpen, als ob sie Nachtigallen wären. Singe, holde Untertanin, singe, und zwar das Lied von unserem treuen Freunde Signor Visdomini, das er als eine Art Einweihungsgesang für die an unserem Hofe Aufgenommenen verfaßte.«

Mariana, welche sich an Adrians Seite niedergelassen hatte, nahm die Laute und sang nach einem kurzen Vorspiel die folgenden, hier mangelhaft übersetzten Strophen:

Lied der florentinischen Dame.

Genieß' den Mittag um so mehr,
Wenn zweifelhaft das Morgen;
Dem Tod, das diene dir zur Lehr,
Bahnt man den Weg durch Sorgen.

Tod holt uns alle, doch dem Leid,
Dem woll'n wir uns nicht beugen,
Wenn dicht Gewölk am Himmel dräut,
Wird Nacht sich früher zeigen.

Die Weisheit, die das Grab dir beut,
Sei Feiern hier und Kosen!
Liebt doch der Tod selbst Heiterkeit,
Bedeckt das Grab mit Rosen.

Wenn mir des Liebsten Auge blinkt,
Erneut sich mir das Leben –
Zum Himmel, wo die Lust uns winkt,
Macht Lust den Weg uns eben.

Diesem sehr beifällig aufgenommenen Gesange folgten jene leichten und witzigen Erzählungen, in welchen die italienischen Novellisten ein Vorbild für Voltaire und Marmontel wurden – während jedes, sobald die Reihe kam, den Faden des Gespräches aufnahm und mit gleicher Gewandtheit jedes düstere Bild, jede traurige Betrachtung vermied, das die anmutigen Müßiggänger an die Nähe des Todes erinnern konnte. Zu jeder anderen Zeit hätten Gemütsart und Talente des jungen Signor di Castello ihn ganz dazu befähigt, an diesem arkadischen Hofe sich zu ergötzen und zu glänzen. Jetzt aber suchte er vergebens die Düsterheit von seiner Stirne, die ängstlichen Gedanken aus seinem Herzen zu verscheuchen. Er dachte an die Nachricht, die er erhalten, wunderte sich, mutmaßte, hoffte, fürchtete aber immer noch, und wenn sein Geist sich für einen Augenblick zu den Vorgängen um ihn her zurückwandte, so fragte sich sein für die unwahren Gefühle dieses Ortes doch zu wahrhaft poetisches Innere – worin, die äußere Feinheit und die angenehme Lage ausgenommen, die Fröhlichkeit, von der er hier so wider seinen Willen Zeuge gewesen, sich von dem rohen Gelage in dem Kloster Sante Maria unterscheide – denn hier, wie dort, war, ungeachtet der Verschiedenheit in dem äußerlichen Benehmen, die gleiche Hartherzigkeit und Selbstsucht, welche den Schrecken zur Fröhlichkeit machte. Die schöne Mariana, die, wie die Königin erzählt hatte, ihres Gefährten beraubt worden war, hatte ganz und gar keine Lust, den Neugewonnenen auch wieder zu verlieren. Sie drang ihm von Zeit zu Zeit die Weinflasche und Früchte auf, und bei diesen nichtssagenden Höflichkeiten ruhte ihre Hand leicht auf der seinigen. Endlich kam die Stunde, wo sich die Gesellschaft für die Zeit der drückenden Mittagshitze in den Palast zurückzog – um mit Sonnenuntergang wieder ins Freie zu kommen und neben dem Springbrunnen zu Nacht zu speisen, zu tanzen, zu singen und bei dem Licht der Fackeln und der Sterne fröhlich zu sein, bis man sich zur Ruhe begab. Aber Adrian, nicht willens, diese Unterhaltung länger fortzusetzen, beschloß, sobald er sich allein in dem ihm angewiesenen Zimmer befand, sich in der Stille davonzumachen, als jedenfalls die kürzeste, und vielleicht nicht einmal die am wenigsten höfliche Art, sich zu verabschieden, die ihm übrig blieb. Demzufolge verließ er, als alles ruhig und in Schlummer versunken schien, dem zu dieser Stunde die Bewohner des Südens sich gewöhnlich überlassen, sein Zimmer, ging die Treppe hinab, schritt über den äußeren Hof und war schon am Tore, als er eine Stimme seinen Namen rufen hörte, welche Verdruß und Unruhe zu verraten schien. Er wandte sich um und erblickte Mariana.

»Ei, wie, Signor di Castello, ist unsere Gesellschaft so unerfreulich, unsere Musik so schnarrend, oder sind unsere Brauen so gerunzelt, daß Ihr flieht, wie der Reisende vor den Hexen, die er in Benevent trifft? Nein, Ihr könnt uns doch nicht verlassen wollen?«

»Schöne Dame,« versetzte der Kavalier, etwas aus der Fassung gebracht, »vergebens bemühe ich mich, meinen Trübsinn zu verscheuchen, oder mich in die an Eurem Hofe notwendige Stimmung zu versetzen, dem keine Traurigkeit sich nahen soll. Eure Gesetze lasten auf mir wie auf einem Verbrecher – besser baldige Flucht als strenge Ausstoßung.«

Mit diesen Worten ging er weiter und wäre durch das Tor geschritten, wenn nicht Mariana ihn beim Arme gefaßt hätte.

»Nein,« sagte sie sanft; »sind hier denn keine dunkelglühenden Augen und kein schneeweißer Nacken, die dich für die Abwesende entschädigen können? Bleib und vergiß, wie ohne Zweifel in deiner Abwesenheit auch du vergessen bist!«

»Dame,« antwortete er mit tiefem Ernst und nicht ohne eine Beimischung von übel verhehlter Verachtung, »ich habe nicht lange genug im Angesicht und unter den Tönen des Schmerzes verweilt, daß mein Herz gegen alles, was um mich vorgeht, unempfindlich sein sollte. Genieße, wenn du kannst, und pflücke die Rosen, die um das Grab sich ranken; aber mir, dem sich noch immer die Bilder des Todes aufdrängen, versucht Schönheit vergebens Entzücken einzuflößen, und Liebe – selbst heilige Liebe – scheint durch den Schatten des Todes verdunkelt. Verzeihe mir und lebe wohl!«

»So gehe denn,« sagte die Florentinerin beleidigt und erzürnt über seine Kälte, »geh und suche deine Geliebte unter den Umgebungen, bei denen deine Betrachtungen so gern verweilten. Ich täuschte dich nur, blinder Tor! ich hoffte für dein eigenes Beste, wenn ich dir sagte, Irene (war dies der Name?) sei aus Florenz gegangen. Ich wußte und hörte nichts von ihr, außer durch dich. Kehre zurück, durchsuche die Gruft und sieh, ob du sie noch immer liebst!«

Viertes Kapitel.
Wir erreichen, was wir suchen, und wissen es nicht.

In der heftigsten Mittagshitze kehrte Adrian zu Fuß nach Florenz zurück. Als er sich der Stadt näherte, kam ihm die ganze heitere, festliche Szene, die er verlassen, wie ein Traum vor, wie eine Vision von den Gärten und Lauben einer Zauberin, woraus er plötzlich erwachte, wie ein Verbrecher am Morgen seiner Hinrichtung erwachen mag, um das Schafott und den Henker zu erblicken – so sehr führte jeder schweigende und einsame Schritt in die Leichenstadt seine verwirrten Gedanken zugleich zu Leben und Tod zurück. Die Abschiedsworte Marianens tönten wie eine Totenglocke in seinem Herzen, und als er jetzt weiter schritt, vereinte sich die Hitze des Tages, die schwüle Atmosphäre, lange Anstrengung, abwechselnde Erschöpfung und Aufregung mit dem Schmerz über Enttäuschung, dem quälenden Bewußtsein, kostbare Augenblicke unwiederbringlich verloren zu haben, und seinem völligen Verzweifeln, wieder einen systematischen Plan für seine Nachforschungen zu entwerfen – und das Fieber begann seine Adern zu durchstürmen. Auf seinen Schläfen glaubte er den Druck eines Berges zu fühlen, seine Lippen waren trocken von unerträglichem Durst, die Kraft schien ihn plötzlich zu verlassen, und nur mit Mühe und Anstrengung schleppte er seine matten Glieder weiter.

»Ich fühle ihn,« dachte er mit dem sich sträubenden Widerwillen und der schauernden Angst, mit welcher die Natur immer gegen den Tod kämpft, »ich fühle ihn an mir – den verschlingenden Unsichtbaren – ich werde unterliegen, und zwar ohne sie zu retten; auch wird nicht ein Grab uns umhüllen!«

Doch diese Gedanken vermehrten nur rasch die Krankheit, welche anfing, an ihm zu nagen, und ehe er das Innere der Stadt erreichte, verließ ihn auch die Besinnung. Die Bilder von Menschen und Häusern wurden unbestimmt und schattenartig vor seinen Augen; der brennende Boden schwankte und kreiste unter seinen Tritten; das Delirium zog sich über ihm zusammen, und abgebrochene, unzusammenhängende Worte murmelnd, setzte er seinen Weg fort; die wenigen, welchen er begegnete, flohen aus Schrecken vor ihm. Sogar die Mönche, die noch immer ihre feierlichen und traurigen Prozessionen hielten, zogen sich, ein bene vobis murmelnd, auf die entgegengesetzte Seite der Straße, um seinen schwankenden, taumelnden Schritten nicht in den Weg zu kommen. Und vor einer Bude an einer Straßenecke warfen vier zusammen trinkende Becchini unter ihren schwarzen Masken Blicke hervor, wie sie etwa Geier auf einen sterbenden Wanderer der Wüste werfen. Noch immer schlich er weiter, streckte die Arme aus wie ein im Dunkeln Tappender und suchte mit der schwachen Besinnungskraft, die noch gegen das Delirium kämpfte, das Gebäude zu finden, in dem er seine Wohnung aufgeschlagen hatte, obgleich viele, ebenso schön, um darin zu leben und ebenso brauchbar, um darin zu sterben, mit offenen Portalen vor und neben ihm standen.

»Irene! Irene!« rief er, bald mit murmelndem, leisem Ton, bald mit wildem, durchdringendem Kreischen, »wo bist du, wo? Ich komme, dich ihnen zu entreißen; sie sollen dich nicht haben, die schmutzigen häßlichen Feinde! Pah! wie riecht die Luft nach Totenfleisch! Irene, Irene! wir wollen fort, nach meinem eigenen Palaste und dem himmlischen See – Irene!«

Als er mit umnachteten Sinnen so rief, traten plötzlich zwei weibliche Gestalten in Masken und Mänteln aus einem naheliegenden Hause.

»Eitler Wahn!« sagte die größere und schlankere von beiden, deren Mantel, was ich hier bemerken muß, von tiefem Blau, mit Silber gestickt, Schnitt und Farbe hatte, wie sie in Florenz nicht häufig, wohl aber in Rom getragen wurden, wo die Kleidung der Damen aus höheren Ständen außerordentlich reich in Farbe und Faltenwurf war – und hierin unterschied sie sich von der einfacheren und dürftigeren toskanischen Tracht; »eitler Wahn, einem unerbittlichen und gewissen Schicksal entfliehen zu wollen!«

»Nun, du wirst doch nicht wollen, daß wir mit drei Toten im nächsten Zimmer, die wir überdies nicht kennen, die Wohnung teilen sollen – wo Florenz so viele leere Hallen hat? Glaube mir, wir werden nicht weit gehen dürfen, ehe wir eine weniger gefährliche Wohnung für uns finden.«

»Bisher wurden wir in der Tat wunderbar bewahrt,« seufzte die andere, deren Stimme und Gestalt auf große Jugend schließen ließen; »aber ich wollte, wir wüßten, wohin wir fliehen sollen – welcher Berg, welcher Wald, welche Höhle meinen Bruder mit seiner treuen Nina birgt! Ich bin krank vor Schrecken!«

»Irene, Irene! Wenn du in Mailand oder einer anderen lombardischen Stadt bist, warum verweile ich dann noch hier? Zu Pferd, zu Pferd! O, nein! nein! – nicht das Pferd mit den Glocken! nicht den Totenkarren!« Mit einem Schrei, einem Gekreisch, lauter als das lauteste der Kranken, riß sich die jüngere der beiden Damen von ihrer Begleiterin los. Es war, als hätte sie ein einziger Schritt an Adrians Seite gebracht. Sie faßte seinen Arm – sie blickte ihm ins Antlitz, sie begegnete seinem glanzlosen Auge, das von fürchterlichem Feuer leuchtete. »Sie hat ihn ergriffen!« (sagte sie dann in tiefem, aber ruhigem Tone) – »die Pest!«

»Hinweg, hinweg! seid Ihr toll?« rief ihre Begleiterin; »fort, fort – berühre mich nicht, denn eben hast du ihn berührt – geh! hier trennen wir uns!«

»Helft mir, ihn irgend wohin zu tragen; seht, er wird ohnmächtig, er taumelt, er fällt! – helft mir, teure Signora, um der Barmherzigkeit, der Liebe Gottes willen!«

Aber gänzlich von der selbstsüchtigen Furcht ergriffen, welche in jener schreckensvollen Zeit alle Menschlichkeit überwog, floh die ältere Dame, obwohl im Grunde ihres Herzens gütig, mitleidig und wohlwollend, eilig davon und war bald verschwunden. Trotzdem sich das junge Mädchen nun mit Adrian allein sah, der jetzt durch die Heftigkeit des in seinem Innern wütenden Fiebers zu Boden gefallen war, verließen sie Körperstärke und Besonnenheit nicht. Sie riß den schweren Mantel ab, der ihre Arme bedeckte, und warf ihn von sich; dann hob sie das Angesicht ihres Geliebten auf – denn niemand anders als Irene war das schwache Weib, das nicht vor der tödlichen Ansteckung zurückschrak – legte es an ihre Brust und rief mehrmals laut um Hilfe. Endlich kamen die Becchini aus der vorhin erwähnten Bude träge heran – abgehärtet in ihrem Geschäft, entgingen sie durch diese Abhärtung der Pest leichter als die Vorsichtigsten. »Schneller, schneller, um der Liebe Christi willen!« rief Irene. »Ich habe viel Gold; ich will euch gut belohnen; helft mir, ihn unter das nächste Dach tragen.«

»Ueberlaßt ihn uns, junge Dame; wir hatten schon ein Auge auf ihn,« sagte einer der Totengräber. »Wir wollen unsere Pflicht an ihm erfüllen, die erste und die letzte.«

»Nein – nein! berührt sein Haupt nicht – überlaßt das mir. So, ich will Euch helfen; so – nun denn – aber haltet ihn sanft!«

Unterstützt von diesen entsetzlichen Leuten trug Irene, welche ihren Verlobten nicht loslassen wollte, sondern die geliebten Augen und Lippen (obwohl beide jetzt geschlossen) zu bewachen schien, als wollte sie dadurch die Seele vom Scheiden abhalten, Adrian in ein nahe gelegenes Haus und legte ihn auf ein Bett, von dem aber Irene (die, wie das in solchen Augenblicken nur Frauen vermögen, die Geistesgegenwart und wachsame Umsicht behielt, die zu ihrer sonstigen lebhaften Reizbarkeit einen bedeutenden Gegensatz bildeten) zuerst Decken und Ueberzüge fortnehmen ließ, die vielleicht angesteckt sein mochten. Dann schickte sie die Leute nach anderen Bettstücken fort, sowie um einen Arzt zu holen, wo sie nur immer einen solchen mit Geld zu einer Pflichterfüllung bewegen könnten, welche jetzt hauptsächlich den heldenmütigen Brüderschaften überlassen blieb. Diese, wie sehr auch durch das Urteil der neueren Zeit wegen der Verbrechen einiger unwürdigen Mitglieder mißachtet, waren doch in jenen trüben Zeiten die besten, die unerschrockensten und die heiligsten Diener, welchen Gott je die Macht übertrug, den Unterdrückern zu widerstehen – die Hungrigen zu speisen – die Traurigen zu trösten, und die allein inmitten der heftigen Pest (die, gleichsam wie ein losgelassener Dämon des Abgrundes, alles zermalmt, was die Welt an Tugend und Gesetz bindet) wie durch den Schall einer Engelsposaune zu jener edelsten Ritterschaft des Kreuzes erweckt zu werden schienen – deren Glaube die Selbstverleugnung ist – deren Hoffnung über das Lazarett hinausreicht – deren Fuß, schon für die Unsterblichkeit beflügelt, mit Siegerschritten über die Gräber des Todes hinwandelt!

Während so die Liebe ihre edelste Pflicht übte, kam die Straße herab, in welcher Adrian und Irene sich endlich getroffen – singend, taumelnd und tobend die verworfene, zügellose Bande, welche ihr Quartier in dem Kloster Santa Maria de Pazzi aufgeschlagen hatte, mit ihrem Banditenhauptmann, der an jedem Arme (doch nicht mehr in Nonnenkleidern ) eine Nonne führte. »Hoch lebe die Pest!« jauchzte der Elende; »Hoch lebe die Pest!« wiederholten die tollen Zecher.

»Hoch lebe die Pest, befreie sie immer nur
Den Schurken von der Kett', die Nonne vom Schwur,
Dem Schließer bring' sie Tod, den Gefangenen geb' sie los,
Hurra, du Erdenplag', mir ist dein Segen groß!«

»Hollah!« rief der Anführer und blieb stehen; »hier Margaretha, hier ist ein hübscher Mantel für dich, mein Mädchen; Silber genug daran, deine Börse zu füllen, wenn sie je wieder leer wird, was wohl möglich ist, wenn die Pest nachläßt.«

»Nein,« sagte das Mädchen, die unter aller Verheerung der Ausschweifung noch viel Jugend und Schönheit in Gestalt und Antlitz zeigte; »nein, Guidotto, er könnte angesteckt sein.«

»Pah, Kind, Silber steckt nie an. Wirf ihn um, wirf ihn um. Ueberdies, Schicksal bleibt Schicksal, und wenn deine Stunde da ist, so gibt es noch andere Mittel, als den Gavocciolo

Mit diesen Worten ergriff er den Mantel, warf ihn barsch über ihre halbentblößten Schultern und zog sie, halb erfreut über den Putz, halb in Angst vor der Gefahr, wie zuvor weiter, während nach und nach in der qualmenden Luft und den traurigen Straßen der Gesang dieser elendesten aller Freuden verhallte.

Fünftes Kapitel.
Der Irrtum.

Drei Tage, drei verhängnisvolle Tage blieb Adrian seiner Kraft und seines Bewußtseins beraubt. Aber er war nicht von der Pest befallen, wie seine edelmütige Wärterin angenommen hatte. Es war ein heftiges, gefährliches Fieber, die Folge der großen Anstrengung, der Ruhelosigkeit und der schrecklichen Gemütsbewegung, die er erduldet.

Kein Arzt vom Fach konnte aufgefunden werden, um ihn zu pflegen, aber ein guter Mönch, vielleicht besser in der Heilkunde bewandert, als mancher, der sie zum ausschließlichen Berufsgeschäfte machte, besuchte ihn täglich. Und während der langen und häufigen Abwesenheit, wozu seine übrigen zahlreichen Berufsgeschäfte den Mönch nötigten, war immer ein Wesen da, um das Kissen zurechtzulegen, sein Aechzen zu belauschen, seinen Schlaf zu bewachen. Und selbst während dieser traurigen Dienstleistungen durchbebte, wenn im Fieberwahnsinn ihr Name, verbunden mit Ausdrücken leidenschaftlicher Zärtlichkeit, von seinen Lippen klang, ein Schauer sonderbarer Lust das Herz der Verlobten, worüber, als wäre es ein Verbrechen, sie sich selbst tadelte. Aber auch die erhabenste Liebe ist selbstsüchtig in dem Entzücken, sich geliebt zu wissen! Die verschiedenartigen Regungen, welche sich ihrer bemächtigten, wenn sie aus manchen unzusammenhängenden Fieberworten sich dunkel zusammenreimte, daß er um ihretwillen in die Stadt gekommen, dem Tode sich ausgesetzt, der Gefahr getrotzt hatte, vermögen keine Worte zu beschreiben. Und wenn sie sich dann über ihn beugte, um leidenschaftlich diese brennende Stirn zu küssen, fielen ihre Tränen dicht auf das Idol ihrer Jugend, denn die Quellen, denen sie entströmten, unergründlich und unberechenbar, waren von der Art, daß ein Leben sie nicht erschöpfen konnte. Keine Saite des menschlichen und weiblichen Herzens, die hier nicht in Anregung gebracht worden wäre: die anbetende Dankbarkeit, die demütige Verwunderung, daß sie so geliebt werde, während sie es für ein so einfaches Verdienst hielt, so zu lieben; – als ob jedes ihrer Opfer sich ganz von selbst verstände – jedes, welches für sie gebracht wurde, eine Tugend wäre, der nichts in der Welt gleich käme, die die Welt nicht vergelten könne! Und da lag er, das Opfer seiner furchtlosen Treue, hilflos – von ihr abhängig – zwischen Leben und Tod – ein Wesen, dem sie Dank, dem sie Pflege schuldig war – das auf ihren Stolz, ihren Schutz, ihr Mitleid und ihre Verehrung Anspruch hatte – ihr Retter, den sie jetzt retten sollte! Nie schien ein Gegenstand so viele tiefe Empfindungen eines Herzens in Anspruch zu nehmen: die romantische Begeisterung des Mädchens – die zärtliche Vergötterung der Braut – die wachende Fürsorge der Mutter über ihr Kind.

Und sonderbar! bei all der Aufregung während dieser einsamen Wache, wo sie kaum von seiner Seite wich, nur Nahrung zu sich nahm, damit ihre Kraft sie nicht verlasse – nicht imstande, ein Auge zu schließen – obwohl sie aus dem eben genannten Grunde gern geruht hätte, wenn der Schlummer sich auf ihren Pflegebefohlenen senkte – bei all dieser heftigen Anstrengung des Körpers und des Herzens zeigte sie eine wunderbare Stärke. Und der heilige Mann erstaunte bei jedem Besuche, wenn er die Wange noch so frisch, das Auge der Wärterin noch so glänzend sah. In ihrem Aberglauben war sie der Ansicht und fühlte sogar, daß der Himmel sie mit übernatürlicher Kraft ausgerüstet habe, um eine so heilige Aufgabe zu lösen, und in dieser Einbildung irrte sie nicht ganz: denn der Himmel begabte sie wirklich mit einer göttlichen Macht, als er in ein so sanftes Herz die ausdauernde Kraft und Stärke der Liebe pflanzte! Der Mönch hatte den Kranken noch spät in der dritten Nacht besucht und ihm ein starkes Beruhigungsmittel verordnet. »Diese Nacht,« sagte er zu Irene, »wird die Krisis eintreten; sollte er, wie ich hoffe, mit wiederkehrendem Bewußtsein und ruhigem Pulse erwachen, so ist er gerettet; wenn nicht, junge Tochter, so bereitet Euch auf das Schlimmste. Solltet Ihr aber bemerken, daß die Krankheit eine beunruhigende Wendung nimmt, so daß meine Anwesenheit erforderlich würde, so wird Euch diese Rolle belehren, wo ich, wenn Gott mich verschont, zu jeder Stunde der Nacht und des Morgens zu treffen bin.«

Der Mönch entfernte sich, und Irene trat ihre Wache wieder an.

Im Anfang war Adrians Schlaf unruhig und unterbrochen; seine Züge, seine Phantasien, seine Gebärden – alles zeugte von einem heftigen Kampfe des Geistes oder des Körpers; es schien und war vielleicht wirklich ein heftiger und zweifelhafter Kampf zwischen Leben und Tod in dem Schlafenden. Geduldig, schweigend, unter langen, tiefen Atemzügen, saß Irene am oberen Ende des Bettes. Die Lampe stand in der fernsten Ecke des Zimmers und ihr durch Vorhänge geschwächter Strahl ließ sie nur die Umrisse des Antlitzes erkennen, über welches sie wachte. In dieser schrecklichen Ungewißheit lagen stumm und erstarrt alle jene Gedanken darnieder, welche bis jetzt ihren Geist aufgeregt hatten. Sie fühlte nur jene unbeschreibliche Angst, welche nicht zu kennen nur wenige von uns das Glück haben. Diese zermalmende Last, unter der wir kaum atmen oder uns rühren können, die schrecklich drohende Lawine über uns, der wir nicht entfliehen können und unter der wir jeden Augenblick fürchten müssen, begraben und verschüttet zu werden. Das ganze Geschick des Lebens lag in der Hoffnung dieser einzigen Nacht! Gerade, als Adrian in einen tieferen, erquickenderen Schlummer zu versinken schien, unterbrachen die Glocken des Totenkarrens mit ihrem unheimlichen Geläut die auffallende Stille in den Straßen. Bald verstummten sie, bald hörte man sie wieder, je nachdem der Karren anhielt, um seine schauerliche Last aufzunehmen; nach jedem Halten kam er näher. Endlich hörte sie, wie die schweren Räder gerade unter dem Fenster hielten, und eine tiefe, schwer vernehmliche Stimme rief: »Bringt den Toten heraus!« Sie stand auf und näherte sich mit geräuschlosen Schritten der Tür, um diese zu schließen, als das dämmernde Licht auf die dunklen, vermummten Gestalten der Becchini fiel.

»Ihr habt die Tür nicht bezeichnet und auch den Leichnam nicht ausgesetzt,« sagte der eine mürrisch; »aber es ist die dritte Nacht! er ist fertig für uns.«

»Still, er schläft – fort, geschwind, es ist nicht die Pest, die ihn befallen hat.«

»Nicht die Pest?« brummte der Becchino in ärgerlichem Tone, »ich dachte, keine andere Krankheit dürfe in die Rechte des Gavocciolo eingreifen!«

»Geht, hier ist Geld; verlaßt uns!«

Der gräßliche Kärrner entfernte sich mürrisch. Der Karren fuhr weiter, man hörte wieder den Ton der Glocken, bis das entsetzliche Geläute nach und nach schwächer wurde und endlich in der Entfernung erstarb.

Die Lampe mit der Hand beschattend, schlich sich Irene an das Bett, fürchtend, der Ton und der lästige Besuch möchte den Schlummernden gestört haben. Aber sein Antlitz war noch wie von der eisernen Maske des Schlafes bedeckt. Er rührte sich nicht – kaum strömte sein Atem über seine Lippen – sie fühlte seinen Puls, als seine bleiche Hand auf der Decke lag – er schlug schwach – sie war zufrieden – sie entfernte das Licht von dem Bette, zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück, stellte das kleine Kreuz, das sie um den Hals trug, auf den Tisch und betete in der Inbrunst ihres leidenden Herzens zu ihm, der auch den Tod erlitten und der – wenn auch der Sohn des Himmels und Herr der Seraphim – doch auch in seiner irdischen Trübsal gebetet hatte, der Kelch möchte von ihm genommen werden.

Der Morgen brach an, nicht wie im Norden, langsam und dämmernd, sondern in der überraschenden Pracht, womit unter diesem Himmelsstrich der Tag auf die Erde springt – wie ein Riese aus seinem Schlafe. Ein plötzliches Lächeln – ein helles Glühen – und die Nacht war verschwunden. Adrian schlief noch immer; keine Muskel schien sich gerührt zu haben; sein Schlaf war sogar noch tiefer als zuvor; das Schweigen bedrückte die Luft. Jetzt wurde wegen dieser totenähnlichen Erstarrung die einsame Pflegerin unruhig und erschreckt. Die Zeit verging – es wurde aus dem Morgen Mittag – noch immer weder ein Laut noch eine Bewegung. Die Sonne stand mitten am Himmel – der Mönch kam nicht. Und als sie wieder Adrians Puls befühlte, da merkte sie keine Bewegung desselben – sie blickte ihn an, unruhig und bestürzt; gewiß konnte ein lebendes Wesen nicht so ruhig und so blaß sein. »Ist es wirklich Schlaf, könnte es nicht – –« Eiskalt wandte sie sich ab; ihre Zunge klebte an den Lippen. Warum zögerte der Pater? – sie wollte ihn aufsuchen – sie wollte das Schlimmste erfahren – sie konnte es nicht länger ertragen. Sie sah die Rolle ein, welche ihr der Mönch zurückgelassen. »Von Sonnenaufgang an,« sagte diese, »werde ich im Dominikanerkloster sein. Der Tod hat viele der Brüder hinweggerafft.« Das Kloster lag etwas entfernt, aber sie kannte den Ort, und die Furcht sollte ihre Schritte beflügeln. Sie blickte den Schläfer gedankenvoll an und stürzte aus dem Hause. »Ich werde dich gleich wiedersehen,« lispelte sie. Ach! welche Hoffnung kann weiter, als bis zum nächsten Augenblick rechnen? Und wer kann mit Bestimmtheit auf den Besitz des » Wieder« zählen?

Wenige Minuten, nachdem Irene das Zimmer verlassen, öffnete Adrian mit einem langen Seufzer die Augen – ein ganz anderer, verwandelter Mensch; das Fieber war vorüber, der wieder auflebende Puls schlug zwar langsam, aber ruhig. Sein Geist war wieder Herr über seinen Körper, und obwohl er sich noch schwach und kraftlos fühlte, war doch die Gefahr vorüber, Leben und Bewußtsein zurückgekehrt.

»Ich habe lange geschlafen,« murmelte er, »und o, welche Träume! Ich glaubte Irene zu sehen, aber ich konnte nicht zu ihr sprechen, und als ich sie zu umfassen mich bemühte, veränderten sich ihre Züge, ihre Gestalt vergrößerte sich, und ich war in den Krallen der schändlichen Totengräber. Es ist spät – die Sonne steht hoch – ich muß aufstehen und mich auf den Weg machen. Irene ist in der Lombardei. Nein, nein; das war eine Lüge, eine gottlose Lüge; sie ist in Florenz, ich muß meine Nachforschungen wieder anfangen.«

Als er sich an diese Pflicht erinnerte, stand er vom Bette auf – er erstaunte selbst über seine Kraftlosigkeit; anfangs konnte er nicht stehen, ohne sich an der Wand zu halten; nach und nach gewann er jedoch so weit wieder den Gebrauch seiner Glieder, daß er, obwohl mühsam und mit Anstrengung, gehen konnte. Wütender Hunger nagte an ihm; er fand einige spärliche und leichte Nahrungsmittel vor, die er gierig verschlang. Und beinahe ebenso begierig wusch er seinen Körper und sein entstelltes Gesicht mit dem in der Nähe stehenden Wasser. Jetzt fühlte er sich erfrischt und gestärkt und fing an, seine Kleider anzuziehen, die er auf einem Haufen neben seinem Bette fand. Er blickte verwundert und mit einer Art Mitleid auf seine abgemagerten Hände und Glieder und kam jetzt auf den Gedanken, daß er bewußtlos eine schwere Krankheit überstanden haben müsse. »Und zwar allein,« dachte er, »niemand in der Nähe, um mich zu warten! Die Natur meine einzige Pflegerin! Aber ach! ach! wie lange Zeit mag hier unnütz verflossen sein, und meine angebetete Irene – schnell, schnell, ich will keinen Augenblick mehr verlieren.«

Bald befand er sich auf der offenen Straße; die Luft belebte ihn, und an diesem Morgen hatte sich, seit Wochen zum erstenmale, ein wohltuendes, sanftes Lüftchen erhoben. Er ging in seiner Schwäche sehr langsam weiter, bis er auf einen großen Platz kam, von dessen Mitte aus man eines der Haupttore von Florenz sowie die Feigenbäume und Olivengärten außerhalb desselben sehen konnte. Da kam ein hochgewachsener Pilger vom Tore her auf ihn zu; sein Hut war zurückgeschlagen und ließ ein majestätisches, aber kummervolles Antlitz sehen, ein Antlitz, in dessen erhabenen Zügen, hoher Stirn und stolzem, unerschrockenem Blick, überschattet von einem Ausdruck mehr ernster als sanfter Melancholie, die Natur den Stempel der Hoheit, das Schicksal den des Unglücks ausgeprägt zu haben schien. Und als die beiden Männer, die einzigen Wanderer in der Straße, sich jetzt auf dem schweigenden, traurigen Platze begegneten, blieb Adrian plötzlich stehen und sagte mit überraschter, zweifelnder Stimme: »Träume ich noch immer, oder sehe ich Rienzi vor mir?«

Der Pilger blieb, als er den Namen hörte, ebenfalls stehen und sagte, nachdem er lange in das eingefallene Gesicht des jungen Signor geblickt hatte: »Ich bin derjenige, welcher Rienzi war! und in Euch, blasser Schatten, begegne ich in diesem Grabe Italiens dem glänzenden, stolzen Colonna? Ach, junger Freund,« setzte er mit milderer, freundlicherer Stimme hinzu, »hat die Pest die Zierde des römischen Adels nicht verschont? Komm, ich, der grausame und harte Tribun, will dein Wärter sein; derjenige, welcher mein Bruder hätte werden sollen, hat auch Anspruch auf meine brüderliche Fürsorge.«

Mit diesen Worten schlang er den Arm zärtlich um Adrian, und der junge Edelmann, von seiner Teilnahme gerührt und von der Ueberraschung ergriffen, lehnte sich schweigend an Rienzis Brust.

»Armer Jüngling,« begann der Tribun wieder, denn, da er mehr gestürzt, als abgesetzt worden war, mag er auch jetzt noch so genannt werden; »ich habe die Jugend immer geliebt (mein Bruder starb jung), und Euch mehr als irgend einen. Welches unglückliche Verhängnis brachte dich hierher?«

»Irene!« versetzte Adrian stammelnd.

»Ist es so, wirklich? Bist du ein Colonna und achtest noch die Gefallenen? Dieselbe Pflicht hat auch mich in die Stadt des Todes gerufen. Von dem fernsten Süden – über die Berge der Räuber – durch die festen Plätze meiner Feinde – durch Städte, in welchen der Herold vor meinen Ohren den auf meinen Kopf gesetzten Preis verkündete – bin ich zu Fuß und allein hierher gekommen, sicher unter den Schwingen des Allmächtigen. Junger Mann, du hättest diese Aufgabe einem überlassen sollen, über dessen Leben ein Zauber schwebt und den Himmel und Erde noch für ein fest bestimmtes Ziel aufbewahren!«

Der Tribun sagte dies mit einer tiefen, aus dem Innern kommenden Stimme, und aus seinem erhobenen Blick und seiner feierlichen Stirn konnte man beurteilen, wie sehr sein Unglück seinen Fanatismus gesteigert und seine sanguinischen Hoffnungen vermehrt hatte.

»Aber,« fragte Adrian, indem er sich sanft von Rienzis Arm losmachte, »du weißt also, wo Irene zu finden ist; laß uns zusammen hingehen. Verliere keinen Augenblick mit Reden; die Zeit ist von unschätzbarem Wert, und ein Augenblick in dieser Stadt ist oft nur die Brücke zur Ewigkeit.«

»Recht so,« sagte Rienzi, wieder für seinen Zweck erwachend. »Aber fürchte nicht; ich habe geträumt, daß ich sie retten werde, die Perle und den Liebling meines Hauses. Fürchte nichts, ich habe keine Furcht.«

»Wißt Ihr, wo Ihr sie zu suchen habt?« sagte Adrian ungeduldig; »das Kloster beherbergt jetzt ganz andere Gäste.«

»Ha! so träumte ich!«

»Sprecht jetzt nicht von Träumen,« sagte der Liebende; »wenn Ihr aber keinen anderen Leitfaden habt, so wollen wir uns sofort trennen, um sie aufzusuchen. Ich will diese Straße übernehmen und Ihr nehmt die andere, und bei Sonnenuntergang treffen wir wieder hier zusammen.«

»Vorschneller Mann!« sagte der Tribun sehr feierlich; »spotte nicht über Gesichte, durch welche der Himmel zu seinen Auserwählten spricht. Du suchst Rat bei deiner menschlichen Klugheit; ich, weniger anmaßend, folge der Hand der geheimnisvollen Vorsehung, die sich gerade jetzt wie eine Feuersäule durch die Wüste des Schreckens vor meinen Blicken hinbewegt. Ja, treffen wir uns hier bei Sonnenuntergang und sehen wir dann, welcher Führer der sicherere ist. Wenn mir mein Traum die Wahrheit sagt, so finde ich meine Schwester am Leben, ehe die Sonne hinter jenem Hügel untertaucht, bei einer dem heiligen Markus geweihten Kirche.«

Der tiefe Ernst, mit welchem Rienzi sprach, flößte Adrian eine Hoffnung ein, die doch seine Vernunft nicht anerkennen wollte. Er sah ihn mit jenem stolzen und stattlichen Schritt dahingehen, dem seine fliegenden Gewänder eine noch erhabenere Würde verliehen, und bog dann in die Straße rechter Hand ein. Noch hatte er sie nicht zur Hälfte durchschritten, als er sich beim Mantel gezogen fühlte. Er wandte sich um und sah die unförmliche Larve eines Becchino.

»Ich fürchtete, es wäre Euch geglückt und ein anderer habe mich um meinen Dienst betrogen,« sagte der Totengräber, »als ich sah, daß Ihr nicht in den Palast des alten Fürsten zurückgekehrt wart. Ihr könnt mich, wie ich sehe, nicht von meinen übrigen Genossen unterscheiden, aber ich bin derjenige, dem Ihr auftruget, zu forschen nach – –«

»Irene!«

»Ja, Irene di Gabrini; Ihr versprachet eine ansehnliche Belohnung.«

»Die Ihr auch erhalten sollt.«

»Folgt mir.«

Der Becchino ging voran und erreichte bald ein großes Haus. Er pochte zweimal an des Pförtners Eingang, und eine alte Frau öffnete sorgfältig die Tür. »Fürchtet nichts, gute Frau,« sagte der Totengräber; »dies ist der junge Herr, von dem ich Euch sprach. Ihr sagtet, Ihr hättet zwei Damen im Palaste, die allein alle Bewohner überlebt hätten; Die eine heiße Bianca di Medici und – wie hieß die andere?«

»Irene di Gabrini, eine römische Dame. Aber ich sagte dir, daß sie, erschreckt durch die hier befindlichen Toten, das Haus schon vor vier Tagen verlassen habe.«

»Ganz richtig, und war etwas Auffallendes in der Kleidung der Signora di Gabrini?«

»Ja, ich habe es dir ja gesagt: ein blauer, mit Silber durchwirkter Mantel, wie ich ihn noch selten sah.«

»Waren Sterne, silberne Sterne darin eingewirkt,« rief Adrian, »mit einer Sonne in der Mitte?«

»Das stimmt!«

»Ach! ach! das Familienwappen des Tribunen! Ich erinnere mich, wie ich den Mantel lobte, als sie ihn das erstemal trug – an dem Tage, an dem wir uns verlobten!« Und auf einmal erriet der Liebende, warum Irene so sorgfältig ein Kleidungsstück beibehalten hatte, das ihr durch die daran sich knüpfenden Erinnerungen teuer geworden war.

»Weiter wißt Ihr nichts von Euren Hausleuten?«

»Nichts.«

»Und das ist alles, was Ihr in Erfahrung gebracht, Bursche?« rief Adrian.

»Geduld. Ich muß Euch von Beweis zu Beweis, von Glied zu Glied führen, um meine Belohnung zu verdienen. Folgt mir, Signor!«

Der Becchino ging nun durch mehrere Gäßchen und Straßen und kam dann an ein Haus von minder prächtiger Form und Bauart. Er pochte wieder dreimal an die Tür des Sprechzimmers, und diesmal kam ein verwitterter, lahmer, alter Mann heraus, den der Tod aus Verachtung nicht abzurufen schien.

»Signor Astuccio,« sagte der Becchino, »verzeih mir, aber ich sagte dir, ich würde dich einmal bemühen. Dies ist der Herr, der zu wissen verlangt, was nicht zu wissen oft am besten ist – aber das geht mich nichts an. Kam eine Dame – jung und schön – mit schwarzen Haaren und von schlankem Wuchs, mit den ersten Anzeichen der Pest behaftet, vor drei Tagen in dieses Haus?«

»Ja, du weißt das selbst am besten; und noch besser weißt du, daß sie es vor zwei Tagen verlassen hat; es ging schnell mit ihr, schneller als mit den meisten!«

»Trug sie etwas Auffallendes an sich?«

»Ja, Plagegeist; einen blauen Mantel mit Silbersternen.«

»Hast du irgend welche Vermutungen hinsichtlich ihrer früheren Verhältnisse?«

»Nein, außer daß sie viel von dem Nonnenkloster Santa Maria de' Pazzi, von Banditen und Entheiligung phantasierte.«

»Seid Ihr zufrieden gestellt, Signor?« fragte der Totengräber, indem er sich mit triumphierender Miene gegen Adrian wandte. »Aber, nein, du sollst noch mehr erfahren, wenn du den Mut hast. Willst du mir folgen?«

»Ich verstehe dich; geh voran. Mut! was habe ich jetzt noch auf der Erde zu fürchten?«

Der Totengräber murmelte vor sich hin: »Ja, nur mich machen lassen. Ich habe einen Kopf, der etwas wert ist; ich verlange von keinem Herrn, daß er mir auf mein Wort glaubt; er soll sich mit eigenen Augen überzeugen, was meine Mühe wert ist,« und damit ging er durch eines der Tore ein Endchen vor die Stadt. Hier saßen unter einem Schuppen sechs seiner gespensterartigen, unheimlichen Genossen mit Spaten und Hauen zu ihren Füßen.

Der Führer wandte sich jetzt zu Adrian um, dessen Antlitz ruhig und verzweifelt entschlossen aussah.

»Schöner Signor,« sagte er in einem Anflug zögernden Mitleids, »wolltest du wirklich deine Augen und dein Herz überzeugen? – Der Anblick kann dich erschrecken, die Ansteckung dich töten – wenn nicht, wie es mir freilich scheint, der Tod sein ›Mein‹ dir schon aufgedrückt hat.«

»Unglücks- und Jammerrabe!« antwortete Adrian, »siehst du nicht, daß ich nur vor deiner Stimme und deinem Anblick zurückschaudere! Zeige mir, die ich suche, lebendig oder tot!«

»So will ich sie Euch denn zeigen,« sagte der Becchino, »so wie sie mir vor zwei Nächten übergeben wurde. Umriß und Züge mögen schon etwas verwischt sein, denn die Pest führt einen raschen Besen; aber ich habe das an ihr gelassen, woran Ihr erkennen könnt, daß der Becchino kein Lügner ist. Bringt Fackeln her, Kameraden, und macht die Tür auf! Starrt mich nicht an; es ist eine Grille des Herrn und er bezahlt sie gut.«

Sie wandten sich rechts, und während Adrian mechanisch seinen Führern folgte, erwartete sein Auge ein Schauspiel, dessen gräßliche Philosophie wie mit einem Rade allen Stolz eines Sterblichen zermalmt – das Schauspiel der Gruft, worin die Erde alles verbirgt, was auf Erden blühte, genoß und frohlockte.

Die Becchini erhoben ein schweres Gatter, senkten ihre Fackeln (was kaum nötig war, denn durch die Oeffnung strömte mit gräßlichem Glanz das helle Sonnenlicht), und winkten Adrian, näher zu treten. Er stand auf dem Gipfel vor dem Abgrunde und blickte hinab.

*

Es war ein großer, tiefer, kreisförmiger Raum, wie der Boden eines leeren Brunnens. In rings in die Erdwände geschnittenen Nischen lagen, wie es sich gehört, in Särgen die frühesten Opfer der Pest, welche dorthin kamen, als der Markt der Becchini noch nicht überfüllt war, als noch Priester den Toten folgten und Freunde sie betrauerten. Aber auf dem Boden unten, da war Abscheu und Schrecken!

Auf Haufen zusammengepreßt – die einen nackt, die anderen in schon schwarzen und verfaulten Sterbekleidern – lagen die späteren Gäste, die ohne zu beichten, ohne den Segen empfangen zu haben, gestorben waren! Das Licht der Fackeln und der Sonne strömte hell und rot über die Verwesung in allen ihren Stufen, von der blaßblauen Farbe und dem aufgeschwollenen Körper bis zu der feuchten, nicht zu unterscheidenden Masse oder den abgeschälten Knochen, woran in Streifen und Fetzen noch das schwarze, zerrissene Fleisch hing. Bei vielen war das Gesicht fast unverändert geblieben, während der übrige Körper nur Gerippe war: das lange Haar, das menschliche Antlitz auf dem scheußlichen Skelett. Da lag das Kind noch an der Brust der Mutter, dort der Liebende quer über den zarten Gliedern der Angebeteten! Die Ratten (und es kamen unzählige zu diesem Fest) fuhren nur gestört, nicht verscheucht von ihrem abscheulichen Mahle auf, als das Licht auf sie hinabfiel und Tausende derselben lagen starr und tot umher, vergiftet von ihrem Fraß! Da hatte auch der rohe Spott der Totengräber, die des Goldes und der Edelsteine beraubten Zeichen früherer hoher Stellung – den zerbrochenen Stab des Richters, den Feldherrnstab, die priesterliche Mütze – hinabgeworfen! Die unreinen, schwarzblauen Dunstgebilde setzten sich, wie das Fleisch selbst, schwammig und faul an den Wänden an und das Wer das fürchterlich getreue Abbild des Innern des Grabes gesehen hat, das einen Teil der öffentlichen Schaustellungen in Florenz ausmacht, wird in demselben die Quelle der Schilderung im Text erkennen.

*

Doch wer wollte die unaussprechlichen, undenkbaren Schauer beschreiben, die in dem Palast herrschten, wo der große König die Gefangenen empfing, welche das Schwert der Pest bezwungen hatte?

Aber von der ganzen zahlreichen Versammlung – so reich an Schönheit und hoher Geburt, an Stärke der Jugend und Ehren des Alters, an Mut der Tapferen und Weisheit der Gelehrten, an Witz der Spötter und Frömmigkeit der Gläubigen – zog nur eine Gestalt Adrians Auge auf sich. Abgesondert von den übrigen, ein neuer Gast – lag, während die langen, schwarzen Locken Arme und Brust übergossen – eine weibliche Gestalt, das Antlitz halb auf die Seite gekehrt, so daß selbst die Mutter an dem wenigen, was man sehen konnte, sie nicht erkannt hätte – aber eingehüllt in jenen unglücklichen Mantel, auf dem, obwohl schwarz und beschmutzt, noch die heraldischen Sterne sichtbar waren, das Abzeichen derjenigen, welche auf den Namen des stolzen Tribunen von Rom Anspruch hatten. Adrian sah nichts mehr – er fiel rückwärts in die Arme der Totengräber; als er wieder zu sich kam, befand er sich noch außerhalb der Tore von Florenz – auf einem grünen Hügel liegend – sein Führer stand neben ihm und hielt sein Roß am Zügel, das geduldig das stehengebliebene Gras abweidete. Die anderen Genossen der Haue hatten ihren Sitz unter dem Schuppen wieder eingenommen.

»So kommt Ihr wieder zum Leben! Ach! ich dachte mir, daß es nur das Ausströmen der Pestluft gewesen sei; wenige ertragen es so wie wir. Und da Euer Nachforschen jetzt vorüber ist, holte ich, da ich meinte, Ihr würdet Florenz jetzt verlassen, wenn Ihr noch einigen Verstand behieltet, Euer gutes Pferd. Ich habe es gefüttert, seit Ihr den Palast verließet. Ich glaubte in der Tat, es sei ein Nebenverdienst für mich, aber es gibt deren gleich gute genug. Kommt, junger Herr, steigt auf. Ich fühle Mitleid mit Euch, ich weiß nicht, warum, außer weil Ihr der einzige seid, den ich seit vier Wochen traf, welcher sich mehr um jemand anders, als um sich selbst, zu kümmern schien. Ich hoffe, jetzt seid Ihr zufrieden gestellt, daß ich in Eurem Dienste einigen Verstand zeigte, he! – und wie ich mein Versprechen gehalten, werdet auch Ihr das Eurige halten.«

»Freund,« sagte Adrian, »hier ist Gold genug, um dich reich zu machen, hier ist auch ein Juwel, das, wie dir die Kaufleute sagen können, Fürsten zu kaufen wetteifern werden.

Trotz deines Gewerbes scheinst du mir ehrlich, sonst hättest du mich längst ermordet und beraubt. Erweise mir noch einen Gefallen.«

»Bei meiner armen Mutter Seele, ja.«

»Nimm jenen – jenen Leichnam von dem schrecklichen Orte fort. Begrabe ihn an einer ruhigen, fernen Stelle – abseits – allein! Du versprichst – du beschwörst es mir? – es ist gut! Und jetzt hilf mir auf mein Pferd. Lebe wohl, Italien, und wenn ich diesem Schlage nicht unterliege, so möge ich sterben, wie es der Ehre und Verzweiflung geziemt – Trompeten und Fahnen um mich – auf einem gegen einen würdigen Feind tapfer behaupteten Schlachtfelde! Außer einem ritterlichen Tode habe ich in diesem Leben nichts mehr zu wünschen!«


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