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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Mord schleicht wie ein Gespenst nach seinem Opfer.

Der Leser wird ohne Zweifel die vollendete Kunst bemerkt haben, mit welcher die Giftmischerin sich bisher ihrer Beute genähert hatte. Der von weitem begonnene und mit sorgfältiger Verstohlenheit ausgeführte Plan trotzte jeder Möglichkeit der Entdeckung, gegen welche der Scharfsinn geübter Schurkerei schützen konnte. Selbst wenn die tödtlichen Kräuter die Todesart, welche sie veranlaßten, verriethen, wenn durch ein unvermuthetes Geheimniß in der Wissenschaft der Chemie die Anwesenheit jener vegetabilischen Mittel, die bisher jeder Untersuchung gespottet hatten, durch die Prüfung der geschicktesten Aerzte deutlich dargethan werden sollte: so konnte doch aller Wahrscheinlichkeit nach kein Verdacht auf die Urheberin des Todes fallen. Die Arzneien waren nie der Madame Dalibard überbracht, nie durch sie gereicht worden; nichts, was das Opfer je genossen, konnte auf die Tante eine Spur lenken. Die hilflose Lage einer Gebrechlichen, die Lucretia angenommen hatte, verbannte jeden Gedanken an ihre Bewegungsfähigkeit. Nur in der Todtenstille der Nacht, wenn, wie sie glaubte, jedes menschliche Auge, das sie beobachten konnte, unter'm Siegel des Schlafes lag, und auch dann nur in jener dunkeln Hülle, die selbst ein Theil der Finsterniß zu seyn schien, so daß sie selbst bei einem Lichtstrahl, der etwa durch ein Fenster drang, nicht leicht zu unterscheiden war, nur so schlich sie zu dem Gemach und goß die farb- und geschmacklose Flüssigkeit in den Morgentrank, welcher Stärkung und Genesung bringen sollte. Das berühmte neapolitanische Gift war völlig geschmack- und farblos. [Im englischen Original wird in der betreffenden Anmerkung dieses Gift als ›aqua di Tafania‹ bezeichnet. – D.Hrsg.] Gesetzt auch, daß dieser Trank unberührt blieb – daß er vom Arzt untersucht – daß die unselige Beimischung entdeckt wurde: – doch konnte sich der Verdacht eher nach jeder andern Seite wenden, als nach der verkrüppelten und hilflosen Verwandten, die nicht ohne Hilfe aus dem Bett aufzustehen vermochte.

Und bisher war das Gift so allmälig beigebracht worden, und so gut hatte dasselbe den stufenweisen Fortgang einer natürlichen Krankheit nachgeahmt, daß auch in dem argwöhnischsten Arzte nicht wohl ein Verdacht erwachsen konnte. Die moralische Ueberzeugung hätte denselben zurückgewiesen. Helene Mainwaring, nur von Verwandten und Liebenden umgeben, konnte doch unmöglich bei irgend Jemand den Gedanken erwecken, daß sie zum Opfer einer Rache erlesen sey, für welche sich gar keine Ursache annehmen ließ.

Jetzt aber mußte das zögernde Verfahren aufgegeben werden, und die geringelte Schlange mußte plötzlich auf ihre Beute springen. Es ward schwierig, wie Varney bemerkt hatte, einem plötzlichen Tode, den keine deutlichen Symptome vorbereitet hatten, den Anschein natürlicher Krankheit zu geben. Aber diese Schwierigkeit hatte man vorausbedacht; in den Chancen dieses verzweifelten Spiels war die Anwendung eines rascheren und plötzlicheren Streichs, als man erst beabsichtigt, von so kaltblütigen und entschlossenen Rechnern natürlich nicht übersehen worden. Von unsern tödtlichen Krankheiten ist diejenige, die uns, Jugend wie Alter, am wenigsten ohne Voranzeichen befällt, die schreckliche angina pectoris. Der Arzt, der uns täglich besucht, bemerkt oft ihre Ursachen nicht, ahnt oft ihre Nähe nicht. Die Nachahmung oder künstliche Erzeugung dieser Krankheit befand sich unter jenen Recepten, die wir als Meisterstücke der teuflischen Kunst Dalibard's bezeichnet haben. Die Ingredienzien dazu waren nunmehr in Bereitschaft. Es war dafür gesorgt, daß das Ansehen der Muskelsubstanz des Herzens, welche durch vorhergehende Gifte angegriffen war, den untersuchenden Arzt nur auf jene Krankheit schließen lassen konnte. Und obwohl dieselbe mehr in mittlern Jahren als in der Jugend, mehr bei Männern als bei Frauen vorkommt, so sind doch Fälle genug vorhanden, daß Personen von nervösem Temperament davon befallen wurden – gleichviel von welchem Alter oder Geschlecht – um die Todtenschau auf »natürlichen Tod« erkennen zu lassen.

Obwohl Lucretia zur vollendeten Teufelin geworden, obwohl ihre Entschlüsse durch die Entdeckung ihres Sohnes bestärkt und ihre Ungeduld, ihm die verwirkte Erbschaft zu geben, gesteigert war, so scheute sie sich heute doch, Helenens Gesicht zu erblicken. Unter dem Vorwand von Unwohlseyn blieb sie auf ihrem Zimmer, und ließ nur Varney vor, der sich von Zeit zu Zeit mit schleichendem Schritt und eingefallenem Gesicht zu ihr stahl, um ihren oder seinen eigenen Muth aufrecht zu erhalten. Jedesmal, wenn er eintrat, fand er Lucretia mit Walter Ardworths offenem Brief in der Hand; und sie wandte sich stets mit einer unnatürlichen Aufregung, die fast wie Geistesverwirrung erschien, von dem düstern und entsetzlichen Gegenstande, welchen er berührte, zu Gedanken an Reichthum, Macht, Triumph und freudigen Weissagungen hinsichtlich des Ruhmes, den ihr Sohn erwerben würde. Er blickte nur auf die Schwärze des Abgrunds und schauderte; ihr Traum übersprang den Abgrund und lächelte über die Nebelpaläste, die ihre Phantasie jenseits baute.

Nicht mißvergnügt darüber, daß sie sich diesen Tag ihren eigenen Gedanken überlassen konnte, brachte Helene die Stunden bis zur Nacht allein zu. Und was waren es für Gedanken? Wie in einigen natürlichen Krankheiten die Einbildungskraft einen höhern Flug nimmt, oder selbst die Vernunft eine lichtere Klarheit gewinnt, so mochte sich vielleicht die Wirkung der tödtlichen Kräuter auf die zartern Organe des Gehirns äußern: bei der vollkommenen Einsamkeit, in welcher der größere Theil des Tages verging, nahmen Helenens Träumereien einen erhabeneren Charakter an, als jemals zuvor. Selbst ihre Zärtlichkeit für Percival erhob sich weit über das Gefühl, so rein und edel es auch stets gewesen, mit welchem sein Bild sie bisher erfreut hatte; ihre Liebe wurde unaussprechlich feierlich, sie hörte gänzlich und plötzlich auf, sich mit irdischen Aussichten zu vermischen. In einer Art Entzückung oder Traumerscheinung glaubte sie seine Zukunft enthüllt zu sehen; sie sah ihn in seinem thätigen Mannesalter – und als schwachen Greis; sie beugte sich über sein Sterbelager und hörte das Geläut zu seinem Begräbniß. Aber auch diesen düstern Traumbildern mischte sich kein Schmerz bei. Sie sah sich selber, bei ihm lebend, obwohl aus dem Leben geschieden; nicht als eine Todte, sondern wie eine, die der Tod nicht erreichen kann; – sie umschwebte ihn, flüsternd, tröstend, veredelnd, erhebend, wie wenn sie der unauflöslichen Vereinigung entgegenharrte.

Da schien auf Augenblicke der Genius in ihr, welcher sich nie hatte aussprechen und bethätigen können, mit ihr zu verkehren, wie ein anderes Wesen, und durchdrang ihre Seele mit einer Sprache, die nicht aus Worten, sondern aus wortlosen Melodieen bestand. Und auf dieser Musik, wie auf dem, was die Deutschen so schön die Tonleiter nennen, schien sie Stufe um Stufe emporgetragen zu werden, bis, gleich einer gewaltigen Landschaft unter einer Berghöhe, die Schöpfung ausgebreitet unter ihr lag und sie die Sphäre nun erkannte, welche der Genius zuvor nicht gefunden hatte. Es war in der That, wie wenn eine Art von geistigem Magnetismus in der Atmosphäre jenes verborgene Leben ins Leben riefe, die schlummernde Welt beseelend, die uns Mesmers Schüler in einer begabten Somnambule bemerken lassen. Eine wunderbare Poesie fluthete über das Universum, ringsum, oben, unten; und ihr war, als wäre sie von dieser Poesie nicht eine Stimme, sondern ein Theil. Es war, wie wenn am heutigen Tage jene besonderen Fähigkeiten, die bei der Unreife ihrer Jugend und Erfahrung nur unbestimmt geflattert hatten, plötzlich befreit wären, wie wenn sie, für einen Tag, auf Erden erkennen und fühlen könnte, was jene Fähigkeiten, die Erben des Himmels, andeuten und vorausverkündigen; – ihre Vereinigung von geistiger Fähigkeit und Liebe, zart mit der Liebe des Seraph, mächtig mit der Erkenntniß des Cherub – so rein und doch so köstlich in ihrer unaussprechlichen Wonne – so voll Hoffnung, daß aller Schmerz besiegt ward – so stark im Gefühle der Willenskraft, daß die Falschheit des nicht existirenden Dinges, Tod genannt, wie durch eine Offenbarung klar wurde!

Allmälig, während die Nacht auf die Erde sank, hörte diese Entzückung, wenn man es so nennen darf, auf, und es folgte ein Gefühl der Erschöpfung, und darauf eine unbeschreibliche Melancholie. Als sie aus dem Gemach gehen wollte, wo Percival sie verlassen und in welchem sie den größten Theil des Tages zugebracht, um zur Ruhe zu gehen, blieb sie unwillkürlich stehen; kaum wissend, was sie that, zog sie den Vorhang vom Fenster und blickte lange und sehnsüchtig hinab auf die Umgebung. Der Regen hatte aufgehört – die Wolken verschwanden am Himmel. Der Garten und der Hain weiter drüben waren blaß und in unbestimmten Umrissen im ruhigen Sternenlicht zu sehen. Ihr Blick ruhte trübsinnig auf der Terrasse, wo sie so oft mit ihrem jungen Geliebten saß; aber sie wußte nicht, warum sie trübsinnig war. Indem sie sich darauf umwandte, ruhte ihr Blick zögernd auf dem kleinen Gemach, und sie betrachtete, als wollte sie es nie wieder vergessen, jedes Geräth. Langsam ging sie endlich hinweg, und während sie im Gehen immer noch zögerte, schien sie jede Stelle, die ihr Fuß betrat, ihrem Gedächtniß tief einprägen zu wollen. So glitt sie den Corridor entlang; als sie an ihrer Tante Zimmer vorüber kam, blieb sie stehen und klopfte leise; – eine hastige und überraschte Stimme hieß sie eintreten. Mit ihrem süßen, schmeichelnden Blicke trat sie ein, und ergriff Lucretiens Hand, welche vor dem Griff zurückbebte. Indem sie sich über jene harte Stirn beugte, sagte sie einfach, aber mit einer Stimme, die wie ein Befehl erschien, in Lucretiens Ohr: »Lassen Sie mich Sie heute Abend küssen!« und ihre Lippen preßten sich auf jene Stirn. Die Mörderin schauderte und schloß ihre Augen; als sie sie öffnete, war der Engel gegangen.

Die Nacht rückte weiter und weiter vor bis zu jenen Stunden, von deren erster an wir den Morgen rechnen, obwohl dann noch tiefe Nacht herrscht. Mondstrahl und Sternenstrahl kamen durch die Fenster, schüchtern und feenartig, wie in jener Nacht, als die Mörderin jung und ohne Verbrechen war – der That, wenn auch nicht dem Gedanken nach; – wie in jener Nacht, als sie nach dem Arzneibuche die Stunden ausrechnete, welche ein menschliches Leben noch zwischen ihrer Leidenschaft und seinem Ende weilen konnte. Längs der Treppen, durch die Halle, zogen die Armeen des Lichts – geräuschlos, und still und klar, wie die Urtheile Gottes inmitten der Finsterniß und des Schattens menschlicher Schicksale. Nur in Einem Zimmer verboten die dicht zusammengezogenen Vorhänge jedem Strahle den Eintritt, außer einem einzigen; und dieser Strahl fiel direkt herein wie der Lichtstrom aus einer Laterne, wie der von einem Auge zurückgeworfene Strahl: – wie ein Auge schien er wachend und fest durch das Dunkel: er schoß längs den Dielen hin – und fiel am Fuße des Bettes nieder.

Plötzlich drang durch die tiefe Stille ein seltsamer und schrecklicher Ton – es war das Heulen eines Hundes! Helene fuhr aus ihrem Schlaf empor. Percival's Hund war ihr in ihr Zimmer gefolgt, hatte sich, dankbar für ihre Freundlichkeit, am Fuß ihres Bettes niedergelegt. Jetzt war er auf dem Kissen, sie fühlte sein Herz gegen ihre Hand schlagen; er zitterte; sein Haar berstete sich auf, und das Geheul verwandelte sich in ein gellendes Gebell des Schreckens und Zornes. Unruhig sah sie sich um, rasch zwischen ihr und dem Strahl, der durch die Spalte drang, schwebte ein gestaltloses, dunkles Etwas vorüber, und war verschwunden! so ununterscheidbar, so ohne Umrisse, daß es keine Aehnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt hatte – einer Wolke, einem Gedanken, einer Ahnung gleich, dunkelte es auf und verschwand.

Das Mädchen flüsterte ein Gebet; und der nicht mehr verdunkelte Strahl schien mit melancholischem Lichte auf ihr zu ruhen. Der Hund leckte ihr Gesicht, und indem er, wie zu seiner Erleichterung, einen tiefen Seufzer ausstieß, legte er sich wieder zum Schlaf zurecht. Sie lauschte, aber alles war still – sie schaute umher, aber nichts als der schmale, ruhigfeste Strahl war sichtbar; ihre Furcht schwand – sie hielt das, was sie gesehen, nur für eine Täuschung des Zustandes zwischen Schlaf und Wachen; und mit dem Muthe und dem Vertrauen der Unschuld schlossen sich ihre Augen, um zu träumen, – vielleicht von Glückseligkeit und Liebe!


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