Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von diesem Tage an hatte Percival freien Zutritt im Hause der Madame Dalibard. Die kleine Erzählung der mit seinem ersten Begegnen Helenens verknüpften Umstände, die theils Percival, theils später Helena mittheilte,ward mit seltener Huld von Lucretia aufgenommen. Helena gab ihren Bericht erröthend und stammelte Entschuldigungen, daß sie nicht eher einen Zufall gemeldet, der unnöthigerweise vielleicht ihre in so zarten Gesundheitsumständen befindliche Tante beunruhigen konnte. Die Verwandtschaft, nicht nur zwischen Lucretia und Percival, sondern auch zwischen Percival und Helena, wurde erörtert und Madame Dalibard sprach sogar weitläufiger darüber, als über einen natürlichen Grund, um die ungezwungene Vertraulichkeit, die sogleich zwischen den beiden jungen Personen entstand, zu gestatten. Sie erlaubte Percival täglich zu kommen, stundenlang zu bleiben, ihre einfachen Mahlzeiten zu theilen, mit Helene allein im Garten zu wandeln, ihr die losgegangenen Blumen aufbinden zu helfen und bei ihr in der alten Epheulaube zu sitzen, sobald sie ihre Verrichtungen vollendet hatte. Sie stellte sich, als betrachtete sie Beide wie Kinder und überließ sie der glücklichen Vertraulichkeit, welche nur die Kindheit heiligt und mit welcher verglichen die Neigung reiferer Jahre gröber und kälter erscheint.
Während sie vertrauter wurden, traten die Verschiedenheiten und Aehnlichkeiten ihrer Charaktere hervor und nichts Anmuthigeres als die Harmonie, in welche selbst die Gegensätze verschmolzen. Ihr Schutzgeist konnte nur weilen und lächeln. Wie Blumen in einem gepflegten Parterre einander heben, bald ihre Farben gegenseitig mildernd, bald erhöhend, bis sich alle im Einklang zu einer Schönheit verschmelzen, so schienen diese beiden blühenden Naturen, obwohl immer verschieden, doch immer in Eintracht zu einem Reichthum von Unschuld und Anmuth zu verschmelzen. Beide besaßen eine angeborene Schwungkraft und Heiterkeit des Geistes, ein edles Vertrauen auf Andere, eine vorzügliche Aufrichtigkeit und Frische der Seele und des Gefühls. Aber unter der Heiterkeit Helenens lag zugleich ein sanfter und heiliger Zug sinniger Melancholie verborgen, ein hohes und religiöses Gefühl, welches sich mehr den tiefern Geheimnissen der Schöpfung zuneigte, dem heiligen Vereine der hellen Außenwelt mit den ernsten Bestimmungen der Welt im Innern (die eine unvergängliche Seele ist), als der leichtere und lebhaftere Jugendsinn Percivals noch begriffen hatte. In ihm lagen die Keime zu dem thätigen Sohne der Erde, der Auszeichnung in der kühnen Laufbahn auf der Oberfläche dieser Welt zu gewinnen vermag. In ihr lag das feinere und geistigere Wesen, welches den Dichter zu der goldenen Atmosphäre der Träume emporträgt und in Momenten den Anblick des Allerheiligsten des Himmels eröffnet. Wir sagen nicht, daß Helene jemals den poetischen Ausdruck gefunden, daß ihre Träume, unbestimmt und unergründet, wie sie waren, sich je in die scharfe und klare Form des Wortes gekleidet hätten. Denn dem Dichter, der praktisch entwickelt und der Welt offenbar geworden ist, sind außer dem bloßen poetischen Gefühl noch viele andere Gaben von Nöthen; ernstes Studium, logische allgemeine Auffassung einzelner zerstreuter Wahrheiten, und geduldige Beobachtung der Menschencharaktere, und die Weisheit, welche aus Schmerz und Leidenschaft erwächst, und weise Erfahrung in den Gegenständen des wirklichen Lebens, sammt den düstern Geheimnissen menschlicher Schwäche und Schuld. Allein trotz alldem, was man aus Verkleinerungssucht oder aus Unglauben gegen »stumme, unberühmte Miltons« Zitat aus »Elegy Written in a Country Churchyard« (1751) des englischen Dichters Thomas Gray. gesagt hat, behaupten wir, daß es Naturen gibt, in denen das göttlichste Element der Poesie weilt, das zu rein und zu zart ist, um aus der irdischen Form zu erstehen, während es aus den gröberen Gefäßen ausströmt, in welche der sogenannte Dichter die ätherische Flüssigkeit gießen muß. Es gibt eine gewisse erhabene Kraft in uns, die unsere tiefsten und edelsten Gefühle umfaßt, nämlich die unausgesprochene Poesie, die erbleicht und dürftig wird, wenn wir sie in Gedichten kundgeben. Ja, man kann von diesem geistigen Eigenthum unseres innersten Wesens sagen, daß es mehr oder minder von uns scheidet, je nach dem Verhältniß, als wir's der Welt mittheilen, gerade wie nur durch den Verlust ihrer duftigen Atome die Rose ihren Wohlgeruch in die Luft streut. So wohnte jene geistigere Empfindungskraft in Helene, wie der verborgene Mesmerismus im Wasser, wie die unsichtbare Feenkraft in einem Zauberring. Es war ein geistiges Wesen oder eine Gottheit, eingeschlossen und verhüllt in ihr selbst, was sie in innigere Verbindung mit allen Kräften des Universums setzte; ein Gefährte ihrer Einsamkeit, ein Engel, welcher leise ihrer lauschenden Seele vorsang. Dies machte für sie den Genuß der Natur, selbst in deren scheinbaren Kleinigkeiten, herrlich und erhaben; dies verlieh der Zärtlichkeit ihres Herzens all' die köstliche und entzückende Mannichfaltigkeit, welche Liebe von der Einbildungskraft entlehnt; dies erhob ihre Frömmigkeit über die bloßen Formen conventioneller Religion und flößte ihren Gebeten das Entzücken der Heiligen ein.
Allein Helene war nicht minder von den süßen menschlichen Empfindungen ihres Alters und Geschlechtes erfüllt; selbst ihr Ernst war mit rosigem Schimmer gefärbt, wie eine Abendwolke von der Sonne. Sie besaß Fröhlichkeit, Laune, selbst Schalkhaftigkeit; gleich wie der Schmetterling, obwohl das Sinnbild der Seele, doch üppig jede wilde Blume umflattert und seine glühenden Schwingen zur Seite des gewöhnlichen Pfades entfaltet. Und mit einem Gefühl der Schwäche in der alltäglichen Welt (welches sich in höheren Naturen gerade vorzüglich entwickelt), stützte sie sich um so vertrauensvoller auf den starken Arm ihres jungen Anbeters; sie dachte nicht daran, daß die Verschiedenheit zwischen ihnen auf ihrer Ueberlegenheit beruhte; sondern vielmehr wie der einmal gezähmte Vogel beim Anblick des Habichts zum Busen seines Besitzers fliegt, so nahm sie, nach jedem lustigen Flug in höhere Sphären, wenn nur der Gedanke an Gefahr ihre Schwinge berührte, Zuflucht zu dem schützenden Herzen wie zu einem mächtigeren Wesen.
Die Liebe dieser beiden Kinder – denn waren sie solche auch nicht eigentlich an Jahren, so waren sie es doch wegen der Unkenntniß alles dessen, was dem reiferen Alter die Frische und den Blüthenstaub raubt – war ganz so, wie sie für edle Seelen paßt, die das Eden noch nicht verwirkt haben. Es war mehr die Liebe von Feen, als irdischen Wesen. Sie zeigten sie einander, unschuldig und offen: aber von der Liebe, was wir von der gröbern Natur darunter verstehen, mit ihrer ungeduldigen Qual und ihrem glühenden Hoffen, sprachen oder träumten sie nie. Es war eine unaussprechliche, entzückende Zärtlichkeit – ein Anschmiegen an einander, in Denken, in Wunsch und Herz – eine überirdische Freude, die sie in ihrem Beisammenseyn empfanden; und gleichwohl beim Scheiden nicht der eitle und leere Schmerz, welcher die Schwachen für die bescheidenen Anforderungen an Leben und Zeit verdirbt. Und darauf beruhte, wegen des wunderbaren Vertrauens zu einander und auf die Zukunft, hauptsächlich ihre unbekümmerte glückliche Stimmung. Sie empfanden nichts von Furcht oder Eifersucht; oder wenn Eifersucht erwachte, so war es die freundliche, kindliche, die keinen Stachel hat – etwa die auf den Vogel, wenn Helene dem Gesange desselben zu lange lauschte – auf die Blume, wenn Percival zu rasch von Helenens Seite eilte, um die hangende Blüthenkrone aufzubinden oder ihre bestaubten Blätter zu reinigen. Dicht neben der Aufregung der großen Stadt mit ihrem Treiben, Drange und Sturme des Lebens – in dem einsamen Garten dieses düstern Hauses und unter den versengenden Blicken des erbarmenlosen Verbrechens – lebte das alte Arkadien wieder auf, die alten idyllischen Hirtenscenen – und mitten unter der strengen Tragödie erklang harmlos und friedlich der Ton des Hirtenliedes.
Es wäre nutzlose Mühe, den Seelenzustand Lucretiens beschreiben zu wollen, während sie den Fortschritt der von ihr begünstigten Neigung beobachtete, und das Schauspiel des sorgenlosen Glückes betrachtete, das sie gefördert hatte. Das Bild einer zugleich so großen und so heiligen Glückseligkeit mußte für sie von qualvoller Wirkung seyn. Es erhob sich im Gegensatz zu ihrem eigenen unheimlichen und verbrecherischen Leben; kaum berührte es ihr schuldvolles Gewissen so stark, als es ihren Verstand der Thorheit zieh. Denn diese Kinder, die am Rande des Lebens spielten, wußten ja doch bereits weit mehr von des Lebens wahrem Geheimniß, als sie, bei all' ihren großen natürlichen Anlagen und ihrer ungeheuren düstern Erfahrung. Wofür hatte sie nun studirt und gegrübelt und berechnet, und sich abgemüht und gesündigt? Wie ein zum Tode getroffener Eroberer gern alle die eroberten Länder um einen Tropfen Wassers für seine brennenden Lippen hingeben würde, so hätte sie gern alle die mit Blut und Feuer erkaufte Kenntniß hingegeben, um einen Augenblick zu fühlen, wie diese Kinder fühlten! Dann erstand aus ihrer schweigenden und düstern Verzweiflung wild und drohend der große Feind – die Rache.
In Folge einer Monomanie, welche bei denen, die das Selbst zum Mittelpunkte des Seyns gemacht haben, nicht ungewöhnlich ist, bezog Lucretia auf ihre eigene düstere Geschichte voll Unrecht und Leidenschaft Alles, was damit eine, wenn auch noch so entfernte, Aehnlichkeit hatte. Nie war sie im Stande gewesen, Werbung und Liebe bei Anderen, ohne ein peinliches Gefühl von Haß und Neid zu ertragen. Von der rohesten Form bis zu der verfeinertstem eröffnete diese Hauptleidenschaft in dem Leben des Weibes, indem sie dadurch an ihre eigene kurze Episode menschlicher Zärtlichkeit und Hingebung erinnert wurde, jede Wunde und setzte jede Fiber eines Herzens in krampfhafte Bewegung, welches, während das Verbrechen darin fast alle Regungen verhärtet hatte, doch in peinlicher Erinnerung stets eine festhielt. Ward sie aber schon gequält durch den Anblick der Liebe bei denjenigen, die nicht im Zusammenhang mit ihrem Schicksal standen, die ihrem unheimlichen Kreise fern waren und nur von weitem betrachtet wurden (so wie eine verlorene Seele aus dem Abgrund den Glanz der Engelsschwingen aus einem Sterne sieht, den sie nie kennen lernte,) – wie unaussprechlich heftiger und unerträglicher mußte dann der Zorn seyn, der sie ergriff, wenn sie in ihrer regen Phantasie Susannens Entzücken bei den Liebesschwüren Mainwarings in Helenens Gesicht wieder abgespiegelt sah! Alles was ein ebenso hartes, aber minder beunruhigtes, minder von Rachgier erfülltes Herz hätte entwaffnen können, reizte den verzehrenden Haß dieses unversöhnlichen Geistes nur noch stärker. Helenens seraphische Reinheit, ihre herrliche überwallende Liebe, die sich selber vergaß, ihre reine Heiterkeit, selbst ihre melancholischen Stimmungen, so ruhig und unverletzend sie auch seyn mochten, erbitterten und reizten beständig diese unnatürliche Empfindlichkeit, die entsteht aus dem Bewußtseyn der Unwürdigkeit, aus dem traurigen Egoismus des Menschen, der von Allem, was Liebe auf der Welt heißt, abgeschnitten ist, bei dem alle Luft sardonischer Krampf, alle Trauer nur düstere und wilde Verzweiflung ist.
Von den Beiden flößte ihr Percival noch die der Menschlichkeit am meisten verwandten Gefühle ein. Für ihn empfand sie trotz des bittern Andenkens an seinen Vater, eine Art von Mitleid und bebte entsetzt vor der Berührung seiner zutraulichen Hand zurück. Oft mußte sie es sich im Stillen zurufen, daß sein Leben ein Hinderniß für die Erbschaft des Sohnes sey, nach welchem sie, wie wir sahen, forschte, und den sie wirklich bereits in John Ardworth gefunden zu haben glaubte: sie mußte sich erinnern, daß nicht aus Zorn und Rache dieses Opfer in's Grab gebracht werden sollte, sondern daß es zum Besten eines geliebten Zweckes preisgegeben werden sollte. Wie schon bei den Studien ihrer Jugend, hatte sie den Machiavellismus alter Staatslist als erlaubte Richtschnur im Privatleben angenommen, und daher schien sie das kaum als ein Verbrechen zu betrachten, was nur die Beseitigung einer Schranke zwischen ihrem Ziel und ihrem Zweck war. Bevor sie mit Percival persönlich bekannt geworden war, hatte sie alle Gelegenheit, ihn kennen zu lernen, vermieden. Sie hatte geduldet, daß Varney ihn besuchte und als der alte protégé Sir Miles' sein Vertrauen erschleichen möchte – denn sie gedachte ihrem Mitschuldigen, sobald die Zeit kommen würde, das furchtbare Werk der Zerstörung zu überlassen. Dies geschah nicht aus Feigheit, denn Gabriel hatte sie einst ganz richtig beschrieben, wenn er von ihr sagte, daß, »wenn sie mit Gespenstern lebte, sie diese bezwingen würde;« es geschah einfach deshalb, weil sie, mehr geistig schonungslos, als sinnlich grausam, (außer wo alte Rachegedanken sie gänzlich entweibten,) die Qualen dieses Opfers nicht mit anzusehen wünschte, über dessen Schicksal zu jubeln und zu triumphiren kein Vergnügen war. Sie wünschte, ihn nicht zu sehen, nicht am Leben zu wissen, sie wollte blos erfahren, daß er nicht mehr existirte und daß allein Helene noch zwischen Laughton und ihrem Sohne stände. Nun, da er selber, wie vom Schicksal geführt, ihre Schwelle überschritten hatte, da er, wie Helene, sich in ihre Gewalt geliefert, nun ward das gräßliche Verbrechen, das sie zuvor von ihrer Hand zurückgewiesen, zum Gespenst, welches sich ihr gegenüber stellte, und sie mit abergläubischem Grauen erfüllte.
Inzwischen war ihr äußeres Benehmen gegen beide erlesene Opfer, wenn auch bisweilen launisch und gereizt, doch nicht von der Art, daß es, auch in dem argwöhnischsten Herzen, hätte Verdacht erregen können. Seit Helene zuerst unter ihr Dach getreten, hatte sie sich förmlich und gemessen gegen sie benommen, hatte sie fern von sich gehalten und sich keineswegs einer besondern Verstellung befleißigt; aber sie war nie geradezu unfreundlich oder hart in Wort oder Handlung gewesen und hatte selbst ihr zurückstoßendes Wesen kalt entschuldigt.
»Ich bin,« sagte sie, »durch langes Leiden reizbar; ich bin ungesellig, weil ich an Einsamkeit gewöhnt bin: erwarte von mir nicht die Zärtlichkeit und Wärme, die unsere Verwandtschaft mit sich bringen könnte. Mache Dir keine Sorgen und Mühe um eine Person, die durch sichtbare Aufmerksamkeit nur um so peinlicher an ihre Gebrechlichkeit erinnert wird, die, selbst in diesem darniedergebrochenen Zustande gern frei von aller Sorgsamkeit seyn möchte, wofür sie nicht bezahlt. Begnüge Dich, daß Du hier in aller vernünftigen Freiheit lebst und ungestört Dich Deinen eignen Gewohnheiten und Launen überlassen kannst. Betrachte mich blos wie ein nothwendiges Stück Hausgeräth. Du erregst nie mein Mißfallen, außer wenn Du bemerkst, daß ich lebe und leide.«
Wenn Helene, als sie zum ersten Mal diese harten Worte vernahm, bitterlich weinte, so empfand sie doch keinen Haß dabei, daß sie ihr liebendes Herz also auf sich selbst zurückgewiesen sah. Sie wurde im Gegentheil von einem Mitgefühl erfüllt, welches so stark war, daß es den Charakter der Verehrung annahm. Sie betrachtete selbst jene Kälte als eine erhabene Trauer. Sie empfand Dankbarkeit, daß Jemand, der sie so entbehren konnte, sie dennoch ausgesucht hatte. Sie hatte ihre Mutter sagen hören, ›daß sie Lucretien bedeutend verpflichtet gewesen sey;‹ und jetzt, wo sie verhindert war, die geleisteten Dienste auch nur durch einen Kuß auf diese erschöpften Augenlieder zu vergelten; wo sie sah, daß die anfangs errichtete Schranke unbeweglich war, daß keine Zeit die Entfernung vermindern könnte, die ihre Tante zwischen sie gestellt – daß der geringste Versuch zu einem freundlichen Dienst außer den zufälligen Handreichungen in der That diese erregbaren Nerven nur zu reizen, die Hand beben zu machen schien, die sie schüchtern zu fassen suchte: – da zog sie sich mit trauriger Betroffenheit in sich selbst zurück, während sich ihr Mitleid zugleich steigerte und ihre Achtung erhöhte. Ihr schien Liebe in der Hülflosigkeit des menschlichen Lebens etwas so Nothwendiges, selbst für die mit Gesundheit und Jugend Gesegneten, daß die Zurückweisung aller Liebe durch eine so Gebeugte und Gebrechliche ihrer Phantasie wie etwas Erhabenes in ihrer traurigen Hoheit und ihrem stoischen Stolze auf Unabhängigkeit erschien. Sie betrachtete dieses Verfahren wie ehedem eine fromme Nonne die Härte einer heiligen Klause betrachtet haben möchte – wie Theresa (hätte sie in derselben Zeit gelebt) St. Simon Stylites Symeon Stylites (389-459), »Symeon der Säulenheilige«, ging als erster christlicher Säulenheiliger in die Kirchengeschichte ein. Er lebte als Anachoret über mehrere Jahrzehnte auf einer Säule, um durch strenge Askese zu ständiger Gemeinschaft mit Gott zu finden. – Mit Therese könnte Teresa von Avila (1515-1582) gemeint sein, eine spanische Nonne, die auch durch geistliche Schriften, misstrauisch von der Inquisition beäugt, hervortrat. betrachtet haben würde, während er über menschliches Mitgefühl erhaben auf dem dachlosen Gipfel seiner steinernen Säule lebte. Und dasselbe Gefühl suchte sie auch Percival einzuflößen. Er hatte ein Herz, um ihr Mitgefühl zu theilen, aber nicht die Phantasie, um mit ihrer Verehrung zu sympathisiren. Selbst die ehrerbietige Scheu, die er anfangs vor Madame Dalibard empfunden, hatte er, so kühn war er von Charakter, seitdem längst abgelegt; er sah nur noch das Mürrische und Launische einer beständig Kränkelnden und schüttelte ruhig seine glänzenden Locken, wenn ihn Helene mit ihrem bezaubernden Ernst überreden wollte, mehr zu sehen.
Ja diesem Hause wurden in der That wenig Besucher zugelassen. Die Mivers', welche die wohlwollende Dienstfertigkeit Mr. Fieldens zuerst dorthin geschickt hatte, um ihre junge Verwandte zu besuchen, kamen dann und wann, um Helene zu bitten, daß sie mit ihnen in's Theater, nach Vauxhall In dem damals noch selbstständigen Ort südlich von London war 1660 Vauxhall Gardens eröffnet worden, der erfolgreichste und der am längsten bestehende Vergnügungspark Londons. oder zu einem Piknik in Richmond Park gehen mochte; als sie aber fanden, daß ihre Anerbietungen, die Madame Dalibard anfangs höflich angenommen hatte, zurückgewiesen wurden, stellten sie allmälig ihre Besuche verletzt und unwillig ein.
Gewiß war es, daß Lucretia früher all' die wohlgemeinten Artigkeiten gegen Helene eifrig angenommen hatte – jetzt lehnte sie dieselben kurz ab: Warum? Es würde schwer seyn, all' die schwarzen Geheimnisse dieses Herzens zu erforschen. Für sie, die davor zurückbebte, Helenen zu keinem ärgern Geschick, als einem jungfräulichen Grabe zu verurtheilen, würd' es nur natürlich gewesen seyn, sie einer so verderblichen Führung anzuvertrauen, mitten unter allen Versuchungen der verderbten Stadt sie von jenen Männern umringen zu lassen, die stets der schutzlosen Schönheit nachstellen, damit ihr elegantes Benehmen und ihre verderblichen Schmeicheleien einen starken Contrast bilden mochten gegenüber der Plumpheit der für sie erlesenen Gesellschafter, und der lieblosen Unbehaglichkeit des Hauses, in welchem sie ihre Tage verleben mußte. Nun war aber St. John erschienen, Helenens Herz und Phantasie waren gegen jede gefährlichere Versuchung gestählt, der Zweck, den man durch die zudringliche Artigkeit der Mrs. Mivers erreichen konnte, existirte nicht mehr. Die Rache strömte jetzt in andern Kanälen.
Die einzigen anderweiten Besucher des Hauses waren John Ardworth und Gabriel Varney.
Madame Dalibard beobachtete wachsam Gesicht und Benehmen Ardworth's, als sie, nachdem sie ihn Percival vorgestellt, flüsterte: »Ich bin froh, hinsichtlich Ihrer Gesinnung gegen Helenen unterrichtet zu seyn. Hier hat sie den Liebhaber gefunden, den Sie ihr wünschten: ›heiter und schön, wie sie selbst‹.«
Und in dem plötzlichen Erblassen, welches sich auf Ardworths Gesicht zeigte, in seinen zusammengepreßten Lippen und convulsivischem Starren, las sie mit unaussprechlicher Wuth das unausgesprochene Geheimniß seines Herzens – bis die Wuth endlich der Zufriedenheit wich, während sie dachte, daß ihr die letzte Kränkung erspart sey: daß ihr Sohn (wofür sie ihn hielt) nun zum wenigsten nicht mehr der glückliche Bewerber um das verabscheute Kind ihrer verabscheuten Schwester seyn könnte. Ihre Entdeckung bestärkte sie vielleicht in ihrem Benehmen hinsichtlich Percival's fortschreitender Bewerbung, und versöhnte sie zur Hälfte mit der Pein, welche dieselbe ihr verursachte.
Bei der ersten Vorstellung hatte Ardworth Percival kaum angeblickt Er betrachtete ihn nur als den hübschen Schmetterling im Sonnenscheine des Glücks. Und für den Müßigen, Frohen, Schönen, Wohlgekleideten und Reichen empfand der seine eigne Bahn verfolgende trotzige Arbeiter etwas von jener übelwollenden Verachtung, welche die arbeitenden Habenichtse nur zu gewöhnlich gegen die glücklichen Besitzenden unterhalten. Aber seit dem Augenblicke, wo ihm die unwillkommene Kunde durch Madame Dalibard mitgetheilt wurde, gewann der glattwangige Knabe bedeutend an Würde und Gewicht.
Allein nicht blos als Nebenbuhler betrachtete dieses starke männliche Herz Percival, nach dem ersten natürlichen Schmerzgefühl. Nein, er betrachtete ihn weniger mit Haß als mit Interesse – als denjenigen, auf welchem Helenens Glückseligkeit fortan beruhen sollte. Und zu Madame Dalibards Erstaunen, für deren Erfahrung dies ein ganz neuer Zug war, sah sie, wie er, selbst bei ihrer ersten Zusammenkunft, sein rauhes Gesicht zum Lächeln brachte, seine harte gebieterische Redeweise in einen artigen Ton verwandelte, geduldig anhörte, gefällig aufmerkte, und endlich seine große Hand zutraulich ausstreckte, um Percivals zarte Finger in derselbigen zu drücken; darauf machte er, mit einem unbestimmten Lachen, welches halb wie Schluchzen klang, seine gewöhnliche unceremoniöse Verbeugung, und verließ eilig das Gemach.
Allein er kam bald wieder, fast täglich, und so etwa zwei Wochen lang. Bisweilen gesellte er sich, ohne das Haus zu betreten, zu den jungen Leuten im Garten, half ihnen mit linkischer Hand bei ihrer anmuthigen Gartenarbeit, oder setzte sich mit ihnen in die Epheulaube. Und indem er mit jedem Mal, daß er kam, wärmer wurde, sprach er endlich mit der zutraulichen Offenheit eines älteren Bruders. Dabei war keine Verstellung; er begann Percival zu lieben und, was dem Oberflächlichen noch seltsamer scheinen mag, zu bewundern. Das Genie gewahrt rasch die moralischen Eigenschaften; das Genie, das sich so sehr vom bloßen Talent unterscheidet, schließt sich mehr dem Herzen, als dem Kopfe an, und sympathisirt mit Güte. Ardworth achtete das junge sinnige und reine Gemüth; er fühlte sich in der Atmosphäre desselben selbst reiner und besser. Vieles von der Zuneigung, die er für Helene nährte, ging auf diese Weise in seine Gesinnung gegen denjenigen über, der es wohl werth war, von Helene vorgezogen zu werden. Und sie gewannen ihn so lieb, wie junge und sanfte Personen stets das Genie, wenn es auch rauh ist, liebgewinnen, sobald es einmal in ihrer Gesellschaft Zutritt erhalten hat.
Percival hatte sich inzwischen daran erinnert, wo er dies Geschöpf mit den strengen und dunkeln Brauen zuerst gesehen hatte, und heiter erinnerte er Ardworth an seine Unfreundlichkeit auf der Höhe des Hügels, wo man London übersehen konnte. Diese Erinnerung war peinlich für seinen neuen Freund; denn damals hatte er, mitten unter seinen ehrgeizigen Zukunftträumen, Helena in der Ferne als den Lohn jeder Mühe, als den schönsten Stern an seinem Horizonte erblickt. Aber er kämpfte stark gegen den Schmerz um das verlorene Traumbild; die vivendi causae waren ihm noch geblieben, und statt der Nymphe, die seiner Umarmung entschlüpft war, klammerte er sich mindestens an den Lorbeer, der an ihrer Stelle geblieben. So barg Ardworth sein Geheimniß in den Falten seines starken Muthes. Seine jungen Gefährten ahneten davon nichts. Er würde sich selber verachtet haben, hätte er ihre Freuden auf solche Weise vergiften sollen. Daß er viel und schmerzlich litt, wenn er allein war, ist nicht zu läugnen; allein in diesem männlichen und vollkommenen Charakter nahm die Liebe nur ihren gebührenden Rang mitten unter den Leidenschaften und Sorgen des Mannes ein. Sie verbitterte kein Leben – sie brach kein Herz; der Wind schüttelte einige Blüthen vom Zweige und bewegte die erregten Aeste heftig vom Stamm bis zum Wipfel, aber der Stamm stand fest.
Bei einigen Besuchen bei Madame Dalibard erneuerte Ardworth mit ihr die geheimere Unterhaltung, welche seine früheren Ansichten über seine Geburt so sehr erschüttert und den ruhigen starken Strom seiner Seele so sehr aufgeregt hatte. Vorzüglich begierig war er, zu erfahren, welche Vermuthungen Madame Dalibard hinsichtlich seiner Herkunft hegte und welchen Grund sie zu dem Glauben hatte, daß er ihr selbst nah verwandt sey und daß er für eine Stellung geboren wäre, die minder abhängig von fortwährender Anstrengung sey. Allein über diese Punkte beobachtete die dunkle Sybille ein hartnäckiges Schweigen. Sie begnügte sich mit den bereits gegebenen Andeutungen und weigerte sich entschieden, mehr zu sagen, bis sie durch ihre angestellten Nachforschungen selbst größere Gewißheit erlangt haben würde. Schlau verließ sie diese Gegenstände von beschränkterem und mehr häuslichem Interesse, um sich zu denen zu wenden, bei welchen sie früher geweilt hatte, und welche sich auf die allgemeine Kenntniß der Menschheit und die schwierige Wissenschaft des praktischen Lebens bezogen. Ihr Werk ward nun, sein Genie anzufeuern, seine Energie zu beflügeln, seinen Ehrgeiz über die mühsame Plackerei emporzutreiben, an welche ihn seine Laufbahn gefesselt hatte, und die ihr feuriger und lebhafter Geist gar nicht zu begreifen vermochte, die ihr nur eine Verschwendung des Lebens zu unsicheren und fernliegenden Zwecken erschien. Und mit Vergnügen sah sie, daß ihr Ardworth beifälliger zuhörte, als es anfangs geschehen war. Wirklich machte ihn der in seinem Herzen verschlossene Schmerz und der zwischen Vernunft und Leidenschaft waltende heftige Kampf gegenwärtig zu blos mechanischer Beschäftigung ungeschickt, in welcher sein Genie ihm keinen Trost gewähren konnte. Genie ist aber dem Menschen nicht blos dazu verliehen, um nur Andere zu erleuchten, sondern auch, um ihn selbst zu erheben und zu trösten. So ist unter allem Kummer des wirklichen Lebens der Mensch doppelt geneigt, sich des Trostes wegen an seinen Genius zu wenden. Bedrängt in seiner Welt der äußeren Thätigkeit, klopfte er an die Pforte der Welt des Gedankens und der Phantasie, die zu durchschreiten er berechtigt ist, und er flüchtet vom Staube zum Geiste. Und selten, so lange nicht ein großer Schmerz erscheint, kennt der Mensch, in welchem das himmlische Feuer wohnt, alle die Gaben, die er besitzt. Endlich hörten Ardworths Besuche plötzlich auf. Er verschloß sich wieder einmal in seine Gemächer; aber die Rechtsbücher waren bei Seite gelegt.
Varney, der gewöhnlich einsprach, wenn Ardworth nicht da war, störte die Liebenden selten in ihrem kleinen Gartenparadies; aber er nahm Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit Percival zu fördern und zu befestigen; bisweilen ging oder (wenn St. John sein Cabriolet hatte) fuhr er mit ihm heim und speis'te mit ihm tête-à-tête, in Curzonstreet; und da er Helenen zum Hauptgegenstand seiner Unterhaltung machte, mußte ihn Percival nothwendig für einen der angenehmsten Männer halten. Mit Helenen hielt Varney, wenn Percival nicht da war, manche geheime – selbst vor Percival geheime – Konferenzen; zwei oder dreimal waren sie, vor der Stunde, in welcher Percival zu kommen pflegte, mit einander ausgewesen; und Helena's Gesicht sah fröhlicher als gewöhnlich bei der Rückkehr aus. Es konnte nicht überraschen, wenn Gabriel Varney, so unleidlich für einen Mann wie Ardworth, die Gunst Helenens in wenig geringerem Maße als die Percivals gewonnen hatte; denn abgesehen von seinem leichten und angenehmen Betragen, welches das Vertrauen Derjenigen eroberte, denen es ein natürliches Bedürfniß war zu vertrauen, mußten auch seine vielfachen Fertigkeiten und Talente, die wegen ihres Umfangs und ihres Schimmers imponirten, einen unwiderstehlichen Eindruck auf eine Seele hervorbringen, die, gleich der Helenens, so geneigt war, Kunst zu bewundern und Kenntniß zu schätzen. Was sie aber besonders zu Varney hinzog, den sie überdies als ihrer Tante vertrautesten Freund betrachtete, war der Umstand, daß sie sich überredete, er sey unglücklich und von der Welt oder dem Schicksal verletzt. Varney war gewohnt, sich selber also erscheinen zu lassen, mit bitterer Beredtsamkeit, die seine natürliche Bosheit eindringlich machte, sich über die Ungerechtigkeit der Welt gegen überlegene Geisteskraft auszusprechen. Er pflegte das Schicksal stark anzuklagen. Es ist die unlogische Schwachheit mancher bösartigen Naturen, alle ihre Verbrechen und die Folgen der Verbrechen auf die Schicksalsbestimmung zu schieben. Es lag eine Hitze, eine Kraft, ein Wortreichthum und eine Fertigkeit, starke, wenn auch verbrauchte, Bilder anzuwenden, in allen Reden Varney's, wodurch die Unerfahrene in den ungeheuren Irrthum gerieth, als sey er ein Enthusiast, vielleicht ein Misanthrop, allein dies doch nur aus Enthusiasmus. Wie konnte Helene – deren leichtester Gedanke, wenn ein Stern aus der Wolke hervorbrach oder ein Vogel plötzlich hinterm Laube zu singen begann, mehr Weisheit und Poesie hatte, als Varney's bunte und schimmernde Heuchelei auch nur nachzuahmen vermochte– wie konnte sie so getäuscht werden? Gleichwohl war es nicht anders. Hier stand ein Mann, dessen Jugend, wie sie vermuthete, hohen und erhabenen Zwecken zugewiesen gewesen, begabt, vernachläßigt, enttäuscht, einsam, unglücklich. Sie sah wenig weiter. Man brauchte nur ihr Mitleid zu erregen, um ihre Theilnahme zu erwerben und ihr Vertrauen rege zu machen. Von etwas Weiterem hätte sie, selbst wenn Percival nie existirt hätte, nimmer träumen können. Es war, weil ein geheimes und unbestimmtes Widerstreben, das, bei allem Mitleid, Vertrauen und aller Freundschaft, Varney durchaus nicht als möglichen Liebhaber erscheinen lassen mochte, daß alle jene Gefühle so leicht entzündet wurden. Diese Abneigung beruhte nicht allein auf der Verschiedenheit ihrer Jahre; es war vielmehr jene namenlose Unähnlichkeit, welche zwar die Freundschaft nicht verbietet, aber nur erträglich mit Liebe ist. Um Varney Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen: er versuchte Beide nie zu vereinen. Nicht aus Liebe hielt er geheime Besprechungen mit Helenen – nicht aus Liebe bebte sein Herz bei der Nähe der Hand, die so harmlos in seinem verhängnißvollen Arme ruhte.