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Am nämlichen Abend kam, der Verabredung gemäß Beck mit Percival zusammen und zeigte ihm das düstere Haus, welches die schöne Fremde bewohnte, die seine jugendliche Phantasie so angezogen hatte. Und Percival blickte die hohen Wände mit der kühnen Abenteuerlust des Seemanns an, während verworrene Bilder, reflektirt aus Schauspielen, Opern und Novellen, worin das Erklettern von Wänden mit Strickleitern und Blendlaternen als der natürliche Beruf eines Liebhabers dargestellt wird, sein Hirn durchkreuzten. Er seufzte tief, als er sich durch seinen gesunden Verstand von so romantischen Dingen abgezogen fühlte. Da er indeß nun das Haus kannte, so mußte es leicht seyn, die Namen der Bewohner zu erforschen, und eine Gelegenheit zu erwarten oder herbeizuführen. Während er langsam und widerstrebend nach dem Orte zurückging, wo er sein Kabriolet gelassen hatte, ließ er sich in ein flüchtiges Gespräch mit seinem seltsamen Führer ein; das Mitleid, welches er vorher für Beck empfunden, steigerte sich während des Redens und Zuhörens. Dieses umnachtete Gemüth, einst durch eine Art traurigen Scharfsinns erleuchtet, und diese instinktmäßige Verschlagenheit, die vom Mangel geboren ist, um Habsucht zu erzeugen – dieses freudlose Temperament – dieses Altern in der Jugend – dieser personifizirte Vorwurf, der von den Steinen Londons aufsteigt wider unsere sociale Gleichgültigkeit gegen die Leben, welche welken und faulen unter den unbarmherzigen Augen der Wissenschaft, und vor den tauben Ohren des Reichthums, – alles dies rührte sein lebhaftes Mitgefühl und sein frisches Herz mächtig.
»Brauchen Sie jemals einen Freund, so kommen Sie zu mir,« sagt St. John.
Der Mensch staunte, und ein Schimmer besseren Wesens, ein Strahl von Dankbarkeit und uneigennütziger Ergebung drang durch den Nebel und die Nacht seiner Seele. Er stand da, den Hut in der Hand, und beobachtete die Räder des Kabriolets, als dieses das bevorzugte Kind des Glückes hinwegtrug; dann schüttelte er den Kopf, als machte ihn etwas stutzig und verlegen, was über seine Fassungskraft ging, und so schritt er nach der Stadt zurück, und begab sich nach Hause.
Einige Stunden später, nachdem Percival von jenem geschieden war, verfolgte ein Mann, dessen Kleidung wenig zu der Scene paßte, wo wir ihn aufführen, seinen Weg durch ein Labyrinth von schlechten Gassen im elendesten Theile von St. Giles', einer Gegend, die in der That von reichen Fußgängern im Dunkeln sorgfältig gemieden wird; denn hier wohnt nicht nur die Dürftigkeit in ihrer häßlichsten Gestalt, sondern auch das verzweifelte und gefahrdrohende Verbrechen, dem in seinen Wohnungen und Schlupfwinkeln nicht leicht zu entgehen ist. Hier saugen die Kinder das Laster mit der Muttermilch. Hier wird die Prostitution, in der Kindheit beginnend, in jugendlichen Jahren wild und blutgierig, und verbindet sich mit Diebstahl und Mord. Hier schleicht der Taschendieb – von hier geht der Einbrecher aus – hier lauert der Missethäter. Jedoch allenthalben auch hier kann man die Tugend in ihrer seltensten und edelsten Gestalt finden – Tugend, die sich über ihre Lage erhebt, und der Versuchung trotzt – die Tugend der äußersten Armuth, welche ächzt und doch nicht sündigt. So verwoben sind diese Gewebe von Armuth und Betrug, daß in dem einen Hof euer Leben nicht sicher ist, während ihr, euch nach der Rechten wendend, sicher schlafen könnt, wenn auch unter dem schlechtesten Obdach, und obwohl eure Taschen voll Gold wären. Durch diese Schlupfwinkel kann der Zerlumpte und Arme furchtlos wandeln, denn für ihn haben die Gesetzlosen nichts Drohendes – eher droht ihm das Gesetz; aber die Wohlhabenden, Gutgekleideten, Stattlichen mögen sich vor dem Orte hüten, wofern sie nicht einen Polizeibeamten in der Nähe sehen, oder am hellen Tage hingehen!
Als jener Fußgänger, dessen Aeußeres, wie gesagt, gar nicht das eines hierwohnenden war, sich in eine der Gassen wendete, ergriff eine rauhe Hand seinen Arm, und plötzlich eilten eine Schaar Dirnen und zerlumpte Kerle aus einem Hause, dessen untere Fenster unverschlossen waren, und ein brennendes Licht zeigten, während die Gruppe den Fremden mit rauhem Geschrei umringte.
Der Fremde flüsterte dem wilden Kerl, der ihn ergriffen, ein Wort in's Ohr, und sofort ward sein Arm losgelassen.
»Still! das ist Einer, der sein Geschäft hat,« sagte der Kerl mürrisch. Die Gruppe machte Platz, und betrachtete beim Licht des Sternenhimmels und einer einzelnen Lampe, die am Eingange der Gasse hing, den Fremden. Aber sie machten keinen Versuch, ihn aufzuhalten, und als er fern unterm Schatten verschwand, eilten sie in die elende Herberge zurück, wo sie ihr Gelag hielten. Inzwischen erreichte der Fremde einen engen Hof, und blieb in einer der Ecken desselben vor einem Hause stehen, welches höher als die übrigen war, und zwar so bedeutend höher, daß es sich fast wie ein Thurm ausnahm; man hätte es (und vielleicht mit Recht) für den letzten Ueberrest eines alten vornehmen Hauses halten können, rings um welches, während die Bevölkerung zunahm und die Sitten sich änderten, die Hütten unten rücksichtslos emporgestiegen waren. Große starke Pfeiler, die von hundertjährigem Staube geschwärzt waren, standen zu beiden Seiten der tief in der Mauer befindlichen Thür; die Fenster waren mit gewaltigen Simsen eingefaßt, und im unteren Geschoß stark vergittert; aber wenige der Scheiben waren ganz, und nur hier und da hatte man Versuche gemacht, Wind und Regen durch Lappen, Papiere, alte Schuhe, alte Hüte und andere sinnreiche Auskunftsmittel Das Wort damals im Sinne von »Hilfsmittel« verwendet. abzuhalten. Neben der Thür war bequem genug eine Reihe von zehn bis zwölf Klingelzügen angebracht, die vermuthlich den verschiedenen Wohnungen angehörten, in welche das Gebäude abgetheilt war. Der Fremde schien mit der Oertlichkeit nicht sehr vertraut. Er stand unentschlossen, welchen Zug er ergreifen sollte, bis ihn endlich ein Messingschild neben einem der Griffe belehrte, welches, wenn die Dunkelheit auch die Schrift zu lesen verhinderte, doch auf einen vornehmern Eigenthümer, als die übrigen namenlosen Klingelzüge, hindeutete; er wagte daher einen Zug, welcher ein so lautes Geläute bewirkte, um damit den ganzen Hof aus seiner Ruhe aufzuschrecken.
Binnen weniger als einer Minute öffnete sich ein Fenster in einem der obern Stockwerke, ein Kopf guckte daraus hervor, und eine Stimme, wie sie gemeinen Wüstlingen eigenthümlich ist, rauh und heiser, fragte: »Wer ist da?«
»Sind Sie es, Grabman?« fragte der Fremde.
»Ja; Nikolaus Grabman, Rechtsanwalt, Sir, Ihnen zu dienen; und Ihr Name?«
»Jason,« antwortete der Fremde.
»Heda – hehe! Beck!« rief die rauhe Stimme Jemand im Innern zu; »gehe hinab und öffne!«
Nach wenigen Augenblicken knurrte und bewegte sieh die schwere Thür und öffnete den düster gähnenden Eingang. Eine hagere, halb ausgekleidete Gestalt, mit einem Stückchen Pfenniglicht, welches durch eine schlechte Laterne schimmerte, in der Hand, stand vor Jason. Dieser betrachtete den zerlumpten Pförtner scharf.
»Wohnst Du hier?«
»Ja,« antwortete Beck mit der ihm angewohnten Unterwürfigkeit. »Hier hinauf; nehmen Sie sich in Acht!«
»Gut, gehe voran – halte die Laterne in die Höhe; ein teufelmäßig finsterer Ort!« murmelte Jason, während er beinahe über verschiedenes zerbrochenes Geröll stürzte und eine unbequeme, schwarze Treppe erreichte, deren zerbrochene Stufen unter jedem Tritte krachten.
»St! st!« sagte Beck, als der Fremde auf dem zweiten Vorsaal stehen blieb und in unfreundlichem Tone fragte, ob denn Mr. Grabman bei den Feueressen wohne.
»St! st! – Machen Sie nicht solchen Lärm, oder Sie bekommen Nr. 7 auf den Hals.«
»Was kümmert mich Nr. 7? und wer Teufel ist Nr. 7?«
»Ein Leichendieb!« flüsterte Beck schaudernd. »Er schläft sehr leise und kann nicht vertragen, wenn man ihn um die Nachtruhe bringt. Und er ist das bösartigste Geschöpf, wenn er seine Launen hat.«
»Von dem mochte ich wohl mehr hören,« sagte der Fremde neugierig. Und während er sprach, öffnete sich plötzlich die Thür Nr. 7. Ein gewaltiger Kopf, mit verworrenem Haar bedeckt, ward auf einen Augenblick durch die Oeffnung gesteckt und zwei düstere Augen, die mit einer Haut bedeckt schienen, gleich denen der Vögel, die sich von Leichnamen nähren, begegneten den kühn funkelnden Blicken des Fremden.
»Hölle und Teufel!« schrie die Stimme jenes Ogers Oger: menschenähnlicher Unhold, in Märchen, Sagen etc.., die wie ein Donnerschlag scholl, – »wenn Ihr Zwei da dicht vor meiner Thür trampeln wollt, so will ich Euch zu Fleisch für die Wundärzte machen – hol' Euch –«
»Wartet einen Augenblick, mein artiger Freund,« sagte der Fremde nähertretend; »bleibt stehen, wo Ihr steht, ich habe Lust, eine Skizze von Eurem Kopf aufzunehmen.«
Der Kopf streckte sich weiter aus der Tür und mit ihm zugleich eine ungeheure Masse von Brust und Schulter. Allein der abenteuerliche lustige Gast erschrack nicht. Kaltblütig nahm er einen Bleistift aus der Tasche und begann auf die Rückseite eines Briefs seine Skizze zu zeichnen.
Der Leichendieb starrte ihn einen Augenblick an, von stummem Staunen ergriffen; allein dieses Beginnen und die ruhige Haltung des Künstlers waren ihm so neu, daß sie ihm wirklich einen Schrecken einjagte. Er zog sich zurück und schloß die Thür. Und der Künstler sagte, während er seine Arbeit einstellte, mit verächtlichem Lachen zu Beck, der sich in einen Winkel geschlichen hatte:
»Nr. 7 weiß recht gut, wie er sich gegen Nr. 1 zu verhalten hat. Führe mich weiter, doch mach' geschwind!«
Während sie höher stiegen, hörten sie den Leichendieb in seiner Höhle murmeln und fluchen, und diese Töne trieben Beck zu schnellerem Gange an, bis er auf dem nächsten Treppenabsatz Athem schöpfte und eine Thüre öffnete, wo Jason, jenen bei Seite schiebend, zuerst eintrat.
Das Innere des Gemaches hatte ein besseres Ansehen, als man nach dem Eingang hätte vermuthen können; die Dielen waren mit verschiedenen Stücken von Teppichen belegt, die einst auch verschiedene Farben und Muster gezeigt hatten, aber durch die Macht der Zeit in eine gleichförmige fadenscheinige Masse verschmolzen waren. Ein gutes Feuer brannte im Kamin, obwohl die Nacht warm war. Verschiedene Bände waren, in dem für juristische Bücher eigenthümlichen Einband, an den Wänden aufgehäuft. In einer Ecke stand ein großer Schreibtisch, wie ihn Juristen zu brauchen pflegen; auf einem Tische vor dem Feuer waren die Reste der Abendmahlzeit verstreut, Bratenknochen und die Gräten eines Herings, und ein Becher dampfte, der eine Flüssigkeit, so farblos wie Wasser, aber so berauschend wie Branntwein, enthielt.
Das Gemach war schmutzig und übel gehalten und verrieth eine gemeine und schmutzige Lebensweise, aber Dürftigkeit und Mangel verrieth es nicht; es hatte sogar ein Ansehen von unsauberer Behaglichkeit – die Behaglichkeit des Schweines in seinem warmen Stalle. Der Bewohner des Zimmers stand im Einklange mit der Oertlichkeit. Man stelle sich einen Mann von mittlerer Größe vor – nicht hager, aber ohne alles Muskelfleisch, aufgedunsen und kränklich aussehend. Er trug einen grauen Flanellrock und kurze Hosen; die Strümpfe hingen herab und waren schmutzig, die Füße stacken in Pantoffeln. Der Bauch war der eines stattlichen Mannes, die Beine die eines Skeletts; die Wangen waren voll und rund, wie die eines Bauerknaben, aber bleich, fleckig, von einer düsteren bleiartigen Farbe, wie die eines Wassersüchtigen. Der Kopf, mit Büscheln dünnen, gelblichen Haars bedeckt, versprach einen begabten Geist, denn die Stirn war hoch und erschien so noch mehr, wegen der theilweisen Kahlheit; die Augen, in einer fetten und runzeligen Haut liegend, waren klein und glanzlos, aber sie hatten doch jenen scharfen Ausdruck, welchen Bildung und Gewandtheit dem menschlichen Auge mittheilen; der Mund zeigte das Thierische am meisten; volle, grobe, sinnliche Lippen. Hinter dem einen der beiden großen Ohren stack eine Feder.
So sieht man also diese schlottrige Figur vor sich: bepantoffelt, halbgekleidet, mit einer Art schäbiger Halb-Vornehmheit – halb Lump, halb Rechtsgelehrter; einen starken Kontrast bildete dagegen der neue Ankömmling, der äußerst sauber und modisch gekleidet war, mit glänzend schwarzer Atlasbinde, wohlsitzendem Rock, gewichsten Stiefeln, netten Handschuhen und gepflegtem Schnurrbart.
Hinter diesem sauberen und stattlichen Manne stand mit gebogenen Knieen, in zerrissenem, am Halse offenem Hemd, mit trübsinnigem, freudlosem Gesicht, der hagere, armselige Beck.
»Setze dem Herrn einen Stuhl hin,« sagte der Bewohner des Zimmers mit einer gebieterischen Handbewegung zu Beck.
»Wie gehts Ihnen, Mr. – Mr. – hm – Jason? Wie gehts Ihnen? – immer schmuck und blühend – die Welt meint es mit Ihnen gut.«
»Die Welt ist ein Landgut, welches für Alle gut ist, die es gehörig pflügen, Grabman;« erwiederte Jason trocken, während er mit seinem Taschentuch sorgfältig den Stuhl abstäubte, auf welchem er sich dann gemächlich niederließ.
»Aber wer ist Ihr Ganymed – Ihr Kammerdiener, Ihr Ceremonienmeister?«
»O, ein Bursch aus der Stadt, der oben wohnt und mir allerlei Dienste thut, die Kleider bürstet, die Schuhe putzt und nach seinem Tagewerk dann und wann eine Bestellung ausrichtet. Drücke Dich, Beck! – Gerippe, verschwinde!«
Beck grinzte, nickte, zerrte an einem Büschel seines Haars und schloß die Thür.
»Ist das einer von Ihrer Brüderschaft?« fragte Jason gleichgiltig.
»Ah, der Dummkopf! – nein,« sagte Grabman, mit dem Ausdruck tiefer Verachtung in seinem kränklichen Gesicht. »Er arbeitet um sein Brod! – Instinkt! – Dachs- und Trüffelhunde und manche alberne Menschen haben den! – Wie lange haben wir einander nicht gesehen – soll ich Ihnen ein Glas mischen?«
»Sie wissen, ich trinke Euren schlechten Branntwein nie; obwohl ich es in Champagner und Bordeaux mit Jedem aufnehme.«
»Und wie zum Henker halten Sie dann alte schwarze Gedanken aus Ihrer Seele fern bei solchen faden Getränken?«
»Alte schwarze Gedanken! – woran?«
»An schwarze Thaten, Jason. Wir haben einander nicht gesehen, seit Sie mich für die Empfehlung der Wärterin bezahlten, die Ihren Oheim in seiner letzten Krankheit pflegte.«
»Nun, armer Hase?«
Grabman kniff seine dünnen Augbrauen zusammen und biß auf seine wulstige Lippe – »Ich bin kein Hase, wie Sie wissen.«
»Wenn es was zu thun gibt, nicht; aber nachdem es gethan ist. Sie trotzen dem Körperlichen und zittern vor dem Schatten. Ich glaube wahrlich, Sie sehen im Finstern häßliche Gespenster, Grabman.«
»Ja, ja, aber es ist da nicht zu sprechen mit Ihnen. Sie nennen sich Jason, wegen Ihres blonden Haares, oder wegen Ihrer Liebe zum goldenen Vließ: aber Ihre alten Kameraden nannten Sie Klapperschlange, und Sie haben ihr Blut wie ihr Gift.«
»Und ihren Zauber, Mann,« fügte Jason mit eigenthümlichem Lächeln hinzu, welches, obwohl es erkünstelt und gezwungen, doch eine gewisse Milde hatte, und seinen hübschen Zügen vortheilhaft stand, die Mancher schön genannt haben würde, die aber Alle regelmäßig und symmetrisch finden mußten. »Ich werde wenigstens zehn Liebesbriefe auf meinem Tische finden, wenn ich heimkomme. Doch genug von diesen Thorheiten; ich bin wegen Geschäften hier.«
»Juristische, natürlich; ich bin Ihr Mann – wer ist das Opfer?« dabei kontrastirte ein häßliches Grinsen auf Grabmans Gesicht mit dem feinen Lächeln, welches noch auf den Zügen seines Gastes ruhte.
»Nein, etwas minder Gewagtes, aber nicht minder gewinnreich, als unsere alten Geschäfte. Es ist eine Sache, die Ihnen Hunderte, Tausende einbringen kann – so daß Sie sich aus dieser Spelunke nach West-End wenden können – daß Sie Ihren Schnaps in Lafitte, Ihren Hering in Wildbret verwandeln können – daß Sie die verlorene Anwaltschaft wieder ausrichten können – vielleicht um wieder zu stürzen; doch das ist Ihre Sache.«
»Wohlan, so eröffnen Sie die Geschichte.« rief Grabman begierig, während er, die unanständigen Reste seiner Mahlzeit bei Seite schiebend, die Ellbogen auf den Tisch und sein Kinn auf seine schwammigen Hände stützte, indeß sich die Augen, die jetzt unter dem Einflusse der Gier und einer auf Alles gefaßten Klugheit leuchteten, auf den Gast hefteten.
»Die Sache ist so,« sagte Jason: »Es lebte einmal in einem alten Hause in Hampshire, Namens Laughton, ein reicher Baronet, Namens St. John. Er war ein Hagestolz – hatte über seine Güter zu verfügen. Er hatte zwei Nichten und einen etwas weitläufigeren Verwandten. Seine älteste Nichte, wohnte bei ihm – man hielt sie für seine bestimmte Erbin; Umstände, die nicht hierher gehören, zogen diesem Mädchen ihres Oheims Mißfallen zu – sie ward aus seinem Hause entlassen. Kurz nachher starb er, und hinterließ seinem Verwandten – einem Mr. Vernon – seine Güter, welche dann an Vernons Nachkommen, und, in Ermangelung solcher, zuerst an die der jüngeren Nichte, und dann an die der älteren, enterbten, kommen sollten. Die ältere heirathete und ward Wittwe ohne Kinder. Sie heirathete wieder und bekam einen Sohn. Ihr zweiter Gatte faßte aus dem oder jenem Grunde eine üble Meinung von seiner Frau. In seiner letzten Krankheit (er lebte nicht lange) beschloß er, das Weib durch Beraubung der Mutter zu strafen. Er schickte seinen Sohn weg – und bis jetzt sind wir nicht fähig gewesen, ihn zu entdecken. Dieser Sohn ist es, den Sie finden sollen.«
»Ich begreife, ich begreife! – Weiter,« sagte Grabman »Dieser Sohn ist nun der nächste Erbe. Wie kam er weg? wann? in welchem Jahr? welche Spur?«
»Geduld! In diesem Papiere werden Sie das Datum des Verlustes finden, so wie das Alter des Kindes, das damals nur ein Säugling war. Nun, was die Spur anlangt. Jener Gatte – sagte ich Ihnen den Namen? – Nein – Alfred Braddell – hatte einen besonders vertrauten Freund – John Walter Ardworth, einen kassirtenkassirten Offizier, einen ruinirten, von Wechselgläubigern, Juden und Gerichtsleuten verfolgten Menschen. Diesem Manne wurde, wie wir neuerdings mit Grund vermutheten, das Kind gegeben. Ardworth war indeß kurz nachher genöthigt, vor seinen Gläubigern zu fliehen. Wir wissen, daß er nach Indien ging; hielt er sich aber dort auf, so muß es unter einem neuen Namen geschehen seyn, und wir fürchten, daß er nun todt ist. Wenigstens sind alle unsere Forschungen nach diesem Manne fruchtlos geblieben. Bevor er fortging ließ er bei seinem alten Lehrer ein Kind, welches gleichen Alters mit dem der Mrs. Braddell war. In diesem Kinde meint sie ihren Sohn wieder zu finden. Alles was Sie zu thun haben, ist, daß Sie die Identität erforschen und durch gutes gesetzliches Zeugniß nachweisen – lächeln Sie nicht zu diesem thörichten Verfahren – Ich meine, bona fide Zeugnis, welches das Feuer der Kreuzfragen aushält. Sie wissen, was das bedeutet! Sie werden daher ausfindig machen, erstens, ob Braddell sein Kind an Ardworth übergab, und wenn dem so ist, dann müssen Sie Ardworth, mit diesem Kind in seiner Verwahrung, zu Matthew Fieldens Hause folgen, dessen Adresse Sie in dem Papiere bemerkt finden, das ich Ihnen gab, zugleich mit vielen anderen Notizen, z. B. über Ardworths Gläubiger und Diejenigen, denen er vermuthlich begegnet ist.«
»John Ardworth, ich begreife!«
»John Walter Ardworth, gewöhnlich Walter genannt; er zog es, gleich mir, vor, nur unter seinem zweiten Taufnamen bekannt zu seyn. Er, einem radikalen Pathen zu Gefallen – ich, weil Honoré ein unbequemer Gallizismus ist, und vielleicht auch, weil mein Vater Gabriel für eine sicherere Benennung hielt, als Honoré Mirabeau (mein Pathe) bei den Sansculotten aus der Mode kam; nun habe ich Ihnen Alles gesagt!«
»Wie ist der Geschlechtsname der Mutter?«
»Ihr Geschlechtsname war Clavering; sie erhielt dann den Namen Dalibards, ihres ersten Gatten.«
»Und,« sagte Grabman, indem er die Bemerkungen in den ihm übergebenen Papieren nachsah, »zu Liverpool starb der Gatte, und von da wurde das Kind weggeschickt?«
»So ists. Nach Liverpool müssen Sie zuerst gehen. Ich sage Ihnen aufrichtig, das Geschäft ist schwierig, denn bisher ist mirs nicht gelungen. Ich kannte nur einen Mann, der es, ohne Schmeichelei, glücklich angreifen könnte. Und deshalb sparte ich keine Mühe, um Nikolaus Grabman aufzufinden. Sie besitzen die ächte Spürfähigkeit; Sie sind überdies Rechtsgelehrter und fördern mit jedem Athemzug eine Zeugenschaft zu Tage. Finden Sie einen Sohn einen legalen Sohn – einen Sohn, den man vor einem Gerichtshofe zeigen kann, und in dem Augenblicke, wo er seinen Fuß auf den Boden und die Schwelle von Laughton setzt, erhalten Sie 5000 Pfund.«
»Kann ich darüber eine Verschreibung haben?«
»Meine Verschreibung gilt, fürchte ich, nicht mehr als mein Wort. Trauen Sie dem letzteren. Breche ich es, so wissen Sie genug von meinen Geheimnissen, um mich hängen zu lassen!«
»Sprechen Sie nicht von hängen – ich hasse den Gegenstand. Doch halt – wenn er gefunden ist, wird dieser Sohn erben? hinterließ Mr. Vernon keinen Erben? bleibt jene andere Schwester ledig oder ohne Erben?«
»O, richtig! Er, Mr. Vernon, der durch das Testament den Namen St. John annahm, – er hatte Nachkommen – aber nur ein Sohn lebt noch, ein jüngerer und unvermählter. Auch die Schwester hinterließ eine Tochter; Beide sind arme kränkliche Geschöpfe – ihr Leben ist keinen Strohhalm werth. Die kümmern uns nicht. Sie finden Vincent Braddell, und er wird nicht lange ohne sein Eigenthum seyn, so wenig wie Sie ohne Ihre 5000 Pfund! Sie sehen, daß unter solchen Umständen eine Verschreibung ein gefährlich Document werden könnte!«
Grabman ließ ein furchtbares und zitterndes Lachen vernehmen – ein Lachen, gleich dem eines abergläubischen Menschen, wenn man ihm von Gespenstern und Kirchhöfen erzählt. Er lachte krampfhaft und sein Haar sträubte sich. Aber nach einer Pause, während welcher er mit seinem eignen Gewissen zu ringen schien, sagte er: – »Gut, gut – Sie sind ein seltsamer Mann – Jason, Sie lieben den Scherz – ich habe gar nichts zu thun, außer diesen letzten Erben ausfindig zu machen – merken Sie das!«
»Ganz recht; Theilung der Arbeit ist das Allerbeste.«
»Die Nachforschung wird kostspielig seyn.«
»Da ist Oel für Ihre Räder,« antwortete Jason, indem er ein Taschenbuch Das englische »note-book« bedeutet hier soviel wie »Brieftasche mit Banknoten«. in die Hände seines Vertrauten legte. »Aber denken Sie daran, daß es nicht verschwendet wird; keine Possen, kein falsches Spiel mit mir; – Sie kennen Jason, oder, wenn Ihnen der Name besser gefällt, Sie kennen die Klapperschlange!«
»Ich will jeden Pfenning berechnen,« sagte Grabman, während er eifrig die Hände zusammenschlug und während sein blasses Gesicht noch bleifarbener In der Vorlage »bleichfarbener«. wurde.
»Ich zweifle nicht daran, mein Federfuchser. Sehen Sie scharfsichtig, brechen Sie Morgen auf. Schaffen Sie sich anständige Kleider an, seyen Sie nüchtern, reinlich und anständig. Handeln Sie als ein Mann, der 5000 Pfund vor sich sieht. Und nun leuchten Sie mir die Treppe hinunter.«
Mit der Kerze in der Hand schlich Grabman die holperigen Stufen hinab, fast noch schüchterner als Beck dieselben hinaufgestiegen war, und er legte seinen Finger auf den Mund, als sie in die gefürchtete Nähe der Nr. 7 kamen. Aber Jason, oder vielmehr Gabriel Varney, mit seinem furchtlosen unbekümmerten Muthe, der, während er zur Hälfte seine Verbrechen veranlaßte, zuweilen doch einen falschen Schimmer über seine Verworfenheit breitete, Varney, den die Feigheit seines Kameraden reizte, klopfte stark an die verschlossene Thür und rief laut: »Alter Grabdieb, kommt heraus und laßt mich mein Bild fertig machen. Heraus, sag' ich, heraus!« Grabman ließ das Licht auf der Treppe stehen und machte nur drei Sprünge bis nach seinem Zimmer.
Auf den dritten Ruf des Störers riß der »Auferstehungsmann« heftig seine Thüre auf und erschien unter derselben; das Licht der tiefer stehenden Kerze zeigte die tiefgefurchten Züge seines häßlichen Gesichts und die ungeheure Stärke des gigantischen Körpers und Gliederbaues. So schlank und zartgebaut er war, betrachtete Varney jenen doch entschlossen und bebte nicht.
»Was haben Sie mit mir zu schaffen?« sagte die schreckliche vor Wuth zitternde Stimme.
»Nur Euer Portrait, als Pluto, vollenden. Jener war der Gott der Hölle, wie Ihr wißt!«
Im nächsten Moment hing die ungeheure Hand des Ogers gleich einer schwarzen Wolke über Gabriel Varney. Dieser, stets auf seiner Hut, sprang beiseite, und das Licht beleuchtete den Stahl eines Pistols. »Hand fort! – oder –«
Das Knacken des Pistolenhahns vollendete den Satz.
Der Schurke hielt inne. Das Leuchten vereitelter Wuth gab seinen düstern Augen einen momentanen Glanz. »Vielleicht find' ich Euch dieser Tage, oder Nächte, wieder, und ich werd' Euch unter zehntausend erkennen.«
»Nichts besser als der Vogel in der Hand, Meister Grabstehler! Wo können wir jemals wieder zusammentreffen?«
»Vielleicht im Feld – vielleicht auf der Landstraße – vielleicht in Old Bailey – vielleicht am Galgen – vielleicht im Verbrecherschiff; ich weiß, was Das bedeutet! Ich war einmal Tag und Nacht mit solch einem Burschen, wie Ihr, zusammengeschlossen – brach ich seinen Uebermuth nicht, – stört' ich seinen Schlaf nicht? Hoho! jetzt seht Ihr schon ein Bischen weniger tollkühn aus – da habt Ihr mich!«
Varney hatte zuvor kein banges Gefühl, kein so schnelles Herzklopfen empfunden. Aber das seiner reizbaren Phantasie dargebotene Bild, (einer Phantasie, die stets über Schrecken zu brüten geneigt war,) das Bild dieses Gefährten – mit ihm Tag und Nacht zusammengekettet – dies, erschütterte plötzlich seinen Muth – dieses Bild stand deutlich vor ihm, gleich dem Oulos Oneiros – dem bösen Traume der Griechen.
Er athmete hörbar. Des Leichendiebes dumpfer Verstand begriff, daß er die gewöhnliche Wirkung des Schreckens hervorgebracht, und das befriedigte sein thierisches Selbstgefühl; er zog sich langsam, Zoll um Zoll, nach der Thür zurück, während ihm Varney's starres und entsetztes Auge folgte. Dann schloß er die Thür so heftig, daß die Kerze ausgelöscht wurde.
Varney, welcher nicht wagte – in der That nicht wagte – Grabman laut um ein anderes Licht zu ersuchen, tappte die dunkle Treppe mit hastigen, gespensterartigen Schritten hinab – und nachdem er mit der einen Hand den Thürgriff gefunden, während die andere noch krampfhaft das Pistol hielt, gelang es dem von Grauen Ergriffenen endlich, die Straße wieder zu erreichen, wo er einen Augenblick stehen blieb, um sich in der freien Luft zu sammeln. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und seine Glieder zitterten, wie wenn er um ein Haar breit der erdrückenden Last eines fallenden Hauses entgangen wäre.