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IV

Der hatte gut gegen sie sein wollen! – Während sie auf der Landstraße spazieren gingen – es war schon spät, in zehn Minuten hätte sie am Klavier sitzen sollen – hatte er sie plötzlich um die Taille gefaßt und ihr gedroht, daß er sie totschlagen würde, wenn sie schrie.

Er hatte sie den Abhang hinuntergetragen, und als plötzlich zwei Männer angelaufen kamen, hatte er kehrt gemacht und sie vor sich durch den gegrabenen Hohlweg getrieben.

Während die Männer den Abhang zum Fluß hinunterliefen, wo die Arbeiter nach Feierabend ihren Sandprahm angebunden hatten, waren sie und Walther zur Chaussee zurückgelangt und dann über das große Kartoffelfeld gelaufen.

Ach, sie war mürbe in allen Gliedern nach dem Lauf, wieder und wieder war sie gefallen.

Sie atmete erleichtert auf, wie sie ihn dort schnarchend in der Kartoffelgrube liegen sah.

Sie wollte ihn nie wieder sehen, – böse war er gegen sie gewesen! – nie wollte sie ihm ihren Ring zeigen oder mit ihm tanzen – wenn sie siebzehn Jahre alt war.

Sie schlich aus der Grube und kroch ein großes Stück auf allen Vieren, damit er sie nicht entdeckte, wenn er aufwachte.

Nachdem sie sich so weit entfernt hatte, daß sie nichts weiter als das flache, graue Feld sehen konnte – weder Haus noch Grube, beruhigte sie sich und schlief ein.

   

Sie erwachte, vor Kälte zitternd.

Während sie da auf der kahlen Erde saß und auf den Sonnenaufgang wartete, träumte sie sich zu der Zeit zurück, als sie mit Vater Antonio, Mutter Giulietta und Beppo dem Kutscher, von Stadt zu Stadt fuhr, – den ganzen langen Weg von Italien her.

Sie sah den Alten auf seinem Dreifuß sitzen, die Pfeife im Munde – er flickte Schuhe, besserte Kessel aus, schliff Messer, während Mutter Giulietta in der »Stube« saß und aus den Linien der Hand und aus Karten weissagte. Die Frauen der Stadt standen draußen mit ihren Kleinen und warteten, bis die Reihe an sie kam.

Sie selbst lief mit ihrer roten Mütze herum und sammelte die kleinen Münzen, die die Leute ihr gaben, ihrer großen blauen Augen wegen unter dem schwarzen, blanken Haar.

Wenn sie den Leuten der Stadt, die ihren Abendspaziergang zu den Zigeunern am Zaun machten, etwas vorgetanzt, gesungen und fleißig mit dem Tamburin gerasselt, so daß es tüchtig Münzen geregnet hatte, dann bekam sie selbst zehn Pfennige um sich beim Höker hinter der Mühle Süßigkeiten zu kaufen.

Sie dachte an die Reise hin und her, – dieselben Orte Jahr für Jahr.

Noch weiter träumte sie sich zurück – da aber war sie noch ganz klein, nur vier Jahre alt, – als ihre erste und richtige Mutter sie aus der großen Stadt aufs Land brachte zu den blauen Bergen hinaus, wo sie nach ihrer langen Krankheit wieder zu Kräften kommen sollte. Sie erinnerte sich noch, wie ihre Mutter den Ring, den der Bischof geweiht hatte, ihr um den Hals hing, ihn auf ihrer Brust küßte und sagte, daß der Ring sie von der Krankheit geheilt habe, daß sie sich nie von ihm trennen oder ihn jemandem zeigen dürfe.

Teresa hatte den Sinn nicht richtig begriffen, – der Worte aber entsann sie sich genau, weil ihre Mutter sie ihr so ernst und eindringlich gesagt hatte. Und dann hatte sie sie schluchzend an sich gedrückt und war fortgegangen.

Am Hang der blauen Berge war Vater Antonios Winteraufenthalt: hier wohnten er, Mutter Giulietta und Beppo, solange der Schnee auf den Bergen lag.

Der Zigeunerwagen, worin sie wohnten, stand dicht neben der Felswand. Den ganzen Winter war er von einer Persenning bedeckt, damit es nicht durchs Dach regnen sollte.

Wenn der Schnee schmolz und in kleinen blitzenden Bächen, murmelnd den Bergabhang, unter dem vorjährigen Laub, herunterkam, dann tropfte es auch – tapp, tapp – von der Persenning, und Vater Antonio machte sich emsig, um bald abfahren zu können.

Dann bekam sie wieder die Welt zu sehen, – Berge, die bis in den Himmel ragten mit ihren weißen Gipfeln, – Täler mit kauenden Kühen, mit Mägden und Knechten, die mit krummen Sicheln ernteten, – bis sie schließlich zu der kleinen Stadt zwischen den Höhen kamen, die ihr von allen Orten, die sie schon gesehen hatte, die liebste war –

Das Städtchen lag im Rheinland, und sie erreichten es erst, als die Bäume schon in Blüte standen und Bienen zwischen den weißen Dolden summten, die wie die schneebedeckten Bergabhänge daheim aussahen, die Stadt mit dem Kirchturm über moosbewachsenen Stadtmauern.

...feld lag abseits von der großen Verkehrsstraße, – hier herrschte noch Frieden, nie hörte man Geschrei und Gezänk von Männern, die stritten und fluchten.

In jener Stadt blieben sie, bis die Bäume und Büsche ihre Blüten verloren hatten, – von dort aus machten sie kehrt und fuhren wieder zurück.

Blumen pflückte sie am Grabenrand, band sie zu einem Kranz und schenkte ihn demjenigen, der ihr am besten gefiel.

Wenn sie sich im geheimen Beppos Violine bemächtigen konnte, die auf dem Brett über seinem Bett lag, dann spielte sie von den Blumen im Zaun, dem Duft der Lindenblüten, dem Rieseln des Wassers im Graben und dem Quaken der Frösche im Teich hinter der Mühle.

Es war Teresas Aufgabe, die Leute zu unterhalten, während Vater Antonio Schuhe oder Kessel flickte und Beppo Messer schliff. Sie sah allerliebst aus, mit ihrer roten Mütze, das seidene Band um den Hals, wenn sie ihre schwarzen Locken schüttelte und mit den großen blauen Augen und weißen Zähnen lächelte. Es fiel ihr nicht schwer, gegen jedermann freundlich zu sein, fand sie doch die ganze Welt schön, und alle Menschen gut.

Sie tanzte, wie man es von ihr verlangte, und auch das fiel ihr nicht schwer, denn sie hatte den Teufel in den Schuhen, wie Mutter Giulietta sagte.

Sie schüttelte das Tamburin über ihrem Kopfe und sang dazu. Was sie sang, wußte niemand, sie auch nicht. Und während sie sang und tanzte, vergaß sie ihre Umgebung ganz, so wie die Blume auf dem steinernen Zaun duftet und schaukelt, ob sie Zuschauer hat oder nicht, – wie der Star im Kirschbaum flötet, ob jemand ihm zuhört oder nicht.

Am liebsten aber spielte sie auf Beppos Violine.

   

Die Jahre vergingen, und Teresas Leben glitt so regelmäßig dahin wie die Jahreszeiten. Wenn der Schnee zu schmelzen begann, wurde ihr Blut unruhig, dann wurden eine neue Mütze und ein neues Band gekauft, Giulietta stopfte ihre Blusen und Strümpfe, und Antonio flickte höchst eigenhändig ihre Schuhe.

»Jetzt wird's Frühling,« sagten die Leute an der Landstraße, »heute morgen ist Vater Antonio vorbeigekommen.«

»Teresa ist selbst eine Perle,« sagten diejenigen, die von ihrem geweihten Ring wußten, denn daß er Glück brachte, konnte ja ein jeder sehen! – Hatte die Familie nicht ein Klavier bekommen und Mutter Guilietta ein neues sauberes Kartenspiel?

Spät im Frühling gelangten sie zu den hohen Bergen und fuhren über den Paß, wo noch Schnee lag.

Hoch über ihnen rasten Eisenbahnen donnernd über Viadukte, und noch höher – Teresa mußte ihren Kopf ganz in den Nacken legen – wurden die Wolken von den dunkeln Bergwänden eingefangen.

Endlich, wenn die Luft warm geworden war, kam die herrliche Zeit. Dann meinte Teresa, daß sie von morgens bis abends durch blühende Gärten fuhren. In Feldern von gelben und grünen Gräsern prangten hellrote Mohnblumen, deren Blütenblätter wie Fahnen im Winde flatterten.

   

Eines Tages – es war an einem Sonntag, die Sonne stand schon tief und viele Leute waren auf dem grünen, dreieckigen Platz vor dem Wagen versammelt – saß Teresa an ihrem Klavier und spielte, während die letzten Sonnenstrahlen durch die hohe Linde am Wege fielen. Ein kleiner, grauer Vogel saß auf einem Zweig – sie sah sein Auge in der Sonne blitzen – und während er ihrem Spiel lauschte, drehte er den Kopf hin und her.

Sie ließ ihre Hände auf den Tasten ruhen, um ihn zu beobachten – kaum aber hatte sie zu spielen aufgehört, als er aus voller Kehle zu singen begann. Sein Körper bebte, er reckte den Kopf zum Licht hinauf und schien ihr antworten zu wollen –

Teresa vergaß die Menschen ringsum, vergaß die Melodie, die sie gespielt hatte, und während sie die Augen auf den Vogel gerichtet hielt, glitten ihre Finger wie träumend über die Tasten und entlockten ihnen eine einfache Melodie, ein Lied in der Sprache des Vogels –

Der Vogel hielt mitten in seinem Gesang inne und lauschte ihr. Kaum aber ruhten ihre Finger auf den Tasten, als er wieder zu flöten begann und seinen Hals nach ihr reckte.

So hielten sie Zwiesprache miteinander – das Mädchen und der Vogel – bis die Abendglocke zu läuten begann. Da flog der Vogel davon und Teresa besann sich wieder auf sich selbst.

Auf dem Platz war es ganz still geworden, sogar die Kinder hatten aufgehört zu lärmen, – und jetzt wurde Beifall geklatscht und Bravo gerufen.

Dort drüben stand die Wirtin aus dem Krug »Zur Post«, Frau Hancke im neuen Frühjahrsmantel, mit ihren drei Töchtern.

Die kleine, lebhafte Frau mit dem runden Gesicht und ergrautem Haar winkte ihr freundlich lächelnd zu.

Liesje, die Jüngste, munter und rotbäckig, hatte schon bei früherer Gelegenheit mit Teresa Bekanntschaft gestiftet. Als sie einst längs des Zaunes zum Kirchhof ging, hatte Teresa ihr geholfen, Wasser von der Pumpe zum Grabe ihres Vaters zu tragen. Dafür hatte sie Teresa zwei blanke Groschen gegeben.

Fräulein Liesje trat unruhig von einem Fuß auf den andern, – sie wollte tanzen.

Neben ihr stand ein älterer Herr, ein Stadtherr, in schwarzem Rock, – Liesje nannte ihn Onkel –

Er stand ganz in sich versunken da, nahm sich aber zusammen und reichte Beppo, der mit dem Teller herumging, eine ganze Rentenmark.

Dann spielte Teresa zum Tanz auf.

Ein junger Mann faßte sich ein Herz und forderte Frau Hanckes Liesje zum Tanze auf – Teresa hatte gemerkt, daß Liesje ihn mit ihren Schelmenaugen ermuntert hatte, – und als das erste Paar erst den Anfang gemacht hatte, und da es noch dazu keine geringere als eine von Frau Hanckes Töchtern war, folgten bald andre Paare ihrem Beispiel.

Teresa hatte Musik in den Fingern, – Tanzmusik entschlüpfte ihnen wie von selbst, so daß Teresa ihre Augen anderweitig gebrauchen konnte.

Es dämmerte bereits, und dennoch sah sie alles, was rings herum vorging. Sah, daß der Onkel der Mädchen, der dicke Herr aus der Stadt, Vater Antonio mit an den Zaun gezogen hatte und auf ihn einsprach –

Was hatten die beiden sich zu erzählen?

Antonio fuhr sich durch sein wolliges Haar und schüttelte den Kopf. Plötzlich wurde er ganz still, sank gleichsam in sich zusammen, blickte verstohlen auf und begegnete Teresas Blick, wandte sich dann ab und wollte gehen. Der Stadtherr aber hielt ihn zurück, bot ihm eine Zigarre an, zündete sie sogar selbst an, und Vater Antonio drehte sie verlegen zwischen seinen Fingern, schnupperte den Rauch und machte ein geschmeicheltes Gesicht.

Es hatte seine Richtigkeit, der Stadtherr, Wirt des »Goldenen Engel«, war der Bruder von Frau Hancke und über den Sonntag zu ihr auf Besuch gekommen.

Er war schon früher mit ihr und den Mädchen bei Vater Antonios Wagen gewesen, hatte auch das schwarzlockige Kind dort herumspringen sehen, aber erst heute, an diesem wunderschönen Sonntagabend, hatte er zu seinem Staunen entdeckt, daß es ein Wunderkind war.

Er hatte überlegt und gerechnet und schließlich mit seiner Schwester, Frau Hancke, gesprochen.

Die Krugwirtin – die gute Seele – meinte wie ihr Bruder, daß es schade um das Kind sei. Wozu konnte solch ein Wanderleben führen? Immer fremden Menschen vorspielen, vortanzen und zulächeln?

Frau Hancke hatte in zehn Minuten Teresas Zukunft aufs beste geordnet, bevor noch die Alten ihre Zustimmung gegeben hatten. An diesem Sonntagabend aber wurde Onkel Fritz mit ihnen handelseinig.

Tags darauf war Teresa Gast bei Frau Hancke und ihren Töchtern und wurde mit Freundlichkeiten überschüttet.

Frau Hancke brachte ihr selbstgebackene Kringel – und tags darauf fuhr sie mit Teresa zu Onkel Fritz: Sie sollte den Gästen des »Goldenen Engels« in der Stadt vorspielen. Nach Zigeunerart. Aber im Hochsommer, wo da keine Saison war, sollte sie auf das Land kommen, um Frau Hancke und ihren Mädchen in Küche und Keller zur Hand zu gehen.

*

Ein Hahn krähte und weckte Teresa aus ihren Träumen.

Eine Tür knarrte, und aus einem kleinen Haus am Wege trat ein Mann in langen Schaftstiefeln. Er blickte über Himmel und Felder nach dem Wetter aus. Plötzlich fiel sein Blick auf Teresa, und vor Staunen blieb ihm der Mund offen stehen.

Teresa erhob sich, säuberte ihren Rock von Erde, rückte die Mütze zurecht und kam näher. Sie sprang über den Graben, stand vor dem Manne und blickte ihm in die bleichen, scharfen Augen.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte er schließlich.

Im selben Augenblick wußte Teresa es.

»Ich will nach ...feld.«

Er blickte auf die Stelle, wo sie gelegen hatte, musterte ihr Kleid und lächelte.

»Nach ...feld? Sie wollen wohl den ersten Zug nach ...kirchen erreichen?«

»Ja« sagte sie strahlend; gerade bei dieser Station pflegte sie umzusteigen, wenn sie nach den Ferien zurückkomme.

»Sie sind wohl über den Richtweg von der Chaussee dort drüben gekommen?« fragte er und dachte sich sein Teil.

»Ja,« nickte sie, »aber der Weg war so lang, und als ich müde wurde, legte ich mich hin und schlief ein –«

Er sah sie prüfend an, kratzte sich hinterm Ohr, wußte nicht, ob er ihr Glauben schenken sollte –

Ein Stadtkind war sie jedenfalls nicht. Die großen klaren Augen blickten so unerschrocken, und über der linken Braue saß eine kleine ungeduldige Falte, als ob sie sagen wollte: »Mach nur schnell!« Nun, die Milch sollte zur Bahn – Teresa durfte mitfahren.

So kam es, daß Teresa nach der kleinen Stadt zurückkehrte. Groß war das Erstaunen, noch größer der Schreck, als Frau Hancke und ihre Töchter erfuhren, was Teresa zugestoßen war.

Es wurde dringend telephoniert, und Onkel Fritz verlangte, daß sie sofort zurückkommen sollte. Teresa aber weinte herzbrechend, klammerte sich an die Krugwirtin und beschwor sie, ihre dritte Mutter zu werden.

Die drei Mädchen waren auf Teresas Seite. Wenn das einer von ihnen zugestoßen wäre! Und der Kerl würde Teresa natürlich nicht in Ruhe lassen, wenn sie zurückkehrte.

Onkel Fritz, der vorsichtige, hochachtbare, mußte schließlich zugeben, daß »Der Goldene Engel« trotz seiner Anständigkeit kein Aufenthalt für ein Mädchen von Teresas Aussehen sei. Das Ratsamste war, die Geschichte von der »Entführung« niederzuschlagen, – Onkel Fritz stand sich ja gut mit der Polizei.


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