Charlotte Brontë
Jane Eyre, die Waise von Lowood.
Charlotte Brontë

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Dreizehntes Kapitel.

Wie es schien, befolgte Mr. Rochester den Befehl des Arztes indem er an diesem Abend frühzeitig zu Bett ging. Am folgenden Morgen stand er spät auf. Als er dann herunterkam, war es nur, um sich den Geschäften zu widmen; sein Bevollmächtigter und einige seiner Pächter waren gekommen und warteten jetzt, um mit ihm sprechen zu können.

Adele und ich mußten das Bibliothekzimmer jetzt räumen; es sollte täglich als Empfangszimmer für die Besucher dienen. Im oberen Stockwerk wurde ein Zimmer geheizt; dorthin trug ich unsere Bücher und richtete es als künftiges Schulzimmer ein. Im Laufe des Morgens hatte ich noch Gelegenheit wahrzunehmen, daß Thornfield-Hall ein anderer Ort geworden; es war nicht mehr still wie in einer Kirche; zu jeder Stunde hallte ein lautes Klopfen an der Thür oder der Ton der Glocke durch das Haus; oft ertönten Schritte in der Halle; von unten herauf vernahm man den Schall fremder Stimmen. Ein Bächlein aus der Außenwelt rieselte plötzlich durch unser stilles Heim. Thornfield hatte einen Herrn bekommen. Mir gefiel es jetzt besser.

An diesem Tage war es nicht leicht, Adele zu unterrichten; sie konnte sich nicht sammeln. Jeden Augenblick lief sie zur Thür und blickte über das Treppengeländer hinab, um zu sehen, ob sie nicht einen Schimmer von Mr. Rochester erhaschen könne. Dann erfand sie allerlei Vorwände, um hinuntergehen zu dürfen; ich vermute, daß sie nur in die Bibliothek gehen wollte, wo sie, wie ich sehr wohl wußte, durchaus nicht gebraucht wurde. Als ich dann ein wenig ärgerlich wurde und ihr befahl, still zu sitzen, begann sie unaufhörlich von ihrem »Ami, Monsieur Edouard Fairfax de Rochester,« wie sie ihn taufte, zu sprechen, – ich hatte seine Vornamen bis jetzt noch nicht gekannt – und Vermutungen über die Geschenke anzustellen, welche er ihr möglicherweise mitgebracht hatte; denn wie es schien, hatte er ihr abends zuvor angedeutet, daß wenn sein Gepäck aus Millcote käme, sie eine kleine Schachtel finden würde, deren Inhalt sie möglicherweise interessieren könne.

»Et cela doit signifier,« sagte sie, »qu'il y aura là dedans un cadeau pour moi, et peut-etre pour vous aussi, Mademoiselle. Monsieur a parlé de vous: il m'a demandé le nom de ma gouvernante, et si elle n'était pas une petite personne, assez mince et un peu pâle, J'ai dit que oui: car c'est vrai, n'est-ce pas, Mademoiselle?«Und das soll bedeuten, daß ein Geschenk für mich darin sein wird, und vielleicht auch für Sie, Fräulein. Der Herr hat von Ihnen gesprochen: er hat mich nach dem Namen meiner Gouvernante gefragt, und ob diese nicht eine kleine Person sei, ziemlich dünn und ein wenig bleich. Ich habe Ja gesagt; denn es ist wahr, Fräulein, nicht wahr?

Wie gewöhnlich speisten meine Schülerin und ich in Mrs. Fairfaxs Wohnzimmer. Der Nachmittag war rauh und es schneite, und wir brachten denselben im Schulzimmer zu. Mit Dunkelwerden erlaubte ich Adele, Bücher und Arbeiten fortzulegen und hinunter zu laufen; denn aus der verhältnismäßigen Stille unten und dem Aufhören des Läutens an der Hausthürglocke schloß ich, daß Mr. Rochester jetzt unbeschäftigt sei. Allein geblieben, trat ich ans Fenster; aber man konnte nichts mehr sehen; die Dämmerung und das Schneegestöber verdunkelten die Luft und verbargen sogar das Gebüsch auf dem Wiesenplan vor dem Hause. Ich zog die Vorhänge zusammen und setzte mich wieder an das Feuer.

Aus der leichten Asche versuchte ich ein Bild zu erkennen, welches große Ähnlichkeit mit einer Ansicht des Heidelberger Schlosses am Neckar hatte. Da trat Mrs. Fairfax ein. Damit fiel das feurige Mosaik zusammen, mit dem ich mich beschäftigt hatte, und zugleich zerstoben auch einige trübe, schwere, unwillkommene Gedanken, die angefangen hatten, meine friedliche Einsamkeit zu stören.

»Es würde Mr. Rochester sehr angenehm sein, wenn Sie und Ihre Schülerin heute Abend den Thee mit ihm im Salon einnehmen wollten,« sagte sie, »er ist während des ganzen Tages so sehr beschäftigt gewesen, daß er bis jetzt keine Zeit gehabt, Sie aufzusuchen.«

»Um welche Zeit nimmt er den Thee?« fragte ich.

»O, um sechs Uhr. Auf dem Lande hält er sich an frühe Stunden. Es wäre am besten, wenn Sie jetzt schon gingen, um Ihre Toilette zu wechseln. Ich werde mit Ihnen gehen, um Ihnen zu helfen. Hier ist eine Kerze.«

»Ist es denn durchaus notwendig, meine Kleidung zu wechseln?«

»Ja, es ist besser, wenn Sie es thun. Ich mache stets Toilette für den Abend, wenn Mr. Rochester hier ist.«

Diese Ceremonie erschien mir ein wenig pomphaft. Indessen begab ich mich auf mein Zimmer und mit Mrs. Fairfaxs Hilfe tauschte ich mein schwarzes wollenes Kleid gegen ein seidenes von gleicher Farbe; es war das beste und nebenbei auch das einzige, welches ich besaß, mit Ausnahme eines hellgrauen, welches nach meinen Toilettenbegriffen, die ich aus Lowood mitgebracht, zu prächtig und elegant war, um es bei anderen als höchst feierlichen Gelegenheiten zu tragen.

»Sie brauchen noch eine Brosche,« sagte Mrs. Fairfax. Ich besaß einen einzigen kleinen Schmuckgegenstand aus echten Perlen, welchen Miß Temple mir beim Abschied als Andenken geschenkt hatte; diesen legte ich an und dann gingen wir hinunter. Ich war nicht an den Verkehr mit Fremden gewöhnt, und daher war es fast eine schwere Prüfung für mich, so förmlich aufgefordert vor Mr. Rochester zu erscheinen. Ich ließ Mrs. Fairfax zuerst in das Speisezimmer eintreten und hielt mich in ihrem Schatten, als wir dieses Gemach durchschritten. Dann gingen wir unter dem Bogen durch, dessen Vorhänge jetzt herabgelassen waren, und traten in die elegante Vertiefung, welche sich hinter demselben befand.

Zwei Wachskerzen brannten auf dem Tische und zwei auf dem Kamin; in der Hitze und dem Licht eines prächtig lodernden Feuers lag Pilot – neben ihm kniete Adele. Halb zurückgelehnt auf einem Ruhebett lag Mr. Rochester; sein Fuß war durch ein Polster gestützt; er blickte auf Adele und den Hund; der Schein des Feuers fiel voll auf sein Gesicht. Ich erkannte sofort den Reiter mit der hohen Stirn und den dichten, kohlschwarzen Augenbrauen wieder; das schwarze Haar ließ die Stirn noch weißer erscheinen. Ich erkannte seine scharf geschnittene Nase wieder, die mehr charakteristisch als schön war; seine vollen Nüstern deuteten auf eine cholerische Natur; sein grimmer Mund, das Kinn, die Kinnbacken – ja, alle drei waren grimmig, darüber konnte kein Irrtum obwalten. Seine Gestalt, die jetzt des Mantels entkleidet war, harmonierte an Schärfe mit seinem Gesicht. Ich vermute, daß man sie vom athletischen Standpunkt aus schön hätte nennen können, – die Brust war breit, die Hüften schmal; aber sie war weder schlank noch geschmeidig.

Mr. Rochester mußte Mrs. Fairfaxs und meinen Eintritt wohl bemerkt haben; aber ich vermute, daß er nicht in der Laune war, Notiz von uns zu nehmen, denn er wandte nicht einmal den Kopf, als wir näher traten.

»Hier ist Miß Eyre, mein Herr,« sagte Mrs. Fairfax in ihrer ruhigen Weise. Er neigte den Kopf leicht, aber immer wandte er noch keinen Blick von der Gruppe des Hundes mit dem Kinde.

»Lassen Sie Miß Eyre Platz nehmen,« sagte er, und in der förmlichen, steifen Verbeugung, in dem ungeduldigen gezwungenen Ton lag etwas, das zu sagen schien: »Was zum Teufel kümmert es mich, ob Miß Eyre da ist oder nicht? In diesem Augenblick verspüre ich keine Lust, mit ihr zu sprechen.«

Ich setzte mich und meine Verlegenheit war gänzlich geschwunden. Ein Empfang von äußerster Höflichkeit würde mich wahrscheinlich verwirrt haben; ich hätte ihn nicht durch Eleganz oder Grazie meinerseits erwidern können; aber solche schroffe Launen legten mir keine Verpflichtung auf; im Gegenteil, ich errang einen leichten Vorteil über ihn durch seinen Mangel an guter Manier, den ich schweigend zu ignorieren schien. Außerdem war mir das Außergewöhnliche seines Verfahrens pikant. Es interessierte mich zu beobachten, wie es nun weiter gehen würde.

Er benahm sich also weiter, wie eine Statue es ungefähr gethan haben würde; das heißt, er sprach weder, noch bewegte er sich. Mrs. Fairfax schien es für notwendig zu halten, daß einer von uns sich liebenswürdig zeige, und so begann sie zu sprechen. Freundlich wie gewöhnlich und wie gewöhnlich auch zuerst sehr alltäglich, begann sie ihn wegen der dringenden Geschäfte zu bemitleiden, mit welchen er während des ganzen Tages überbürdet gewesen, wegen der Verrenkung, welche ihm große Schmerzen verursachen müsse, – dann begann sie, ihm Geduld und Ausdauer während des Verlaufs seiner Heilung anzuempfehlen.

»Madame, ich bitte um eine Tasse Thee,« lautete die einzige Antwort, welche sie erhielt. Sie beeilte sich, die Glocke zu ziehen; und als das Theebrett gebracht wurde, begann sie, die Tassen, Löffel u. s. w. mit geschäftiger Schnelligkeit zu ordnen. Adele und ich gingen an den Tisch; aber der Hausherr verließ sein Ruhebett nicht.

»Wollen Sie Mr. Rochester die Tasse reichen?« sagte Mrs. Fairfax zu mir. »Adele könnte den Thee verschütten.«

Ich that, was sie begehrte. Als er mir die Tasse aus der Hand nahm, rief Adele, welche den Augenblick vielleicht für geeignet hielt, eine Bitte zu meinen Gunsten auszusprechen:

»N'est-ce pas, Monsieur, qu'il y a un cadeau pour Mademoiselle Eyre dans votre petit coffre?«Nicht wahr, mein Herr, in Ihrem Koffer liegt ein Geschenk für Fräulein Eyre?

»Wer redet von cadeaux?« fragte er rauh. »Haben Sie ein Geschenk erwartet, Miß Eyre? Lieben Sie vielleicht Geschenke?« und forschend blickte er mir ins Gesicht mit Augen, in denen Zorn und Ärger blitzten.

»Ich weiß es kaum, mein Herr; ich habe in dieser Beziehung wenig Erfahrung. Aber im allgemeinen hält man sie doch für sehr angenehme Dinge.«

»Im allgemeinen hält man sie dafür!! Aber was halten Sie davon?«

»Ich müßte mir wirklich Zeit nehmen, Sir, um zu überlegen, bis ich eine Antwort finden könnte, die Ihrer Annahme würdig wäre. Ein Geschenk hat viele Gesichter. Nicht wahr? Und man sollte jedes einzelne betrachten, ehe man eine Meinung über seine Beschaffenheit ausspricht.«

»Miß Eyre, Sie sind nicht so harmlos und einfach wie Adele; sie verlangt laut ein cadeau, sobald sie meiner ansichtig wird. Sie hingegen klopfen auf den Busch.«

»Weil ich weniger Vertrauen zu meinen Verdiensten habe, als Adele; sie kann das Recht der Gewohnheit und die alte Bekanntschaft geltend machen, denn sie hat mir erzählt, daß Sie ihr stets Spielsachen zu schenken pflegten. Mir würde es aber die größte Schwierigkeit bereiten, wenn ich irgend einen berechtigten Anspruch an Sie erheben sollte, denn ich bin eine Fremde und habe nichts gethan, um eine Belohnung von Ihnen zu verdienen.«

»O, bitte, verfallen Sie jetzt nicht in das Extrem zu großer Bescheidenheit! Ich habe Adele examiniert und finde, daß Sie sich mit ihr große Mühe gegeben haben. Sie ist nicht besonders aufgeweckt; sie hat kein großes Talent, und doch hat sie in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht.«

»Sir, jetzt haben Sie mir mein cadeau gegeben; ich bin Ihnen außerordentlich dankbar; nichts kann einem Lehrer größere Freude machen als Lob über die Fortschritte seiner Schüler.«

»Bah!« sagte Mr. Rochester und trank dann seinen Thee schweigend aus.

»Kommen Sie hierher ans Feuer,« sagte der Hausherr, als das Theegeschirr abgetragen war und Mrs. Fairfax sich mit ihrem Strickzeug in einen Winkel setzte, und Adele mich an der Hand durch das ganze Zimmer führte, um mir all die prächtigen Bücher und Nippsachen auf Konsolen und Chiffonnièren zu zeigen. Wir gehorchten pflichtschuldigst. Adele wollte auf meinem Schoß Platz nehmen, aber es wurde ihr anbefohlen, sich mit Pilot zu amüsieren.

»Sie halten sich jetzt schon drei Monate in meinem Hause auf?«

»Ja, Sir.«

»Und Sie kamen aus––––––?«

»Aus der Schule zu Lowood in .... shire.«

»Ah! eine Wohlthätigkeitsanstalt! – Wie lange waren Sie dort?«

»Acht Jahre.«

»Acht Jahre! Sie müssen ein zähes Leben haben. Ich meinte, daß die Hälfte der Zeit genügen müsse, um jede Konstitution aufzureiben! Kein Wunder, daß Sie beinahe aussehen, als kämen Sie aus einer anderen Welt. Ich habe mich schon ganz erstaunt gefragt, woher Sie ein solches Gesicht haben konnten. Als Sie mir gestern Abend in dem Heckenwege entgegen kamen, mußte ich unwillkürlich an Gespenstergeschichten denken und ich hatte schon die Absicht zu fragen, ob Sie mein Pferd behext hätten. Ganz sicher bin ich dessen auch jetzt noch nicht. Wer sind Ihre Eltern?«

»Ich habe keine.«

»Und hatten vermutlich auch niemals welche; erinnern Sie sich ihrer nicht?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir. So warteten Sie also auf Ihre Leute, als Sie dort am Zaun saßen.«

»Auf wen, Sir?«

»Auf die Männchen in Grün. Es war gerade eine rechte Mondscheinnacht für sie. Habe ich vielleicht einen Ihrer Zauber gebrochen, daß Sie das verdammte Eis über den Fußsteig zogen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Die Männer in Grün haben alle schon vor hundert Jahren England verlassen,« sagte ich und sprach ebenso ernst, wie er es gethan hatte. »Und nicht einmal im Heckengäßchen von Hay oder auf den umliegenden Feldern würden Sie jetzt noch eine Spur von ihnen finden. Ich glaube, daß weder Herbst- noch Sommer- noch Wintersonne jemals wieder auf ihre Feste herabscheinen wird.«

Mrs. Fairfax hatte ihr Strickzeug auf den Schoß sinken lassen und mit emporgezogenen Augenbrauen hörte sie erstaunt auf unser Gespräch.

»Nun,« fuhr Mr. Rochester fort, »wenn Sie nun auch Ihre Eltern verleugnen, so müssen Sie doch irgend welche Verwandte haben, Onkel oder Tanten?«

»Keine, die ich jemals gesehen.«

»Und Ihr Heim?«

»Ich habe keins.«

»Wo leben denn Ihre Brüder und Schwestern?«

»Ich habe weder Brüder noch Schwestern,«

»Wer empfahl Ihnen denn hierher zu kommen?«

»Ich ließ eine Annonce in die Zeitung rücken, und Mrs. Fairfax beantwortete diese Annonce.«

»Ja,« sagte die gute Dame, welche jetzt wußte, auf welchem Boden wir uns bewegten, »und täglich danke ich der Vorsehung für die Wahl, welche sie mich treffen ließ. Miß Eyre ist eine unschätzbare Gefährtin für mich, und eine gütige, sorgsame, pflichtgetreue Lehrerin für Adele.«

»Bemühen Sie sich nicht, ihr ein Zeugnis auszustellen,« entgegnete Mr. Rochester, »Lobeserhebungen ködern mich nicht. Ich werde für mich selbst urteilen. Sie hat damit angefangen, mein Pferd zu Boden zu strecken.«

»Sir?« sagte Mrs. Fairfax.

»Ich habe ihr diese Verrenkung zu danken.«

Die Witwe blickte uns erstaunt an.

»Miß Eyre, sagen Sie mir, haben Sie jemals in einer Stadt gewohnt?«

»Nein, Sir.«

»Haben Sie viel Gesellschaft gesehen?«

»Keine andere als die Schülerinnen und Lehrerinnen von Lowood; und jetzt die Bewohner von Thornfield.«

»Haben Sie viel gelesen?«

»Nur solche Bücher, derer ich zufällig habhaft werden konnte; und diese waren weder sehr zahlreich noch sehr gelehrt.«

»Sie haben das Leben einer Nonne geführt; ohne Zweifel sind Sie in religiösen Formen gut geschult; – Brocklehurst, welcher, wie ich glaube Direktor von Lowood, ist ein Prediger, wenn ich nicht irre?«

»Ja, Sir.«

»Und die Mädchen verehrten ihn wahrscheinlich, wie die Nonnen eines Klosters ihren Priester anbeten!«

»O nein!«

»Sie sind sehr aufrichtig! Nein! Was! Eine Novize, die ihren Priester nicht vergöttert! Das klingt doch fast wie Blasphemie!«

»Ich liebte Mr. Brocklehurst durchaus nicht; und ich stand mit meinem Gefühl nicht allein da. Er ist ein harter Mann, der unendlich übermütig war und sich stets Übergriffe erlaubte. Er ließ uns das Haar abschneiden, und aus Sparsamkeit kaufte er schlechte Nähnadeln und schlechten Zwirn, mit denen wir kaum nähen konnten.«

»Das war eine sehr verkehrte Sparsamkeit,« bemerkte Mrs. Fairfax, welche den Faden des Gesprächs jetzt wieder aufnehmen konnte.

»Und war dies das größte und schwärzeste seiner Verbrechen?« fragte Mr. Rochester.

»Er ließ uns beinahe verhungern, als er die alleinige Aufsicht über das Verpflegungsdepartement führte, bevor noch das Comite eingesetzt wurde; und wöchentlich einmal langweilte er uns mit langen Vorträgen und mit abendlichen Vorlesungen aus Büchern, die er selbst zu wählen pflegte; diese handelten stets von plötzlichen Todesfällen und fürchterlichen Strafen, so daß wir abends stets gequält und geängstigt zu Bette gingen.«

»Wie alt waren Sie, als Sie nach Lowood kamen?«

»Ungefähr zehn Jahre alt.

»Und acht Jahre blieben Sie dort. Na sind Sie also jetzt achtzehn Jahre alt?«

Ich nickte bejahend.

»Wie Sie sehen ist die Arithmetik sehr nützlich. Ohne Ihre Hilfe wäre ich kaum imstande gewesen, Ihr Alter zu erraten. Es ist das eine sehr schwierige Sache in einem Falle, wo Züge und Gesichtsausdruck so sehr im Widerspruch miteinander stehen, wie es bei Ihnen der Fall ist. Und nun erzählen Sie mir, was Sie in Lowood gelernt haben. Können Sie Klavier spielen?«

»Ein wenig.«

»Natürlich 'ein wenig'. Das ist so die gewöhnliche Antwort. Gehen Sie in die Bibliothek – d. h. wenn Sie so liebenswürdig sein wollen. – Verzeihen Sie meinen Kommandoton; ich bin daran gewöhnt zu sagen: ,Thun Sie dies', und es ist geschehen; ich kann meine alten Gewohnheiten eines einzigen neuen Hausgenossen zu Liebe nicht ablegen – Gehen Sie also in die Bibliothek; nehmen Sie eine Kerze mit, lassen Sie die Thür offen, setzen Sie sich ans Klavier und spielen Sie ein Lied.«

Ich ging, um seinen Weisungen Folge zu leisten.

»Genug!« rief er nach wenigen Minuten. »Sie spielen allerdings 'ein wenig', ich sehe schon; gerade so wie jedes andere englische Schulmädchen, vielleicht noch ein wenig besser, aber durchaus nicht gut.«

Ich schloß das Klavier und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Mr. Rochester fuhr fort:

»Adele hat mir heute Morgen einige Skizzen gezeigt, von denen sie sagte, daß es die Ihrigen seien. Ich weiss nicht, ob dieselben Ihr Werk allein sind, – wahrscheinlich hat ein Lehrer Ihnen dabei geholfen?«

»Nein, gewiß nicht!« rief ich schnell.

»Ah! da erwacht die Eitelkeit. Gut also holen Sie Ihr Portefeuille, wenn Sie dafür bürgen können, daß es nur Originale enthält; aber geben Sie Ihr Wort nicht, wenn Sie nicht ganz sicher sind. Ich erkenne sofort jedes Flickwerk.«

»Dann werde ich also gar nichts sagen, Sir, und Sie werden selbst urteilen.«

Ich holte das Portefeuille aus der Bibliothek.

»Bringen Sie mir den Tisch heran,« sagte er, und ich schob denselben an sein Ruhebett. Adele und Mrs. Fairfax kamen auch heran, um die Bilder zu sehen.

»Kein Gedränge,« sagte Mr. Rochester, »nehmen Sie mir die Zeichnungen aus der Hand, wenn ich damit fertig bin; aber drücken Sie Ihre Gesichter nicht an das meine,«

Mit Muße betrachtete er jedes Bild, jede Zeichnung. Drei von diesen legte er beiseite; die andern schob er von sich, nachdem er sie geprüft hatte.

»Nehmen Sie sie nach jenem Tische dort, Mrs. Fairfax,« sagte er, »und betrachten Sie sie mit Adele; – Sie, (mit einem Blicke auf mich) nehmen Ihren Sitz wieder ein und beantworten meine Fragen. Ich sehe, daß diese Skizzen von einer Hand herrühren; war es die Ihre?«

»Ja.«

»Und wann haben Sie Zeit gefunden, sie zu machen? Sie haben viel Zeit und auch einiges Nachdenken erfordert.«

»Während der letzten Ferien entwarf ich sie in Lowood, als ich keine andere Beschäftigung hatte.«

»Woher haben Sie die Motive genommen?«

»Aus meinem eigenen Kopfe.«

»Aus dem Kopfe, den ich jetzt da auf Ihren Schultern sehe?«

»Ja, Sir.«

»Hat er noch mehr dergleichen Vorräte in sich?«

»Ich meine wohl; aber ich hoffe, daß er deren noch bessere in sich trägt.«

Er breitete die Bilder wieder vor sich aus und betrachtete sie abwechselnd.

Während er noch damit beschäftigt ist, will ich dir, lieber Leser, erzählen, was sie vorstellen, und vor allen Dingen muß ich vorausschicken, daß sie durchaus nichts wunderbares sind. Die Motive hatten sich mir lebhaft aufgedrängt. Als ich sie mit dem geistigen Auge sah, bevor ich versuchte, sie zu verkörpern, waren sie allerdings außergewöhnlich; aber mein Pinsel konnte mit meiner Fantasie nicht gleichen Schritt halten, und in allen drei Fällen war die Ausführung nur ein schwaches Abbild dessen geworden, was mir vorgeschwebt hatte.

Die Bilder waren in Wasserfarben ausgeführt. Das erste stellte düstere, blaugraue, niedrighängende Wolken über einer wildbewegten See dar. Die ganze Ferne lag in Finsternis da und ebenso der Vordergrund oder vielmehr die vorderen Wellen, denn es war gar kein Land auf dem Bilde. Ein einziger Lichtstrahl fiel auf einen halb aus dem Wasser hervorragenden Mast, auf welchem ein Wasserrabe sah, dunkel und groß, dessen Flügel mit Wellenschaum bespritzt waren; im Schnabel hielt er ein goldenes Armband, welches mit Edelsteinen reich besetzt war; diesen hatte ich die reichsten Farben verliehen, welche meine Palette herzugeben vermocht, die strahlendste Deutlichkeit, deren mein Zeichenstift fähig gewesen. Hinter Mast und Vogel schien ein ertrunkener Leichnam in dem grünen Wasser zu versinken; ein weißer Arm war das einzige Glied, das deutlich sichtbar; von ihm war das Armband herunter gespült oder gerissen.

Der Vordergrund des zweiten Bildes zeigte nur die neblige Spitze eines Hügels, von welchem einige Blätter und Grashalme wie vom Winde getrieben, herabrollten. Hinter und über dem Bergesgipfel breitete sich der Himmelsbogen aus, tiefblau wie zur Dämmerzeit; in den Himmel hinein ragte das Brustbild einer Frau, in so weichen und unbestimmten Farben gemalt, wie es mir nur möglich gewesen, zusammenzustellen. Die klare Stirn war von einem Stern gekrönt, die unteren Gesichtszüge sah man nur wie durch dichten Nebel; die Augen glänzten dunkel und wild; das Haar fiel schattengleich herab, wie eine strahlenlose Wolke, welche der Sturm oder die elektrische Kraft zerrissen hat. Auf ihrem Nacken lag ein bleicher Schein wie von Mondesstrahlen herrührend; derselbe matte Glanz ruhte auf den dünnen Wolken, aus welchen diese Vision des Abendsterns emporzusteigen schien.

Das dritte Bild zeigte den Gipfel eines Eisberges, welcher in den nördlichen Winterhimmel hineinragte. Am Horizont schoß ein Nordlicht seine schlanken Lanzen dicht nebeneinander empor. Diese in die Ferne schleudernd, erhob sich im Vordergrund ein Kopf – ein kolossaler Kopf, welcher sich dem Eisberg zuneigte und an diesem ruhte. Zwei magere Hände, welche sich unter der Stirn kreuzten und diese stützten, zogen einen schwarzen Schleier vor die unteren Gesichtszüge; eine bleiche Stirn, weiß wie Elfenbein und ein hohles, starres Auge, das keinen anderen Ausdruck hatte als den der Verzweiflung, waren allein sichtbar. Über den Schläfen, zwischen turbanartigen Falten einer düstern Draperie, die in Form und Farbe unbestimmt wie eine Wolke war, glänzte ein Ring von weißen Flammen, auf dem hier und da Funken von intensiverem Glanz leuchteten. Dieser blasse Halbkreis war »das Ebenbild einer Königskrone; was diese krönte, war die Form, die keine Form hat,«

»Waren Sie glücklich, als Sie diese Bilder malten?« fragte Mr. Rochester.

»Ich hatte mich in die Arbeit vertieft, Sir; ja – ich war glücklich. Als ich sie malte, empfand ich eine der höchsten Freuden, die ich jemals gekannt.«

»Das will nicht viel sagen. Nach Ihrer eigenen Erzählung sind Ihrer Freuden nicht viele gewesen; aber ich vermute, daß Sie sich in einer Art von Künstlers-Traumland befanden, als Sie diese seltsamen Farben mischten und auf die Leinwand übertrugen. Haben Sie täglich viele Stunden bei dieser Arbeit zugebracht?«

»Ich hatte nichts anderes zu thun, da es Ferienzeit war, und ich saß vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend dabei. Die Länge der Mitsommertage begünstigte meine Neigung zum Fleiß.«

»Und waren Sie mit dem Resultat Ihrer angestrengten Arbeit zufrieden?«

»Weit entfernt davon. Der Abstand zwischen meiner Idee und meiner Ausführung quälte mich; in jedem dieser drei Fälle hatte mir etwas vorgeschwebt, was ich außer Stande gewesen zu verwirklichen.«

»Nicht ganz. Den Schatten Ihrer Gedanken festzuhalten, ist Ihnen gelungen; mehr wahrscheinlich nicht. Sie hatten nicht genug künstlerische Geschicklichkeit und Kenntnisse, um jenen vollständig Gestalt verleihen zu können; jedoch sind die Zeichnungen für ein Schulmädchen immerhin beachtenswert. Die Ideen sind vollständig elfenartig, geisterhaft. Diese Augen in dem »Abendstern« müssen Sie einmal im Traume gesehen haben. Wie haben Sie es nur angefangen, diese so klar und doch nicht glänzend wieder zu geben? Denn der Stern oberhalb der Stirn schwächt ihre Strahlen. Und welche Bedeutung liegt in ihrer feierlichen Tiefe. Und wer hat Sie gelehrt, den Wind zu malen? Unter diesem Himmel und über jenem Bergesgipfel weht ein heftiger Sturm. Wo haben Sie Latmos gesehen? denn das ist Latmos. Hier – tragen Sie die Zeichnungen wieder fort.«

Kaum hatte ich die Bänder meiner Zeichenmappe wieder zusammengebunden, als er auf seine Uhr sah und dann plötzlich sagte:

»Es ist neun Uhr. Was fällt Ihnen ein, Miß Eyre, Adele so lange aufsitzen zu lassen? Bringen Sie sie zu Bett.«

Adele ging und gab ihm einen Kuß, bevor sie das Zimmer verließ. Er ließ sich die Liebkosung gefallen, aber er schien kaum mehr Wohlgefallen daran zu finden, als Pilot es gethan haben würde, – oder vielleicht noch weniger.

»Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht,« sagte er und machte eine Handbewegung nach der Thür, zum Zeichen, daß er unserer Gesellschaft müde sei und uns entließe. Mrs. Fairfax legte ihre Strickerei zusammen; ich nahm meine Zeichenmappe: wir verneigten uns vor ihm, erhielten eine steife und kalte Verbeugung als Gegengruß, und zogen uns dann zurück.

»Mrs. Fairfax, Sie sagten, daß Mr. Rochester keine auffallenden Eigentümlichleiten besitze,« bemerkte ich, als ich wieder zu ihr ins Zimmer trat, nachdem ich Adele ins Bett gebracht hatte.

»Nun, und besitzt er deren?«

»Ich glaube wohl. Er ist sehr veränderlich und launenhaft.«

»Das ist allerdings wahr. Ohne Zweifel muß er einem Fremden so erscheinen, aber ich bin schon so lange an seine Art und Weise gewöhnt, daß ich mir gar keine Gedanken mehr darüber mache. Und überdies sollte man sich nicht darüber wundern, wenn seine Laune nicht immer gleichmäßig ist.«

»Weshalb das?«

»Teilweise, weil es in seiner Natur liegt – und keiner von uns kann gegen seine Natur kämpfen; hauptsächlich aber, weil er wohl oft traurige und qualvolle Gedanken haben mag, die ihn peinigen und seine gute Laune stören.«

»Was quält ihn denn?«

»Familienkummer vor allen Dingen.«

»Aber er hat ja keine Familie.«

»Jetzt nicht mehr – aber er hatte eine; – Verwandte wenigstens. Er verlor seinen älteren Bruder vor einigen Jahren.«

»Seinen älteren Bruder?«

»Ja. Der gegenwärtige Mr. Rochester ist noch nicht sehr lange im Besitz der Güter und des Vermögens; erst ungefähr seit neun Jahren.«

»Neun Jahre sind eine lange Zeit! Liebte er seinen Bruder so zärtlich, daß er noch jetzt über seinen Verlust untröstlich ist?«

»Nein, nein – das ist vielleicht nicht der Fall. Ich glaube aber, daß einige Mißverständnisse zwischen ihnen bestanden. Mr. Rowland Rochester war Mr. Edward gegenüber nicht ganz gerecht, und vielleicht war er es auch, der den Vater gegen ihn einnahm. Der alte Herr liebte das Geld gar sehr und war stets ängstlich darauf bedacht, das Familienvermögen und die Güter zusammenzuhalten. Der Gedanke, das Besitztum durch Teilung zu verringern, war ihm unangenehm, und doch wünschte er, daß auch Mr. Edward reich sein solle, um den Glanz des Namens aufrecht zu erhalten; und bald nachdem er großjährig geworden, wurden einige Schritte gethan, die nicht ganz gerecht waren und sehr viel Unheil anrichteten. Der alte Mr. Rochester und Mr. Rowland wirkten zusammen, um Mr. Edward in das zu bringen, was er eine peinliche Situation nannte, nur damit er sein Glück machen solle. Welcher Art diese Lage gewesen, habe ich nicht genau erfahren, aber sein Gemüt konnte niemals überwinden, was er durch dieselbe zu leiden hatte. Er brach mit seiner Familie und hat jetzt seit vielen Jahren ein unstetes Leben geführt. Ich glaube nicht, daß er seit dem Tode seines Bruders, der ohne Testament starb und ihn als Erben der Güter hinterließ, vierzehn Tage hintereinander in Thornfield ausgehalten hat. Und in der That, es ist kein Wunder, wenn er das alte Haus meidet.«

»Weshalb sollte er es denn meiden?«

»– Vielleicht erscheint es ihm düster.«

Die Antwort klang ausweichend – ich hätte gern etwas bestimmteres gehört; aber Mrs. Fairfax wollte oder konnte mir keine genauere Auskunft über die Ursache oder die Art von Mr. Rochesters Prüfungen geben. Sie behauptete, daß sie auch für sie ein Geheimnis seien, und daß alles, was sie wisse, nur auf Vermutungen basiere. Es war augenscheinlich, daß sie wünschte, ich möge den Gegenstand fallen lassen. – Und das that ich auch.


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