Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Rike

Der folgende Tag war Sonntag, und die Familie Scheuermann pflegte der Ruhe und besuchte pflichtgemäß die Kirche. Des Nachmittags schlug der Hausherr seiner Ehefrau eine Spacierfahrt zu der Familie des Fabricanten Hähnchen vor, welcher im nahen Gebirge das bedeutende Eisenwerk betrieb. Die Beziehungen der beiden Familien waren die besten; nur bestand zwischen Frau Hähnchen und Frau Scheuermann eine geheime Eifersucht. Beide aber waren so klug, ihren so berechtigten Rangstreit hinter einer endlosen Blumenkette von Artigkeiten zu verbergen, womit sie sich gegenseitig fortwährend gleichsam bekränzten. Nur dann und wann zischelte die kleine Natter zwischen Blumen hervor, welche sich die beiden Damen in solcher Weise unermüdlich unter die Nase hielten. Aber jede von ihnen hatte die Geschicklichkeit, das Köpfchen der Schlange sofort wieder in einem neuen duftenden Blumenstrauß der ausgesuchtesten Artigkeiten verschwinden zu lassen. Ob Frau Scheuermann heute keine Lust verspürte, die Rolle der bewundernden Nachbarin zu spielen, oder ob sie sich von ihrer gestrigen Niederlage noch nicht erholt hatte, und ihren Mann mit Recht fühlen lassen wollte, daß sie denn doch auch einen Willen habe, bleibt dahingestellt. Thatsache war, daß Herr Scheuermann mit etwas verdrießlicher Miene allein in das Cabriolet stieg, und dem treuen Braunen durch einen heftigen Peitschenhieb die Gewißheit beibrachte, daß der Herr heute abermals nicht zum Besten aufgelegt war.

Frau Scheuermann saß im kühlen Staatszimmer auf dem himmelblauen Sopha, und las einen Roman, ihre gewöhnliche Beschäftigung am Sonntage nachmittags, wenn man nicht ausfuhr, oder Gäste im Hause hatte. In der Wahl ihrer Lectüre war sie eben nicht wählerisch, obschon sie nicht blos las, um sich die Langeweile zu vertreiben, sondern auch, um ihre Rührung zu haben. Sie behauptete mit allem Ernste, daß ihr das nöthig sei, und faßte die Sache von demselben Standpunkte auf, wie der Raucher sein Bedürfnis nach der Zigarre, oder der starke Esser die Nothwendigkeit der Bewegung im Freien nach reichlicher Mahlzeit. Aber es erging ihr auch wie dem starken Raucher, welcher in Bezug auf das Tabaksblatt nicht mehr sehr feinschmeckend ist. Den Bedarf für ihre Rührung ließ sie sich aus einer Leihbibliothek der Residenz liefern, und man wußte dort seit Jahren, welche Meisterwerke der erzählenden Literatur bei Frau Scheuermann die willkommensten waren: Land- und Seeräuber-Romane, Criminalnovellen, verlorene und wiedergefundene Kinder, Krempel von Ehemännern von dem Schlage Blaubarts und dergleichen mehr. So brachte denn die Milchmagd, welche täglich mit ziemlich unverfälschter Waare vom Hofgute in die Residenz fuhr, Samstags abends mit den leeren Blechkannen neue Bücher mit, die oft noch leerer an Inhalt waren als jene, aber stets mit großer Befriedigung von der Hausfrau in Empfang genommen wurden.

Welcher Art die Bildung war, welche sich Frau Scheuermann aus dieser klassischen Literatur Deutschlands seit Jahren verschafft hatte, ist schwer zu sagen. Die wunderlichsten Begriffe und sonderbarsten Vorstellungen fanden in ihrem Kopfe Platz und die seltsamsten Widersprüche ließen sich darin ganz friedlich neben einander nieder. Daß eine große Menge dieser Gedanken und Ansichten mit ihrem religiösen Glauben gänzlich unverträglich waren, wußte sie zum größten Glücke selber nicht; und wenn ihr manchmal eine solche Ahnung zu dämmern begann und sie beunruhigen wollte, beschwichtigte sie sich selber mit dem Vorgehen, daß sie darüber nicht zu urtheilen habe, und die Sache auf sich beruhen lasse. So beschäftigte sie nicht selten der Gedanke an die Abstammung des Menschen von dem Affengeschlechte ganz lebhaft, und doch hing sie mit einer großen Ehrfurcht an dem Lieblingsbuch ihrer Jugend, der biblischen Geschichte, und pflegte sich ihren Kindern als Muster einer fleißigen Schülerin vorzustellen, indem sie den ganzen Schöpfungsbericht noch jetzt auswendig wisse. Mit der größten Gelehrigkeit und fast anständig las sie in all den jämmerlichen Romanen, welche ihr in die Hand kamen, die von Unglauben und Gottlosigkeit strotzenden Tiraden der Helden und Heldinnen, nachdem sie des Morgens in der Kirche ganz fleißig und ehrerbietig in ihrer »Nachfolge Christi« gelesen hatte. Der Papst war ihr jedenfalls der Tyrannei gegen die Menschheit verdächtig, und die Kirche schien ihr ein sehr altes Haus, in dessen Unbequemlichkeiten sich die Einwohner in Gottes Namen zu fügen hätten. Aber nichts desto weniger zahlte sie pünktlich ihren Peterspfennig, und hielt was auf ihre religiöse Überzeugung.

Wenn daher die sonst wackere Frau durch diese Bücher keinen größeren Schaden erlitt, als es wirklich geschah, wenn sie trotz der Selbstmordsromane und der Ehebruchsnovellen dennoch ein ehrenwerthes Eheweib blieb, welches auf Zucht hielt und bei den Kindern auf dieselbe drang, so war das ganz gewiß nicht der so hoch gepriesenen Erfindung Gutenbergs zu verdanken, deren Einfluß auf die wahre Bildung des Volkes viel geringer anzuschlagen ist, als die Pächter der modernen Aufklärung uns bis zum Überflusse vormachen; so wenig in Abrede gestellt werden kann, was die Erfindung des Henne Gensfleisch für die eigentliche Wissenschaft geleistet hat.

Frau Scheuermann war eben eine, wenn wir so sagen dürfen, von jenen glücklichen Naturen, welchen der rechte Weg trotz allen Abwegen und Verirrungen nicht verloren geht. Ihr Herz war zu redlich, ihr Wille zu gut, ihr Verstand zu praktisch, als daß sie sich durch das Bücherlesen wirklich hätte verführen lassen. Nicht allen Frauen steht der gute Engel so siegreich zur Seite. Nichtsdestoweniger war das Romanlesen der Frau Scheuermann etwas recht Abscheuliches, und, da es eine eingewurzelte Gewohnheit geworden war, mußte man es ein, wenn auch mehr oder weniger verzeihliches, Laster nennen.

So hatte sie sich denn auch wieder an diesem Sonntagnachmittag in einen schauerlichen Seeroman vertieft. Sie las, wie immer, nur jene Theile der Erzählung mit Aufmerksamkeit und sogar wiederholt, welche sie in ihre »Rührung« versetzten. Konnte der Erzähler ihr ein Grausen beibringen, so war sie noch dankbarer. Alle übrigen Theile des Romans durchblätterte sie flüchtig. Denn sie pflegte zu erklären, daß sie keine Zeit habe, sich in den Büchern zu langweilen.

Eben schwamm sie in ihrem Romane auf dem atlantischen Ocean. Auf dem Kauffahrer war eine Matrosenmeuterei ausgebrochen; der Sturm kam dazu, welcher dem im Schiffsraum gefangenen Capitän Gelegenheit verschaffte, sich zu befreien und mit brennendem Lichte zur Pulverkammer zu eilen. Im Begriffe, mit der ganzen Equipage in die Luft zu fliegen, wurde Frau Scheuermann in diesem schauerlichsüßen Vergnügen durch die Frage ihrer eintretenden Tochter gestört.

»Mutter, darf ich Fränzchen mit ins Dorf nehmen?« –

Die lesende Hausfrau fand sich aus dem Weltmeer und der Pulverkammer des Dreimasters mit entschiedenem Unbehagen auf das himmelblaue Sopha im Scheuermannschen Staatszimmer zurückversetzt.

»Geht nur!« – erwiderte sie kurz. Aber das mütterliche Herz schlug doch auch noch in der Pulverkammer. »Nimm ein Tuch mit für den Kleinen in der Abendkühle« – setzte sie hinzu.

Damit war jedoch auch der elterliche Beruf erfüllt. Im nächsten Augenblicke war sie schon wieder zur Seite ihres Schiffscapitäns mit dem brennenden Lichte. –

Fränzchen war ein geweckter Bursche von neun Jahren, und freute sich außerordentlich mit der geliebten Schwester ins Dorf gehen zu dürfen, wo ihn des Bürgermeisters Knaben zum Spiele erwarteten. Es war ein lieblicher Anblick, die beiden im Alter so verschiedenen Geschwister Hand in Hand den Wiesenpfad hineilen zu sehen. Der große Strohhut beschattete die milden Züge der Jungfrau, welche wohl zehn Jahre mehr zählte als der Bruder, und nicht modisch, aber mit Sorgfalt und Geschmack gekleidet war. Der Knabe tanzte an ihrer Hand einher und stellte der Schwester, vor deren Verstand er gewaltigen Respect hatte, Frage um Frage, welche sie mit ernster Freundlichkeit erwiderte, indem sie auch die nöthige Rüge nicht sparte. Dann lachte der Knabe hell auf, und schmiegte sich um so vertraulicher an die Schwester, in deren Augen er sich die Verzeihung las. So war das Paar, welches wieder bewies, daß es nichts Anmuthigeres gebe, als die ältere Schwester mit dem jüngeren Bruder, bis zur Gartenthüre des Bürgermeisters gekommen. Hier entließ Rike den Bruder nicht ohne die Mahnung, artig zu sein, und befahl ihm sie zu erwarten, damit sie zusammen nach Hause zurückkehrten. Sie selbst aber schlug den Pfad längs des Mühlbaches ein, und schritt beflügelten Fußes einem kleinen Hause entgegen, dessen niedriger weißer Giebel freundlich zwischen den schwerbeladenen Obstbäumen hervorwinkte.

Rike war in der That ein Mädchen von seltenen Eigenschaften. Selbst ihre äußere Erscheinung war eine außergewöhnliche; denn Anmuth und Ernst verbanden sich in ihr zu einem vollkommenen Ganzen. Ihre Begabung war groß, und die tüchtige Klosterschule, deren Zögling sie einige Jahre gewesen war, hatte sie in glücklicher Weise entwickelt. Dabei half ihr, als sie nach Hause zurückgekehrt war, ihr entschiedener Charakter, daß sie nicht an jener Klippe zu Grunde ging oder wenigstens Noth litt, welche so oft den Klosterzöglingen die größten Gefahren bietet. Die religiöse Richtung des väterlichen Hauses, welche die bequeme Straße des sogenannten Fortschrittes führte, ohne daß man es vielleicht selber recht wußte, machte sie nicht irre; im Gegentheil, sie wurde dadurch in den gründlichen Kenntnissen der Religion, welche sie sich angeeignet hatte, nur noch befestigt, und ihr guter Wille that das Seine. Im Grunde legte man ihr im Hause auch keine besonderen Hindernisse in den Weg, und die »Gartenlaube«, welche die väterliche Sorgfalt als Mittel zu ihrer weitern Ausbildung hielt, war ihr höchstens lästig. Denn der Vater gab sich damit zufrieden, daß er sich seinem Freunde Hähnchen als Abonnent dieses illustrirten Blattes vorstellen konnte; im Übrigen bekümmerte er sich nicht darum, ob es in seinem Hause gelesen werde, und hatte darüber noch nie eine Frage an seine Tochter gestellt. Diese überließ daher das Blatt der Mutter, von welcher es mit Leidenschaft gelesen wurde; wenn sie aber die Tochter drängte, sich ebenfalls diesen geistigen Genuß zu verschaffen und in ihrer Ausbildung als deutsche Jungfrau nicht so gleichgültig zu sein, so nahm die Tochter schweigend das Blatt und – las es nicht.

Des Sonntags nach der Kirche, wenn sie in der Familie nicht in Anspruch genommen war, ging Rike am liebsten nach dem Dorfe, um einige Arme und Kranke zu besuchen. Die Mutter hatte zwar schon hin und wieder darüber ärgerliche Worte von einer »barmherzigen Schwester« fallen lassen; aber der Vater, obgleich ihm Frau Scheuermann verschiedene Male zu Gehör redete, verhielt sich anscheinend ganz gleichgültig dagegen. Im Grunde aber freute es den wohlwollenden Mann, bei seiner Tochter so viel Herzensgüte zu finden. Dabei war noch ein kleiner Eigennutz im Spiele; denn es lag Herrn Scheuermann als Öconom daran, die Stimmung im Dorfe für sich zu haben, und die Wohltätigkeit seiner Tochter schien ihm ein sehr taugliches Hilfsmittel dazu. So oft er sich auch schon im Leben mochte verrechnet haben, in diesem Punkte hatte er geradezu in das Schwarze getroffen. Wo Rike in der Hütte der Armen oder am Krankenbette erschien, wurde sie als ein Engel vom Himmel angesehen; die Gaben, welche sie mitbrachte, schienen Reichthümer, obgleich sie nur aus den Ersparungen ihres sehr mäßigen Taschengeldes bestritten waren. Aber ein tröstliches Wort dazu aus ihrem Munde, ein freundlicher Strahl aus ihrem seelenvollen Auge vergrößerte und verschönerte das Almosen in wunderbarer Weise.

Heute war sie in die enge Stube eines Taglöhners eingetreten, welcher sich im Walde beim Holzfällen schwer die Hand verwundet hatte, und nun seit Wochen arbeitsunfähig war. Dabei lag das Weib bedenklich danieder, so daß in die sonst so fröhliche Haushaltung des jungen Paares harte kummervolle Tage getreten waren. Dem armen Manne, welcher am Fenster saß, traten die Thränen in die Augen, als er die Tochter des Öconomen auf seine Thüre zueilen sah; die vier Kinder eilten ihr entgegen und das jüngste blieb weinend auf halbem Wege stehen, weil es den älteren Geschwistern nicht nachkommen konnte. Rike herzte liebevoll die Kleinen, trat in die Stube ein, sprach der Kranken tröstliche Worte zu, und kramte dann ihr Körbchen und ihre Taschen aus. Die Kinder jubelten, die Frau schluchzte und küßte Friederikens Hand mit Inbrunst. Der Mann wollte danken; aber die Rührung erstickte ihm die Stimme. Rike hieß ihn niedersitzen, untersuchte mit der Geschicklichkeit eines Wundarztes die kranke Hand und verband sie mit frischem Linnen, welches sie mitgebracht hatte. Sodann legte sie stillschweigend ein Silberstück auf den Tisch, und entzog sich rasch den Liebkosungen der Kinder, welche sie alle am Kleide hielten. In wenig Augenblicken war sie hinter den Hecken des benachbarten Baumstückes verschwunden.

Das Haus, wohin Rike nun die Schritte lenkte, lag an der anderen Seite des Dorfes, nicht weit vom Walde entfernt. Der Besuch galt der Försterswitwe Hartwig, welche dort unter niedrigem aber freundlichem Dache mitten in einem zierlich gepflegten Garten einen einladenden Wohnsitz hatte. Die leichten Schritte des Mädchens wurden noch rascher, obgleich sie sich vielleicht selber nicht gestehen mochte, warum sie mit solcher Vorliebe zu dem stillen Hause der Frau Hartwig eilte.

Schon trat sie mit einem Antlitz, das von stiller Freude strahlte, durch das Gartenthor. Aber kaum hatte sie dasselbe geschlossen, als sie todtenbleich stehen blieb. Ein jäher Schreck überfiel sie, und bebend griff sie nach der Klinke zurück.

Der Gegenstand ihres Schreckens war ein junger Mann, welcher unter der Thüre des Hauses stand und ihr den Rücken kehrte. Er war im lebhaften Gespräch mit Frau Hartwig, welche in der Hausthür saß.

Rasch riß das Mädchen das Gartenthor wieder auf, um sich unbemerkt zu entfernen. Bei dem Geräusch wandte der junge Mann den Kopf, und da er die Gestalt am Thore erblickte, eilte er auf sie zu mit dem Ausrufe:

»Friederike!«

Er reichte ihr die Hand. Die Jungfrau aber, noch immer bleich, brachte kaum die Worte hervor.

»Ich wußte nicht, daß Sie hier seien, Theobald!« – stammelte sie und plötzlich übergoß Purpur ihr Gesicht.

»Mich führt ein unerwarteter Urlaub nach Hause. So lang ich die gute Mutter habe, gehört meine freie Zeit ihr. Und dann« –

Er stockte.

»Aber Sie wollen doch die Mutter besuchen?« – sagte er, da er bemerkte, wie Rike noch immer die Hand an das halbgeöffnete Thor gelegt hielt.

»Es war meine Absicht, aber« –

»Fräulein Rike! So kommen Sie doch« – ließ sich die Stimme von Frau Hartwig aus dem Hause vernehmen. Stumm folgte sie dem jungen Manne.

Theobald war der einzige Sohn und der Stolz seiner Mutter, welche nach dem frühen Tode ihres Gatten gern ihr Erübrigtes daran wendete, um dem heranwachsenden Jüngling eine tüchtige Bildung zu verschaffen. Seine Neigung führte ihn den praktischen Wissenschaften zu, er besuchte ein Polytechnicum, und verließ dieses mit so trefflichen Zeugnissen, daß er alsbald in einer der größten Eisenbahnwerkstätten eine ehrenvolle lohnende Stellung erhielt. Die Unterstützung der Mutter erachtete er für seine erste Pflicht, und erfüllte sie jetzt schon seit einigen Jahren treulich. Dabei war er unermüdlich bestrebt, sich in seinem Fache weiter zu bilden, und verfolgte die großartige Entwickelung, welche die Technik in unsern Tagen aufweist, in allen Gebieten mit der größten Aufmerksamkeit. Dieses fleißige Studium brachte ihm nicht nur den Gewinn, sich eine höhere Brauchbarkeit anzueignen, sondern es hatte auch den besten Einfluß auf sein Herz. Durch die Arbeit wurde er von den Zerstreuungen und Gefahren der Welt abgezogen, und bewahrte sich die ganze Reinheit und den Adel der Gesinnung, welche die fromme Erziehung der Mutter mit so großer Treue gepflegt hatte.

Sein Verhältnis zu der Tochter des Öconomen war ein eigenthümliches. Die Kinder hatten mit einander im Dorfe gespielt, und der ältere Junge war stets der großmüthige Beschützer der kleinen schüchternen Rike gewesen. So wuchsen sie heran, fast wie Geschwister, und machten aus ihrer jugendlichen Freundschaft gar kein Hehl. Freilich als Theobald zum ersten Male von der polytechnischen Schule in die Herbstferien kam, fand er selbst, daß denn doch der alte trauliche Verkehr der Kinder nicht mehr fortgeführt werden könne, und Rike sah das eben so gut ein. Einen harten Kampf kostete es dem Studenten, dem Gebote der Mutter Folge zu leisten und das trauliche »Du« aufzugeben, welches bis jetzt natürlich zwischen beiden üblich gewesen war. Aber die Mutter bestand zuletzt mit Strenge darauf, und Theobald war auch so vernünftig, die harte Nothwendigkeit einzusehen. Rike lachte, als ihr Frau Hartwig in Gegenwart ihres Sohnes diesen unerbittlichen Beschluß eröffnete. Aber die Thränen traten ihr in die Augen, da sie von Theobald zum ersten Male mit dem kalten »Sie« angeredet wurde. Lange kam das ihr fürchterliche Fürwort Theobald gegenüber nicht über ihre Lippe; sie schwieg lieber, als daß sie es gebraucht hätte.

Die Jahre vergingen und die Kluft der äußeren Verhältnisse ward immer größer. Dagegen schien das innere Band der Neigung dadurch nur um so mehr befestigt zu werden. Theobald hoffte dies wenigstens, und in den Tagen, welche er zu Hause bei der Mutter zubringen durfte, glaubte er fort und fort die untrüglichen Beweise dafür in dem Benehmen Friederikens zu finden. Er nahm sie mit unendlicher Dankbarkeit als Unterpfand eines künftigen Glückes hin, welches seinem jungen Herzen um so herrlicher erschien, je weiter es in unbestimmte Ferne hinausgerückt war. Denn darüber war er sich im Klaren, daß er bei dem reichen Gutsbesitzer nicht als Bewerber um die vielumfreite Tochter auftreten durfte, so lange er in einer technischen Werkstätte eine, wenn auch ehrenvolle, doch immer untergeordnete und ungesicherte Stelle einnahm. Hatte er darum Rike wieder einmal, wenn auch nur auf Augenblicke gesehen, so zog es ihn fast mit Gewalt aus der stillen Heimat in den geräuschvollen Bahnhof zurück; denn der Gedanke, daß er sich sein Theuerstes erobern müsse und nur durch die Arbeit und die Anstrengung des willenfesten Mannes gewinnen könne, beherrschte ihn dann mit jugendlicher Ungeduld. Diese aber wirkte um so mächtiger, je geheimer ihr Sporn, die stille tiefe Sehnsucht des Herzens gehalten wurde.

Bei Friederike war es anders. Ihr ernstes, treues Gemüth hoffte nicht erst; bei ihr stand mit Gewißheit fest, daß ihr Herz nur dem Freunde ihrer Jugend gehören könne. Sie war darüber so wenig im Zweifel, daß sie bei Theobald ganz die nämliche Sicherheit voraussetzte, als eine Sache, die sich von selbst verstehe und keiner Erklärung und Betheuerung bedürfe. Dabei aber war der jungfräuliche Adel ihres Wesens so erhaben, daß sie wohl erkannte, welche Zurückhaltung und welche Entsagungen ihr die Verhältnisse auferlegten.

Deßwegen konnte sie sich auch jetzt kaum fassen, da sie Theobald, welchen sie in der fernen Stadt glaubte, zu Hause fand. Der Gedanke, daß es den Anschein haben könne, als habe sie ihn hier aufgesucht, war ihr überaus peinlich, und raubte ihr völlig die Kraft und Sicherheit, mit welcher sie sich sonst zu beherrschen wußte. Dadurch wurde auch die Unterhaltung im Försterhause eine gestörte, so sehr sich auch die Matrone bemühte, das Gespräch zu beleben, und Friederiken ihre Freude über den Besuch kund zu geben. Diese war einsilbig, und die Folge davon war, daß Theobald noch wortkarger wurde. Es war daher eine namentlich für Rike nicht unangenehme Unterbrechung, als eine Magd aus dem Hause des Bürgermeisters die Nachricht brachte, daß Fränzchen mit dem Großknechte schon nach Hause gegangen sei.

Rike brach nun ebenfalls auf, und die streitenden Gefühle, welche sie bestürmten, da sie sich zum Scheiden anschickte, füllten ihr Herz mit einem schneidenden Schmerze, wie sie ihn noch nie gefühlt hatte. Die angebotene Begleitung Theobalds schlug sie aus, und schritt nach kurzem aber warmem Abschiedsworte rasch durch den Garten zum Thore.

»Auf baldiges Wiedersehen« – rief Theobald der Eilenden nach.

Sie wandte sich unter dem Thore nochmals um, und ihre Augen sprachen einen bessern Scheidegruß, als es die Lippen vermocht hatten.

Draußen wandte sie sich zu dem Pfade, welcher durch den Tannenschlag einen nähern Weg zu dem elterlichen Hause bot. Es war Abend geworden, und die Sonne neigte sich zum Scheiden. Die Flur feierte die Sabbatruhe; aber aus der Schenke des Dorfes drangen die kreischenden Töne einer Klarinette herüber und störten den heiligen Sonntagsfrieden der Natur. Auf Rike schien die Stille im Walde beruhigend zu wirken; ihre anfangs so raschen Schritte wurden langsamer, die Aufregung, welche aus ihrem glühenden Antlitze sprach, wich und gab dem mildern Gefühle tiefer Wehmuth allmälig Raum. So war sie eine Weile fortgegangen, und schon sah ihr aus der Ferne, wo der Wald sich lichtete, das stattliche Haus ihres Vaters entgegen. Da rauschte es ihr zu Seite im Laube. Furchtsam blickte sie um, und der Schreck lähmte ihr fast die Glieder, als sie zwischen den Büschen Theobald auf sich zueilen sah.

»Friederike, verzeihen Sie!« – rief er ihr bange entgegen.

»Um Gotteswillen, Theobald!« – sprach sie zitternd. »Gehen Sie! – Gehen Sie, Theobald!« setzte sie lauter, aber auch angstvoller hinzu.

»Nur ein Wort!« – bat der junge Mann.

»Hier ist nicht der Ort dazu« – sprach sie und eilte vorwärts.

»Ich muß Sie sprechen« – sagte er, indem er ihr umsonst die Hand darbot – »und Sie müssen mich hören. – Nur einen Augenblick, Rike!« –

»Lassen Sie mich!« – rief das Mädchen fast weinend. »Wenn Jemand uns sähe« –

»Es sieht uns Niemand auf diesem einsamen Wege.«

»Aber Gott« – rief die Jungfrau schmerzlich – »und mein Engel!« –

»O der schützt Sie« – entgegnete Theobald, und der Ton seiner Stimme war so rührend und so wehmüthig, daß Friederikens Herz überwältigt war. Ein Thränenstrom stürzte aus ihren Augen.

»Wenn du es gut mit mir meinst, Theobald, so thust du mir solches nicht an« – rief sie und verbarg das Gesicht in die zitternden Hände.

Er stand vor ihr, bleich und bebend, und beschwor sie in klagenden Worten, nicht zu zürnen. Er sagte ihr, wie ihn ihr Benehmen beunruhigt, wie es ihn gedrängt habe, aus ihrem Munde die Wahrheit zu vernehmen, und daß er jetzt wieder getröstet scheide.

Stumm hatte ihn Friederike angehört.

»Gehen Sie, Theobald!« – sagte sie alsdann zu ihm und schlug die Augen bittend zu ihm auf. »Wie weh thut es mir, Ihnen sagen zu müssen: das schickt sich nicht.«

»Aber ich weiß« entgegnete er – »Sie haben mir verziehen.«

»Zwischen uns sollte kein Mißtrauen treten« – sagte Rike, und blickte ihn mit der alten Treuherzigkeit des Kindes an.

»So soll es auch sein« – erwiderte Theobald. »Auf Wiedersehen am Weihnachtsfeste!«

»So Gott will!« – sagte Friederike leise, und eilte davon.

Auch Theobald kehrte nach Hause. Aber er konnte sich's nicht versagen, nach einigen Schritten stehen zu bleiben, und ihrer schlanken Gestalt nachzusehen, welche im Lichte der scheidenden Sonne wie verklärt auf dem Pfade dahinschwebte, während in den Tannen schon die Dämmerung webte, und tiefe Schatten zwischen dem Gebüsche lagerten.


 << zurück weiter >>