Franz Xaver Bronner
Ein Mönchsleben aus der empfindsamen Zeit. Erster Band
Franz Xaver Bronner

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Zehntes Kapitel:

Notensetzer in Zürich.

Besuch bei Lavater – Aussichten auf Broterwerb – Als Notensetzer angestellt – Abkunft mit den Mönchen – Gönner und Bekanntschaften – Salomon Geßner – Aufmunterungen zum Dichten – Idyllen – Kleidung – Brief nach Augsburg – Hoffnungen, vom Mönchsstande dispensiert zu werden – Verhandlungen mit der Geistlichen Obrigkeit in Augsburg – Bedenklichkeiten – Kapitulation – Letzte Beschäftigungen in Zürich und Abschied.

Den 11. September, morgens, suchte ich Herrn Ratsherrn Füßli auf, fand ihn aber nicht zu Hause und gab das Empfehlungsschreiben von Basel ab. Man hieß mich nachmittags wieder kommen. Auf dem Wege durch die Stadt begegneten mir viele Herren mit Baretten, steifen Kragen und altdeutschen schwarzen Staatsröcken geschmückt. »Ich hätte doch nicht geglaubt,« dachte ich, »daß die Reformierten eine so große Anzahl von Geistlichen hegten! Es gibt in mancher katholischen Stadt nicht mehrere!« Erst als mir der Wirt sagte, alle diejenigen, welche so gekleidet wären und Degen trügen, gehörten zum großen und kleinen Rat, kam ich ins klare.

Um ungesäumt einen Versuch zu wagen, ob mir nicht der Rat des Herrn Lavater eine heitere Aussicht in die Zukunft eröffnen würde, entschloß ich mich, sogleich nach geendigter Predigt den Mann zu sehen, von dessen Menschenliebe, Toleranz und Weisheit ich seit langem eine hohe Meinung gefaßt hatte. Ich kam in seine Wohnung und wartete schüchtern unten in dem Hausflur, bis jemand kommen würde, dem ich mein Verlangen vortragen könnte. Ein etwas langer und hagerer Mann im geistlichen Kirchenkleide kam die Treppe herab und fragte mich mit ziemlich derbem Tone, was ich wollte. Ich äußerte meinen Wunsch, mit Herrn Lavater zu sprechen. Er hieß mich eine Weile Geduld haben, bis einige Besuche abgefertigt wären und ging ins nahe Zimmer. Die Abschiedskomplimente wurden dort nach einem Viertelstündchen gemacht und man rief mich hinein. Niemand war mehr zugegen als zwei Geistliche. Ich fragte, wo Herr Lavater wäre? Und derjenige, mit dem ich draußen schon gesprochen hatte, gab sich als denselben zu erkennen. Ich war nicht wenig betroffen, daß ich den Mann nicht sogleich kannte, dessen Gesichtsbildung mir schon so oft in Silhouetten, Porträts und Büsten vorgeschwebt hatte. Allein sie glichen, wie ich merkte, seiner wahren Gestalt so wenig, daß es kein Wunder war, wenn ich unter seiner wirklichen Physiognomie, die auffallend mehr Gespanntes, Scharfes und Hageres hatte, als alle Bildnisse von ihm, den sanften Johannes-Charakter Lavaters (wie ich ihn dachte) nicht wieder finden oder auch nur vermuten konnte. Das Rasche in seinen Reben und Geberden stach ebenso sehr gegen die Erwartung ab, die ich von seiner Milde und einnehmenden Freundlichkeit im Herzen hatte. Schüchtern begann ich meine Anrede und sagte ihm: er sehe einen Bedrängten vor sich, der von jeher die größte Achtung für ihn und seine Schriften gehegt habe und nun in einer sehr kritischen Lage mit Sehnsucht guten Rat von ihm erwarte. Wenn er so gütig sein wolle, mich anzuhören, so sei ich bereit, mein ganzes Herz vor ihm auszugießen. Mit strengem Ernste fragte er: »Wer sind Sie denn?« Immer mehr betroffen antwortete ich: »Vor kurzem war ich noch ein Benediktiner in Donauwörth; Unzufriedenheit mit dem Mönchsstande überhaupt und allerlei besondere Leiden zwangen mich, das Kloster zu verlassen und meine Zuflucht in die Schweiz zu nehmen.« Er sprach im vorigen Tone: »Sie sind also, deutsch herausgesagt, ein entlaufener Mönch?« Es tat mir im Herzen wehe; der andre Geistliche, welcher noch zugegen war, sagte etwas leise zu Herrn Lavater: »Freund, Sie behandeln ihn doch zu strenge«, und ich – überlegte, ob es besser wäre, zu gehen oder weiter zu reden. Zum letztern entschloß ich mich, denn es fiel mir ein: »Vielleicht prüft er dich nur.« Laut erwiderte ich: »Wenn Sie so wollen, Herr Diakonus, ja, ich bin ein entlaufener Mönch; aber ich glaube, die gültigsten Gründe gehabt zu haben, das Kloster zu verlassen.« Er sprach: »Was waren das für Gründe? Wahrscheinlich leere Einbildungen! Glauben Sie nur, ich hab' aus Ihrer Gegend schon einen Wink erhalten, daß Sie leichtsinnig Ihren Orden verließen und vielleicht hierher kommen würden. Man hat mich gewarnt.« »Es ist mir leid,« sagte ich, »daß man Ihnen schon zum voraus eine üble Meinung von mir beigebracht hat. Sie können daraus abnehmen, wie tätig meine Verfolger sind, um mich zu verderben. Was mich antrieb, aus dem Kloster zu fliehen, war gewiß nicht bloßer Leichtsinn.« Dann malte ich ihm meinen Zustand im Orden vor, so gut ich eben konnte. Allein er ward nicht befriedigt und riet mir, nach Donauwörth zurückzukehren, der verdienten Strafe mich zu unterwerfen und meinen Gelübden getreu zu bleiben. Ich erklärte, daß ich die Klostergelübde nicht für verbindlich hielte, ergoß mich über die Qualen, unter deren Last im Mönchsstande jede besser unterrichtete Seele seufzen oder wohl gar erliegen muß und endete damit, meine Überzeugungen seien von der Art, daß ich lieber alles Elend erdulden, als wieder ins Kloster zurücktreten wolle. »Was haben Sie denn für Überzeugungen?« fragte er. Da gestand ich ihm unverhohlen meine Unzufriedenheit mit dem dogmatisch-katholischen System.

»Wollen Sie etwa Ihre Religion verändern?« fragte er weiter. »Nein!« antwortete ich, »auch mit den dogmatischen Behauptungen andrer Religionssysteme kann ich nicht einverstanden sein.« »So ist wohl Deismus Ihr Glaube?« fuhr er fort, »was wollen Sie denn anfangen? Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Ich bin auch nicht da, um Ihnen zur Last zu fallen,« erwiderte ich, »nur um einen guten Rat wollte ich Sie bitten.«

»Ich weiß Ihnen nicht zu raten. Hätten Sie anders gesprochen, vielleicht war' es möglich gewesen, etwas für Sie zu tun.«

»Herr Diakonus, Sie haben weit ausgebreitete Bekanntschaft, könnten Sie mir nicht bei dem päpstlichen Nuntius in Luzern ein wirksames Vorwort verleihen, daß ich von den Klostergelübden losgezählt würde? Vielleicht darf ich hoffen, als Weltpriester noch einigen Nutzen zu schaffen.«

»Ich habe einige Bekanntschaft in Luzern, vielleicht wär' es möglich, durch gute Freunde etwas zu erhalten. Aber es dünkt mich am besten, weil Sie sich doch wieder in ein katholisches Land sehnen, Sie gehen in Ihr Kloster zurück und überwinden das Vorurteil, das Sie gegen diesen Stand eingesogen haben.«

»Gern will ich zu allem andern mich verstehen, nur zu diesem nicht! Wenn mir nichts Bessres mehr übrig bleibt, so hab' ich Mut genug, Lehrknabe bei einem Handwerker zu werden.«

»Kennen Sie jemanden in der Stadt?«

»Nein, doch hatte ich ein Empfehlungsschreiben von Basel an Herrn Ratsherrn Füßli. Aber ich konnte ihn noch nicht antreffen.«

»Nun, so versuchen Sie Ihr Heil, und wenn Sie meinen, daß Ihnen meine Empfehlung in Luzern etwas helfen kann, so kommen Sie ein andermal wieder zu mir!«

Da erhob er sich von seinem Stuhle. Der Geistliche, welcher alles mit angehört hatte, nahte sich mir, sagte etwas Trostreiches und bot mir freundlich die Hand. Vier Zürcher Vierbatzenstücke lagen, ehe ich's dachte, in meiner Rechten, und fort war er. Unter der Tür drückte mir auch Herr Lavater ein Vierbatzenstück in die Hand, und ich wankte beschämt und verwirrt von dannen.

Das Essen wollte mir durchaus nicht schmecken. Nachmittags ging ich wieder in die Wohnung des Herrn Füßli; er empfing mich sehr freundlich, erkundigte sich genau um meine Umstände, ließ mich das Herz ausleeren und sprach mir Trost ein. Ich sah's ihm an, daß es ihm ernstlich leid war, mir nicht sogleich zum nötigen Unterhalt verhelfen zu können; sein ganzes Betragen zeugte, daß es ihm wehe tat, mich ohne bestimmte Aussicht auf einen sichern Broterwerb entlassen zu müssen. Allein er hieß mich am nächsten Dienstag wiederkommen; indessen wollte er sich besinnen, auf welche Weise mir aus der Not zu helfen wäre. »Doch,« sagte er, »mir fällt etwas bei; Sie bedürfen einiger Ermunterung; es muß Ihnen lieb sein, einen Mann zu finden, der mit Ihnen ähnliche Schicksale erfahren hat. Der Verfasser des deutschen Zuschauers, Herr Winkopp, ist Ihnen vielleicht bekannt; er wohnt nur ein halbes Stündchen von hier im Dorfe Wipkingen, besuchen Sie ihn! Ich hoffe immer, Sie sollen nicht ohne einiges Vergnügen zurückkehren. Am Dienstag, morgens zwischen sieben und acht Uhr, kommen Sie wieder zu mir, vielleicht – da Sie so genügsam und bereitwillig sind, auch die geringsten Dienste sich gefallen zu lassen – vielleicht gelingt es mir unterdessen, etwas aufzufinden, womit Sie Ihren Unterhalt gewinnen können.«

Mit leichterm Herzen nahm ich Abschied von dem edlen Menschenfreunde und suchte den Weg nach Wipkingen. Als ich in die Weinschenke kam, in deren oberm Stockwerke Herr Winkopp sich einige Zimmer gemietet hatte, meldete ihm die Wirtin, daß ein junger Mann ihn zu sprechen wünsche. Ich stand an der Treppe und vernahm jedes Wörtchen.

Er. Wer ist er denn?

Die Wirtin. Er scheint mir, dem geschornen Haare nach zu urteilen, ein katholischer Geistlicher zu sein.

Er. Was T... will der Pfaff bei mir?

Die Wirtin. Er sagte nur, er wünschte Sie zu sprechen.

Er. Er soll hingehen, wo der Pfeffer wächst; was kümmert mich all das Geschmeiß?

Die Wirtin. Ich glaube, er sagte, Herr Ratsherr Füßli habe ihn hergeschickt.

Er. Wer weiß, ob der Kerl nicht lügt! Die Schwarzröcke sind mir ohnehin alle spinnefeind. Wie soll ich ihm trauen?

Jetzt streckte die Wirtin den Kopf aus der Zimmertür, zog ihn zurück und sagte etwas leiser, doch so, daß ich's deutlich vernahm: »Herr Winkopp! Sehen Sie doch, er steht da unten an der Stiege und hört gewiß alle Worte.« Herr Winkopp sah nun auch mit halbem Kopfe zur Tür hinaus, kam mir endlich mit einem seiner Freunde auf der Treppe entgegen und führte mich in sein Zimmer. Der Freund war Herr Peter Philipp Wolf, der Verfasser der Jesuitengeschichte und des Lebens Pius VI. Beide, als sie nun aus meiner Schüchternheit und allerlei Äußerungen ersahen, daß ich nichts minder als ein Verräter wäre, gaben sich alle Mühe mich aufzuheitern und kürzten mir durch die Lebhaftigkeit ihrer Gespräche die Zeit so angenehm, daß ich abends mich wunderte, wie die Dämmerung so frühe eintreten könnte. Mutiger und vergnügter, als ich bisher in Zürich gewesen war, begleitete ich Herrn Wolf in die Stadt.

Den 13. September besuchte ich zur bestimmten Stunde Herrn Ratsherrn Füßli wieder. Er empfing mich mit ebenderselben einnehmenden Leutseligkeit, die mir ihn schon das erstemal so ehrwürdig gemacht hatte. »Ich habe mich hin und her besonnen,« sprach er freundlich, »wie Ihnen zu helfen sein möchte, aber es ist schwer etwas aufzufinden. Den Einfall, der mir heute durch den Kopf ging, getrau ich mir kaum zu sagen, die Beschäftigung ist gar zu gering für Sie.« »O, mir ist nichts zu gering,« unterbrach ich ihn mit Eifer, »wenn es mir nur Brot gibt, gern bequeme ich mich zu allem.« »Sie verstehen sich auf Musik,« fuhr er fort, »wie ich neulich aus Ihrem Gespräche merkte. Eine hiesige Buchhandlung, an der ich Anteil habe, richtet eben eine Notendruckerei von neuer Erfindung ein; noch mangelt ein Setzer; glauben Sie, Geduld genug zu haben, um sich mit dieser langweiligen mechanischen Arbeit abzugeben?« »An der soll es nicht fehlen!« erwiderte ich freudig, und er sprach ferner: »Vielleicht gelingt es mir, Ihnen durch Empfehlung diese kleine Stelle zuzuwenden. Es ist mir leid, Ihnen nicht sogleich eine bessere Versorgung verschaffen zu können, aber es ist doch indessen eine geringe Nothilfe. Kommt Zeit, kommt Rat! Zuerst suchen Sie nun Herrn Amtmann Heidegger auf, der gegenwärtig die Handlung dirigiert; stellen Sie ihm Ihre Umstände vor und bitten Sie ihn um die Aufnahme. Sogleich will ich hingehen und vorläufig zu Ihren Gunsten reden.«

Als ich in die Orellische Buchhandlung kam, traf ich meinen Gönner wirklich schon in vollem Gespräche mit Herrn Erni, dem Kassierer der Handlung, an, dem er mein Schicksal erzählte und auftrug, dem Herrn Amtmann, der eben heute abwesend war, davon zu sagen und ihn soviel möglich für mich zu gewinnen. Scheu und stille, in Erwartung der Dinge, die über mich beschlossen werden sollten, stand ich im Büchergewölbe. Herr Erni suchte mich durch freundliche Gespräche zu ermuntern, fragte mir noch mehrere Umstände meines Lebens ab und hieß mich abends wieder kommen. Indessen sprach er mit dem Herrn Direktor und erhielt den Bescheid, welchen er mir abends getreulich anzeigte: »Man habe bereits einem jungen Zürcher versprochen, ihn zum Setzer anzunehmen; wollte sich aber derselbe nicht gefallen lassen, Noten zu setzen, so sollte ich an seiner Statt eintreten.« Zugleich machte mir Herr Erni alle Hoffnung, daß der Knabe, von dem die Rede war, vermutlich schon ein andres Handwerk ergriffen hätte und wahrscheinlich nicht kommen würde.

Weil ich den 14. September Herrn Heidegger wieder nicht traf, so riet mir ebenderselbe Kassierer, sogleich nach Tische Herrn Winkopp zu besuchen, wohin zur nämlichen Zeit Herr Amtmann kommen würde. Wirklich fügte es sich so: Herr Winkopp vereinigte seine Empfehlung mit meiner Bitte und Herr Heidegger versprach, mich als Notensetzer anzunehmen. Ich hätte hüpfen mögen vor Freuden, als ich sein Jawort hatte und lief vergnügt und singend nach Zürich zurück.

Den 15. erhielt ich mein Päckchen mit Schriften und Leinenzeug von Basel und ging zum erstenmal in die Orellische Buchdruckerei, um Buchstaben und Noten setzen zu lernen. Herr Erni nahm die Mühe über sich, mir einen wohlfeilen Tischort zu suchen und fand einen solchen bei dem Schlächter Johann Meisterhans, dessen Knabe in Diensten der Handlung stand. Als mich Meisterhansens Frau erblickte, machte sie ein recht klägliches Gesicht, konnte meinen geschornen Kopf nicht ohne Widerwillen ansehen und flüsterte ihrem Knaben in die Ohren, so daß ich's verstehen mochte: »Heinrich, was bringst du mir denn da für einen Pfaffen? Den hätt' ich nicht angenommen, wenn ich ihn vorher gesehen hätte!« Die Verschiedenheit unsrer Dialekte machte, daß wir einander nur zur Hälfte verstanden, und brachte etwas Komisches in unsre Unterhaltung. Es kostete einige Tage, bis sie durch meinen Frohsinn mit meinem Aussehen versöhnt ward. Viel besser gelang es mir, den Beifall ihres Mannes zu erhalten, mit dem ich gleich anfangs bei Tische ganz vertraulich plauderte. Bald wurden aber beide mit meiner Denkungsart näher bekannt und gewannen mich lieb. Ich lernte mich in meine neue Lage fügen und lebte mit wenigem heiter und froh. Die kleinen Vorteile beim Setzen der Schriften sowohl als der Noten zeigte mir Herr Wachtmeister Frymann mit gutherziger Bereitwilligkeit und ich begriff sie ohne Anstand, nur mangelte es mir noch lange Zeit an Geschwindigkeit und Übung. Herr Amtmann Heidegger hatte die Güte, mich samt meinem Notenkasten aus dem Tumulte der großen Druckerei hinweg in ein besonderes Zimmer zu stellen, welches mir die Arbeit sehr erleichterte und mich allerlei roher Szenen enthob.

Ich mochte etwa ein paar Wochen am Notenkasten gestanden haben, da kam ein reisender Benediktiner, P. Dominikus Beck, Lehrer der Mathematik in Salzburg, nach Zürich, besuchte die Orellische Handlung und kam, indem er die Druckerei besah, auch in mein Zimmer. Herr Amtmann machte ihn scherzend mit mir als einem ehemaligen Mitbruder bekannt, nahm mich auf einen Spaziergang mit und wollte, ich sollte dem Professor von meinem Schicksal erzählen. Mitleidig hörte mich der gute Mann an, äußerte das Verlangen, mich mit meinem Prälaten zu versöhnen und wunderte sich sehr, als ich ihm sagte, daß er für mich viel mehr Glückwünsche als Bedauern in Bereitschaft halten sollte, denn ich lebe nun offenbar glücklicher als im Kloster. Auf seiner Rückreise nach Salzburg besuchte er die Abtei zum heil. Kreuz in Donauwörth und brachte die erste zuverlässige Nachricht von meinem Zustande dahin. Es war ein Jubel unter den Mönchen, daß es mir so übel ginge. Lange wußten sie gar nicht, was aus mir geworden war, denn man hatte ihnen von Basel aus nichts vom Orte meines Aufenthaltes gemeldet, sondern nur angezeigt, daß mein Koffer in Beschlag liege und vom Kloster gegen Bezahlung der Kosten und des Postgeldes bezogen werden könne. Sie hatten in ihrer Zuschrift an den Magistrat daselbst das Ansuchen gestellt, daß man mich zum Bekenntnis zwingen möchte, ob ich keine andern Verschläge gemacht hätte und wo diese wären? Allein man beantwortete ihnen, wie mir mein Korrespondent berichtete, das Wort »zwingen« auf eine Art, die ihnen die Lust vertrieb, ihr Ansuchen zu wiederholen. Meine Freunde in Zürich hatten mir geraten, an meinen gütigen Verteidiger in Basel zu schreiben, daß ich den Koffer dem Kloster freiwillig überlassen wollte, wenn es alle Kosten zu tragen bereit wäre. »Mit Büchern können wir dich zur Genüge versehen,« sagten sie, »das Geld ist dir nötiger, und die Gerichtskosten nebst der Fracht mögen sich hoch genug belaufen, um dich deines kleinen Vorrats zu berauben. Noch dazu hast du den Vorteil davon, auf einmal aus aller Verbindung mit dem Kloster zu kommen und kannst dann hier unter einem fremden Namen ruhig und unangefochten leben, ohne daß sie dich einmal auskundschaften.« Der Vortrag gefiel mir; ich schrieb ihrem Rate gemäß nach Basel und erhielt die obige Nachricht; zugleich nahm ich den Namen Johann Winfried an und bat alle meine Freunde in Briefen, mir unter dieser Zuschrift ihre Antworten zu senden. Weil ich meines Vaters Zunamen ablegte, wählte ich seinen Taufnamen, und weil der engländische Mönch Bonifacius, der die Deutschen zum päpstlichen Christentum bekehrte, ehemals Winfried hieß, so nannte ich mich ebenfalls Winfried.

Lange kannte man mich in Zürich nur unter diesem Namen, und es hielt schwer, die Leute in der Folge glauben zu machen, daß ich anders heiße.

Mein Freund Wolf machte mich mit Herrn Stubenverwalter Keller auf dem schwarzen Garten bekannt, der mich schon bald zu einer Abendlustfahrt auf dem See einlud. Es war das erstemal, daß ich auf einem See fuhr, und es erregte in mir ein ganz neues, angenehmes Gefühl, über eine so große Wasserfläche sanft gewiegt hinzugleiten, die paradiesischen Ufer zu beiden Seiten mit meinen Blicken zu bestreichen und eine zweite blendende Abendröte in der Tiefe hängen zu sehen. Doppelt lieblich dünkte mich der Ton der Waldhörner und der vielfache Widerhall; ich genoß einen sehr frohen Abend.

Eben diese Herren machten mich auf dem Musiksaal und auf der deutschen Schule als einen Sänger bekannt, und ich durfte bald diese beiden musikalischen Gesellschaften sowie diejenige, welche sich auf der Schuhmacherzunft versammelt, besuchen und ward mit Zusicherung eines jährlichen Geschenkes förmlich als Sänger angenommen. Herr Landvogt Heinrich Lavater, damals Präsident auf dem Musiksaal, behandelte mich mit vorzüglicher Güte, nahm lebhaften Anteil an meinem Wohlergehen und erwies mir manche Gefälligkeit. Das Singen in öffentlichen Konzerten gab Anlaß, daß ich in der Stadt nicht unbekannt blieb und zu vielen Privatkonzerten gerufen ward.

Einst sang ich bei Herrn Zunftmeister Bürkli die Partie Abel im Singspiele »der Tod Abels« von Rolle. Als die Musik zur Hälfte war, machte man eine Pause, um auszuruhen. Ich stand mit meinem Freunde Wolf und den übrigen Musikanten am Schenktische; da trat ein freundlicher Herr zu mir, ermunterte mich durch einige Reden, die Beifall anzeigten und fragte nach einigen Umständen meines Lebens. Ich antwortete fröhlich und offen, und der Herr verließ mich wieder. Ich trank ein Glas Wein und weidete mich in Gedanken an dem Lobe, das ich eben eingeerntet hatte. »Wer war doch der Herr, der mit mir sprach?« fragte ich endlich Herrn Wolf. »Kennen Sie den nicht?« erwiderte dieser wie staunend, »das ist der Herr Ratsherr Geßner.« – »Der Dichter Salomo Geßner?« fragte ich hastig. »Kein andrer«, antwortete Wolf, und ich konnte mich nicht enthalten, hoch aufzuhüpfen und durch die lebhaftesten Ausrufungen und Geberden meine innige Freude zu zeigen. Wolf lachte laut und neckte mich meiner übermäßigen Freude wegen; die Umstehenden und unter denselben auch Herr Ratsherr Geßner, der nicht ferne war, wurden dadurch aufmerksam gemacht und herbeigezogen. Der edle Dichter vernahm lächelnd von Wolf die Ursache meines Jubels, sah mir die Freude noch aus den Augen blitzen, drückte mir gütig die Hand und fragte: »Warum ich ihn nicht schon besucht hätte, wenn es mir doch lieb gewesen wäre, ihn zu kennen?« Ich gestand, daß ich es für eine Art unverschämter Zudringlichkeit gehalten hätte, ihm mit einem nur für mich interessanten Besuche beschwerlich zu fallen. »Kommen Sie nur, sobald es Sie freut,« sagte er mit einnehmender Freundlichkeit, »es wird mir nie beschwerlich sein, jemandem Vergnügen zu machen.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; sogleich den andern Tag ging ich hin. Gütig lächelnd führte er mich in ein Zimmer, wo er eben sechs bis sieben von ihm vollendete Gemälde auf den Tischen und Stühlen umher aufgestellt hatte. Hingerissen von der Schönheit dieser Stücke konnte ich nicht müde werden, sie zu betrachten. Er fragte mich um die nähern Umstände meiner Flucht, bedauerte, daß er mir nicht sogleich ein besseres Auskommen zu verschaffen wüßte und äußerte den Gedanken, er habe in Rußland Freunde, ob ich wohl Lust hätte, dahin zu gehen, wenn er mich empfehlen würde? Damit war ich sehr wohl zufrieden; aber ich weiß nicht, wie es kam, daß in der Folge davon keine Rede mehr fiel, weder von seiner noch von meiner Seite. Ein Besuchender, den er oben in seinem Wohnzimmer auf einige Augenblicke verlassen hatte, kam nun die Treppe hinab, und der vortreffliche Künstler ging hinaus, um ihn vollends hinab zu begleiten, hieß mich aber bleiben. Diese kurze Einsamkeit gestattete mir Zeit, die Güte und Menschenfreundlichkeit des großen Mannes recht tief zu empfinden und die Übereinstimmung seines Charakters mit seinen Schriften zu bewundern. Bis er wieder kam, war ich so gerührt, daß mir Freudentränen in den Augen standen und ich ihm gern um den Hals gefallen wäre, wenn mich nicht Ehrfurcht zurückgehalten hätte. Mit dem Ausdrucke innigen Wohlwollens entließ er mich, gab mir das Geleit, wie wenn ich ein Mensch von Bedeutung wäre, bis zur Tür und erlaubte mir, ihn öfters zu besuchen.

Heinrich, sein jüngerer Sohn, gutmütig, offen und fröhlich und ein Freund der Wissenschaften, machte bald nähere Bekanntschaft mit mir. Oft kam er auf meine Kammer, oft besuchte ich ihn auf seinem Zimmerchen. Wir setzten uns gern miteinander auf die flachen Dächer unsrer Wohnungen, labten uns am Anblick der herrlichen Gegenden und schönen Hügel um die Stadt her, lasen schöne Stücke der besten Dichter und plauderten und scherzten uns müde, oder wir nahmen Abrede, auf einer Anhöhe an der Sihl (beim steinernen Tische), wo eine schöne Laube stand, die Sonne aufgehen zu sehen, oder liefen in den Wald, setzten uns an blumige, ausgesucht reizende, einöde Plätzchen und lasen seines Vaters schönste Idyllen.

Noch nie hatte ich's gewagt, eines meiner Fischergedichte jemandem in Zürich zu zeigen, obschon ich es nicht unterlassen konnte, manchmal in Winternächten, wenn alles im Hause schlief, oder im Frühling auf dem Hausdache, wo ich sehr gern verweilte, oder im Gebüsche an der Sihl, wo ich am liebsten spazierte, meiner Neigung, etwas zu dichten, nachzugeben. Ich dachte, es sei genug, wenn ich Vergnügen daran fände und meinen Geist einigermaßen übte.

Einst hatte ich mit Heinrich einen fröhlichen Abend hingescherzt; wir standen auf dem Altane hinten an seinem Hause, wo man die schöne Aussicht auf das sogenannte Bürglein hat, einen der angenehmsten Hügel um Zürich her, mit einem Landhause. »Dorthin wollen wir morgen gehen,« sagte Heinrich, »und uns am Aufgang der Sonne ergötzen; dann essen wir Milch zum Frühstück und machen uns lustig.« Vergnügt mit unserm Entwurfe scherzten wir fort. Herr Ratsherr Geßner, der, ohne daß ich es wußte, im anstoßenden Zimmer malte und unser Spiel im stillen belauscht haben mochte, trat auf den Altan und nahm mit seiner gewöhnlichen Herablassung und Freundlichkeit teil an unserm Gespräche. Ich mußte ihm (wie er öfters verlangte, wenn er mich sah) ein Liedchen singen. Bald kamen auch seine beiden Schwestern, seine Tochter und Gemahlin herbei und setzten sich traulich auf die Treppen, welche vom Altan in ein Nebengebäude führen; ich durfte zu ihren Füßen sitzen und sang, was ich wußte. Gütig behielten sie mich beim Abendessen. Sobald der Morgen graute, weckte ich Heinrich, und wir zogen mit wohlgefüllten Taschen aufs Bürglein. Es begann der schönste Sommertag. Mit Entzücken genossen wir des prächtigen Schauspiels der aufgehenden Sonne und lasen das Morgenlied aus dem ersten Gesange vom Tod Abels. Freudig verzehrten wir unsre Milch und unser Gebackenes, konnten uns an den Reizen der Gegend nicht satt sehen und wurden von der schönen Beleuchtung, in welcher uns der Ätliberg erschien, so hingerissen, daß wir auf der Stelle den Entschluß faßten, denselben zu besteigen. »Bis Mittag sind wir doch wieder zu Hause,« sagten wir, ließen uns in einem Kahn über die Sihl setzen und wanderten auf den Kolbenhof zu. Wir hatten aber überall so viel zu schauen und so viele Naturschönheiten zu bewundern, daß es bereits zehn Uhr schlug, als wir anfingen, am Fuße des Berges durch das Gebüsch emporzusteigen. Bis wir unter beständigem Umsehen, Ausrasten und Lobpreisen der herrlichen Aussichten bis zum Grate hinanschlenderten, hörten wir in der Stadt elf Uhr läuten. Da wir den rechten Weg auf die höchste Spitze nicht wußten, so gerieten wir auf einen ziemlich gefährlichen Geißweg. Wir sahen uns gezwungen, auf allen vieren ängstlich zu kriechen und uns sorgfältig an dem Efeu zu halten, der den Felsen umspann, um nicht auf die Fichten hinabzustürzen, die uns unten mit ihren braunen verdorrten Wipfeln zu spießen drohten. Glücklich gelangten wir endlich zum Wachthaus; aber die Sonne hatte uns so unbarmherzig gesengt, und brennender Durst quälte unsre Gaumen so sehr, daß wir uns kaum Zeit nahmen, ein wenig herumzuschauen, sondern auf der Waldseite gegen den Kolbenhof hinunter von Staude zu Staude bergab kletterten, um eine kleine Quelle Zu finden. Gelbe Dotterblumen, die nur auf wasserreichem Grunde fortkommen, leiteten uns zu einem Felsen, über den an verdorrten Gräsern tropfenweise ein wenig Wasser herabsickerte. Freudig zogen wir die Reste unsres Proviants aus der Tasche, fingen damit das köstliche Naß auf und labten unsre gedörrten Gaumen. Abgemattet und ruhebedürftig entschlossen wir uns, im Schatten ein wenig hinzuliegen. Heinrich schlief ein. Ich zog ein Papier aus der Tasche und (wie denn der Hunger manchen zum Dichter macht) schrieb eine Idylle nieder, die ich nachher »die Wanderer auf den Berg« nannte. Mehr als halb war sie fertig, als mein Freund erwachte und wundernd mich fragte, was ich hier schreibe. Ich las ihm mein Machwerk, das ihn zu vergnügen schien, und fing an, zum Spaße oben am Felsen wirklich eine kleine Laube über die Tropfquelle zu flechten. Dann stiegen wir auf den Gipfel des Bergs, genossen nach Herzenslust der schönen Aussicht, suchten die angenehmste Stelle zum Sitzen und überließen uns frohen Gefühlen. Heinrich ruhte, bis ich mein Gedichtchen vollendet hatte. Der Hunger fing an, uns lästig zu werden: wir spähten umher, ob nirgends eine Wohnung in der Nähe sei, erblickten des Hochwächters Haus und liefen hinab, um uns mit Käse und Brot und Wein zu laben. Wohlgenährt hüpften wir den Berg hinab und kamen abends in der Dämmerung nach Hause, wo man Heinrich schon mittags, nicht ohne Bangigkeit, vermißt hatte. Lustig erzählten wir unser Abenteuer; Heinrich verriet, daß ich etwas geschrieben hätte; ich sollte es zeigen, aber ich schämte und sträubte mich, denn wie konnte ich solche Tändeleien ohne Scham vor Geßners Augen auskramen? Am Ende nahm ich zur Ausrede, mein Aufsatz sei so bunt durchkreuzt, daß ihn niemand, auch ich selbst nicht fertig lesen könnte. Sogleich mußte ich versprechen, ihn ins reine zu schreiben und am folgenden Tag zu bringen, so ungern ich auch daran ging. Dann fragte Herr Ratsherr, ob ich schon öfters etwas gedichtet hätte, und ich gestand es mit Schüchternheit. Den andern Tag kam Heinrich auf meine Kammer, hielt mich an, den Aufsatz abzuschreiben und durchblätterte, indes ich schrieb, meine Papiere, die, weil ich weder Pult noch Kommode hatte, unverwahrt auf dem Tische lagen. Ohne weiteres steckte er ein Päckchen Idyllen zu sich, die er darunter fand und gab sie nicht wieder heraus, als ich sie ihm abforderte. »Du kannst sie mich wohl lesen lassen,« sagte er, »dann sollst du sie wieder unversehrt haben.« – »Ich fürchte, du möchtest sie jemandem zeigen,« erwiderte ich, »und dann werd' ich nur zum Gespötte.« – »Dafür sorge du nicht!« und damit ging er fort. Abends, als ich zu Herrn Ratsherrn kam, forderte er sogleich meinen Aufsatz. Mir war bange, wie er mein Geschreibe ansehen würde. Aber er las es bei Tische mit so ausdrucksvollem Tone vor und ermunterte mich durch seinen gütigen Beifall so sehr, daß endlich meine Furcht verschwand und Freude an ihre Stelle trat. Heinrich gestand dann, er habe noch mehrere meiner Idyllen in Händen, und Herr Ratsherr war herablassend genug, mir zu sagen, auch diese wollte er lesen, ich solle nur getrost fortfahren zu dichten. Wenn ich Lust habe, so stehe mir auch der Zutritt in die Gesellschaft offen, die sich Samstags in seinem Hause versammle und aus den vorzüglichsten Köpfen in Zürich bestehe. Ihr Umgang werde mir gewiß lehrreich sein. Schwerlich kann sich jemand vorstellen, wie sehr mich diese gütigen Äußerungen entzückten. In den Klagen bei Geßners Tod hab' ich gesagt, welch eine reiche Quelle von Aufmunterung und Segen für mich von diesem Tage an die Güte des Unvergeßlichen ward.

Neue Lust zur Tätigkeit erwachte in mir: Ich nahm alle Zeit, die mir von meinen Geschäften übrig blieb, zusammen und arbeitete allerlei kleine und größere Gedichte aus, die ich meist auf Spaziergängen oder in den angenehmsten Gegenden am Wasser sitzend, verfertigte. Meine Lieblingsplätzchen waren an der Sihl hinauf oder am Horn, einem Arme Landes, der sich in den See hinausstreckt. Sobald ich ein kleines Stück aufgesetzt hatte, zeigte ich es meinem Freunde Heinrich, und wenn dieser es für gut fand, seinem Herrn Vater, der aber – nur allzu nachsichtsvoll – kaum durch die leisesten Winke die Fehler meines Aufsatzes berührte. Überhaupt kritisierte er einen Aufsatz niemals förmlich, sondern hielt etwa im lauten Lesen ein, wenn der Ausdruck nicht rund genug war, oder wiederholte die Stelle, um mich Horchenden aufmerksam darauf zu machen, oder brachte seine Bedenken als eine unschuldige Frage vor, wie dies oder jenes gemeint sei? ob es nicht jemand mißverstehen könnte? ob das Ganze, auf diese Art gestellt, wohl die beste Wirkung tun werde? usw. O, wie schätzbar war mir jeder dieser Winke! Wie oft wünschte ich, ihn ganz verstanden zu haben, um mich ganz nach seinem Sinne zu fügen! Manchmal ließ er mich auch zu meiner Belehrung und Ermunterung wissen, welches Urteil über meine Arbeiten andre Gelehrte, die er vorzüglich schätzte, gefällt hätten. Mit vielen derselben, so dem Herrn Archidiakon Tobler, dem Herrn Doktor und Ratsherrn Hirzel, den Herren Professoren Meister und Corrodi usw. machte er mich in der Samstagsgesellschaft bekannt.

Nur mit großer Schüchternheit erschien ich anfangs im Kreise dieser vortrefflichen Männer; teils die Ehrfurcht, die ich vor ihnen hatte, teils das Gefühl, wie tief ich unter ihnen stehe, teils auch meine ärmliche Kleidung machten mich scheu und verzagt. Wegen des letzten Punktes blieb ich jedoch nicht lange in Verlegenheit. Eines Tages nämlich kam ein Bedienter, den ich öfters im Hause des Herrn Zunftmeisters Bürkli gesehen hatte, mit einem Korbe voll Kleider in meine Wohnung, legte einen weißtuchenen Rock, mit rosenrotem Taffet gefüttert und mit Stahlknöpfen geziert, auf den Tisch, eine Weste und Beinkleider von gleichem Tuche dazu, nebst einigen schönen weißen Halsbinden und sagte: ein Unbekannter schicke mir diese Kleidungsstücke und wünsche, daß ich zum Dank dafür, mit denselben bekleidet, jedesmal bei der Musik im Hause des Herrn Zunftmeisters Bürkli erscheine. Den Namen meines Wohltäters wollte mir der Bediente durchaus nicht sagen, so sehr ich auch in ihn drang. Das Kleid stand mir wie angemessen. Der Größe nach zu urteilen, war es von einem gewissen Junker Reinhard, den ich auf verschiedenen Musikfesten kennen gelernt hatte und einige Monate lang auf seinen Wunsch in Algebra und Geometrie unterrichtet hatte. Des Überbringers und des beigefügten Wunsches wegen riet ich aber auf Herrn Zunftmeister Bürkli. Lange wußte ich nicht, welchem ich eigentlich danken sollte; ich dankte also beiden und beide spielten die Unwissenden.

Die Orellische Buchhandlung bezahlte auch meine geringe Handarbeit gleich anfangs besser, als ich's verdiente, und fuhr in der Folge fort, mich noch großmütiger zu bezahlen. Auch fing ich, nachdem Herr Armbruster die Zürcher Zeitung zu schreiben aufhören mußte, mit Herrn Wolf an, dieselbe zu schreiben, und wir teilten uns in die Arbeit und in das Honorar, so daß ich bald imstande war, mir ein neues schwarzes Kleid machen zu lassen. Warum ich eben die schwarze Farbe wählte, wird sich sogleich aus dem folgenden ergeben.

Als der Weinmonat 1785 zu Ende ging, kam ein fremder Mann nach Zürich, welcher mir aller Orten nachfragte. Da ich aber meinen Namen verändert hatte, so konnte ihm niemand richtigen Bescheid geben. Endlich brachte er doch in Erfahrung, die Orellische Buchhandlung habe einen ausgesprungenen Pater in Dienste genommen. Er meldete sich als einen Mann von Pfäffikon am Zürichersee, den ein Geistlicher, namens Brentano, mit einem Briefe an mich hierher gesandt habe, und bat, man möchte ihm erlauben, mündlich mit mir zu sprechen und den Brief in meine Hände zu legen. Die Leute, welche im Laden waren, fürchteten eine Nachstellung und gingen zu Rate, ob sie mich rufen wollten oder nicht. Einer kam auf mein Zimmerchen und trug mir den Kasus vor. Ich nahm keinen Anstand, den Boten zu sehen und seinen Brief zu lesen, ging in den Laden hinab und sagte ihm, er möge mir nur offenherzig und in Gegenwart meiner Freunde anzeigen, was er mir anzuzeigen hätte. Dadurch wollte ich dem Mißtrauen den Weg abschneiden, das man vielleicht in mich gesetzt haben würde, wenn ich allein mit dem Manne beiseite gegangen wäre und mit ihm gesprochen hätte. Er war darüber betroffen, schien von Herzen betrübt, daß ich seinen Zuspruch verschmähte und übergab mir – ohne viel zu sagen – den Brief, dessen Aufschrift mir (überaus schmeichelhaft!) das Prädikat »Doktor der Theologie« beilegte. Ich erbrach ihn, las ihn erst stille, dann laut, lachte darüber und versprach zu antworten. Der Brief ist zu charakteristisch, als daß ich ihn nicht einrücken sollte, er heißt von Wort zu Wort also:

Freund!

Ein Donnerschlag war es für mich, da ich vernahm, was Sie vor etwa vier Wochen für einen Schritt wagten. Kein Tag ging von dieser Zeit vorbei, an dem ich Sie nicht dem Vater der Lichter am Altar empfahl, ganz besonders empfahl und in ihn recht heftig mit meiner Bitte drang, daß er Ihnen doch bessre Gedanken geben und Sie durch seine süßen Triebe wieder an Ihre vorige Stelle zurückführen wolle. Nicht zufrieden hiermit, erkundigte ich mich um Ihren Aufenthaltsort, konnte aber nicht mehr erfahren, als daß Sie sich etwa in Zürich aufhalten, da man Sie in Basel gleich nach Ihrer Ankunft abfertigte. – Freund, denken Sie doch Zurück, was Sie in Ihrem Knabenalter von mir und Ihren andern Lehrern hörten und im Alter des Jünglings und Mannes Wohl überdachten!!

– Soll alles dies nun auf einmal und für immer vernichtet sein? – Sie sind ein Theologe, und ohne einen Zuspruch von mir wissen Sie, was Ihre Pflicht ist. Kommen Sie zu mir nach Augsburg, Sie werden an mir einen wahren Freund finden, der Sie Ihres Irrtumes überweisen und in das Heiligtum zurückführen wird. Ich bin Ihnen Garante, daß Sie von Ihrem hochwürdigsten Prälaten und allen Ihren hochwürdigen Mitbrüdern, die Ihnen eine gänzliche Amnestie versprechen, mit Freuden sollen empfangen werden. Leben Sie indessen, wenn Sie je können, recht von Herzen wohl.

Augsburg, den 17. Herbstm. 1785.

Ihr ehemaliger Lehrer, Leonard Bayrer, Bibliothekar bei St. Salvator.

N. S. Ich habe schon 62 Protestanten der wahren Kirche gewonnen, und ich soll einen ehemaligen Schüler, der noch obendrein Ordensmann und Priester ist, zu ihnen übergehen sehen? – Ach! Herr, laß mich doch solch ein Unheil nicht sehen!«

Ich antwortete den 30. Oktober in einem Tone, der beinahe zu mutwillig war, und sagte unter anderm: »Das Proselytenmachen sei in Zürich weder so gewöhnlich noch so rühmlich, als in Augsburg; niemand habe sich bisher die Mühe nehmen mögen, mich dem mir angestammten, allein seligmachenden, katholischen Glauben untreu zu machen, und ich selbst habe den Einfall zu apostatieren auch noch nicht gehabt; seine Sorge für meine Rechtgläubigkeit sei also ganz eitel, sowie die Hoffnung, daß ich seinem, gar freundschaftlichen Versprechen so leicht trauen und aus meinem Zufluchtsort hervortreten werde. Ich habe hinlänglichen Grund zu fürchten, das Heiligtum, in welches er mich zurückzuführen Lust bezeige, möchte ein Kerker sein. Solange ich nicht Siegel und Brief dafür erhalte, daß ich vom Mönchsstande durch eine päpstliche Dispensation feierlich losgezählt, von aller Strafe völlig befreit und noch obendrein mit einer einträglichen Stelle als Weltpriester versorgt werden solle, sei gar nicht daran zu denken, daß ich die Schweiz, wo ich mich in so behaglicher Sicherheit glücklich fühle, jemals wieder verlasse« usw. Ich las diesen Brief öffentlich im Buchladen meinen Freunden vor, die darüber genug zu lachen fanden; in ihrer Gegenwart versiegelte ich ihn und bat sie, denselben mit andern Briefen auf die Post zu liefern, damit der Verdacht nicht entstehen könnte, ich wollte mit meinen Wohltätern nicht aufrichtig handeln.

Bald erhielt ich ein zweites Schreiben, bei dessen Empfang mich alle warnten, dasselbe mit Vorsicht zu öffnen, denn es sei bekannt, daß Vergiftung durch Briefe möglich sei. Zum Spaße holten wir Glut in einer Pfanne und brieten das Schreiben solange darüber, bis es braun ward. Es enthielt freilich kein Gift, aber etwas, das vielleicht schlimmer auf mich wirkte, als Gift. Pater Bayrer setzte sich über allen meinen Mutwillen hinweg und schrieb mir mit aller Dringlichkeit, daß, wenn Roms Dispensation vom Mönchsstande und ein ehrliches Unterkommen als Weltgeistlicher die einzigen Mittel wären, mich zu befriedigen, so sollte ich eine Bittschrift an den Bischof von Trier aufsetzen, in welcher ich diesen ersuchte, mir den erwünschten Dispens zu Rom auszuwirken; derselbe werde mir sicherlich bewilligt werden. Dieser Brief konnte seine Wirkung auf mich nicht verfehlen. Bayrer öffnete mir auf einmal die Aussicht auf eine anständige Versorgung, die ich noch dazu in Freiheit und, ohne ein Mönch zu sein, genießen sollte. Ich fing an, die Sache reiflicher zu überlegen. Was konnte ich bei aller Behaglichkeit, in die mich das Gefühl der neu errungenen Freiheit und die Gunst meiner Freunde eingewiegt hatte, hoffen, als ewig ein Lohnarbeiter zu bleiben und mein Brot durch handwerksmäßige Beschäftigungen mühsam und notdürftig zu erwerben? Denn in Zürich kann ein Ausländer niemals zum geringsten Ämtchen gelangen. Auf der andern Seite sah ich einen ehrenhaften Stand, freiere und angenehmere Versorgung und überhaupt ein bequemeres Leben und mehr gesichertes Auskommen vor mir. Denn ich dachte, wenn mich der Bischof zu versorgen verspräche, so könnte es nicht lange anstehen, bis ich irgendeine Frühmesserstelle oder eine Pfarre auf dem Lande bekäme, und es würde ihm bald beschwerlich fallen, mich in der Zwischenzeit immer unentgeltlich unterhalten zu müssen. Meine Überzeugungen waren freilich nicht die echtkatholischen, und es machte mir einige Gewissensängstlichkeit, wenn ich mir lebhaft vorstellte, in wie viele Widersprüche meine Grundsätze und meine Amtsverrichtungen, auch im Weltgeistlichenstande, gegeneinander geraten müßten. Allein die Einsicht, daß ich meine Gesinnungen eigentlich doch überall verleugnen müßte, und die Hoffnung, daß ich innerhalb eines äußerlich angenommenen Religionssystems doch viel Gutes in meinem Sinne stiften könnte, bewogen mich, den Anerbietungen der Augsburgischen Geistlichkeit Gehör zu geben. Tausendmal hab' ich mir in der Folge Vorwürfe gemacht, daß ich nicht mehr Beharrlichkeit und Wut zeigte, mich ohne heuchlerische Verstellung, meinen freien, religiösen Grundsätzen gemäß, arm aber redlich durch die Welt zu bringen. Allein mein gewöhnlicher Fehler, Mangel an Festigkeit, stürzte mich auch hier in ein Labyrinth voll Unruhe. Nach dem angeführten Plänchen richtete ich nun alle meine Schritte ein, verhehlte meinen Freunden nichts, widerlegte ihre Einwendungen mit Gegenerinnerungen, die mich ganz überzeugend dünkten und schrieb bald darauf an Bayrer mit mehr Ernst als das erstemal. Dem Briefe legte ich wirklich eine lateinische Bittschrift an den Kurfürsten bei, daß er mir unentgeltlich die Dispensation vom Mönchsstande auswirken möchte. Als ich sie verfaßte, kam ich oft in Verlegenheit, welche Gründe ich anführen sollte, denn die wahren, nämlich den Haß des gesamten Mönchswesens überhaupt, meine Grundsätze von der Nichtigkeit der Gelübde und einige Leiden meines Herzens durfte ich nicht anführen. Meine Klagen waren also ziemlich unbedeutend, schienen aus der Einbildung gegriffen und hatten ein dürftiges, mitunter kindisches Aussehen. So künstlich und sorgfältig ich auch alles in zierliche lateinische Ausdrücke und geschickte Wendungen einzukleiden bemüht war, so konnte es doch nicht recht gelingen; mein Machwerk war voll seichter, wenig sagender Stellen; der einzige Grund mochte einiges Gewicht haben, daß ich nun, wenn ich wieder ins Kloster zurückkehren wollte, weit mißvergnügter leben würde, als vorher, weil notwendig eine größere Abneigung der Mönche gegen mich statthaben müßte. – Dennoch machte mir Bayrer sogleich die beste Hoffnung eines glücklichen Erfolgs, nur meinte er, es würde wegen der Versorgung einigen Anstand leiden; in drei Monaten könnte meine ganze Angelegenheit berichtigt sein und wegen meines Unterkommens würde Rat geschafft werden. »Wenn ich kein bestimmtes Brot bekomme,« dachte ich, »so ist's besser, hier zu bleiben, als meine Freiheit für kahle Worte hinzugeben«; und entschloß mich, die Korrespondenz nach Augsburg abzubrechen und in meiner neuen Laufbahn auszuharren.

Allein in Augsburg ließ man mir keine Ruhe, und ich ward von neuem in die Sache hineingezogen. Die ganze folgende Zeit war nun für mich mit einer langen Korrespondenz und schier endlosen Verhandlungen ausgefüllt. Denn, obwohl mir eigentlich schon im Anfang alles, was ich wünschte, bereitwilligst zugesagt wurde, hatte ich doch gewichtige Gründe, bloßen Versprechungen gegenüber mißtrauisch zu sein und nicht zu ruhen, bis ich die schriftliche Bestätigung für alles in den Händen hatte, denn ich besorgte mehrmals, man möchte mich, wie einstens Hus, in eine Falle locken und mir nachher übel mitspielen. Zunächst kam wieder ein Brief von P. Bayrer, der mir schrieb, er habe mit dem Generalvikar und Weihbischof Herrn v. Ungelter, mit dem Provikar de Haiden und dem Geistl. Rat Nigg persönlich gesprochen. Diese drei biedern Männer seien mir durchaus gewogen und wollten sich für mich verwenden. Zugleich meldete er mir einen Brief des Herrn Provikar.

Die Männer, die er da nannte, waren gerade die Hauptpersonen der geistlichen Obrigkeit im Bistum Augsburg. Herrn v. Ungelter kannte ich durch den Ruf als einen unerbittlich strengen Verfolger aller derjenigen Geistlichen, die auch nur den geringsten, an sich ganz unschuldigen Umgang mit irgendeinem Frauenzimmer hatten, als einen Verächter der schönen Wissenschaften und als einen nach dem alten Schlage gebildeten Kasuisten. Den Geistlichen Rat Nigg kannte ich als einen geschickten, in Rom gebildeten Rechtskundigen und als einen in seinem ganzen Betragen schlauen Mann und wußte, daß er wegen einer sehr verwickelten Angelegenheit vom Geistlichen Rat de Haiden eilend abgelöst werden mußte, um weitläufigen Irrungen zuvorzukommen, und seitdem diesen de Haiden, sowie den Prälaten, recht christlich haßte. Sogleich vermutete ich, Herr Nigg hoffe vielleicht allerlei Umständchen, das Kloster betreffend, aus mir herauszulocken, um sich ihrer zum Verdrusse seines Gegners und meines Prälaten zu bedienen. Denn so weit war ich schon mit den Geheimnissen der Dienstfertigkeit bekannt, daß ich wußte, sie sei die größte Seltenheit, insofern sie aus reiner Menschenliebe entspringt. Daß sich de Haiden so eifrig für mich verwenden sollte, schien mir daraus leicht erklärbar zu sein, weil er Niggs Absichten erraten und sie am füglichsten zu vereiteln hoffen mochte, wenn er selbst an mich schriebe und mich auf diese Art von Nigg ab und an sich zöge. Übrigens kannte ich de Haiden schon lange persönlich, denn ich mußte ihn, weil er ein Liebhaber der Musik war und die Violine sowohl als das Violoncello mit Fertigkeit aber ohne Feinern Ausdruck spielte, so oft er im Kloster erschien accompagnieren, lernte ihn als einen etwas rauhen, im Umgange geraden und offenen, in Geschäften aber ziemlich gewandten und verschlagenen Mann kennen und merkte wohl, daß seine Grundsätze nicht die gewöhnlichen pedantischen, sondern jene des aufgeklärteren Katholiken wären.

Etwa in der Mitte des Januars 1786 ließ mich Herr Diakon Lavater Zu sich rufen, fragte nach meinen Umständen, überreichte mir einen Brief von de Haiden und erkundigte sich, ob ich Vertrauen zu demselben habe und ihn als einen redlichen Mann kenne. Ich schwieg eine Weile, denn ich war von de Haidens Redlichkeit nicht so ganz überzeugt, sagte aber endlich doch, ich glaube, derselbe möge ein gerader Mann sein, obschon ich seinen Charakter vielleicht nicht völlig richtig zu beurteilen imstande sei. Herr Lavater sprach mir zu, jeden Entschluß, den ich fassen würde, vorläufig wohl zu überlegen, meinte noch immer, da ich doch in ein katholisches Land zurückkehren wollte, so würde es am besten sein, meiner Gelübde eingedenk, wieder ins Kloster zu treten, drang aber nicht sehr in mich und entließ mich viel freundlicher als das erstemal.

De Haidens Brief war in einem sehr vertraulichen aber zugleich sehr künstlichen Tone abgefaßt. Die vielen Ausdrücke von Freundschaft und Zuneigung aus der Feder eines Mannes, der mich selten mehr als eines flüchtigen Blickes gewürdigt hatte, machten mich mißtrauisch. Am Eingang des Briefes setzte er allen Eifer daran, mich noch einmal zur Rückkehr ins Kloster zu überreden, teilte mir aber des ferneren mit, daß mein Gesuch unterwegs sei, und daß der Prälat von Donauwörth, den er persönlich gesprochen habe, bereit sei, mir das erforderliche ›Titulum mensae‹ zu geben. Ich dankte ihm in untertänigen Ausdrücken, entwickelte ihm meine Gründe für die Flucht und erklärte ihm, daß ich den Weltpriesterstand für mich als den zuträglichsten ansehe, teils deswegen, weil ich eine zu große Abneigung gegen das Mönchswesen aus Erfahrung geschöpft habe, teils auch darum, weil ich die mir zugeteilten Gaben in keinem Stande zum Besten der Menschheit glücklicher als in diesem anwenden zu können glaube.

Um ins klare zu kommen, ob die Augsburgische Geistlichkeit aufrichtig mit mir handle, wäre es mir sehr vorteilhaft gewesen, einen Freund in Augsburg zu haben, der mir von allem, was man vorhätte, zuverlässige Nachricht erteilen könnte. Ich erinnerte mich, daß ich einst mit meinem Klosterfreunde, Vinzenz Caraffa, einen gewissen Bruder vom Illuminatenorden Critolaus besuchen wollte, ihn aber nicht zu Hause antraf. Da er in Augsburg Minervaloberer gewesen war, so dachte ich, seine Denkensart würde aufgeklärt genug und sein Herz wenigstens so gut sein, daß er mich vor dem Verrate, wenn ich einen zu befürchten hätte, warnen würde. Da ich seine Adresse hatte, so schrieb ich ihm und bat ihn um Rat. Bald erhielt ich ein Antwortschreiben, aber es wimmelte so sehr von überspannten religiösen und mystisch-frömmelnden Ausdrücken, daß ich schon deswegen wenig Rücksicht auf die guten Räte nehmen mochte, die mir darin ganz einstimmig mit jenen des Herrn de Haiden erteilt wurden. Herr Ratsherr Geßner warnte mich auch sehr dringend: »Nehmen Sie sich in Acht vor diesem andächtigen Ordensbruder! Wer so spricht, ist entweder ein Heuchler oder ein Phantast!« Ob eins von beiden und welches in diesem Falle statthatte, wird sich in der Folge zeigen.

Ganz anders schrieb mir an eben diesem Tage mein edeldenkender Freund Bachmayr aus Eichstädt: »Man las mir vor wenigen Tag einen Brief vom heil. Kreuz in Donauwörth vor, in welchem stand, daß Sie sich in Zürich und in harten Umständen befänden, auch durch Herrn von Ungelter suchten wieder zurückgehen zu können, aber der Prälat (Ihr sonst so guttätiger Vater) habe nach Augsburg geschrieben, daß man Sie bei der Ankunft für ihn in Empfang nehmen möchte. – Eine herrliche Mausfalle! Wenn sie etwa ein Meisterstück des Proselytenmachers Bayrer wäre? – Aber ich hoffe, er werde nicht so unverschämt sein! – Doch, seien Sie nur immer wohl auf Ihrer Hut, lassen Sie sich in nichts ein, bevor die Dispensation nicht hell und klar vor Ihren Augen und in Ihren Händen ist und handeln Sie mit den biedern Männern eigenhändig, deren Namen man Ihnen vorstellt.«

Dieser Brief machte, daß ich noch vorsichtiger zu Werke ging. Unverhohlen äußerte ich mein Mißtrauen in einem Schreiben an den P. Bayrer und erinnerte ihn sogar an Hussens Geschichte, dem man das gegebene Wort zu halten sich gar nicht für verbunden hielt. Aber er antwortete mir sogleich: »Er garantiere mir abermals im Namen des hochwürdigsten Ordinariats, daß meine ganze Affäre nach meinem vollen Wunsche ausschlagen werde, und die Grillen von Hussens Geschichte soll ich mir aus dem Kopfe bannen!«

Nach einigen Wochen des Wartens bekam ich endlich von de Haiden die Nachricht, daß die Dispensation für mich, in terminis maxime favorabilibus abgefaßt, wirklich von Rom angelangt sei und mich mit keiner andern Buße belege, als daß ich zehntägige Exerzitien, die wohl ein großer Unterschied von Hussens Scheiterhaufen seien, machen sollte. Ich sollte schleunigst kommen, denn nun stehe ja meiner Anherkunft nicht das geringste mehr entgegen. Allein ich gab mich mit diesen Versicherungen noch nicht zufrieden und verlangte standhaft, die Dispensation im Original zu sehen, die sichere Zusage einer bestimmten Versorgung und etwas Reisegeld zu erhalten. De Haiden antwortete mir beinahe etwas mißmutig über meine ewigen Bedenklichkeiten, schickte mir eine bestätigte Kopie der Dispensation und eine Aufstellung von mehreren Punkten, die er mir zusicherte. Da hieß es:

»Unzweifelhafte Wahrheit ist es also, was ich Ihnen nun sage, nämlich:

a) daß Sie in monachatu dispensiert und

b) von aller nur immer ausdenkbarer Art von Strafe frei sind und wegen Ihrem Austritte von allen Seiten unangefochten bleiben,

c) daß Sie nur zehntägige geistliche Exerzitien an einem anständigen Orte zu machen haben,

d) daß Ihnen Ihr Herr Prälat den Titulum mensae verleihen werde, und daß Sie ihn, wenn er's auch nicht täte, a Serenissimo meo erhalten würden,

e) daß man Ihnen das benötigte Reisegeld hierher vom Ordinariate aus übermachen und

f) bei Ihrer Ankunft den anständigen priesterlichen Unterhalt entweder als Seelsorger oder als Professor in Dillingen, dann

g) seiner Zeit auch eine stabile Versorgung verschaffen, sohin zu solchem Ende

k) die weiters benötigte Dispensation pro habilitate ad beneficia secularia impetrieren werde.

Wenn Sie gegen alle diese Versicherungen, welche ich Ihnen hiermit als Generalprovikar nach der gnädigsten Entschließung und Intention Sr. Kurfürstl. Durchl. mache, annoch ein Mißtrauen schöpfen können, dann bin ich außerstande, Ihr Vertrauen fester zu gründen.«

Auf meinen Wunsch schrieb er mir das nächste Mal noch ein Vikariatsdekret, das mir das alles offiziell bestätigte.

Das Dekret lautete also:

»Dem Priester Bonifacius Bronner, derzeit in Zürich, wird hiermit angefügt, daß es mit allem dem, was demselben von des Herrn Geheimen Rats und Provicarii Hochwürden auf den Fall seiner Rückkehr und Ankunft in Augsburg, in der deswegen gepflogenen Korrespondenz unter Wohldesselben Amt- und Pflichtwort zugesichert worden, im ganzen Umfange seine unbezweifelbare Richtigkeit und Gewißheit habe.«

Als ich alle diese Schriften dem Herrn Ratsherrn Geßner und seinen Freunden vorlegte, glaubten sie selbst, daß es nun schändlich wäre, nicht nach Augsburg zu gehen und ich faßte den Entschluß, wirklich abzureisen, zauderte aber doch so lange als möglich, um noch länger das Glück des Umgangs mit so trefflichen Männern, als ich in Zürich kannte, zu genießen.

Da die Sachen nun einmal soweit gediehen waren, so bereitete ich mich zur Abreise vor. Die sorgfältigsten unter meinen Freunden verlangten, ich sollte alle wichtigern Briefe, die ich von Augsburg aus erhalten hatte, in vidimierten Abschriften zu Zürich hinterlegen, damit man wenigstens im Falle einer Wortbrüchigkeit dem Publikum eine dokumentierte Geschichte meines Unglücks vorlegen und jedermann vor den Tücken der Geistlichkeit warnen könnte. Ich schrieb also die Säkularisationsbulle von Rom, de Haidens Briefe samt dem Vikariatsdekret und dem Briefe meines Prälaten ab, ließ sie durch meine Gönner in der Kanzlei kollationieren und vidimieren und übergab sie denselben zur Verwahrung.

Sobald ich dem Direktor der Orellischen Buchhandlung meinen Entschluß, nach Augsburg zu gehen, eröffnete, stellte er mir einen Knaben vor, dem ich im Notensetzen Unterricht erteilen sollte. Erst meinte er freilich, ein schon geübter Setzer würde die Vorteile dieser Arbeit leichter begreifen, aber ich hatte Ursache, an dem guten Willen der Erwachsenen zu zweifeln und brachte ihn selbst auf den Gedanken, einen jungen Knaben zu wählen. In wenigen Tagen lehrte ich ihn soviel von der Rechenkunst und der Takteinteilung samt den übrigen ersten Anfangsgründen der Musik, daß er nach einem Monat wenig Anstand mehr fand, die Stimmen der Partitur richtig untereinander zu ordnen.

Meinem Wohltäter, Herrn Sal. Geßner, übergab ich alle meine Gedichte, zu deren Herausgabe er mich schon lange ermuntert hatte, und bat ihn, so dringend ich konnte, daran zu ändern, auszustreichen, beizusetzen und zu verwerfen, wie es ihm nur immer gefällig wäre. Gütig versprach er's und übergab sie dem Herrn Amtmann Heidegger, damit mir derselbe ein angemessenes Honorar dafür bestimmen möchte. Ich hatte nie daran gedacht, daß mir jemals mein Geschreibe bezahlt werden sollte und wäre hinlänglich zufrieden gewesen, es unentgeltlich gedruckt zu sehen. Um so mehr staunte ich den Herrn Direktor der Buchhandlung an, als er mich ein paar Tage, ehe ich von Zürich abreiste, in die Schreibstube rief und mir vortrug: »Die Handlung würde mich gern reichlicher belohnen, wenn sie von dem guten Absätze meiner Schriften zum voraus versichert wäre; als ein angehender Schriftsteller aber werde ich hoffentlich zufrieden sein, wenn ich für den gedruckten Bogen etwa einen Louisd'or erhielte; mein Manuskript könnte, seiner Schätzung nach, acht Bogen füllen, ob ich das Honorar lieber überhaupt in einer runden Summe verlange oder abwarten wolle, bis die Bogenzahl durch den richtigen Druck bestimmt werde?« »Ei, Herr Amtmann!« sagte ich freudig, »wenn Sie mir doch etwas geben wollen, so geben Sie mir's sogleich! Wer weiß, ob ich in den Fall komme, nach einigen Monaten noch etwas zu bedürfen? vielleicht sperrt man mich ein.« »Das wird, wie ich hoffe, nicht geschehen!« erwiderte derselbe und zählte mir acht blinkende Louisd'or auf den Tisch. Es war ein ganz besondres Vergnügen, solch ein hübsches Sümmchen einstreichen und mir sagen zu können: »Das hast du ganz unverhofft mit lauter Freuden verdient!« Herr Amtmann versprach mir noch obendrein, meine Kinderchen in einem hübschen Gewande der Lesewelt vorzuführen und Herrn Geßner zu bitten, daß er eine Vignette dazu radiere. »Vielleicht,« so meinte er, »wäre derselbe wohl gar zu überreden, daß er eine kleine Vorrede dazu schriebe! Er wolle einmal den Versuch wagen.« Ich hüpfte hoch auf über den Einfall, glaubte aber nicht, daß ich so glücklich sein würde, jemals von einem Geßner dem Publikum vorgestellt zu werden und wagte es auch niemals, vor ihm selbst meinen Wunsch zu äußern.

An dem Abend, da der Herr Ratsherr mich zu einem traulichen Abschiedsmahle eingeladen hatte, traf ich ihn auf seinem Zimmer an, als er eben eine schöne Landschaft vollendete. Sein Sohn Heinrich war mein Führer gewesen und sagte, nachdem wir eine Weile gesprochen hatten: »Bronner sollte doch ein Andenken von Ihnen haben, Papa!« »Ist kein gebundenes Exemplar meiner Schriften mehr da?« fragte der gütige Dichter. »Ich glaube nicht, aber –« antwortete Heinrich und lief fort, um sein eigenes, schön gebundenes Exemplar herbeizuholen. Freudig legte er die beiden Bände auf den Tisch seines Herrn Vaters, und der edle Mann nahm sie lächelnd und reichte sie mir mit einnehmender Freundlichkeit dar. »Ich weiß,« sagte er, »Sie verstehen und fühlen doch auch, was meine Schäfer sagen und fühlen, wenn Ihre Phantasie schon immer mit Fischern umgeht. Nehmen Sie dies zum Andenken!« O, wie war ich gerührt! Wie schlug mir das Herz vor Freude! Nassen Blickes drückte ich die beiden Bücher an meine Brust und bewahrte sie immer wie einen Schatz.

Bei Tische plauderten wir recht nach Herzenslust und ich äußerte, daß ich im Sinne hätte, ein scherzhaftes Heldengedicht über die Sucht, in geheime Gesellschaften zu treten und sich den Kopf durch nichtswürdige Geheimnisse von Goldmachen, Geistersehen, Magnetisieren und Schatzgraben und dergl. verdrehen zu lassen, zu verfertigen. Er gab mir seinen vollen Beifall, stand schnell vom Stuhle auf, holte eine Übersetzung des Hudibras herbei und wollte sie mir in die Tasche stecken. O, es waren süße Augenblicke, die ich damals an seiner Seite verlebte! Wie wehmütig würden sie gewesen sein, wenn ich gedacht hätte, daß sie die letzten wären. Mit Tränen nahm ich Abschied von dem Unvergeßlichen.

Von den musikalischen Gesellschaften auf dem Musiksaale, auf der Chorherrenstube oder deutschen Schule und von der Liebhabergesellschaft auf der Schuhmacherzunft erhielt ich zum Abschiede namhafte Geschenke, so daß sich mein kleiner Kassenvorrat in kurzer Zeit ansehnlich vermehrte und mit der Summe, die ich in der Handlung durch meine Arbeiten bereits verdient hatte, ein für mich wichtiges kleines Kapital ausmachte. Soviel Geld hatte ich noch nie als Eigentum in den Händen gehabt, und ich hielt mich wirklich für einen Menschen, der zwar nicht reich, aber doch ziemlich wohlhabend wäre. »Nun kannst du deinen Freunden,« sagte ich zu mir selbst, »schon ein hübsches Abschiedsmahl zum besten geben,« ließ Braten, Wein und was ich eben Gutes aufzutreiben wußte, herbeischaffen, lud alle ein, denen ich zutraute, daß sie kommen möchten und war so ausgelassen lustig, als wollte ich mich auf mehrere Jahre hin mit Freuden überfüllen. Nur als wir auseinandergingen, stimmte sich mein Herz zur Wehmut herab und ein Vorgefühl, daß es mir nun lange nicht mehr so gut werden sollte, schien die Heiterkeit meiner Seele zu trüben.

Mein Gönner, Herr Ratsherr Lavater, der mir das Geschenk nach dem Musiksaal übersandte, schloß zugleich einen sehr günstigen Abschiedsbrief mit an, welchen ich füglich allerorten als ein Zeugnis meiner guten Aufführung hätte vorzeigen dürfen. Von ihm und allen übrigen meiner Wohltäter und Freunde nahm ich den 12. und 13. Juli 1786 mit gerührtem Herzen mündlich Abschied und fühlte die Trennung von so edlen Menschen um so schmerzlicher, je näher sie war.

Herr Zunftmeister Bürkli hatte mich noch am 13. abends zu Tische geladen, Herr Leuchsenring, ein Gelehrter und ehemaliger Prinzenerzieher aus Berlin, den ich schon öfters in Gesellschaften gesehen hatte, ward eben in desselben gastfreiem Haus bewirtet und speiste mit uns. Das Gespräch lenkte sich auf die Gründe, die mich bewegen konnten, wieder als Geistlicher in ein katholisches Land zu gehen. Ich legte meine Gedanken aufrichtig dar. Herr Leuchsenring, noch mehr aber die Frau Zunftmeisterin bekämpften meine Meinung, »daß es Fälle gebe, in denen es erlaubt sei, seine wahren Gesinnungen in Religionssachen verborgen zu halten, und daß einer dieser Fälle eintrete, wenn sich jemand nur mit Gefahr, sein ganzes bürgerliches Glück zu zerstören, zu seinen Grundsätzen öffentlich bekennen dürfe.« Man begreift leicht, wie viel sich gegen diese Behauptung einwenden ließ, aber ich wehrte mich ein paar Stunden lang mit der Hartnäckigkeit eines Menschen, der bereits einen festen Entschluß gefaßt hat und sich durchaus nicht überweisen lassen will. Mit der Einwendung, daß ich als katholischer Geistlicher bei meiner freien Denkensart notwendig manchmal heucheln und also in hohem Grade unmoralisch handeln müßte, setzten sie mir am meisten zu. Geradezu wußte ich freilich nichts ganz Bündiges dagegen anzuführen, aber ich erwiderte: »Es sei mir leid genug, daß ich meine wahre Meinung verhehlen, Messe lesen, zur Beichte sitzen, Sakramente ausspenden und alle die geistlichen Zeremonien mitmachen müßte, mit welchen das Volk in den Zauberfesseln Roms gebunden gehalten würde, allein ich dürfte hoffen, durch kluge Belehrung nach und nach den Schleier fallen zu machen und auf diesem Wege mehr zu nützen, als wenn ich die große Zahl der öffentlichen Widersacher des Papsttums vermehren, zweckloserweise ein Märtyrer der Wahrheit werden, meine Glaubensgenossen ohne Furcht ärgern, mich alles weitern Einflusses auf sie dadurch berauben und (was mir sehr am Herzen lag) meinen armen Vater durch ein solches Betragen noch unglücklicher machen würde. Wäre ich einmal Pfarrer auf dem Lande, so wollte ich alle unnützen Katechismusfragen entweder ganz beiseite setzen oder, wenn dieses nicht anginge, von den Kindern unerklärt herplappern lassen, die moralischen Vorschriften aber auf alle Weise interessant, deutlich und rührend vorzutragen suchen, kurz – nichts versäumen, was aus meinen Pfarrkindern sittlich gute Menschen zu bilden mitwirken könnte. Dann malte ich meine glückliche Lage als Landgeistlicher mit so schönen Farben aus, daß endlich die Frau Zunftmeisterin in die Worte ausbrach: »Ich sehe, Sie sind entschlossen, auf Ihrem Sinne zu beharren, aber ich sage Ihnen, es wird Sie reuen! Ihre schönen Bilder sind in den Wind gemalt, und Sie werden bald nach Zürich zurückseufzen und fühlen, daß Sie sich in einem höchst unnatürlichen Zustande befinden.« Herr Zunftmeister ermunterte mich: »wenn ich jemals in diese Lage geraten und nach Befreiung schmachten sollte, möchte ich nur wieder nach Zürich kommen!« Er sagte mir auf diesen Fall seinen tätigen Beistand zu und entließ mich unter Äußerungen des innigsten Wohlwollens.


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