Franz Xaver Bronner
Ein Mönchsleben aus der empfindsamen Zeit. Erster Band
Franz Xaver Bronner

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Viertes Kapitel:

Student in Neuhaus.

Aufhebung des Jesuitenordens – Entzweiung mit dem Vater – Fünftes Schuljahr im Seminar zu Neuburg – Lesereien, ein »Roman« – Lebensart – Sittliche und physische Gefahren – Die Oper und fernere Gefahren – Die Generalbeicht – Vakanz 1774 – Das »Stappeln« – Sechstes Schuljahr, die Humanität – Die Festmeß – Freundschaft und Funken von Liebe – Cynismus und Dichterenthusiasmus – Siebentes Schuljahr, Instruktionen – Spazieren und »Deliberieren« – Jesuiten-Krieg gegen die deutschen Bücher.

Nachdem die Endskomödie 1773 vorüber und die Prämien ausgeteilt waren, nahm der P. Rektor öffentlich auf dem Theater Abschied von dem Volke und von uns Studenten und kündigte mit Tränen die Aufhebung des Jesuitenordens an. Es entstand ein lautes Weinen in dem Parterre und alles ging traurig nach Hause. Ehe ich in die Vakanz reiste, ließ mich der P. Inspektor Kerschbaumer kommen, gab mir 15 fl. und sagte mit nassen Augen etwa folgendes: »Kind! hier hast du Geld zu einem Kleide; ich hätte dir gern eines machen lassen, das mehr gekostet hätte; aber du siehst, wir sind selbst vertrieben und können nicht mehr Gutes tun wie wir wollen. Jedoch sei getrost! Gott wird es schon anders machen. Der heil. Ignatius hat uns prophezeit, der Orden werde zwar verdunkelt werden, aber auch mit desto größerm Ganze wieder aufstehen. Lebe Wohl, Kleiner, und vergiß deiner Guttäter nicht!« Als ich fragte, ob ich künftiges Schuljahr wieder im Seminar eintreffen dürfte, antwortete er: »Ich weiß nicht, wie es mit dieser Stiftung gehen wird; wir haben nichts mehr darüber zu sagen; vielleicht wird sie ganz aufgehoben.« Ich weinte große Tropfen, verließ ihn schluchzend in der höchsten Rührung und begriff gar nicht, wie man so gute, nützliche und gelehrte Männer verfolgen könnte.

Traurig ging ich in die Vakanz und fürchtete, ich würde künftiges Jahr keinen Ort bekommen, um meine Studien fortzusetzen. Dieser ängstliche Gedanke verdarb mir allen Freudengenuß. Ich hatte in dieser Vakanz wie in der vorigen meine gewöhnlichen Kosttage, die ich oben angezeigt habe. Mein Bruder Hans Michel war während meiner Abwesenheit als Singknabe nach Kaisersheim gekommen. Meine Mutter entschloß sich also, mit mir dahin zu wandern. Einesteils wollten wir den Hans Michel besuchen und einige gute Tage genießen, andernteils von da über Neuburg nach Eichstädt zur heil. Walburg wallfahrten, um nachzuforschen, ob ich nicht an diesen Orten mein Unterkommen finden könnte. In Kaisersheim trafen wir meinen Bruder ganz vernachlässigt, zerlumpt und voll Ungeziefer an; und im Augenblicke, da wir ankamen, hatte er einen Rausch. Die Herren und Diener machten sich einen Spaß mit ihm. Er war wie ein Ball, den jeder nach Belieben da- und dorthin wirft. Täglich wurden ihm drei bis vier Maß Wein zugemessen; aber niemand hatte die Güte, ihm Anleitung zu geben, wie und wo er sie verkaufen sollte, um dafür einiges Geld zu erhalten. Man munterte ihn vielmehr auf, sie täglich selbst zu trinken und belustigte sich dann an dem bezechten Knaben. Meiner Mutter und mir schossen beim ersten Anblicke Tränen in die Augen und uns ekelte beinahe, ihn zu berühren, so schmutzig und unreinlich war er angezogen. Er hatte nichts gelernt, vielmehr manches vergessen und wußte nichts als einen Schalksnarren zu spielen und niedrige Possen vorzubringen. Meine Mutter beklagte sich bitterlich darüber beim Herrn Reichsprälaten und bei jedem Klosterherrn, den sie antraf. Man versprach alles Gute und bestellte dem Hans Michel sogleich eine Wäscherin, die ihm seine Kleider und Haare von Zeit zu Zeit reinigen und säubern sollte; man ließ ihm auch bessere Kleider machen, empfahl ihn einem Klosterherrn als Lehrer und gab uns wacker zu essen und hübsche Geschenke, bis wir mit einigem Troste wieder abzogen. Wir kamen nach Neuburg an der Donau und besuchten den P. Vitus Keller, der noch mit andern Jesuiten im dortigen Kollegium wohnte und mich sehr gütig empfing. Als ich ihm mein Anliegen klagte, daß ich keinen Ort wüßte, wo ich künftiges Jahr mein Unterkommen finden könnte, sagte er: »Kleiner, bleib du da stehen, bis ich wieder komme!« verließ mich auf dem offenen Gange und kehrte bald wieder mit einem anderen Geistlichen zurück. Dieser Geistliche war der Freiherr v. Tänzl, ein Exjesuit und Inspektor des Seminars zu Neuburg. Er fragte mich allerlei, nahm meine Mutter und mich mit sich in das Seminar und ließ uns etwas zu essen reichen. Dann ward zur Probe geläutet; ich sang und ward aufgenommen. Am Theresienabend (den 14. Oktober 1773) sollte ich im Kosthaus erscheinen. Voll Freude und Dankbarkeit gegen den P. Vitus Keller wanderten wir also wieder nach Höchstädt zurück und dachten nicht mehr an die Wallfahrt nach Eichstädt. Wir kamen, als die Nacht anbrach, nach Genderkingen, zwei starke Stunden unterhalb Donauwörth und wollten dort Nachtherberge machen. Auf dem Wege nach Neuburg hatten wir daselbst gleichfalls geschlafen, und ich war, wie immer auf der Reise, bei meiner Mutter in einem Bette gelegen. Der Wirt meinte, ich sei schon zu groß dazu. Allein ich verstand nicht, was er wollte, und meine Mutter sagte: »Bei dem hat es keine Gefahr, er ist noch ganz hölzern.« Sie hatte auch recht; denn ich schlief die ganze Nacht, wie ein müdes Murmeltierchen.

Mit meinem Vater hatte ich mich während dieser Vakanz ganz entzweit. Der Hergang war folgender: Als ich ihm sagte, daß ich in Dillingen vielleicht nicht mehr zu bleiben hätte, vermutete er, ich wollte ihn betrügen, sei davongejagt worden und hätte mit der Mutter Abrede genommen, ihn durch künstlich erdichtete Lügen hinter das Licht zu führen. Ich glaubte, ihm diesen ungerechten Argwohn am leichtesten benehmen zu können, wenn ich ihm meine drei Prämien vor Augen legte. Allein er sprach erzürnt: »Was kümmere ich mich um eure vergoldeten Bücher da? Deine Mutter und du haben sie wohl gar machen lassen, um mich zu betrügen.« Ich rückte geschwind mit dem gedruckten Katalog hervor, in welchem alle beschenkten und nachgelesenen Studenten verzeichnet waren. Allein er sagte ungeduldig: »Ihr meint gewiß, weil ich den lateinischen Freßzettel nicht lesen kann, so dürft ihr mir nach eurem Belieben einen blauen Dunst vor die Augen machen? Du und dein Bube sind nichts nütze.« Im Eifer sprach ich dann: »Vater, du bist gar der ungläubige Thomas; geh nach Dillingen und frage selber nach! Ein anderer braver Vater würde mir eine Freude machen, wenn ich so viel Prämien nach Haus brächte; du aber zankst immer und verdirbst mir meine Vakanz.« Da ergrimmte er, stand schnell auf und erhob seine Rechte, um mich zu schlagen. Ich bückte mich geschwind, und der Streich ging über mich hin und riß den Vater im Kreise herum. Flugs lief ich zur Tür und fort; er eilte mir nach. Allein ich war flüchtig auf den Beinen, sprang in kleine Gäßchen und führte ihn zuletzt soweit irre, daß er nicht mehr wußte, wo ich hingeraten war. Ich hatte mich zu meinem Vetter, dem Bader Waginger, geflüchtet und tat meiner Mutter Botschaft, sie sollte mir meine Prämien schicken. Der Vater vermutete, ohne daß es die Mutter gestand, wo ich war, und kam mit einer Ochsensehne unterm Rock, mich heimzutreiben. Allein wir sahen ihn kommen, und ich sprang behende in den Kuhstall und verkroch mich unter den Barn ins Heu. Ungestüm trat er ins Haus, grüßte niemanden, durchsuchte alles und ging drohend davon. Indessen war im ganzen Städtchen der Lärm entstanden, der Ziegler-Hans habe seinen Studenten unschuldig prügeln wollen, und jedermann nahm meine Partei. Man hatte ihn gesehen, wie er mir zürnend nachgeeilt war. Mein Vetter gab mir willig Nachtlager und Herberge; denn er sah, daß es für mich nicht ratsam wäre, wieder nach Hause zu gehen. Weil die Studenten eben eine Komödie aufführten, davon das Singspiel der bayrische Hiesel war, in welchem ich den Buben des Hiesels vorstellen mußte, kam ich öfters ziemlich spät von den Proben. Mein Vater paßte mir also am Wege auf, um mich mit Gewalt nach Hause zu schleppen. Allein ich war zu vorsichtig und zu flink, als daß er mich erhascht hätte. Ich erzählte dem Herrn Bürgermeister Mayr bald darauf mein Schicksal bei Tische und bat ihn, Vermittler zu sein. Sogleich schickte er seinen eigenen Sohn zu meinem Vater und ließ ihm sagen: »Ich hätte mich wirklich in Dillingen recht wohl gehalten; er dürfte hieran nicht zweifeln, sollte mich also in Ruhe meine Vakanz genießen lassen, die 15 fl. zu einem Kleide, die ich ihm zugestellt hätte, herausgeben und mich nicht weiter verfolgen, wenn er nicht ins Bürgerstübchen gesperrt werden wollte.« Mein Vater gab dem Herrn Mahr sogleich die 15 fl. und sagte weiter nichts, als die Worte: »Nun – das ist die umgekehrte Welt! Das Kind verklagt den Vater.« Er erzählte hierauf andern Leuten die Geschichte nach seiner Manier und erregte überall das Gerede, ich hätte ihn beim Bürgermeister verklagt; und nun war auf einmal die ganze Stadt so sehr wider mich eingenommen, als sie es kurz zuvor für mich gewesen war. Der Herr Bürgermeister Mayr ließ mir einen grünen Rock und ein rotes Westchen um die 15 fl. machen und bewirkte, daß ich vom Magistrat, wie in den vorigen Jahren, wieder 24 fl. geschenkt bekam. Meine Mutter kaufte mir dafür neue Hemden, gab die alten meinem Bruder Hans Michel und die des Hans Michel dem Franz Joseph. So ward es alle Jahre gehalten. Ich stutzte einst, als sie sagte: »Ich will dir für dein Geld neue Hemden machen lassen«, und antwortete: »Die alten sind ja noch ganz gut.« Aber sie erwiderte eifrig: »Der Michel kann auch etwas Gutes brauchen; du darfst mir kein Neidhals werden, bekommst doch immer die neuen.« Da begriff ich erst, warum sie mir alle Jahre neue Hemden anschaffte und gab mich zufrieden.

Meine Mutter führte mich zur bestimmten Zeit nach Neuburg, so daß wir am Theresienabend, den 14. Oktober 1773, richtig daselbst eintrafen. Wir wurden bei weitem nicht so freundlich empfangen wie gewöhnlich in Dillingen; denn niemand kannte uns, und der Ton, der im Neuburgischen Seminar herrschte, war viel rauher und despotischer. Zum erstenmal nahm ich mit schwerem und beklemmtem Herzen Abschied von meiner lieben Mutter und ward zu den andern Studenten hineingesperrt. Nur wenige, etwa zwanzig, deren man zur Besetzung des Musikchors in den Kirchen bedurfte, waren gegenwärtig; die übrigen genossen noch in ihrem Vaterlande der Freiheit und jedes herbstlichen Vergnügens. 0, wie sauer kam es uns an, zwischen vier Mauern zu schmachten, indes wir unsre Gespielen so glücklich wußten! Doch ward das Herbe unsres Zustandes dadurch in etwas versüßet, daß wir nachmittags, so oft das Wetter günstig war, in den Seminargarten vor dem Tore laufen und dort Kegel schieben oder im Grase hüpfen durften. Meine liebste Beschäftigung war da auf Bäume zu klettern, Moos, Mistel und Schwämme herabzuschneiden, Schnecken zu suchen, des Gärtners Gesäme zu beschauen und an Kürbisbeeten die großen Früchte anzustaunen. Damit ich in den übrigen Stunden des Tages beschäftigt sein möchte, mußte mich ein größerer Student, namens Freundorfer, zur Vorübung in der lateinischen Versekunst unterrichten. Er diktierte mir zuerst aus Ovids Heroiden Distichen mit prosaisch versetzten Worten, und ich mußte die Worte wieder in ordentliche Verse reihen. So begriff ich leicht das Mechanische des Hexameters und Pentameters, der einzigen Versarten, in denen unsre metrischen Schularbeiten wahrend dieses Jahres abgefaßt werden mußten. Einst, als ich eben zu dergleichen Übungen wenig Lust bezeigte, sagte er drohend: »Laß nur erst den Schermer kommen, du fauler Junge! Der wird dich bald herabstechen (vom ersten Platze in der Schule verdrängen), wenn du nicht fleißiger bist. Auch er hat drei Prämien bekommen und war immer auszeichnend der Erste. Du wirst Not haben, den Platz des Besten wie in Dillingen zu behaupten.« Da war ich übermütig genug zu antworten: »Meinetwegen mögen so viele und so gute Studenten kommen, als da wollen, sie sollen mich doch nicht herabstechen; denn vom ersten Platze laß ich mich nimmer hinweg!« »Du stolzer Bube,« erwiderte er, »meinst du, das sei so gewiß? Es ist leichter gesagt als ausgeführt, und ich fürchte, du wirst gedemütigt werden!« So mutig ich auch aussehen wollte, so wurmten mir doch von dieser Stunde an geheime Besorgnisse im Herzen, und ich ward viel fleißiger, als ich ohne dies gewesen sein würde.

Die Lehrer am Lyzeum waren insgesamt Exjesuiten, aus der obern Pfalz gebürtig; ihr Äußerliches unterschied sich von ihrem vorigen Anzuge in nichts, als daß sie statt der hohen stehenden Kragen an ihrem langen Habit nun kleinere oder schwarze Halstücher, mit gewöhnlichen Petrinerkräglein behängt, trugen. Der Pater Tänzl, von Geburt ein Freiherr aus der Schwäbischen Pfalz, hatte die Aufsicht über das Seminar, das im Rufe großen Reichtums stand und wirklich weitläufige Güter besaß; er war ein ernster, langer Mann, der wenig gute Worte ausgab und den wir alle fürchteten, so oft wir ihn sahen. Strengere Ordnung herrschte hier als zu Dillingen. Besonders war verboten, irgendein Haus in der Stadt zu betreten, und es schien die Hauptsorge unserer Vorgesetzten dahin zu gehen, daß wir ja niemals mit andern Menschen als mit unsersgleichen Umgang pflegen sollten.

Diese Einrichtung, die noch in den meisten Erziehungshäusern besteht, ist gewiß sehr schädlich; einmal – weil der Jüngling durch den steten Umgang mit ungebildeten, rohen, nicht selten schon verdorbenen jungen Leuten und zugleich aus Mangel an besserer Gesellschaft verwildert; dann – weil sein Drang nach Freiheit durch so enge Beschränkung allzusehr aufgeregt wird, und er, sobald er die Freiheit erhält, kaum mehr fähig bleibt, sie ohne Ausschweifungen zu genießen; endlich weil er wegen Einförmigkeit des Zeitvertreibes und aus Abgang abwechselnder Unterhaltung gar leicht Verführern in die Hände geraten kann, deren es immer einige unter einer größern Anzahl zusammengepferchter Studenten gibt. Wenn in dergleichen Häusern nicht eine solche Einrichtung getroffen wird, daß die Zöglinge durch bessern Umgang Sitten und Lebensart lernen, so werden sie immer leutescheu, wenn nicht gar an Kopf und Herz verdorben, dieselben verlassen; wenigstens werden sie, so wie ich selbst, kaum wissen, wie sie sich benehmen sollen, wenn sie das Ungefähr einmal unter gebildete Menschen verschlägt, ein Übelstand, gegen den man in der Folge viele Jahre lang zu kämpfen hat.

Man denke sich etliche siebenzig Knaben und Jünglinge in einem rings mit Gebäuden umschlossenen Hofraume beisammen, der etwa 130 Schuh im Quadrat hält; einige kegeln, andre spazieren, wieder andre jagen sich und die stillsten sitzen oder stehen beisammen und erzählen; so hat man ein echtes Bild unsers Zeitvertreibes in den sogenannten Rekreationsstunden. Meistens gehörte ich in die Klasse derjenigen, die sich jagten. Nur wenn der Dienstag und Donnerstag heiter und weder Feiertag noch Feierabend war, trieben uns der Vizepräfekt und die beiden Admonitoren in Prozession zum Tor hinaus, um auf einer Schanze oder anderswo Ball zu spielen oder den Ballon zu schlagen. Das erste scheute ich, weil mich einmal ein so derber Wurf an die Schläfe getroffen hatte, daß ich ohnmächtig hinfiel; das andre freute mich zwar lange; aber einst verrenkte ich mir die Hand durch einen falschen Schlag und mied nun aus Furcht eines ähnlichen Zufalls das Spiel. Meine Unterhaltung fand ich dann darin, daß ich über Gräben hüpfte, erst wo sie enge waren, dann fortschreitend, bis wo sie weiter wurden, oder ich baute mir Lauben in einen Busch, oder auf einen Baum, und labte mich an Dents Sammlung kürzerer Gedichte, vorzüglich aber an Herrn Geßners Gegend im Grase.

Im Museum (gemeinschaftlichen Studierzimmer) hatte man mich, vielleicht wegen meiner unruhigen Lebhaftigkeit, zunächst an meinen Instruktor gesetzt. Da mußte ich denn studieren oder wenigstens ruhig sein. Wirklich bequemte ich mich aus Langeweile, nach Pater Spenglers Rechenkunst die fünf Spezies und die Proportionen zu lernen, einige Oden von Anakreon, ein paar Idyllen von Theokrit und einige andere von Moschus und Vion, so wie ich sie in meinem Giraudeau fand mit Beibehaltung der Versarten, in denen sie gedichtet waren, zu übersetzen. Ich wagte es sie meinem Professor zu weisen, der so gütig und klug war, mich aufzumuntern. Überhaupt naschte ich gern in allerlei Büchern; nur meine Schulbücher ekelten mich an, und ich gab mich mit ihnen nur ab, wenn ich mußte. Ein Student zeigte mir einst Vatteur' Einleitung in die schönen Wissenschaften, von Ramler er übersetzt. Da ließ ich ihm keine Ruhe mehr, bis er mir die vier Bände auf einige Tage lieh. Mit allem Eifer fiel ich darüber her und las und machte Auszüge, so viel ich immer konnte; denn ein so nützliches, ganz zu meiner Absicht dienliches und mir in meinen Lieblingsstudien Anleitung erteilendes Werk war mir noch nie zu Gesichte gekommen. Lieber hätte ich es gar nicht mehr zurückgegeben. Ich musterte meine geringe Barschaft und wollte es kaufen; jedoch der Besitzer schätzte es so hoch im Preise, daß ich gar nicht daran denken durfte, mit ihm des Handels einig zu werden. Aber er versprach, es mir, so oft ich wollte, zu leihen und hielt auch treulich Wort. Ein anderer Student, namens Schwerla, der Sohn eines Bürgers aus der Stadt, teilte mir manchmal auch ein schönes Buch zum Lesen mit. In seines Vaters Haus hatte sich ein pfälzischer Offizier eine Wohnung gemietet und wollte dem jungen Schwerla Lust zu den schönen Wissenschaften einflößen; deshalb gab er ihm die auserlesensten Bücher, die er zu diesem Endzwecke für tauglich hielt, als Gellerts und Lichtwers Fabeln, Kleists, Geßners, Klopstocks und anderer Gedichte, und freute sich sehr, wenn der Jüngling daran Vergnügen fand. Dieser steckte mir jedes Buch, sobald er es empfangen hatte, heimlich zu, und ich las es ebenso heimlich entweder zuhöchst auf einem Holzstoße sitzend oder auf dem Abtritte oder gar nachts beim Mondscheine, wie ich's mit Gellerts Schwedischer Gräfin tat. Denn ein deutscher Schriftsteller verirrte sich damals noch unter die Jesuiten-Studenten nur als eine große Seltenheit, und dergleichen zu lesen war strenge verboten; vorzüglich eiferte man gegen alles, was Roman hieß. Nun war die Schwedische Gräfin ein Roman; also mußte ich mit der höchsten Vorsicht zu Werke gehen, um nicht in die Strafe zu verfallen. Meine Wißbegierde war aufs höchste gespannt; denn ich hatte in meinem Leben noch keinen Roman gesehen; nun glaubte ich aber, die Jesuiten würden dergleichen Schriften gewiß nicht verbieten, wenn sie nicht sämtlich allerlei lockere unkeusche Dinge enthielten. Mit lüsterner Gierigkeit verschlang ich also, beim Mondschein im Fenster liegend, eine Seite nach der andern, dachte immer: »Wann kommen denn die Stellen, wo du neue Entdeckungen machen wirst?« und wunderte mich am Ende nicht wenig, daß ich im ganzen Buche das Unzüchtige nicht fände, wegen dessen man es so strenge verboten hatte. »Unsre Obrigkeiten sind doch gar zu ängstlich,« schloß ich, »wer soll sich ferner um ihre wunderlichen Verbote kümmern, wenn sie so ganz ohne Grund gegeben sind, und wenn man sie in der Stille umgehen kann?«

Meine natürliche Lebhaftigkeit ward durch das Bewußtsein, daß es mir in der Schule ganz nach Wunsch gehen werde, zugleich auch durch die Fülle der Gesundheit, so sehr überspannt, daß ich täglich verschiedener mutwilliger Streiche wegen, die ich mir in den Erholungsstunden zuschulden kommen ließ, Verweise erhielt. Abends nach dem Gebete ging der Präfekt des Seminars gewöhnlich ganz gravitätisch im Museum auf und ab, hieß alle Studenten, von den höheren Schulen angefangen, klassenweise zu Bette gehen und rügte bei jeder Klasse besonders was er zu rügen wußte. Da verstrich nun selten ein Abend, ohne daß ich, entweder unartigen Jauchzens oder kleiner Raufereien oder anderer törichter Possen wegen, im Kreise meiner Mitschüler stehend, einem Verweise bloßgestellt ward. Aber die Art, mit der Herr Präfekt mich zurechtwies, war für mich mehr aufmunternd als zurückschreckend. Teils merkte ich, daß er sich insgeheim an meiner Munterkeit belustigte, teils wußte ich mich gewöhnlich so läppisch oder schalkhaft zu verantworten, daß der Verweis mit einem lauten Lachen endigte. Und so ging ich fast immer mit dem Vorsatze zu Bett, den kommenden Tag mich durch ebensoviel kindischen oder bübischen Mutwillen auszuzeichnen.

Endlich ließ mich der Inspektor zu sich rufen, packte mich bei meinem Ehrgeize und brauchte Ernst. »Ist das nicht Schad' und Schande,« sagte er, »daß der Erste seiner Klasse zugleich das größte Kind derselben ist? Pfui, schäm' Er sich, Bronner! Wahrlich, ich beteure es Ihm; wenn Er sich nicht ordentlicher, artiger und ruhiger beträgt, so werde ich Ihm kein Kleid machen lassen; da kann Er denn auch der lumpigste Syntaxist heißen, weil Er sich doch durch niedriges Betragen vor andern auszeichnen will.« Diese Sprache, ernstlich und öfters wiederholt, stimmte meinen Hang zu törichten Streichen allmählich herab. Allein er ließ sich während des Studentenlebens niemals gänzlich unterdrücken.

Solange der Herzog von Zweibrücken, Karl August, in Neuburg residierte, zogen die Seminaristen gewöhnlich alle vierzehn Tage einmal nach Hofe, um dort eine türkische oder eine andre Musik aufzuführen. Ein gewisser Jäger war Diskantist, ich Altist; wenn wir nicht sangen, mußten wir die Piatti schlagen. Öfters würdigte sich die Herzogin herab, eine Arie oder ein Duett mit uns zu singen.

Wir hatten sie alle wegen ihrer auszeichnenden Leutseligkeit, Sanftheit und edlen Gestalt sehr lieb und waren zum Teile mit dem Prinzen unzufrieden, der sich nicht viel aus ihr zu machen schien. Sobald wir beiden Sänger Muße fanden, vom Haufen wegzuschleichen, tändelten wir entweder mit des Prinzen Hunden, zahmen Damhirschen, Rehen, Füchsen, Uhus usw., oder liefen in den Zimmern umher; selbst in die Zimmer der Herzogin drangen wir und durchblätterten ihre Bücher. Noch weiß ich, daß mir ein Journal, der Einsiedler, sehr wohl gefiel. Einst fand ich ganz allein einen großen Saal geöffnet, in dem alte, merkwürdige Waffen, Schilde, Panzer und andere Sonderbarkeiten aufbewahrt wurden. Niemand war zugegen. Mitten darin stand ein Tisch mit allerlei kleinern kostbaren Dingen; unter andern ein längliches Schächtelchen mit niedlich gearbeiteten silbernen Gewehren, die ganz die Form großer Flinten hatten, aber nicht länger waren, als etwa fünf Zoll. Eins dieser Gewehrchen stach mir sehr in die Augen; ich nahm es heraus, spannte und drückte es ab. Die Begierde, es zu haben, stieg zu einem so hohen Grade, daß ich wirklich versuchte, ob es auch leicht in die Tasche gesteckt werden könnte. Geschwind zog ich es aber wieder hervor, bebte vor dem Gedanken, ein Dieb zu werden und: »es ist Silber!« zurück, legte es in das Schächtelchen und ging davon. Aber plötzlich öffnete sich eine Wandtapete, ein Hofherr trat hervor und rief: »Es ist dein Glück, Junge, daß du nichts entwendet hast; sonst hätte ich dich mit der Hundspeitsche geißeln lassen – bis auf's Blut, und dann erst noch ins Zuchthaus gesteckt!« Hu, wie war ich da erschrocken! Wie lief ich so ängstlich zur Gesellschaft zurück!

Ein andermal besuchte ich den zahmen Damhirsch, der frei im hintern Schloßhof umhertrabte. Oft hatte ich mit ihm gescherzt, ihn gestreichelt, mit Brot und Kräutern gefüttert oder bei den Geweihen ergriffen. Allein auf einmal nahm er das übel, warf mich zu Boden, trampte neben mir und über mich hin und zerstieß mir, so oft ich aufstehen wollte, Kopf, Schultern und Rippen so sehr, daß ich am Ende teils aus Schwachheit, teils aus Furcht, ruhig in der Lage ausgestreckt blieb, in der er mich Liegenden nur anglotzte und schnaubend mit den Waffen seiner Stirne bedrohte. Keine Seele war in der Gegend, die ich hätte zu Hilfe rufen können; endlich ging er siegreich hinweg und überließ mich der Freude, mit geraden Gliedern seinem Zorn entkommen zu sein. Aber weder den hintern Schloßhof, noch den Waffensaal mochte ich ferner besuchen. –

Einst führten die Exjesuiten zu Ehren des Herzogs, der eben die Regierung von Zweibrücken antrat, im großen Saale des Schulhauses eine Art Oper auf, in welcher die pfälzischen Fürstentümer personifiziert erschienen. Ich stellte Sulzbach vor und erschien als Amazonin gekleidet auf dem Theater. Hinter den Kulissen führte eine geheime Treppe in eine Schulstube hinab; die Treppe war nur allein zum Gebrauche der Schauspieler bestimmt, aus leichten Brettchen zusammengefügt und ziemlich steil aufgestellt. Eben da der Vorhang aufgezogen werden sollte und wir alle in der Schulstube versammelt waren, öffnete sich die Tür, mehrere Frauenzimmer, denen das Gedränge im Saale den Zugang zu ihren bestimmten Plätzen versperrt hatte, traten herein, von einigen Offizieren begleitet. Sogleich liefen ein paar dieser Herren unter die Treppe; die Frauenzimmer weigerten sich, hinaufzusteigen; die übrigen Begleiter trieben sie an, bis endlich die Kühnste, mit besonderer Vorsicht in Haltung ihrer Kleider, es wagte, die Stufen zu betreten. Die übrigen ahmten ihr nach und eilten schnell die Treppe hinauf. Aber die Offiziere unten lachten, spotteten, schrien häßliche, unflätige Zoten und machten so schändliche Gebärden, daß wir Kinder durch ihr Gerede und Betragen in hohem Grade geärgert werden mußten. Meine ganze Phantasie war bis spät am Abend mit diesem Vorfalle beschäftigt. Bald strebte ich mich der unreinen Bilder, die mir unablässig vorgaukelten, zu entledigen, und vertiefte mich eben durch dieses Streben noch mehr darein; teils ließ ich mich auf Augenblicke hinreißen, mit einer Art Wohlgefallen und beinahe mit aufkeimenden Wünschen bei verschiedenen dieser Bilder zu verweilen. Dann regte sich das Gewissen desto ängstlicher; ich kämpfte, bereute, stritt und wußte mir am Ende nimmer zu helfen, so daß ich mich entschloß, noch ehe ich zu Bett ging, meine großen Gedankensünden zu beichten, um wieder ruhig und mit Gott versöhnt schlafen zu können. Lange stand ich an der Tür des Präfekts, klopfte und harrte, bis es ihm gefallen würde, mein Bekenntnis zu hören; aber er war nicht zu Hause. Endlich jagte mich der Vizepräfekt zu Bette. Aber einer meiner Gespielen, dem ich's nicht verbergen konnte, was mich ängstigte, lachte meiner und sagte einen der schlüpfrigsten Verse aus Ovids Gedichten von der Kunst zu lieben her, der meine Phantasie noch mehr zerrüttete, bis endlich ein wohltätiger Schlaf meine müden Lebensgeister dem unseligen Kampfe entriß. Morgens, als ich erwachte, war ich neugestärkt und viel ruhiger und dachte mit Verwunderung zurück, wie ich gestern so töricht ängstlich mich betragen konnte.

Als man die Oper zum zweitenmal aufführte, stieg ich von ungefähr aus der Schulstube aufs Theater hinauf und traf da einen großen Studenten hinter den Kulissen sitzend, der einen kleinen Sänger, meinen Gespielen, auf dem Schoße hielt und ihn zärtlich liebkosete; denn der Knabe war, wie ich, weiblich gekleidet, aber viel schöner gestaltet. »Geh fort, du häßliches Mensch,« sagte der große Student, »was hast du hier zu machen? Meinst gewiß, man soll dich auch liebkosen? O geh du, geh! dich mag der Kaminfeger küssen!« Und als ich nicht sogleich gehen wollte, ergriff er eine Latte und jagte mich die Treppe hinab.

Öfters geriet ich bei andern Gelegenheiten an so vertraute Paare, die mich fortzankten, sobald ich mich ihnen nahte. Lange wußte ich nicht, woher dies rührte, und bedauerte manchmal, daß ich etwas an mir haben müßte, welches mich der Zuneigung anderer beraubte. Aber einst, da ein heftiges Donnerwetter heranzog, erschien der Pater Inspektor im Museum, teilte ruhig und ernsthaft die Pro-mense-Zwölfer aus und, als indes das Gewitter so recht über unsern Häuptern rollte, rief er sieben größere und kleinere Studenten in die Mitte hervor; sein Angesicht ward immer ernster und all sein Äußerliches feierlicher; dann hielt er eine heftige Strafrede, die uns Mark und Bein durchdrang, und sagte: »Es wundere ihn, daß der Blitz nicht augenblicklich herabstürze, um so schändliche Verbrecher, als da vor ihm stünden, aus dem Leben wegzutilgen«; und beschloß damit, daß er den größern die Exklusion (Relegation), den kleinern aber die Rute ankündigte. Diese Szene ließ einen tiefen Eindruck in meiner Seele zurück, und ich dankte Gott, daß mich dergleichen Verführer nicht auch liebenswürdig gefunden hatten. Den ich auf dem Theater hinter den Kulissen angetroffen hatte, war einer derselben.

Dennoch fehlte es nicht an dienstfertigen Gespielen, die mir ihren Unterricht über Dinge aufdrangen, die ich besser ignoriert hätte. Einer, der während des Morgen- und Abendgebetes, gleicher Größe wegen, immer neben mir kniete und ein hübscher Knabe war, erzählte mir öfters flüsternd beim Abendgebete (während der Gewissensforschung, da alles stilleschwieg), was er den Tag über für Entdeckungen oder Erfahrungen gemacht hatte. Er malte alles so genau aus, daß ich ganz mit jeder Sache bekannt ward, von der er mir Nachricht zu geben für gut fand. Ein Student der Medizin und ein Halbgeistlicher mißbrauchten den armen Knaben. Anfangs weigerte ich mich, sein Geschwätz anzuhören; aber die Neugier und sein Spott über meine Skrupulosität, wie er es nannte, verleiteten mich doch am Ende, ihm manchmal mein Ohr zu leihen. Obschon ich übrigens seine Handlungen verabscheute, so ward doch meine Phantasie mit unreinen Vorstellungen erfüllt, und ich empfand es nur zu lebhaft, wie schädlich es ist, wenn die Einbildungskraft mit häßlichen Bildern verunreinigt wird, und wie lange man zu kämpfen hat, bis ihre Wirkung geschwächt oder gänzlich gehemmt wird.

Eben derselbe verleitete mich auch, ihn meine Generalbeicht sehen zu lassen, wofür er mir die seinige zu lesen gab. Diese Beicht war eine eigene Einrichtung der Jesuiten; sie diente teils dazu, ängstliche Gemüter, die in den vorigen Beichten etwas verschwiegen zu haben befürchteten und also an der Gültigkeit der Lossprechung zweifelten, durch ein neues allgemeines Bekenntnis aller begangenen Sünden zu beruhigen, teils die jungen Leute von Grund aus kennen zu lernen. Wer eine Generalbeicht ablegen wollte, schrieb seine Vergehungen, groß und klein, mit allen wichtigeren Umständen auf einige Blätter, las sie, im Zimmer des Beichtvaters kniend, verständlich ab und bat um die Lossprechung. Die Blätter wurden dann vernichtet. Man kann denken, daß eine solche Beicht, von einem Verführten geschrieben, für einen mit so schändlichen Dingen unbekannten Knaben nur zu viel Belehrendes haben mußte. Kaum waren wir aus dem Jesuitenkolleg zurückgekommen, wo wir der Reihe nach unsere Bekenntnisse abgelegt hatten, so kam der Reuige mit weinenden Augen zu mir, bat dringend um Verzeihung, daß er mich mit so schlimmen Dingen bekannt gemacht hätte, und gestand, daß ihm dies vom Beichtvater als Bedingung der Absolution auferlegt worden sei. Gerührt und weinend verzieh ich ihm; aber er mußte mir versprechen, künftig nie wieder etwas Ähnliches zu reden, welches er auch von derselben Stunde an getreulich hielt.

Jedoch, ich kann's nicht bergen, selbst die Beicht oder vielmehr ein ungeschickter Beichtvater half mir auf Begriffe, deren ich besser entbehrt hätte. Der allzu eifrige Alte, dem fast alle kleinen Studenten beichteten, fragte uns manchmal scharf aus, verlangte über so viel Umstände, die bei den wenigsten von uns statthaben konnten, befriedigende Auskunft, forschte so lange, ob wir nicht auch so oder so gesündigt hätten, bis wir mit Vergehungen und Kenntnissen vertraut wurden, von denen wir vorher gar nichts ahnten.

Wenn ich nun auf dem Pulte irgendeines größern Studenten ein kasuistisches Buch liegen sah und es unbemerkt wegnehmen konnte, suchte ich eifrig die für meine sträfliche Neugierde anzüglichsten Stellen auf, nahm, sobald ich etwas nicht verstand, das Lexikon zur Hand, prüfte Wort für Wort und strebte, so gut ich konnte, Begriffe zu berichtigen, über die ich damals weit glücklicher in Unwissenheit geschwebt hätte. Aber nachdem einmal die Wißbegierde aufgeregt war, konnte ich so wenig in den ruhigen Stand dieser unschuldigen Unwissenheit zurücktreten, als der Mensch nach dem Falle ins Paradies; und schon oft bin ich auf den Einfall geraten, ob es bei diesen Umständen nicht besser gewesen wäre, wenn mich ein ernster und kluger Mann über dergleichen Dinge offenherzig und mit Anstand belehrt hätte.

Mit Geld und Prämien beladen, trat ich an Maria Geburtsfeste 1774, abends nach der Vesper, meine Vakanzreise freudig an und nahm den Weg nach Haus über Kännertshofen und Kaisersheim, um am letzten Orte meinen Bruder zu besuchen. So ganz zerlumpt und vernachlässigt sah er nun freilich nicht mehr aus, als damals, als ich ihn zum erstenmal besucht hatte; aber er litt doch noch großen Mangel an Kleidern und besonders an dem nötigen Unterrichte. Denn als ich ihn fragte, wie weit er schon in seinen Studien gekommen sei, hatte er kaum die ersten Anfangsgründe der lateinischen Sprache begriffen und wußte schwerlich so viel, als ein mittelmäßiger Prinzipist in Dillingen wissen mußte. Weinend klagte er mir, daß er hier durch das Aufwarten bei Tafeln und andere häusliche Geschäfte zu sehr zerstreuet würde, als daß er ein guter Student werden könnte. Selbst sein Lehrer riet mir, ihn nach Neuburg mitzunehmen, wenn ich hoffen dürfte, daß er dort sein Unterkommen fände. Ich bat also, man möchte ihn auf vierzehn Tage mit mir in die Vakanz ziehen lassen, und erhielt die Erlaubnis dazu sehr leicht. In Höchstädt, wo mein Vater uns freundlich empfing, konnten wir nur wenige Tage anwenden, um miteinander alle unsre liebsten Plätzchen rings um das Städtchen wieder zu besuchen und uns dort mit den angenehmsten Erinnerungen genossener Freuden zu laben; da führte ihn die Mutter nach Neuburg, um ihn im Singen prüfen zu lassen und um die Aufnahme zu bitten. Fröhlich kamen beide zurück und hatten wirklich die Zusage erhalten. Nun eilten wir von neuem nach Kaisersheim, um dort Abschied zu nehmen und einige Zeit dem Vergnügen zu weihen; denn im Gasthause daselbst durfte der Student, der im Kloster einen Bekannten hatte, wenigstens drei Tage verweilen und fand immer Speis und Trank im Überfluß. Dann zogen wir von einem Dorfe zum andern, um mit unsern Prämien und Attestaten zu stappeln, wie das Kunstwort heißt, oder freiwillige Geschenke zu sammeln. Andere Studenten wollten uns Gesellschaft leisten; aber dazu verstanden wir uns nie; denn die Gaben zerfielen dann in zu kleine Teile, und die Herren Konsorten wollten verschwenderischer zehren, als wir gewohnt waren. Zu Hause trafen wir, mit einer ziemlichen Summe beladen, wieder ein, und die Mutter versah uns dafür mit allerlei Kleidungsstücken. Beide fanden wir auch unsre gute Kost bei meinen gewöhnlichen Wohltätern, wohin mich jetzt, wie die Reihe es heischte, mein Bruder begleiten durfte. So ging die Vakanzzeit vorüber, und der Theresienabend 1774, an dem wir in Neuburg eintreffen sollten, kam herbei.

Sogleich bei meiner Ankunft ließ mir der Pater Inspektor ein neues Kleid anmessen. O, wie freute ich mich, als ich es erhielt. Es war genau die Livree des Herzogs von Zweibrücken, ein blauer Rock mit roten Aufschlägen und Kragen, alles samt dem Hut mit silbernen Tressen besetzt. So ward auch Jäger, mein Gespiele im Singen, gekleidet, und wir mußten in diesem Anzuge immer bei der Hofmusik erscheinen. Darauf taten wir junge Toren uns nicht wenig zugut.

Um Allerheiligen, als die Schulen wieder anfingen, ward ich zum Instruktor zweier kleiner Studenten ernannt. Ein langer Zuspruch des Inspektors schärfte mir vorher ein, ich sollte nun doch ernsthafter und mit mehr Würde mich betragen. Allein das war gut zu sagen, aber schwer auszuüben. Noch bis diese Stunde verstehe ich die Kunst nicht mir ein Ansehen zu geben und werde sie wahrscheinlich in meinem Leben nicht mehr lernen. Herzlich und ernsthaft kann ich mich wohl gegen andre betragen, aber antoritätisch, das ist mir unmöglich. Damals hatte es sogar mit meinem Ernst keine Dauer. Dennoch mußte ich auch im Singen Unterricht geben, lernte aber in den Nebenstunden selbst noch die Klarinette blasen. Am liebsten hätte ich das Klavier spielen gelernt; aber dazu konnte ich meine Obern nicht bereden. Schon im vorigen Jahre hatte ich vergebens darum gebeten; sie erlaubten mir nur, die Hoboe und Querflöte spielen zu erlernen; ich versuchte es, allein mit geringem Erfolge; doch in diesem Jahre führte mich das Glück einem geduldigeren Lehrer zu, und es gelang mir besser. Wenn wir spazieren gehen mußten, steckten wir unsre Klarinetten in die Tasche, suchten draußen ein Echo und bliesen ihm unsre Lieder vor. Waren wir dessen satt, so sangen wir allerlei luftige Studentengesänge oder kletterten über die Schanzen und suchten Zeisignester im Steinbruche, oder übten uns, bergauf, bergab zu laufen. Wir hatten immer einige Zuhörer, die uns dann treulich Gesellschaft leisteten.

Mein Bruder klagte mir einst am Morgen beim Aufstehen: »Xaver, mir tut mein linkes Bein so wehe! Kaum vermag ich darauf zu stehen und werde schwerlich die Schule besuchen können.« Ich vermutete, er stelle sich krank, um des Lernens los zu werden, und war rauh genug, ihm harte Reden zu geben. Da stiegen ihm die hellen Tränen in die Augen, und er wankte neben mir die Treppe hinab, ohne ferner ein Wort zu verlieren. Wirklich konnte er, als es Mittag war, keinen Schritt mehr gehen, ward in das Krankenzimmer gebracht und mußte eine schwere, sehr schmerzliche Krankheit ausstehen. Die Leute nannten es, nach des Hausarztes Beispiel, eine Gliederkrankheit, Gicht. Er hatte keinen Krankenwärter als mich, und ich konnte ihm nur nach der Schule zu Hilfe kommen. Wo ich ihn immer berührte, fühlte er grausame Schmerzen, und bis ich mit ihm gehörig umgehen lernte, mußte er vieles leiden. Doch hielt er alles geduldig aus. »Das sind die Folgen meines unordentlichen Lebens in Kaisersheim,« sagte er oft tief seufzend; »aber schreibe doch den Eltern nichts davon, damit sie sich nicht betrüben! Wenn ich wieder gesund bin, wollen wir ihnen von allem Nachricht geben.« Das war sehr edel und klug; denn ohne diese Vorsicht wäre meine gute, um uns so innig besorgte Mutter gewiß, von ihren Geschäften weg nach Neuburg gelaufen. Wir feierten eben die Fastnacht, da der Leidende das Bett hüten mußte; eine Zeit, während der im Seminar jedes Spiel, ja sogar Tanz und Maske erlaubt war und der Lärm der Fröhlichkeit bis ins Krankenzimmer herüberschallte. »Bruder, geh' doch auch ins Refektorium (den gemeinschaftlichen Speisesaal, wo sich alles jubilierend versammelt hatte), geh' und sei fröhlich; ich kann's nicht sehen, daß du immer da bist!« So sagte er einst spät am Abend und ruhte nicht, bis ich endlich ging. Bald kam ich wieder, bald verließ ich ihn wieder, um von Zeit zu Zeit Anteil am Vergnügen zu nehmen und doch auch dem Kranken die nötige Hilfe zu leisten. Man schenkte roten, süßen Tirolerwein aus. Meine Pro-mense-Zwölfer schienen sich ungeduldig in der Tasche zu regen. Ich trank ein Quärtchen nach dem andern. Endlich ward ich so erleuchtet, daß ich des Trinkens nimmer satt werden konnte. Ein größerer Student, der mich beobachtet hatte, nahte sich und sagte: »Bronner, du bekommst einen Rausch; laß dir eine Mandelmilch machen und tritt mir deinen Wein ab; sonst hast du morgen Magenweh zum Sterben.« »Mache du mir eine Mandelmilch,« erwiderte ich, »so magst du den Wein nehmen.« Er tat es; aber ein ganzes Heer Studenten sammelte sich um mich her, die alle ihm zu helfen bereit waren und sich an meinen törichten Possen belustigten; jeder wollte nun auch Wein haben, und ich zahlte verschwenderisch und prahlend aus, solange ich Geld im Schubsacke fand. Jedermann mußte vollauf haben. Am Ende entschlief ich und ward von meinen Mitzechern zum Dank ins Bett geführt. Nachts erwachte ich; o, wie brannte es da in meinen Eingeweiden, wie lechzte meine Zunge nach Wasser, wie liefen die heißen Tropfen mir über die Stirne und den ganzen glühenden Leib! Ich taumelte vom Bette, lief jammernd im Hemde durch den Schlafsaal, auf die Gänge, an die Fenster, aß Schnee und legte mich endlich auf eine Stelle des Bodens, wo es durch ein offenes Fenster hereingeschneit hatte. Überaus wohl tat mir das Wälzen in diesem kalten Bade. Endlich kroch ich wohl abgekühlt wieder unter die Federn, schlief wie eine Ratte fast bis zum Mittage und empfand von der ganzen Ausschweifung keine üble Folge, als ein kurzes Magenweh. Aber ich verwünschte den Wein (nur meine Unmäßigkeit hätte ich verwünschen sollen) und nahm mir heilig vor, dies sollte mein erster und letzter Rausch bleiben! Möchte er's doch geblieben sein!

Übrigens zwang mich meine Lage als Lehrer, meine gewöhnten kindischen Possen größtenteils zu unterlassen; denn ich fürchtete, ich möchte in Gefahr geraten, mit meinen Zöglingen zugleich in die Mitte des Museums, zu meiner großen Schande, hinausknien zu müssen, wie mir's der Präfekt bei einer kleinen Ausschweifung wirklich angedroht hatte.

Der Seminarist, welcher im vorigen Jahre, allzu dienstfertig, mir seine lockeren Entdeckungen vertraute, studierte nimmer in Neuburg; ich empfand aber eine innigere Neigung für zwei stille junge Freunde, die mir täglich teurer wurden; der eine hieß Xaver Metzger, war ein sanfter, herzlicher Jüngling ohne Falsch und gab mir Unterricht im Klarinett-Spielen; der andere nannte sich Holland; ihm war ein überaus gefälliger Charakter, gerader Sinn, Ruhe und Heiterkeit der Seele, die aus seinem Betragen hervorleuchteten, vor andern eigen. Bei jeder Gelegenheit suchten wir einander auf, teilten unsre Geheimnisse, Leiden und Freuden und waren nie vergnügter, als wenn wir, indes die andern spielten, an einem schönen Plätzchen sitzen, erzählen, musizieren, singen, scherzen, hüpfen oder schöne Stellen aus deutschen Dichtern vorlesen konnten. Auch hatte ich heimlich schon ein Auge auf ein schönes Mädchen, die Schwester eines meiner reichsten Schulkameraden, die aber bald darauf an einen Regierungsrat vermählt ward. In der Kirche kniete sie gewöhnlich in den Stühlen uns gegenüber, war so schlank, so fein und rosenwangig, schwebte immer in einem so sanften Gange dahin und betrug sich so sittsam, fromm und liebenswürdig, daß ich, wenn sie zugegen war, nur selten etwas von der Messe gewahr ward und mit meinen Blicken meistens über das Gebetbuch hinweg zu ihr hinüberstreifte. Zuweilen wagte ich es wohl gar (so schwer es auch jedem Seminaristen verboten war, ein Haus in der Stadt zu betreten), ihren Bruder in seine Wohnung zu begleiten; aber entweder bekam ich sie dann gar nicht zu sehen, oder wenn ich sie sah, so war's ein kurzer Augenblick, ein gleichgültiges Begrüßen. Gewöhnlich kam ich von einer solchen Expedition abgekühlter zurück, als ich hingegangen war, weil sich dann immer eine gewisse Hoffnungslosigkeit, jemals mit ihr näher bekannt zu werden, meiner bemächtigte. Alles, was ich wünschte, war, sie sollte mich gern um sich leiden mögen. Zu dem ausdrücklichen Wunsche, ein so schönes Geschöpf mein nennen zu dürfen, schwang sich damals mein Herz noch nicht empor, vielleicht, weil ich sogleich die Unmöglichkeit fühlte, bei dem Abstand meiner Armut und ihres Reichtums, einst zu ihrem Besitze zu gelangen.

Kurz vor ihrer Verheiratung ward ein Verurteilter zum Richtplatze geführt. Bei solchen Anlässen war das Schulhaus geschlossen, und die Studenten, sogar die Seminaristen, durften hinwandern, wohin sie wollten; denn man dachte, wir würden ohnehin alle dem Richtplatz zulaufen. Allein solcher Gelegenheiten bediente ich mich gewöhnlich, um in den Wald bei Grünau zu spazieren oder nach Foßhofen zu gehen, wo ich eine kleine romantische Wildnis an der Donau gefunden hatte, oder Besuche in der Stadt zu machen. An einem dieser Tage bemerkte ich einst meine Schöne in der Kirche, wartete bei dem Residenzbogen, bis sie käme, unter dem Schein, als wollte ich da den Zug mit dem armen Sünder erwarten, und sah bald eine zahlreiche Kameradschaft um mich versammelt. Das Mädchen kam, von einer Gespielin begleitet, ging schüchtern an uns vorüber, ihrem Hause zu, und ich folgte ihr in einiger Entfernung nach. Etwa fünf meiner Kameraden begleiteten mich ganz ungebeten, vielleicht weil das Mädchen ihnen wie mir gefiel. Aber sie kramten häßliche Zoten aus und sprachen ihren Unsinn so laut, daß endlich das schöne Kind mit Verachtung zurückblickte; ich glaubte, mich habe ihr Blick vor andern treffen und bestrafen wollen, und nun sei es unmöglich, daß sie mich wieder schätzen könne, nachdem sie mich einmal in so übler Gesellschaft gefunden habe. Von diesem Augenblick an tat ich ganz Verzicht darauf, jemals ihre Gunst zu erwerben. Dies hatte keinen geringen Einfluß auf meinen Anzug; denn ich vernachlässigte nun mein Äußerliches ganz und gar. Solange ich gefallen wollte, hielt ich meine Haare und Kleider in Ordnung; Holland kämmte täglich mein von Natur krauses Haar in mehrere Reihen Locken. Aber dies unterblieb nun, und ich lief, ohne mich zu waschen, ohne die Federn aus dem Haar zu kämmen, oft ohne Hut, mit bestäubtem Mantel und zerrissenen Kleidern ganze Wochen lang in die Schule, über die Gasse und im Hause herum, so daß es jedermann auffiel, und mich deshalb mancher Spott traf. Allein mich kümmerte das wenig, besonders nachdem es sich einmal gefügt hatte, daß ein angesehener Herr, der bei einem Kirchgange an unsern Reihen vorüberging und mich mit Verwunderung betrachtete, einen meiner Mitschüler zu sich rief und ihn so laut, daß ich's vernehmen konnte, fragte: »Wer ist denn der nachlässige, strobelköpfige Junge dort im zerrissenen Mantel?« Als nun dieser antwortete: »Herr, das ist der Erste in unsrer Schule« usw., da gefiel ich mir selbst in meiner Unreinlichkeit wohl und meinte, es sei weit auffallender, wenn ein Mensch von so armseligem Aussehen dergleichen Lobsprüche verdiente. War das nicht die schönste Anlage zu einem wahren Zyniker?

Dennoch trug auch mein Eifer im Studieren wirklich nicht wenig zur Vernachlässigung meines Äußerlichen bei. Die Klasse, zu der ich gehörte, war eigentlich dazu bestimmt, uns mit der Dichtkunst überhaupt, vorzüglich aber mit der lateinischen Poesie und den ersten Anfangsgründen der Redekunst bekannt zu machen. Längst hatte ich mich auf diesen Unterricht und die zu diesem Ende vorzunehmenden Übungen gefreut. Ich dachte, in meinem Element zu sein, da ich einmal ohne Scheu jeden Dichter nach Gefallen lesen und selbst dichten durfte. Den ganzen Tag trug ich mich mit allerlei Fabeln, Liedern, Reimen usw. Wenn uns die Glocke aus dem Morgenschlummer weckte, sprang ich aus dem Bette, eilte ins Museum an mein Pult und schrieb geschwinde nieder, was ich abends zuvor, bis ich entschlafen war, ausgedacht hatte. Darüber vergaß ich Waschen, Kämmen und Beten. Wenn es nach beendigter Studierzeit im Museum laut zu werden anfing, stieg ich zum Fenster hinaus auf die Höhe eines Holzstoßes, wo ich vor dem Anlaufe anderer Ruhe hatte und nach Herzenslust poetische Einfälle und Reime haschen, lesen und schreiben konnte. Selbst in der Kirche, wenn wir auf dem Musikchore die Predigt anhören sollten, schlich ich hinter die Orgel, öffnete einen Kasten, in welchem man gewöhnlich den großen Violon aufbewahrte und schloß mich hinein, um im Finstern zu dichten, und meine Gedanken mit der Bleifeder aufzuzeichnen; denn ich hatte bald den Vorteil gelernt, ohne Licht, freilich nicht zierlich, aber doch leserlich zu schreiben und die Entfernung der Zeilen beiläufig mit angelegtem Finger zu messen. Meine ersten Arbeiten, die leidlich gerieten, waren in kleinen Verschen abgefaßt und behandelten geringfügige Gegenstände, z. B. ein Kaninchen, einen Sperling, die Hühner, die Tauben, das Ballonspiel usw. Auch gereimte Lieder versuchte ich, die nicht ganz übel ausfielen. Aber wenn ich mich einmal in einer Ode zu den Sternen erheben wollte, so war's Bombast und unerträgliches, überspanntes Geschmier. Ich blieb also gar gern auf der Erde, obschon mir auch da mancher Versuch, besonders im Idyllensache, ganz mißlang.

Indessen ward ich mit einem Buchbinder bekannt, der die für mich so wichtige Wissenschaft besaß, Bücher aus der Fremde kommen zu lassen. All mein Geld wanderte von dieser Stunde an zu ihm. Gropper, Schermer und noch andre der bessern von meinen Mitschülern berieten sich mit mir, welche Schriftsteller jeder kaufen wollte, damit wir gemeinschaftlich eine etwas vollständige Sammlung zusammenbrächten. Gropper als der Reichste von uns kaufte die teuersten, Sineds, Ramiers, Thomsons, Zachariäs, Nabeners Werke usw. Schermer kaufte Hallers Gedichte, Klopstocks Messiade, Oden und Lieder usw.; ich Gleim, Gellerts Fabeln, Kretschmann, U, Hagedorn usw. Treulich teilten wir einander unsre Schätze mit.

Dennoch vernachlässigte ich die klassischen lateinischen Dichter nicht, Hora ward in der Schule erklärt; Ramlers Übersetzungen munterten mich auf, ihn mit mehr Anstrengung, als sonst geschehen wäre, zu studieren. Freilich empfand ich, wenn es hoch kam, nur die Schönheiten des Ausdrucks und wußte nichts von den Vorzügen der Anlage, der gesunden Philosophie, die daraus hervorglänzt, und andern Trefflichkeiten dieses Dichters. Allein ich machte mir doch einigen Begriff von Korrektheit und klassischer Eleganz daraus eigen, den ich ohne dieses Studium wahrscheinlich ganz vermißt hätte.

Bei allem dem blieb mir noch Zeit genug übrig, zur Abwechslung die Anfangsgründe der Algebra zu lernen und aus freiem Antriebe verschiedene Probleme aufzulösen. Meine Wißbegierde und das Verlangen, etwas mehr als meine Mitschüler zu verstehen, waren die vorzüglichsten Triebfedern meines Fleißes.

»Bronner!« sagte einst der Professor, als ich eben ein nicht ganz mißratenes Gedicht in die Schule gebracht hatte; »es ist schade, daß Er in Seinem Anzuge so ganz abscheulich nachlässig ist; es könnte etwas aus Ihm werden« usw. Dann übergoß er mich so sehr mit Lobeserhebungen, daß ich über und über rot ward, kein Auge mehr aufzuheben wagte und wie auf Kohlen stand. 0, ein Lobspruch ins Angesicht ist ein schmerzliches Ding! Lieber tadle man an mir, was man will; so darf ich mich doch verantworten und fühle mich nicht in so peinlicher Verlegenheit.

Am Ende des Schuljahrs 1775 endlich verwandte ich das Geld, das mir wegen vier empfangener Prämien vom Seminar ausgezahlt ward, auf ein paar Röcke für meinen Bruder und mich, die wir einem Trödler abkauften, um mit Ehren in die Vakanz nach Höchstädt wandern zu können.

Die Ferien waren, wie immer, vergangen, als wir den 14. Oktober 1773 in Neuburg wieder eintrafen und dieselbe Lebensart, wie im vorigen Jahre, wieder begann. Dichten war mein Vergnügen und mein tägliches Geschäft, über dem ich meiner selbst und alles dessen, was rings um mich vorging, beinahe ganz vergaß. Kühnlich unternahm ich ein größeres Schäfergedicht in Hexametern zu bearbeiten und mochte etwa ein paar Gesänge vollendet haben, da fühlte ich erst die Schwierigkeiten, ward mutlos und müde und ließ es wieder liegen. Vorzüglich hielt mich eine dunkle Empfindung, daß mein Plan nichts tauge, von der Fortsetzung dieser Arbeit ab. Nachdem ich die Übersetzung Ossians von Denis mit der höchsten Begierde, Aufmerksamkeit und Entzückung gelesen und wieder gelesen hatte, wollte ich nichts mehr, außer im ossianischen Geschmacke dichten: natürlich, daß ich nur erbärmliche Mißgeburten zur Welt brachte oder sklavische Nachahmungen voll gestohlner Gedanken lieferte.

Dessenungeachtet hatten die Herren Exjesuiten doch so viel Zutrauen zu mir, daß sie mir die Übersetzung eines lateinischen Oratoriums in deutsche Verse übertrugen, um sie bei der Aufführung desselben in der Hofkirche der Herzogin und ihren Damen zu überreichen. Ich war nicht wenig stolz, als ich meine Arbeit in solchen Händen sah!

Der Pater Inspektor ernannte mich anfangs zum Instruktor zweier junger Barone, und ich wandte allen Fleiß an, um ihnen das Nötigste beizubringen. Allein keiner von beiden wollte sich auch nur die geringste Anstrengung gefallen lassen; sie lachten nur, wenn ich ihnen zur Übung diese oder jene Arbeit aufgab, schrieben nieder, was ihnen einfiel, und reichten mir's mit spöttischen Mienen dar. Oft entschloß ich mich, das Pensum von Wort zu Wort mit ihnen durchzustudieren, und trug ihnen am Ende auf, es wenigstens dann etwas fleißiger zu bearbeiten; aber alles umsonst. Meine kleine Statur, mein vertraulicher Ton sogleich beim Beginnen des mir aufgetragenen Geschäftes und vor allem das Bewußtsein der jungen Herrchen, daß sie des Fleißes zu ihrem Fortkommen wenig Not hätten, und daß ich ihnen doch nie etwas zuleide tun dürfte, machten alle meine Anstrengungen fruchtlos. Dies erfüllte mich manchmal mit einer Art Verzweiflung, und die Galle stieg mir, so oft die Stunde der Instruktion erschien. Endlich, als es einst meine zwei allerliebsten Zöglinge gar zu bunt trieben und mich offenbar nur neckten, verließ mich plötzlich die Geduld, und ich maulschellierte rechts und links, bis beide unter dem Tische lagen. »Jetzt klagt!« sagte ich und ging. Sie klagten auch wirklich; der Inspektor ließ mich rufen, verwies mir meine Unart in sehr harten Ausdrücken und kündigte mir an, daß ich von nun an nicht mehr Instruktor der Herren Barone sein könnte. Mit Freuden vernahm ich diese Verfügung, durch die er mich empfindlich zu strafen meinte, und entschloß mich gern, auf seinen Befehl vier Syntaxisten, die alle größer waren als ich, unentgeltlich zu instruieren. Freilich hatte ich da keine guten Stunden; denn die aufgeschossenen kühnen Lehrlinge befahlen ihrem kleinen Instruktor gleichsam nach Gefallen. Alle wollten bei ihrem Professor das Ansehen fleißiger Studenten haben und quälten mich deshalb fast an allen Vakanztagen der Woche, ich sollte jedem seine Kompositionen einzeln korrigieren, um mit ihr in der Schule paradieren zu können; da hatte ich dann nicht wenig Mühe und Arbeit!

Während der Schulzeit bekamen wir nur ganz selten die Erlaubnis, außerhalb der Tore zu gehen. Aber ich hatte bald einen Vorwand ersonnen, um in Gottes schöner Natur freier atmen zu dürfen. Es war eine längst hergebrachte Gewohnheit, daß die Studenten der Rhetorik deliberierten, das heißt, sich mit einem Geistlichen, zu dem sie Vertrauen hegten, berieten, zu welchem Stande sie sich entschließen wollten. Ich hatte es mit mir selbst beinahe ins reine gebracht, daß ich nach Kaisersheim ins Kloster gehen wollte. Denn meine Eltern besaßen nicht Geld genug, um mich als Weltpriester auf die Weihen zu schicken, und dann kannte ich dies Kloster von einer Seite, die mich hoffen ließ, daß ich dort Gelegenheit zum Dichten ebensowohl als zum Spazieren und Fröhlichsein finden würde. Aber als ich zum Pater Spiritualis kam, wie man den Beichtvater des Kollegiums nannte, einem silberhaarigen, redlichen, frommen Greise, der mich aus der Beicht durch und durch kennen mußte, und ihm meine Meinung wegen der Standeswahl unverhohlen vortrug, schüttelte er den Kopf und sagte: »Lieber Jüngling! entschließ Er sich nicht so schnell und lerne Er sich selbst erst besser kennen, ehe Er einen so wichtigen Schluß faßt. Er hat ein Temperament, das gar nicht für das Kloster ist. Wenn Er weltlich bleiben könnte, wär' es für Ihn am besten.« Ich stellte ihm dagegen die Armut meiner Eltern und den Mangel aller Aussicht auf ein ordentliches Unterkommen vor, und bezog mich besonders auf das Beispiel eines Arztes, meines Landsmannes, der auch von armen Leuten geboren, nun im Vaterlande darben müßte und überall verachtet würde. »Komm' Er von Zeit zu Zeit wieder zu mir,« versetzte der Greis, »und bete Er fleißig; dann wird Ihn Gott schon erleuchten, welchen Weg Er einschlagen soll.« Sehr oft kam ich wieder; aber die Einwendung, daß ich nicht wüßte, weder als Jurist noch als Arzt emporzukommen, wollte mir nicht aus dem Sinne. »Überlaß Er sich also der Leitung Gottes,« sagte dann der Beichtvater, »der wird Ihn schon führen.« So endigte unsre Deliberation.

Die Zeit, die ich bei ihm zubrachte, war nur kurz; aber ich blieb gemeiniglich den halben Tag aus und bediente mich des Vorwandes, ihn zu besuchen, noch lange, da ich ihn mit keinem Auge mehr sah. Fleißig ging ich immer zur obern Pforte des Kollegiums hinein, damit die heimlichen Aufseher in der Meinung stehen möchten, ich wende mich nur dahin, wohin ich zu gehen Erlaubnis hatte; ich schlich aber durch ein Gärtchen zur untern Tür hinaus, die zu dem Residenzbogen führte, durch den mir der Weg in die sogenannte Hölle und von da an der Donau hinauf offen stand. Am liebsten lief ich zur alten Burg, einem verfallenen Raubschlosse oberhalb der Stadt hart an der Donau oder zum Einsiedler, der etwas näher einen sonnigen Hügel bewohnte. In den bemoosten Ruinen zu sitzen, im Walde oder im Gärtchen bei der Einsiedelei zu spazieren, hatte unaussprechliche Reize für mein Herz. Dort dichtete ich am liebsten und ließ einst meine Wünsche, in einer solchen romantischen Einsamkeit zu leben, in einer sapphischen Ode ausströmen. –

Mitten im Laufe des Schuljahres mußte ich wegen meiner Liebe zu den deutschen Schriftstellern eine herbe Prüfung aushalten. Die Herren Exjesuiten hatten beschlossen, und man sagt, dies sei nicht nur in Neuburg, sondern im ganzen pfälzischen und bayrischen Gebiete geschehen, auf einen Tag alle deutschen Bücher ihren Zöglingen wegzunehmen, um das hier und da aufglimmende Licht besserer Kenntnisse auf einmal wieder zu ersticken oder, wenn es nicht gelänge, die Unmöglichkeit wenigstens durch den Versuch erprobt zu haben. Der Inspektor ließ mich einst rufen, empfing mich mit einer schrecklichen Amtsmiene und sagte: er habe mit Gewißheit erfahren, daß ich der Verführer sei, der sich nicht nur selbst mit den abscheulichsten deutschen Scharteken und schlüpfrigen Gedichten abgebe, sondern auch die Frechheit habe, andere zu dergleichen Lesereien zu verleiten und ihnen sogar die Bücher zu verschreiben; längst hätte ich deshalb einen derben Schilling (öffentlich die Rute) verdient; aber in Rücksicht, daß ich schon Rhetor und Instruktor sei, wolle er mich damit verschonen, doch nur unter der Bedingung, daß ich alle meine Bücher aufrichtig bekenne und dann auch anzeige, was ich den andern für Bücher verschrieben habe, und welche deutschen Schriftsteller überhaupt jeder Student meines Wissens besitze. Zugleich legte er mir weißes Papier vor, wies mir die übrigen Schreibmaterialien und fuhr fort: »Hier will ich Ihn allein lassen. Besinne Er sich wohl, Bronner, und schreib' Er mir alles aufrichtig nieder, oder Er hat im Weigerungsfalle einen Schilling.« Dann verließ er mich. Was war da zu tun? Ich entschloß mich, alle deutschen Bücher, sowohl die meinigen als diejenigen, die ich selbst für andere gekauft hatte, aufrichtig und vollständig aufzuzeichnen; denn ich fürchtete, eine nähere Untersuchung würde doch die richtige Zahl derselben an den Tag bringen, wie es auch wirklich geschah; aber von den übrigen Büchern, die meines Wissens andere besaßen, meldete ich keine Silbe, denn ich dachte, man könne mich doch nie des Mitwissens überweisen. Kaum hatte ich die Liste vollendet, so kam der Inspektor wieder, und der Hausknecht trug meine Bücher alle in einem Korbe hinter ihm her; denn er hatte indessen mein Pult erbrechen lassen. »Nun wollen wir sehen,« sagte er, »ob Er aufrichtig bekannt hat!« nahm meine Liste zur Hand, ließ sich ein Buch nach dem andern reichen und bezeichnete jedes in der Liste mit einem roten Kreuze. Als es sich nun zeigte, daß ich genau alle angegeben hatte, sprach er mit feierlichem Ernste und drohendem Finger: »Es ist dein Glück, Bursch, daß du aufrichtig gewesen bist; hättest du ein einziges verleugnet, so solltest du den versprochenen Schilling unfehlbar erhalten haben.« Dann entließ er mich, und die Exekution traf andere, die ebenso bekannten wie ich. In einem halben Tage war kein deutsches Buch mehr unter uns. Sogar meine Prämien von 1773, Denis' Sammlung kürzerer Gedichte, den Tod Abels usw. enthaltend, waren dahin. Aber nach kurzer Zeit hatten wir neue und hielten sie nur desto geheimer versteckt.

Am Schlusse des Schuljahres gelangen mir meine Aufsätze um die Preise ganz nach Wunsch, und ich lernte die vorgeschriebenen Hauptstücke mit dem glücklichsten Erfolge auswendig. Meine Weise, auswendig zu lernen, war diese: etwa ein paar Tage vor jedem Examen verkroch ich mich in ein finsteres Loch, z. B. in die Höhlung unter der Treppe, wo die Kegel aufbewahrt wurden, und wo das Licht nur etwa durch ein Astloch hineinfiel. Dort saß ich den ganzen ersten Tag und lernte das aufgegebene Pensum wörtlich durch; am zweiten Tage wiederholte ich das Gelernte; am dritten, morgens vor dem Examen noch einmal: und so durfte ich meinem Gedächtnisse sicher trauen, daß mir kein Wort von Bedeutung ausbleiben würde. Nachdem die Examen vorüber waren, bereitete ich mich zu den höhern Klassen vor und disputierte mit jedem, wo ich immer Anlaß fand, in Syllogismen und Dilemmen über nichts und wieder nichts, so daß ich bald in den Ruf eines hartnäckigen Dialektikers, wie wir es nannten, kam.

Ehe ich und mein Bruder, der wieder einen heftigen Anfall der Gicht überstanden hatte, von Neuburg abreisten, ließ mir der Inspektor einen silberfarbigen Rock mit rosenrotem Futter machen, der mir überaus wohl gefiel, und versprach mir, wenn ich ferner fleißig studieren würde, so wollte er mich nach Heidelberg in ein Erziehungshaus empfehlen, wo ich zum Weltgeistlichen unentgeltlich ausgebildet und am Ende als Professor angestellt werden würde. Im künftigen Jahre sollte ich indes Admonitor oder gar Vizepräfekt des Seminars werden. Diese schöne Aussicht, fünf Prämien und mein neues Kleid machten, daß ich mit doppeltem Vergnügen nach Hause reiste, in der schmeichelhaften und sichern Hoffnung, bald als Obrigkeit unter meinen Mitstudenten aufzutreten. Aber die Vorsehung hatte es anders gefügt.


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