Franz Xaver Bronner
Ein Mönchsleben aus der empfindsamen Zeit. Erster Band
Franz Xaver Bronner

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Achtes Kapitel:

Wieder im Kloster.

Tagesordnung und Beschäftigung im Kloster – Mönchischer Parteigeist – Beichtsitzen und Predigen – Mathematische Studien und Feldmessen – Ungnade des Prälaten und die Folgen – Illuminaten-Verfolgung – Tod meines Bruders und meiner Mutter – Eine schreckliche Entdeckung und Entschluß zur Flucht – Vorbereitungen zu derselben – Verzögerungen und List.

Es hielt schwer, mich wieder an die mönchische Lebensart zu gewöhnen. Der Chorgesang und andre klösterliche Verrichtungen, auf welche die Mönche so hohen Wert legen, ekelten mich an, und da sie mir schon bei meiner vorigen Denkensart beschwerlich fielen, so schienen sie mir nun vollends unsinnige, quälende Beschäftigungen. Wie hätte ich auch Geschmack an einem Quodlibet von unzusammenhängenden Schriftstellen und geistlos übersetzten, größtenteils unverständlichen Psalmen usw. finden sollen? Statt den ganzen Tag meinen Lieblingsarbeiten widmen zu können, wie ich es nun ein paar Jahre lang gewohnt war, mußte ich morgens um halb vier Uhr aus den Federn, nicht um zu studieren, welches ich gern getan hätte, sondern um in dem Chor zu erscheinen und bis fünf Uhr in Unmut und zwecklosem, die Brust angreifendem Geschrei die besten Kräfte zu verzehren. Man kann denken, wie angenehm es mich dünkte, täglich eine Art Schreierkrieg mit anzuhören oder gar mitzuführen. In unserm Konvente (vielleicht in allen Klöstern) waren immer zwei Parteien, der Alten und der Jungen. Die Alten gaben sich immer gern die Miene von Eiferern für die Ehre Gottes, denn die Jahre selbst schienen sie zu Heuchlern gebildet zu haben; unter dem Vorwande, das Lob Gottes müsse mit Würde und Anstand abgesungen werden, in der Tat aber, um die übrigen ihre Superiorität fühlen zu lassen, dehnten sie im Chor alle Worte absichtlich so, daß sie jeden Psalmenvers später endigten als die übrigen. Die Jungen, denen rascheres Blut in den Adern rollte, sangen die Verse lieber etwas munterer ab und endigten sie also merklich früher als die Zögerer. Dies veranlaßte täglich mehr als einmal eine Art von Stimmenkampf; beide Parteien suchten einander mit gräßlicher Anstrengung zu überschreien und die Oberhand zu gewinnen, abscheuliche Mißtöne, Murren, Gezänke, Erbitterung und wohl gar Leibschäden waren die schönen Wirkungen dieser religiösen Übungen. Öfters vernahm ich's, wie meine Nachbarn neben und hinter mir das »Ehre sei Gott dem Vater usw.« sangen und während der Zwischenpausen Verwünschungen murrten. Größtenteils schwieg ich, wenn dergleichen Wettgefechte begannen; manchmal aber, wenn es gar zu bunt ward und mein Herz von Unmut überfloß, nahm ich die Partei der wenigen Gemäßigten und schrie mit, so gut es meine Brust eben leiden mochte.

Von fünf bis halb sechs Uhr hatten wir freie Zeit. Ich wandte sie meistens an, mein Bett zu machen und andre häusliche Kleinigkeiten in Ordnung zu bringen. Mehrere weihten dieselbe einem kurzen Morgenschläfchen.

Um halb sechs Uhr läutete man zur geistlichen Betrachtung; da mußten alle im Meditationszimmer erscheinen und bis sechs Uhr an ihrem Platze stille knien. Dies schien mir die bequemste Zeit, ein erbauliches, herzerhebendes oder meine Religionsbegriffe berichtigendes Buch zu lesen. Dazu wählte ich Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, zuweilen wohl auch Klopstocks Messiade und ein andermal Mosheims Kirchengeschichte, über die ich meine Betrachtungen sorgfältig anstellte usw.

Um sechs Uhr wanderten wir alle in den Chor, um die Prim zu singen, welche um dreiviertel vor sieben Uhr geendigt ward.

Dann hatte jeder bis halb neun Uhr Muße, seine Messe zu lesen oder anzuhören, zu frühstücken, wenn er etwas erhaschen konnte, und andre Geschäfte zu besorgen. Wenn ich nicht einen besondern Auftrag vom Prior hatte, zu einer gewissen Stunde oder zu einer von ihm angegebenen Intention die Messe zu lesen, so unterließ ich es. Manchmal wurden mir Meßstipendien angetragen, das heißt, man wollte mir für eine bestimmte Anzahl Messen, die ich nach der Meinung des Zahlenden lesen sollte, eine Summe Geldes geben, so daß jede Messe 20 oder 24 Kreuzer eingebracht hätte. Allein da diejenigen, welche diesen Preis bezahlen sollten, meistens arme, gutherzige Leute waren und meine Überzeugung vom Werte der Messen gar nicht zuließ, daß ich jemandem Geld dafür abnähme, so versprach ich gewöhnlich allen dergleichen Bittenden, die Anzahl der verlangten Messen umsonst zu lesen. Allein ich erfuhr manchmal mit Verdruß, daß sie mir nur schwachen Glauben beimaßen, ihr Geld einem andern Religiosen zu ebendemselben Zwecke zustellten und wohl gar fürchteten, unbezahlte Messen möchten weniger kräftig sein als die bezahlten. Wenn ich zu einer bestimmten Intention lesen mußte, betete ich oft: »Gott! Du siehst den guten Willen dieser Treuherzigen! Sie glauben, durch Meßopfer dir zu gefallen und Erhörung zu erlangen! O gib den Flehenden, was ihnen am besten ist!«. Minchen kam oft meine Messe zu hören, wenn sie die Stunde wußte, in welcher ich lesen würde. Allein ich wagte es kaum, wenn ich mich am Altare umwandte, einen flüchtigen Blick auf sie zu tun, weil ich mich scheute, durch zu kühnes Umherschauen den Leuten Ärgernis zu geben.

Um halb neun Uhr begann der Chor wieder; es ward erst die Terz, dann ein Hochamt meistens mit sehr beschwerlichem Choralgesang zur Orgel und am Ende die Sext und Non abgesungen. Den Beschluß machte die Gewissenserforschung, die – während alle schwiegen – kniend von jedem einzeln vorgenommen und mit Abbetung der sinnlosen Lauretanischen Litanei beschlossen ward. Ein wenig vor zehn Uhr endigte der vormittägige Chor und ließ uns bis elf Uhr ein Stündchen zur Arbeit frei. Ich merke mit Fleiß an, wie unser Vormittag, sonst unstreitig die beste Zeit zum Studieren, eingeteilt war, um zu zeigen, daß einem gemeinen Mönche allzu wenig Zeit übrig bleibt, um in den Wissenschaften etwas Beträchtliches zu leisten. Man rechne noch dazu die Ermüdung, welche das langwierige Chorschreien zurückläßt, so wird sich niemand mehr wundern, warum oft die hoffnungsvollsten jungen Männer in Klöstern allen Geschmack für literarische Beschäftigungen verlieren und am Ende den bequemen Weg der Untätigkeit einschlagen, auf welchem sie bereits so viele Vorgänger erblicken.

Täglich hatte ich gegen die Trägheit, als gegen einen immer wieder aufstrebenden Feind neue Kämpfe zu bestehen. Aber die Ehrbegierde half mir siegen. Ich dichtete unter dem Titel: der erste Fischer eine Robinsonade nach meiner Art und mehrere Idyllen.

Nachdem man den Pater Cölestin und mich im Herbste 1783 nach Augsburg geschickt hatte, um uns dort pro cura animarum examinieren zu lassen oder um die Erlaubnis zu erhalten, alle Verrichtungen eines Seelsorgers vornehmen zu dürfen, wurden wir angehalten, sowohl zu predigen, als Beicht zu sitzen. Ehe ich die Kanzel zum erstenmal betrat, ging ich auf den Kirchenboden und übte mich allein im Vortrage und in der Geberdensprache, dann ersuchte ich den Pater Maurus, mich anzuhören und meine Fehler zu rügen, welches er auch sehr freundschaftlich tat; mein Hauptfehler war, daß ich im Eifer allzu schnell sprach. Hierauf hielt ich meine Predigt, die ich ängstlich von Wort zu Wort auswendig gelernt hatte, ohne Anstoß, so daß nachher manche mich ermunternde Rebe fiel. Als mir das erste Wagestück nicht mißlungen war, ging ich in der Folge viel mutiger auf den Predigtstuhl. Nur einmal fügte es sich, daß ich ein wenig stockte. Zum Glücke aber war es dort, wo eine neue Abteilung anfing. Ich zog meinen Aufsatz so behende aus dem Busen, warf hinter dem Kanzelbrett einen so schnellen Blick darauf und ließ ihn so geschwinde fallen, daß ich glaubte, niemand habe es gemerkt, außer den Leuten auf dem hohen Musikchor, die meine versteckten Geberden von oben herab sehen konnten. Allein ich betrog mich, denn die ganze Kirche hatte meine kurze Verwirrung beobachtet, und einige Leute sagten mir dann, es sei ihnen ordentlich bange für mich gewesen. Was mich aus dem Texte brachte, war – Minchen, die ganz unverhofft zur Kirchentür hereintrat, als eben meine Blicke dorthin fielen. Auf einmal waren alle Gedanken wie weggewischt, und es schwebte mir einen Augenblick blau vor den Augen.

Ehe mich der Prior in den Beichtstuhl schickte, dachte ich oft: »Es muß doch nicht unangenehm sein, inne zu werden, wie sich die Leute bei einer so beschwerlichen Handlung benehmen und was sie mir alles sagen werden.« Mit gespannter Neugier setzte ich mich auf meinen geistlichen Thron, horchte mit gespitzten Ohren und erfuhr, daß die meisten sehr alltägliche, uninteressante Dinge sagten, andre erregten mein innigstes Mitleiden, ich hätte mit ihnen weinen mögen, und wieder andre schwatzten ihre Vergehungen so unempfindlich und beinahe selbstgenügsam her, daß mir die Galle stieg. Den Zustand der meisten Beichtenden lernte ich bald aus der Art des Vortrages ziemlich richtig erraten, andre machte selbst der üble Geruch ihres Atems kenntlich. Zur Menschenkenntnis trägt der Beichtstuhl unleugbar sehr viel bei. Aber das Angenehme, das ich mir versprochen hatte, fand ich nicht. Zuweilen fügte es sich freilich, daß etwas so Närrisches auf die Bahn gebracht ward, daß ich nicht umhin konnte, meinen Mund mit dem weißen Beichttuche zu verstopfen, um wenigstens das laute Lachen nicht ausbrechen zu lassen. Dafür aber wurden mir Herz und Sinn durch Erzählung der häßlichsten Zoten, durch Anhörung des langweiligsten Gewäsches, durch Vorbringung sehr verwickelter Gewissensfälle, durch grobe Begegnung der abgewiesenen Gewohnheitssünder, durch beschwerliches Abfragen begangener Fehler bei übel unterrichteten Leuten usw. schmerzlich genug gepeinigt, nichts von der Unbequemlichkeit zu sagen, von morgens fünf Uhr bis mittags 12 Uhr gebückt auf einem Flecke zu sitzen. Deshalb ging ich immer mit einer Art Scheu in den Beichtstuhl, und nur die Hoffnung konnte mich trösten, meine herzlichen Zusprüche, meine Warnungen und eindringlichen Vorstellungen würden doch manches noch nicht ganz verdorbene Herz rühren und vielleicht zur Tugend zurückführen. Wirklich hatte ich ein paarmal die Freude, daß die Beichtkinder wieder kamen und mir für die Rettung aus verderblichen Gewohnheiten dankten, obschon ich nichts andres dabei getan hatte, als daß ich ihnen das moralische Unheil, noch mehr aber den physischen oder politischen Schaden, den sie sich durch ihre Vergehungen zuzögen, recht lebhaft vor Augen stellte, ihnen einige Räte gab, wie sie sich in gefährlichen Augenblicken benehmen sollten, und statt der Buße, die sonst bei den meisten Beichtvätern in mechanischer Herbetung gewisser Formeln besteht, ihnen auftrug, unter Tags ihr Gemüt manchmal in kurzen Anrufungen zu Gott zu erheben, ihre guten Vorsätze zu erneuern und öfters wieder zu kommen, um sich durch treffende Ermahnungen und Betrachtungen ihres Zustandes zur Beharrlichkeit zu stärken.

Mit mathematischen Arbeiten beschäftigte ich mich ziemlich viel. Der Prälat hatte mir aufgetragen, eine große Viehweide des zum Kloster gehörigen Dorfes Jusum zu messen und einen geometrischen Riß davon zu verfertigen. Man bezahlte mir einen Taglöhner, den ich zum Kettenziehen und andern kleinen Diensten nötig hatte. Ich wanderte denn, wenn es die Witterung zuließ, einige Tage lang morgens um vier Uhr aufs Feld und maß die verschiedenen Teile der weitzerstreuten Weideplätze; nachmittags um zwei Uhr kam ich, vom Hunger getrieben, nach Hause. Anfangs fand ich einige Schwierigkeiten, die kleinen Krümmungen und unregelmäßigen Zickzacklinien der Grenzen genau in meinen Riß einzutragen. Aber sowie ich mehr Übung erhielt, ward mir auch die Arbeit leichter. Wenn ich heimkam, aß ich geschwind, was noch zu haben war, und setzte mich sogleich hin, um meine trigonometrischen Berechnungen und Zeichnungen, solange ich alles frisch im Gedächtnis hätte, zu verfertigen. Allein der Prior schien mich um das Glück, eine bessere Beschäftigung gefunden zu haben, zu beneiden und ließ mich um drei Uhr immer durch einen abgeschickten Frater unter dem Vorwande in die Vesper holen: »Es seien zu wenig Religiosen im Chor, als daß er ordentlich psalliert werden könnte, ich sollte also kommen und aushelfen!« Anfangs hielt ich dies nur für indiskret, aber als ich den Chor betrat und alle Stühle voll Mönchen erblickte, sah ich wohl ein, daß es etwas mehr als Indiskretion war. Als ich dem Prälaten meinen ersten Riß brachte, bezeigte er mir seinen Beifall und sagte: »Er hätte im Sinne, alle Klostergüter auf diese Art von mir messen und im Grundrisse darstellen zu lassen.« Da bat ich ihn, er möchte mich, solange ich daran arbeiten würde, ausdrücklich vom Chor freisprechen und erzählte ihm die Begegnung des Priors. Ich sah, daß er damit unzufrieden war, aber er sagte nur: »Messen Sie das seinem großen Eifer für den Gottesdienst bei und lassen Sie sich dadurch gar nicht abhalten, etwas Nützliches zu arbeiten. Ich werde Ihnen alle Erleichterung zu verschaffen suchen. Nächstens wollen wir wieder nach München gehen, halten Sie sich nur bereit!« Wirklich nahm er mich dahin zum zweitenmal mit, welches mir bei andern Mönchen, die gern meinen Platz eingenommen hätten, nicht wenig Neid und Mißgunst zuzog. Ich schrieb sogleich meinem Freunde und Ordensbruder Vinzenz Caraffa nach Freysing, er sollte auf den bestimmten Tag in München eintreffen. Wir genossen da einige der glücklichsten Stunden, besuchten miteinander unsre Brüder vom Illuminatenorden und besahen alles, was uns sehenswürdig schien.

Wir logierten zu München in der Wohnung eines Halbbruders des Prälaten, des Arztes Schwemmer, der vor kurzem gestorben war und seinen Herrn Bruder zum Vollstrecker seines letzten Willens ernannt hatte. Bald zeigte es sich, daß der Arzt den besten Teil seines Vermögens zu einem Stipendium verwandt wissen wollte, welches die studierenden Kinder der leiblichen Schwester unsers Prälaten zu genießen haben sollten. Als diese Geschäfte berichtigt waren, kehrten wir wieder ins Kloster zurück. Es ward nach einigen Wochen Kapitel gehalten, der Prälat trug vor, er glaube, es sei für das Kloster vorteilhaft, wenn dasselbe die Stiftungsgelder als ein ewiges Kapital aufnehmen und jährlich mit vier vom Hundert verzinsen würde. Er wußte die Sache auf einer so guten Seite darzustellen, daß bei der Umfrage die meisten Stimmen der Alten zugunsten seines Vorschlags ausfielen; nur wenige hatten etwas dagegen einzuwenden, aber das wenige schien mir doch treffend genug. Der Prälat ward über dergleichen Einwendungen aufgebracht und erinnerte mich an den Spruch des Momus, der dem zürnenden Jupiter bei Lucian zurief: »Vater Jupiter, du hast gewiß unrecht, denn du zürnest.« Die wahre Ursache, warum der Prälat das Geld durchaus wollte, und warum es einige Mönche ebenso ernstlich nicht wollten, hatte noch keiner zu berühren getraut. Sie war im Grunde die, daß der Prälat eben des Geldes sehr bedurfte und die Schwemmerschen Stiftungsgelder mehr als wahrscheinlich bereits angegriffen hatte, denn eine ungezähmte Spielsucht verleitete den übrigens mit vielen guten Eigenschaften begabten Herrn zu stetem Reisen, zur Vernachlässigung seiner Geschäfte, zum Aufsuchen teurer Lustpartien und zu allerlei unnützem Aufwand, und es war noch nicht lange, daß sich das Kloster gedrungen sah, ein paar schöne Bauernhöfe zu verkaufen, um dem Prälaten wieder einige Barschaft in die Hände zu geben. Aus allen Umständen ließ sich nun abnehmen, daß der Kaufschilling für die Höfe von ihm bereits aufgebraucht sei, und daß er die Schwemmerschen Gelder nur darum als ewig verzinslich in seine Hände nehmen wollte, damit er wieder Mittel hätte, seine Leidenschaft für das Spiel zu befriedigen. Alles das stand so klar vor meinen Augen, daß ich nur wartete, bis die Reihe zu votieren auch mich treffen würde, um die Akzeption rückgängig zu machen. Zwar hatte ich vorher noch mit mir selbst zu kämpfen, ob ich meine wahre Meinung offenbaren sollte oder nicht, und ob es nicht undankbar wäre, einem Obern, der mir so viel Gutes getan hatte, in seinem angelegensten Verlangen zuwider zu sein? Allein ich dachte, es würde zu seinem wahren Glücke gereichen, wenn er nicht mehr so emsig spielen könnte wie bisher, und entschloß mich, die Partei seiner Gegner zu ergreifen. An den Einfluß, den dieses Benehmen auf mein ferneres Schicksal haben könnte, dachte ich gar nicht. Mit Verdruß hatte er eben ein paar der kühneren Sprecher zum Stillschweigen gebracht, und noch waren die meisten Stimmen seinem Zwecke günstig. Jetzt hätte die Umfrage auch an mich und meine Mitprofessen kommen sollen. Aber der Prälat sprach etwas verächtlich: »Die jungen Herren werden wohl mit mir einverstanden sein.« Eine kurze Pause folgte, mir wurmte die Rede des Prälaten im Kopfe, und ich sprach mit halbunterdrückter Heftigkeit: »Erlauben Sie, gnädiger Herr! daß ich Ihnen sage, ich könnte mit der Aufnahme dieser Gelder nicht zufrieden sein, denn erstens genießt das Kloster gegenwärtig glücklicher Zeiten, in welchen alle seine Einkünfte fließen und also zur Notdurft hinreichen sollten, ohne sich erst die Last einer ewigen Abgabe aufbürden zu müssen; zweitens ist der Zins, der von diesen Stiftungsgeldern zu ewigen Zeiten unablöslich gegeben werden soll, zu hoch; drei vom Hundert wären genug, vier sind nach dem allgemein angenommenen Gebrauche zu viel.« »Ach,« sagte der Prälat mit zürnendem Stolze, »was versteht solch ein junger Mensch von Geldsachen?« Das hieß eine kaum vernarbte Wunde meines Herzens mit Distelköpfen reiben. Ich hatte ja in Eichstädt schon dieses Vorurteils wegen darben müssen. »Gnädiger Herr!« erwiderte ich kühn und vielleicht trotzig, »hier hat jeder sein Votum abzugeben, so gut er's versteht und ich bitte, wenn Sie Ihren Verwandten etwas zu Gefallen tun wollen, es auf eine solche Weise zu tun, daß das Kloster dadurch nicht mit einer unabwerflichen Last beladen wird!« Die letzte Rede reute mich, sobald sie mir über die Lippen gekommen war, aber es war unmöglich, sie wieder zurückzunehmen. Der Prälat schwieg zwar, doch seine Augen funkelten, und ich wagte es nimmer, ihm ins Angesicht zu sehen. Ein paar Patres, die nach mir folgten, hatten den Mut, meiner Meinung beizutreten, und so zählten beide Meinungen am Ende gleich viele Stimmen. »Damit man mir keine Parteilichkeit schuld geben könne,« sagte der Prälat mehr als ernsthaft, »so will ich auf mein Recht, die Sache zu entscheiden, für diesmal Verzicht tun und verlange, daß jeder Kapitular noch einmal sein Votum gebe.« Aber, anstatt daß nun seiner Meinung mehrere beitraten, wie er hoffen mochte, fielen die meisten Stimmen gegen die Akzeption aus und mancher sagte: »Anfangs sah ich die Sache nicht von dieser Seite an.«

Dieses Kapitel brachte mich, wie begreiflich, im Angesichte aller ganz um die Gunst des Prälaten. Vom Feldmessen war keine Rede mehr, und ich sah mich auf einmal allen Neckereien der Mönche bloßgestellt, ohne von meinen Obern Hilfe erwarten zu können. Denn in Klöstern geht es beinahe wie an Höfen, wer in Ungnade fällt, ist der Ball jedes Buben und ein Scheusal für jede kriechende Seele. Trieben Neid und Scheelsucht bisher nur hinter meinem Rücken ihr Spiel, so wagten sie sich jetzt dreist, mir unter das Angesicht Hohn zu sprechen. Der Prior behandelte mich beim geringsten Vergehen strenger als gewöhnlich, P. Beda spottete beim Abendtrunk und bei andern Gelegenheiten herzhafter über die jungen Vielwisser, die sich erfrechten, ohne tiefgründende Theologen zu sein, verführerische philosophische Schriften zu lesen, und jeder, dem es einfiel, mir einen Tort zu tun, konnte es ungestraft wagen. So verdrängten sie mich durch stete Neckereien auf dem Musikchor von der ersten Violine und schämten sich doch nicht, sobald ein Solo zu spielen war, mich von der zweiten, wohin ich mich des Friedens wegen gestellt hatte, mit Gewalt abzurufen, um Solo zu spielen.

Sprach ich während der Rekreation im besten Vertrauen mit meinen Nachbarn, so fielen mir auf einmal andre, die mich behorcht hatten, in die Rede, wollten aus meinen Äußerungen, so sehr ich mich hütete, dennoch etwas Heterodoxes oder philosophisch Anmaßliches oder Freidenkerisches herausdrehen und verscheuchten mich von jeder gesellschaftlichen Unterhaltung. Aber wie ekelhaft würde es sein, wenn ich alle die nichtswürdigen, einzeln ziemlich unbedeutenden Neckereien der Reihe nach aufzählen wollte! Sie gleichen der Tortur jenes Tyrannen, der seinen Schlachtopfern nur schwache Schläge, aber immer auf eben dasselbe Plätzchen unausgesetzt geben ließ, bis der Schmerz endlich unerträglich und das verlangte Geständnis erpreßt ward.

Es war für mich ein großes Glück, daß mein Herzensfreund nicht mehr Professor in Freysing blieb, sondern wieder ins Kloster zurückkam. Nur in seiner Gesellschaft und am Klavier des P. Gregor, der mir allerlei Phantasien vorspielte, fand ich Unterhaltung und Trost. Wir richteten es so ein, daß mein Freund meine und ich seine Zelle nach Belieben betreten konnte. Zu diesem Ende holte ich verschiedene alte Schlüssel aus der Kanzlei und feilte sie so, daß sie beide Türen öffneten. Dies gewährte uns den Vorteil, daß jeder im Notfalle die geheimen Papiere des andern retten und daß wir, ohne so leicht beobachtet zu werden, zusammenschleichen konnten, weil keiner lange klopfen oder zögern durfte, um eingelassen zu werden. Auch hatte ich mir durch einen vertrauten Tischler einen Schreibtisch machen lassen, in dem mehrere geheime Schubladen angebracht waren, so daß ich mein geheimes Archiv, sowohl Schriften als verbotene Bücher enthaltend, füglich darin verbergen konnte.

Unsre freundschaftlichen Unterredungen hielten uns, wie vormals, für alle Unannehmlichkeiten unsres Standes schadlos und hatten nun durch den Illuminatismus neues Interesse gewonnen. Ein Beamter in der Nähe, mit dem Ordensnamen T. Q. Flaminius, war auch Illuminat, besuchte uns von Zeit zu Zeit und setzte uns in den Stand, die Korrespondenz mit den geheimen Obern zu unterhalten. Durchreisende Brüder, die einen von uns kannten, manchmal Herren von Stande und Ansehen, besuchten uns und setzten die Mönche nicht wenig in Erstaunen, woher wir solche Bekanntschaften hätten. Pater Beda war dann dienstfertig genug, mit einer geheimnisvollen Miene das Rätsel zu lösen und etwa das Wort »Freimaurer« fallen zu lassen. Dies machte, daß uns einige mit geheimem Abscheu ansahen, und daß alle unsre Schritte genauer belauscht wurden. Einst wagten wir es, einen jungen, hoffnungsvollen Mönch von Kaisersheim in meiner Zelle zu initiieren. Wir hatten den Neuling an einem schönen Vakanztage, da wir wußten, daß unser ganzer Konvent spazieren gehen würde, nach genommener Abrede mit dem Flaminius, der als Initians gleichfalls zur bestimmten Stunde eintreffen wollte, nach Donauwörth beschieden; mein Freund und ich blieben, ich weiß nicht mehr unter welchem Vorwande, vom Spaziergange weg, ich verfinsterte mit dichten Vorhängen meine Zelle, zündete die geheimnisvollen drei Lichter an, bereitete das Nötige und führte den Neuling erst in meines Freundes Zelle, die zur finstern Kammer umgestaltet war, und dann in die meinige, wo Flaminius als Oberer und Caraffa als Sekretär ihn bereits erwarteten. So ward er mit allen gewöhnlichen Zeremonien feierlichst in den Orden aufgenommen und sollte unter meiner geheimen Aufsicht zum echten Illuminaten gebildet werden. Das ganze Unternehmen gelang, ohne daß jemand vermutete, was wir getan hatten. Es fügte sich nachher, daß sich auch ein Geistlicher in Donauwörth niederließ, der unser Ordensbruder war. Sicher hätten wir in kurzer Zeit Minervalversammlungen gehalten, wenn nicht das ganze Institut, früher als wir dachten, zerstört worden wäre. Nachdem die Schrift: Für Freimaurer, erste Warnung und andre dahin gehörige Blätter erschienen waren, erhielt sie Beda sogleich, las sie beim Abendtrunk öffentlich vor, deklamierte, mit Seitenblicken auf mich, gegen den Illuminatenorden, erklärte alle Mitglieder ohne Ausnahme für die verdorbensten Menschen und gab Listen herum, auf denen das Personale des Ordens, mit vielen falschen Angaben untermengt, aufgezeichnet war, ebendieselben Listen, welche einige Exjesuiten in Augsburg durch den Ratskonsulenten Fleiner und den Kaufmann Baciochi, um allerlei ihnen mißfällige Leute in bösen Ruf zu bringen, verbreitet hatten. Meines Freundes und mein Name standen zum Glücke nicht darauf. Aber Beda gab Winke, daß noch lange nicht alle geheimen Missetäter entdeckt und aufgezeichnet, und daß die verstecktesten wahrscheinlich die schlimmsten wären. –

Meistens verschloß ich mich zu selbiger Zeit in meine Zelle und studierte, was mich eben anzog. So schrieb ich in der Absicht, um mich zum Lehrer der Philosophie vorzubereiten, als ein Prolegomenon die Geschichte der Philosophie, die ich aus allen dazu tauglichen Büchern, so gut ich's verstand, zusammentrug. Ein andermal kompendierte ich Lavaters physiognomische Fragmente, kleckste einige charakteristische Zeichnungen daraus mit Tusche nach, so gut ich konnte, und untersuchte, ob denn die Physiognomik wirklich zu einer Wissenschaft zu erheben sein möchte. Aber nirgends fand ich haltbaren Grund, überall mehr Ausnahmen als Regeln und jede Regel unmittelbar aus Empfindungen abgeleitet und unmittelbar wieder auf Empfindungen zurückgeführt, die doch ebensoviel Verschiedenheit und hiermit ebensoviel Schwankendes notwendig haben müssen, als die Charaktere des Beobachters und des Beurteilten zusammengenommen.

Mit mehr Befriedigung las ich Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Kants Kritik der reinen Vernunft fing ich auch zu studieren an, ermüdete aber auf halbem Wege und sah mich durch wichtige Ereignisse abgehalten, dies Studium, so bald wie ich wünschte, fortzusetzen. Meine Stimmung war damals überhaupt nicht die heiterste. Zwei wichtige Todesfälle machten sie noch düsterer. Im Anfange des Jahres 1784 starb mein Bruder Hans Michel, Kantor zu Höchstädt: ein herumziehender Quacksalber hatte ihm die Gliedersucht in die Eingeweide gejagt, er schwoll stark auf und starb voll Seelenruhe in den Armen meiner Mutter, die ihn treulich bewachte. Er hatte mich noch zu sehen verlangt, aber ich kam erst, da er schon ausgeatmet hatte. Lange schwebte mir sein Angesicht, das mir auch im Tode noch zu lächeln schien, lebhaft vor Augen. Die Kälte war überaus strenge, ich besaß die nötigen Kleider nicht, um mich auf der Reise gegen dieselbe zu verwahren, und nachts legte mich der Gastwirt, bei dem ich logierte, in ein eiskaltes Bett. Eine so schneidende Kolik begann in meinen Eingeweiden zu wüten, daß ich glaubte, man würde am künftigen Tage meinen Bruder und mich miteinander zu Grabe tragen. Endlich verlor sich der Schmerz, ich stand gesund auf und ging zu allen Ratsherren, um sie zu bitten, daß der Witwe meines Bruders der Dienst gelassen würde. Wirklich wurde meiner Schwägerin ihr Wunsch gewährt mit dem Auftrage, einen geschickten jungen Mann zu suchen, der dem Kantor- und Schuldienste vorstehen könnte.

Im nächstfolgenden Winter starb meine liebe Mutter, ich hatte sie einmal auf ihrem Krankenlager besucht und hoffte immer, sie würde wieder genesen. Bald ließ sie mich von neuem rufen, der Bote meinte, es stünde eben nicht so gefährlich, da zögerte ich einen Tag lang und versäumte darüber ihren letzten Segen. Als ich ankam, war sie schon verschieden. Ich ließ sie auf eine anständige Art zur Erde bestatten und folgte ihrem Leichnam mit Tränen bis zum Grabe. Mein Vater war nicht zu trösten. Er fühlte innigst, wie viel er mit ihr verloren hatte. Mein Bruder Franz Joseph war in die Fremde gewandert und nun wohnte er, mit seinem Kummer allein, im verlassenen Häuschen. Lange währte es, bis er sich in seine Lage fügen lernte. Aber Dank meiner braven Schwägerin und allen den guten Seelen, die seine Leiden so teilnehmend milderten!

So traurig bereits meine Stimmung war, so sollte sie doch noch trauriger werden. Minchens und meines Freundes Liebe wirkten immer noch wie Balsam auf mein Herz. Oft saß ich an seiner Seite mit einem guten Fernrohr im Armario philosophico, dessen Besorgung mir der Prälat übertragen hatte, und weidete mich am Anblicke des lieblichen Weibes, das in einem nicht sehr entfernten Baumgarten saß. Dahin führte Minchen ihr Mann, Malchen aber ihr Vater absichtlich auch deswegen öfters, damit sie uns zuwinken und zutrinken könnten. Zuweilen, wenn die Abendsonne Minchens liebliches Antlitz mit blendendem Lichte beschien, hätte ich hinschweben und die Äste des Baumes, unter dem sie saß, zur Schattenlaube flechten mögen, um die schönen Augen der Holden vor den beschwerlichen Strahlen zu schützen. Aber auch diese Freude sollte gestört werden.

Ein junger Mönch wohnte, weil er allerlei Sachen zu besorgen hatte, außer der Klausur. Ich kannte ihn von Jugend auf und wußte wohl, daß er bei dem Prälaten viel galt. Manches junge Weibchen wallfahrte auch gern zu ihm, denn seine Gesichtsbildung war hübsch, und nur der Eintritt in die Zellen innerhalb der Klausur ist dem Frauenzimmer verwehrt; ich selbst traf einigemal eine gewisse Frau, die nicht im besten Rufe stand, auf seinem Wohnzimmerchen an. Der Knabe, den Minchen erheiratet hatte, war indessen so groß gewachsen, daß man ihn zur Schule schicken mußte. Minchens Mann lernte also den Pater kennen, der ihn bei jedem Wiedersehen sehr schmeichelhaft empfing. Das alles kümmerte mich wenig. Aber einmal sagte mir der Pater Küchenmeister: »Bonifacius! heute hättest du bei mir frühstücken sollen! Weißt du, wer da war?« Dann erzählte er mir, er habe morgens den Pater – besucht, Minchen dort angetroffen und zum Frühstück eingeladen. Wenn eine Pulvertonne vor mir zerplatzt wäre, hätte ich wohl nicht mehr erschrecken können. Unmöglich war's, meine Verwirrung ganz zu verbergen. Es war Winter, die Stunde des Besuches, sieben Uhr morgens, fiel in die Zeit vor Tagesanbruch; Minchen hatte sich in der Dunkelheit zu dem Mönche geschlichen. Die Eifersucht erwachte in mir mit voller Mut und malte mir die häßlichsten Szenen vor. »Unglücklicher!« sagte ich zu mir selbst, »du dachtest einen Engel zu lieben und liebtest nur ein gemeines, ach vielleicht ein niederträchtiges Weib!« Wie herausgerissen war auf einmal alle Hochachtung für Minchen aus meinem Herzen, mein Herz schien mir zerrissen zu sein. Wie unsinnig warf ich mich auf mein Bett, konnte nur wimmern und mit den Zähnen knirschen, keine Träne floß. »Verwünscht sei aller Glaube an weibliche Tugend! Die mir die Edelste ihres Geschlechtes schien, ist nur eine Buhlerin, o wehe mir! – o ich Tor, ich konnte sie anbeten, hätte mein Leben für sie aufgeopfert und hielt diese Schönheit, die nur den Wollüstling leichter anzulocken dient, für den Abglanz einer edlen Seele. Ach! wie schmerzlich finde ich mich betrogen. Meine besten Gedanken, meine süßesten Gefühle sind zur unausstehlichen Qual geworden! O, daß ich vergehen könnte!« Auf diese Weise klagte ich, sprang auf, lief wild die Zelle auf und ab und endlich zu meinem Freunde. Kaum vermochte ich ihm meinen Jammer zu stammeln. Außer mir riß ich Minchens Silhouette, die ich, in ein schönes Rähmchen gefaßt, immer an meinem Busen trug, aus den Kleidern hervor, zerknickte sie zu Splittern und warf sie rasend von mir. Zwar tat es mir im Herzen wehe, als ich sie zerstörte, aber ich wußte mich nimmer zu fassen. Meines Freundes Erinnerungen, daß Minchen doch noch unschuldig sein könnte, halfen nichts, immer rief eine laute Stimme aus meinem Innern hervor: sie hat sich im Dunkel zum wollüstigen Mönche geschlichen! Kein Trostgedanke haftete in meiner Seele. Lange währte es, bis sich mein Schmerz in Tränen ergoß. Nur zu reichlich flossen sie dann. Und ich bedauerte Minchen als einen gefallenen Engel. Mein Freund wandte alles an, mich zu trösten. Dennoch mußte er gestehen, Minchen sei nicht nur einmal, sondern schon öfters bei dem Mönche gewesen; er selbst habe sie einst zu ebenderselben Stunde hineingehen sehen. Erst nach einigen Tagen faßte ich mich insofern, daß ich einen Brief an Minchen zu schreiben imstande war. Unter anderm saß mir auch die Besorgnis im Herzen, Minchen könnte meine Briefe dem Pater verraten. Sie enthielten zwar nichts, worüber ich mich vor edlen Menschen hätte schämen müssen, aber unter Mönchen wären sie zahllosen Mißdeutungen ausgesetzt gewesen. Ich schrieb also: »Sie würde sich noch erinnern, daß wir auf den Fall, wenn unser gutes Vernehmen jemals gestört werden sollte, einander versprochen hätten, die gewechselten Briefe zurückzugeben; ich bäte sie also, mir die meinigen zu senden, die ihrigen würde sie in beiliegendem Päckchen finden. Seitdem ich wüßte, daß sie das Zimmer eines gewissen Mönches besuchte, hätte mir diese Maßregel unumgänglich nötig geschienen.« Zugleich ersuchte ich meinen Freund, er möchte durch seine mündliche Verwendung die Sache so leiten, daß ich alle meine Schriften wieder zu meinen Händen erhielte. Minchen weigerte sich lange, die Briefe herauszugeben, schickte sie aber doch am Ende auf dringendes Anhalten meines Freundes, samt ihren eigenen Briefen an mich, wieder zurück mit einem beiliegenden Schreiben, in welchem sie sagte: »Sie wisse nicht, was ihr meine Zuneigung so plötzlich entzogen habe. Zu dem Pater sei sie gegangen, um ihren Sohn zu empfehlen, und ihr Mann habe es so gewollt. Ihre Briefe verlange sie nicht zurück, sie hoffe, dieselben seien in meinen Händen, auch wenn sie meine Freundschaft verloren hätte, dennoch wohl verwahrt.« Von neuem brach ich in Klagen und Tränen aus, als ich diesen Brief erhielt, denn ich fühlte es, wie sehr es Minchen schmerzen würde, wenn ich ihr unrecht täte. Aber die fatale Stimme rief noch immer in meinem Innern: »Sie hat sich im Dunkel zum wollüstigen Mönche geschlichen!« Alles war mir von nun an zum Ekel; wohin ich immer sah, erinnerte mich etwas an Minchen, und Minchen war nun mein schmerzlichster Gedanke geworden, so wie sie vorher mein süßester war. Die klösterlichen Übungen dünkten mich doppelt abgeschmackt, die kleinsten Widerwärtigkeiten drangen tiefer in mein wundes Herz. Ich zehrte ab und fand keine Ruhe mehr an der Stelle, wo ich so viel von Minchen phantasiert hatte, in der Stadt, wo sie wohnte, in einem Stande, den ich ohnehin für den unnatürlichsten von allen hielt. Auf einmal stand der Gedanke in meiner Seele: »Du mußt fort von hier, wenn du nicht ganz verderben willst!« Und ich fühlte, daß ich fort müßte und beschloß zu gehen.

Aber wie gehen? wohin? wovon leben? Das waren nun die großen Fragen. Wollte ich in Augsburg beim geistlichen Rate auf dem Wege Rechtens vom Ordensstande losgezählt werden, so hatte ich vor allem eine gute Summe Geldes nötig, um Gebühren, Gönner und hilfreiche Federn zu bezahlen; dies mangelte mir ganz. Dann mußte ich ein förmliches Zeugnis von meinem Vater aufweisen können, daß er mich unter schweren Drohungen ins Kloster gezwungen habe, und wie hätte ich dieses erhalten sollen? Überdas sollte ich mächtige Fürsprecher gewinnen, die mich im Falle der Loszählung von den Ordensgelübden zu versorgen bereit gewesen wären, und ich kannte niemanden. Aber hätte ich auch Fürsprecher, Geld und Zeugnis gehabt, so wäre es doch zweifelhaft geblieben, ob ich in Augsburg mit der Probe auslangen würde, daß mir bei Ergreifung des Mönchsstandes Gewalt angetan worden sei. Nach dem zu urteilen, was mir bereits von der Strenge bekannt war, mit welcher dergleichen Angelegenheiten daselbst untersucht wurden, durfte ich gar nicht hoffen, durch meine Klagen beim Bischofe etwas andres auszurichten, als daß ich im Kloster als ein mit seiner Obrigkeit offenbar Unzufriedner noch mehr gequält und vom Geistlichen Rate nach vielem vergeblichem Umtriebe zur Ruhe verwiesen werden würde. Den Weg Rechtens konnte ich also nicht betreten und wandte mich zum Wege der List. Lange sann ich hin und her. Im katholischen Deutschland konnte ich mein Unterkommen nicht finden, überall würde man mich, sobald man meinen Namen erfahren hätte, angehalten und wieder in mein Kloster zurückgeliefert haben. Im protestantischen Deutschland glaubte ich nur dann sichern Aufenthalt zu haben, wenn ich mich zu einer Religionsänderung verstehen würde. Dies konnte ich nicht, teils weil mir unter den geduldeten Parteien kein Glaubenssystem bekannt war, das mit dem meinigen harmonierte, teils weil es mich immer schändlich dünkte, den Konvertiten zu spielen, teils weil ich meinem Vater das Herzeleid nicht machen wollte, seinen Sohn als einen Abtrünnigen beweinen zu müssen. Das einzige deutsche Land also, wohin mir die Flucht offen stand, ohne mich zur Religionsänderung bequemen zu müssen, war die Schweiz. Basel, als die größte und volkreichste Stadt darin, voll Betriebsamkeit und Kaufmannsgeist, schien mir der bequemste Ort, mein Unterkommen zu finden.

Aber wie sollte ich dahin reisen? Und wenn ich dort wäre, wie sollte ich mich nähren? Man kann nicht glauben, wie lange und emsig ich hin und her sann, um über diese Fragen ins klare zu kommen; es dauerte länger als ein Vierteljahr, ehe ich darüber mit mir selbst einigermaßen einig ward. Wie ich meinen Unterhalt gewinnen wollte, wußte ich mit aller Anstrengung nicht bestimmt auszumachen. »Aber,« dachte ich, »du kannst die Violine spielen, singst einen leidlichen Tenor, verstehst die Mathematik, kannst in schönen Wissenschaften Unterricht geben und bequemst dich zu allem, was Unterhalt verschafft. Will es sich nicht besser schicken, so wirst du Lehrknabe bei irgendeinem Handwerker, einem Drechsler oder Tischler, oder suchst bei einem Kaufmanne angenommen zu werden. Du kannst nie ganz unglücklich werden, und wo du auch immer bist, wird es besser um dich stehen als hier im Kloster.«

Um reisen zu können, hatte ich Geld, einen Koffer und eine weltliche Kleidung nötig. Wegen des ersten Artikels zerbrach ich mir lange vergebens den Kopf. Endlich fiel es mir ein, meine Bücher, deren ich eine ziemliche Anzahl beisammen hatte, und die mir doch nach der Abreise keine Dienste mehr leisten konnten, dem Prälaten um was immer für einen Preis anzubieten. Ich ging zu ihm und sagte: »Gnädiger Herr! Sie haben mir schon lange Ihr Mißfallen bezeigt, daß ich so viele verbotene Bücher lese. Ich muß es bekennen, Sie hatten nicht ganz unrecht, aber nun wollte ich gern dieselben weggeben, um mir bessere anzuschaffen, wenn ich nur einen Käufer dazu wüßte. Lassen sich Euer Hochwürden und Gnaden erbitten und nehmen Sie mir diese Bücher um die Hälfte des Ladenpreises ab, oder erlauben Sie doch, daß ich sie, so gut ich kann, irgend anderswo an den Mann bringe.«

»Woher diese schnelle Bekehrung?« sagte er lächelnd, »sie scheint mir noch nicht ganz aufrichtig zu sein, sonst würden Sie Ihre verführerischen Scharteken nicht noch andern verkaufen wollen. Eigentlich hätte ich das Recht, dieselben ohne weiteres zu konfiszieren, denn ein Religiose besitzt ohnehin nichts Eigentümliches. Allein ich fürchte, da Sie Ihre geheime Bibliothek so lange verborgen zu halten wußten, so möchten Sie mir die schlimmsten Bücher verleugnen. Ich will mich also dazu verstehen, Ihnen eine Vergütung zu geben, aber bringen Sie mir erst einen Katalog mit beigeschriebenen Preisen, damit ich weiß, was ich kaufe.«

»Gnädiger Herr!« sagte ich und schüttelte bedenklich den Kopf, »vergeben Sie, ich fürchte, Sie wollen nur erst den Katalog haben, um mir dann die Bücher, ohne an eine Bezahlung zu denken, vollzählig abnehmen zu können. Aber – ich schreibe keinen Katalog, solange Sie nicht ausdrücklich versprechen, die Hälfte des Preises mir dafür zu bezahlen.«

»Das ist doch eine impertinente Zumutung,« erwiderte er etwas ernster, »wollen Sie mir nicht gar ein Handgelübde abfordern? Ich meine, Sie könnten zufrieden sein, daß ich Ihnen Vergütung versprach. Erst muß ich doch sehen, was die Bücher wert sind! Bringen Sie mir das Verzeichnis davon.« »Nun – ich wag' es,« sprach ich, »im Vertrauen auf Ihr Wort, das Verzeichnis redlich und vollständig abzufassen.«

Bald brachte ich es in die Abtei mit beigeschriebenem Ladenpreise. Aufmerksam durchlief der Prälat alle Titel. Die Namen Rousseau, Voltaire, Steinbart und andre stachen ihm sehr in die Augen, seine Mienen und noch mehr seine Fragen belehrten mich, daß er begierig sei, die aufgezeichneten verbotenen Bücher in die Hände zu bekommen, worauf mein ganzes Plänchen gebaut war. Ich hatte die Vorsicht gebraucht, nur die besten aufzuschreiben, mit wenigen mittelmäßigen untermengt, damit ihm die Lust zum Ankaufe nicht vergehen möchte. Ganz richtig vermutete ich, daß er längst dergleichen Schriften gern gelesen hätte, wenn sie ihm, ohne daß es Aufsehen erregen konnte, in die Hände gefallen wären.

»Wenn die Bücher gut konditioniert sind,« sprach er, »so will ich Ihnen die Hälfte bezahlen, aber ich muß doch vorher wissen, wie die Bände aussehen. Bringen Sie mir dieselben, ohne jemandem etwas zu sagen, nach und nach in die Abtei.«

Noch immer wußte ich nicht, woran ich eigentlich wäre. Aber ich dachte, ich müßte die Bücher doch größtenteils zurücklassen; würde sie nun der Prälat unbezahlt behalten, so verlöre ich nur den Wert derjenigen, die ich unter der Hand an andre hätte verkaufen können, würde er sie aber bezahlen, so gewönne ich eine ziemliche Summe. Also brachte ich eine Tracht nach der andern in die Abtei, stellte sie auf einem Nebentische in Reihen und erwartete geduldig die Bezahlung. Lesegierig durchblätterte der Prälat eine Weile Rousseaus Werke, zählte mir dann etwa vier neue Louisd'or auf den Tisch und entließ mich mit der Ermahnung, das Geld an bessre Bücher zu wenden. Im Priorate hatte ich etwa 15 fl. deponiert, diese holte ich ab, um mir einen blauen Reiserock, wie jeder Benediktiner ihn tragen durfte, machen zu lassen, wogegen der Prior nichts einzuwenden wußte. Durch Feldmessen hatte ich mir vor kurzem auch ein paar Dukaten verdient. Der Verkauf einiger entbehrlicher Geräte aus meiner Zelle brachte etwa zehn Gulden ein. P. Cölestin hatte die Erzbruderschaftskasse des heil. Rosenkranzes zu verwalten. Ich bat ihn, mir aus derselben 7 fl. vorzustrecken; den P. Maurus, der eine andre kleine Kasse zu verwalten hatte, ersuchte ich um 8 fl., und beide liehen mir, was ich verlangte. Mit Beschämung gesteh' ich diese letzten beiden Posten. Meine ganze Barschaft bestand also in etwa 92 fl., wovon ich noch einige Gulden an den Schneider für die Verfertigung eines Reisekleides abgeben und auf andre kleine Bedürfnisse verwenden mußte.

Einen blauen Überrock ließ ich mir verfertigen, ohne jemanden scheuen zu dürfen. Dem Konventdiener kaufte ich einen runden braunen Hut mit weißem Rande ab. Um Beinkleider und eine Weste zu erhalten, rief ich einen jungen muntern Schneider zu mir, den ich wohl kannte, und sagte ihm, daß ich gesinnt wäre, einem meiner Brüder, der genau meine Größe hätte, ein paar Kleidungsstücke machen zu lassen. Da nahm er mir das Maß und brachte die fertigen Kleider bald auf meine Zelle. Zwischen alten zusammengehefteten Mönchskutten verbarg ich sie bis zur Zeit, da ich derselben bedürfen würde. Damit mich fremdes Getränk nicht krank machen möchte, übte ich mich lange Zeit im Wassertrinken und genoß beinahe ein halbes Jahr lang weder Bier noch Wein.

Noch mußte ich einen Koffer haben, deswegen besuchte ich abends nach der Komplet den Kammerdiener. Sein Wohnzimmerchen war hinter dem Gitter, das, mit goldenen Zieraten geschmückt, den offenen Gang vor der Abtei verschließt. Hinter diesem Gitter standen immer einige Reisekoffer aufeinandergetürmt, unter denen auch derjenige war, dessen ich mich bei meiner Versendung nach Eichstädt bedient hatte. Öfters ward der Kammerdiener in die Abtei gerufen, und ich befand mich allein. In einer solchen Zwischenpause zog ich den Koffer, zu dem ich noch den Schlüssel besaß, unter den andern hervor, schleppte ihn geschwind und vorsichtig umherspähend in meine Zelle, verbarg ihn in einem großen Kasten und ging wieder zum Kammerdiener zurück, um mit demselben noch einmal zu zechen.

In diesen Koffer packte ich dann ein Reißzeug von Brander, nebst einem Stangenzirkel von ebendemselben, meine Papiere, einige Bücher und die Hälfte meines Vorrats an Leinenzeug. Die andre Hälfte ließ ich zurück, damit die Mönche, die nicht genau wissen konnten, was ich eigentlich besaß, glauben möchten, alle meine Sachen seien unberührt zurückgeblieben. Diese Meinung zu erregen, lag vorzüglich in meinem Plane; zu welchem Zwecke, wird bald klar werden.

Wenn nun ein Bauer an Beichttagen im Konventgange erschien, so fragte ich ihn, ob er schreiben könnte und neckte ihn solange, bis er mir seine Kunst augenscheinlich zu beweisen bereit war. Einst fand ich nun einen, der sich nicht übel auf das Schreiben verstand, er rühmte sich sogar, er wollte mir alles nachschreiben, was ich ihm vorsagen würde. Das war eben, was ich wünschte; ich diktierte ihm also einen Brief etwa folgenden Inhalts: »Lieber geistlicher Herr Vetter! Mein Sohn ist ein Bader (Chirurg) und ist nun in der Schweiz auf der Wanderung, bald wird er nach Basel kommen und verlangt, ich soll ihm seine Instrumente und Kleider dahin vorausschicken, damit er sie dort, sogleich bei seiner Ankunft, finden möge. Da Sie an einem Orte wohnen, wo ein Postamt ist, so sende ich Ihnen den Koffer und bitte Sie, bei dem Posthalter sich zu erkundigen, wie die Sache anzugehen ist, damit mein Sohn denselben richtig erhält. Verfertigen Sie dann nach Anleitung des Posthalters die Aufschrift dazu!

Ich bin

Ihr ergebenster Vetter Neuleben.

Hafenreith, den.. 1785.«

Auf diesen Brief ließ ich von ebenderselben Hand meine Adresse setzen, siegelte ihn mit einem kaiserlichen Sechskreuzerstücke nach Bauernart zu, beschmutzte sein Äußeres, wie wenn er lange in unreinlichen Taschen herumgezogen worden wäre und öffnete ihn wieder, um ihn zu meiner Absicht zu gebrauchen. Ich ersuchte den Posthalter auf meine Zelle zu kommen. Da ich einem seiner Knaben Unterricht in der Musik erteilte, so erschien er sogleich, las den erdichteten Brief und riet mir, eine ganz einfache Aufschrift an Gottlieb Neuleben in Basel auf den Koffer zu setzen mit dem Anhange: »Bei dem löbl. Postamte aufzubewahren, bis ihn der Eigentümer gegen Revers abholen wird.« Der Revers aber sollte dem Gottlieb sogleich zugeschickt werden, wozu ich mich gern verstand.

Nun erwartete ich nur einen Tag, da der Postwagen durch Donauwörth gehen und der Prälat eben nicht zu Hause sein würde, um den Koffer auf die Post zu schicken. Sobald diese zwei Umstände zusammentrafen, versprach ich einem Klosterdiener, auf dessen Bereitwilligkeit ich mich verlassen konnte, ein gutes Trinkgeld, wenn er morgens, genau um dreiviertel vor sechs Uhr mit einem Schubkarren an der Klosterpforte erscheinen und mich aus dem Meditationszimmer, wie zu einem wichtigen Geschäfte, herausrufen würde. Alle diese Umständchen mußten genau zusammentreffen, wenn das Unternehmen ganz gelingen sollte. Der Koffer mußte an ebendemselben Tage, an dem er auf die Post gegeben ward, abgehen, damit er im Posthaus nicht etwa von einem der Klosterdiener, die oft zum Trinken dahinkamen, als ein dem Kloster gehöriger Koffer erkannt würde. Der Prälat mußte in der Stunde, da der Mann mein Gepäck auf seinem Schubkarren den Berg hinauf führte, abwesend sein, sonst würde er denselben von den nahen Fenstern der Abtei aus erblickt und gefragt haben, was er da führe, welches auf jeden Fall zu gefährlichen Erörterungen Anlaß gegeben hätte. Die Zeit des Transports, ein wenig vor sechs Uhr, mußte sorgfältig beobachtet werden, denn nur in dieser Viertelstunde gingen der Pater Großkellerer, der nahe an der Pforte wohnte, zum Messelesen und der Pförtner, um ihm am Altare zu dienen (ministrieren), in die Kirche und ließen die Pforte unbewacht. Und nur in dieser Viertelstunde waren alle Mönche bereits im Meditationszimmer versammelt und konnten meine Handlungen nicht bemerken.

Bei der Ausführung gelang alles nach Wunsch, bis auf eins. Der Diener kam richtig, ich schlich aus der Meditation weg und schleppte den Koffer mit ihm zur Pforte. Wehe aber! da begegnete uns auf dem Wege P. Augustin, der einen Teil der Meditation verschlafen hatte, ein Zufall, der in der Folge meinem ganzen Schicksal eine andre Wendung gab. »Guten Morgen, Bonifacius!« sagte er verwundert, »was trägst du denn da? Ich glaube gar, du willst in Luthers Land ziehen.« Mir war innerlich bange, aber ich nahm eine lustige Miene an, setzte den Koffer ein wenig nieder und sprach in scherzhaftem Tone: »Wenn du Lust hast, so komm und pack' auch deine Sachen mit ein!« Der Diener lud dann die Bürde auf seinen Karren und fuhr unaufgehalten davon; dem Pater aber zeigte ich Neulebens erdichteten Brief, damit er beruhigt sein möchte. Der Posthalter schickte mir einen Empfangsschein, den ich sorgfältig in meiner Brieftasche verwahrte, und der Koffer gelangte nach Basel vierzehn Tage früher, als ich dort ankam.

Nun bedurfte ich noch einer List, um glücklich zu entkommen. Eben damals las ich in der Jenaischen allg. Literaturzeitung die Rezension der Lebensgeschichte eines Engländers, dessen Name mir entfallen ist. Der Mann wollte die Meinung von sich verbreiten, er lebe nicht mehr, erstach auf der Reise sein Pferd und ließ einige blutige Kleider dabei liegen, so daß jedermann glaubte, er sei beraubt und ermordet worden, indes er unter einem andern Namen sein Glück in der Welt suchte. Auch ich entschloß mich, die Leute glauben zu machen, ich lebe nicht mehr. Dies, hoffte ich, sollte mir den Vorteil gewähren, auf die leichteste Weise unverfolgt zu entfliehen und in was immer für einem Stande unerkannt mein Brot zu gewinnen.

Die Meinung, daß ich tot sei, zu verbreiten, schien mir auf mehrern Wegen tunlich. Eben war P. Corbinian gestorben; er lag manchmal unbewacht im alten Kapitel, und es fiel mir unter anderm ein, seinem Leichnam eine Hand abzuhauen und sie zu meinem Zwecke anzuwenden. Mit ein paar Tauben in der Tasche wäre ich dann in den Wald gegangen, hätte einige blutige Stricke und meine Mönchskleider an einem gangbaren Holzwege von mir geworfen, die Hand dazu gelegt, die Tauben gewürgt und die Kleider nebst dem Rasen umher mit ihrem Blute begossen, so daß jedermann vermutet haben würde, hier wäre ein Mord an mir begangen worden, die Mörder hätten mir eine Hand abgehauen und den entseelten Körper irgendwo im Gebüsche verborgen. Wahrscheinlich wäre von mir dieser Einfall ausgeführt worden, wenn mich das Abschneiden der toten Hand nicht zu gräßlich gedünkt und die Besorgnis übrig gelassen hätte, man möchte durch einen Zufall entdecken, daß dem Leichnam eine Hand fehlte.

Ich entschloß mich also, die Leute glauben zu machen, ich sei, als ich in der Donau badete, ertrunken. Um dies auszuführen, mußte ich einen heitern Tag erwarten, an welchem der Prälat eben verreist sein würde. Denn an einem Regentage geht niemand gern zum Baden und, wäre der Prälat zu Hause gewesen, so hätte mir die Erlaubnis, auszugehen, gar leicht verweigert werden können. Der August 1785 war aber ein sehr nasser Monat, so daß ich lange umsonst auf einen hellen Tag harrte.

Indessen leerte ich mein geheimes Archiv und verbrannte Minchens Briefe samt den meinigen am Herde. Der Koch, ein Günstling und Schmeichler des Prälaten, versuchte, sobald ich nur den Rücken wandte, die halbverbrannten Schriften aus den Flammen zu ziehen, allein ich entriß sie ihm sogleich wieder, warf sie von neuem ins Feuer und ging nicht von der Stelle, bis alles in Asche zerfallen war. Lange hatte ich mich besonnen, ob ich diese Briefe nicht auch in den Koffer packen sollte, denn es schmerzte mich, sie ganz zu vernichten, aber einesteils befürchtete ich, Minchen möchte in eine unangenehme Verlegenheit kommen, wenn mein Koffer, was noch immer möglich schien, mir entrissen werden sollte, teils war mein Herz noch zu wund, als daß ich Minchens Briefe mit Gleichmut hätte betrachten können, und es dünkte mich am besten, alle zu lebhafte Erinnerung an die Innigkeit unsrer Verbindung, mit der jetzt so viel Schmerz in meiner Brust auflebte, sorgfältig zu verhüten.

Ein Apothekergeselle, mit dem ich bekannt war, verschaffte mir einige Gramm Opium, um das ich ihn gebeten hatte. Ich hoffte, es sollte mir gute Dienste tun, wenn ich das Unglück haben würde, wider Vermuten auf meiner Flucht verfolgt und eingeholt zu werden. In diesem Falle würde ich versucht haben, eine Portion davon den Häschern beizubringen, sie schlaftrunken zu machen und, während sie schliefen, zu entwischen.

Auch trug ich so viele Landkarten von Schwaben zusammen, als ich irgendwie finden konnte, und suchte darauf die kürzeste Reiseroute nach Basel mit allen daran liegenden Städten und Dorfschaften ausführlich zu bestimmen.

Um als Reisender bei Brücken und Toren von der Wache nicht angehalten und in Verlegenheit gesetzt zu werden, schrieb ich mir selbst ein Attestat, so wie man es in Klöstern für die Novizen auszufertigen pflegt, welche den Orden wieder verlassen. Ich nannte mich darin Philipp Bernard Benne, einen Studenten aus dem Kanton Schwyz, darum, weil die Anfangsbuchstaben dieses Namens, P. B. B. (Pater Bonifacius Bronner) in all mein Leinenzeug eingenäht waren und also zugleich als Beweis der Wahrheit meiner Angaben im Notfalle dienen konnten. Daß ich aus dem Kanton Schwyz gebürtig sei, ließ ich deshalb einfließen, damit mir der Weg dahin weniger versperrt würde. Als einen aus dem Kloster getretenen Novizen gab ich mich darum aus, weil man im katholischen Deutschland nur einen gewesenen Novizen mit einem solchen abgeschornen Haar, dergleichen ich hatte, zu sehen gewohnt ist, ohne ihn als einen entlaufenen Mönch einzustecken. Das Kloster, in welchem ich das Noviziat verlassen haben sollte, nannte ich geradezu Donauwörth, in der Hoffnung, ich würde längst in der Schweiz sein, wenn man auf die Vermutung käme, daß ich mich nur fälschlich als einen Novizen dieses Klosters angegeben hätte. Der Prälat hatte mir nach Eichstädt eine Carta bianca geschickt, um darauf die Bittschrift um die Priesterweihe an den Bischof von Eichstädt zu schreiben. Weil er besorgte, ich möchte etwa das eine Exemplar unnütz verderben, so legte er auf diesen Fall ein zweites bei. Diese zweite Carta bianca besaß ich noch und schrieb jetzt mein Attestat in bester Form darauf, so daß es niemand für falsch zu erklären imstande war.

Mit diesen Erfordernissen und allerlei andern Kleinigkeiten ausgerüstet, erwartete ich begierig den Tag, da ich mein Vorhaben ausführen und endlich die Fesseln zerbrechen könnte, in denen ich schon so lange trostlos seufzte.


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