Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Teil

Erstes Kapitel

Gespräche

 

Tymme: Ich habe nur einen kleinen Augenblick, Onkel Leonhard, denn ich muß in meine Schule, aber ich wollte doch zuerst bei dir vorbeikommen und dich um Verzeihung bitten, weil ich dein Fest gestern abend gestört habe.

Onkel Leonhard: Gut. Es ist nett von dir, daß du kommst; da ist meine Hand.

T.: Ich hatte zu viel getrunken, wie damals auch, weißt du; es ist mir sehr leid.

O. L.: Das ist es nicht hauptsächlich, obgleich es einem Gentleman verdammt schlecht steht – aber was mich am meisten betrübt, das ist … eh …

T.: Ich weiß es wohl. – Wo ist er jetzt?

O. L.: Auf seinem Kontor.

T.: Dann will ich gleich zu ihm.

O. L.: Ja, thu das, thu das, es wird ihn freuen. – Hör, Tymme, auf der ganzen Welt giebt es nur eins, das imstande wäre, mir meine Freude wieder zu rauben, und das wäre, wenn ihr beide euch nicht lieb hättet.

T.: Doch, doch, ich habe ihn wirklich sehr lieb, du kannst es mir glauben. Schon in der Schulzeit war er mein bester Freund, und ich bewundre ihn noch immer, sowohl seinen Charakter wie seine Tüchtigkeit und alles miteinander; ich bin ja auch dazu gezwungen.

O. L.: Vergiß nicht, welches Leben er gehabt hat. Glaube mir, er hat deine Freundschaft nötiger als du die seinige.

T.: Er – hat meine Freundschaft nötig?

O. L.: So! – das ist nun wieder der Ton, der uns gestern so betrübte.

T.: Da habe ich doch nicht ein einziges bittres Wort gerade gegen ihn gesagt; dessen kann ich mich gut entsinnen. Es handelte sich nur um mich allein.

O. L.: Nur um dich allein. Ja, siehst du – aber es ist etwas – etwas – eh – Gemeines an so etwas, Kerl. Werde nun nicht böse, aber Gott straf mich, es ist so. Wenn ein Mensch einen Kummer hat, ich meine von dieser Art – du verstehst mich –, sodaß er recht in sich geht und etwas zu – zu – bereuen hat, oder daß er, kurz gesagt, nicht so ist, wie er sein sollte, oder daß es ihm nicht gelingt, oder auch einen Herzenskummer, oder was es nun sein mag, ja, ich kann mich vielleicht nicht so recht ausdrücken – aber weißt du, was er dann thut, nein, was er dann nicht thut?

Tymme schweigt.

O. L.: … er schwatzt es bei meiner Seele nicht aus, er stellt sich nicht hin und heult über sich selbst … das … das ist unmännlich, es ist gemein, es schickt sich nicht. – Mon Dieu, ich bin nicht so begabt wie Christian, mein Kopf ist nur mittelmäßig, gerade wie Erikas und der der meisten unsrer Familie – Mutter ausgenommen –, ungefähr wie der deinige, mein Junge, oder kaum so gut. Aber dafür liegt mir etwas im Blut, ich weiß nämlich bis aufs Tüpfelchen genau, was sich für einen Gentleman ziemt – nun, und als solcher habe ich verschiednes auszusetzen – – zum Teufel, Junge, du bist ja noch jung, denk an die Zukunft, werde ein fleißiger Landmann …!

*

Schuldirektor Blom: Hm. Ich habe Sie zu mir beschieden, Herr Lemvig. In Wahrheit – aber, bitte, setzen Sie sich –

Tymme: Danke.

B.: O ich bitte. Es war hauptsächlich wegen Ihres Honorars, daß ich mit Ihnen … Ihr Honorar beträgt …? (Blättert in seinem Ausgabebuch.)

T.: Fünfzig Öre die Stunde.

B. (findet es im Buch): Ganz richtig, hier. – Fünfzig Öre, das wurde für den Anfang festgesetzt. Hauptsächlich darüber wollte ich mit Ihnen reden.

T. (glaubt, es handle sich um eine Erhöhung): Ich danke Ihnen.

B. (macht eine kauende Bewegung): Bitte, bitte!

Kurze Pause.

B.: In Wahrheit, Herr Lemvig, sind Sie zufrieden mit Ihrem Honorar?

T.: Ach –

B. (rasch): denn wenn Sie es nicht sein sollten, so –

Pause.

B.: Ich habe nämlich ein Anerbieten von einer andern Seite – von einem Fachmann in der Geographie und der Geschichte – dieser ist um dasselbe Honorar bereit … Ein Fachmann, Herr Lemvig.

T.: Ein Fachmann? Für fünfzig Öre?

B.: Die Zeiten, die Zeiten, Herr Lemvig; meinen Sie vielleicht, wir Direktoren würden die Zeiten nicht auch spüren? Niemand wäre lieber bereit, hohe Besoldungen zu geben, als wir Direktoren, aber –

T.: Ich verlange ja gar nicht mehr als fünfzig Öre, Herr Blom.

B.: Hm. Sie sind kaum Fachmann, Herr Lemvig.

T.: Ich habe aber doch studiert, bin Cand. phil. Wer ist denn der andre?

B. (mit einem würdigen Lächeln): Das gehört nicht hierher, Herr Lemvig.

Pause.

T. (der rot geworden ist): Sind Sie unzufrieden mit mir, Herr Blom?

B.: Hm. Sie sind in der dänischen Geschichte kaum genau orientiert. Die Jungen sagen, daß Sie das Buch zu Hilfe nehmen – ja – die Jungen, Herr Lemvig, sind feine Beobachter! Kürzlich kam es vor, daß Sie Harald Heins Jahreszahl nicht bereit hatten – ja – die Jungen merkten es.

T.: Aber das war doch eine durchaus gleichgiltige Bagatelle.

B.: Gleichgiltig? Ein Fürst wie Harald Hein! – Danach fürchte ich, daß wir – ja das muß ich sagen – Harald Hein!

T. (nach einer Pause, gezwungen): Sie werden mir doch wenigstens erlauben, bis zum März zu bleiben. Ich bin sonst ganz ohne Erwerb.

B. (lacht und klopft ihm auf die Schulter): Ach, wenn man so reiche Verwandte hat wie Sie! – Ihr Nachfolger kann jeden Tag eintreten, zum Beispiel am Schluß des Monats.

T.: Sie sind rücksichtsvoll.

B. (macht eine kauende Bewegung): Keine Ursache.

Als Tymme eine rasche Bewegung macht, um zu gehn, hält ihn Blom mit einer vorbeugenden Handbewegung zurück und sagt mit veränderter Stimme, die Offenherzigkeit ausdrücken möchte, so wie sie von oben nach unten gezeigt wird:

Noch einen Augenblick, Herr Lemvig. Ich möchte nicht von Ihnen mißverstanden werden. Gewissermaßen schätze ich Ihren Unterricht, er ist nicht ohne Leben; hm – ein gewisser poetischer Schwung – er ahmt ihn mit der Hand nach –, den die Jungen gern haben, und mit einer genauerm Vorbereitung daheim würden Sie mit der Zeit – in Wahrheit, es streitet gegen meine Gefühle, einen Lehrer wegzuschicken, wenn er ohne Erwerb ist.

T. (schwankt): Nun, was soll ich also?

B.: … aber das Honorar muß sich natürlich nach der Fähigkeit richten. Ich biete Ihnen vierzig Öre.

Tymmes zurückgedrängte Bitterkeit bricht sich plötzlich Bahn. Er tritt auf Blom zu und sagt erregt:

Sie sind ein gemeiner Mensch, ein richtig hinterlistiger und gemeiner Charakter … Hierauf faßt er sich und fügt hinzu: Sie können meinen Nachfolger kommen lassen, sobald Sie es wünschen. Leben Sie wohl.

*

So saugten wir eben an den Pfoten bis zum März, murmelt Tymme mit einem gewissen Galgenhumor vor sich hin.

Und von da an dachte er nur noch an den März und an Rosgaard.

Zweites Kapitel

Tymme fängt das Dichten wieder an

 

Oberst Güllich war nicht der Mann, der seine Pläne und Wünsche lange geheim hielt. Seine Absicht, Christian mit Ingeborg zu verheiraten, war darum kein Geheimnis für seine Verwandten – doch schwieg er Christian gegenüber noch davon –, und eines Tages platzte er auch bei Tymme damit heraus.

Natürlich, sagte dieser.

Ja, nicht wahr? antwortete der Oberst erfreut.

Das fehlte also nur noch, dachte Tymme, während ein neues und auffallend bitteres Gefühl in ihm aufstieg. Ja natürlich, nun reist er im Sommer zu ihnen hinüber, und dann verlieben sie sich natürlich alle in ihn, Ingeborg am meisten. Und wer bin ich, daß ich daran denken sollte …

Und nun zum erstenmal ward es ihm klar, daß er, Tymme, Ingeborg liebte.

Wie kam es nur, daß ihm das nicht schon früher klar geworden war?

Nicht eher, als gerade jetzt, wo die Hoffnungslosigkeit ins Auge fiel? Noch nie war er ihrer würdig gewesen, aber jetzt, im Vergleich mit einem solchen Nebenbuhler – er selbst ein erfolgloser, fauler, unfähiger – und Tymme legte sich selbst eine Reihe unangenehmer Eigenschaftswörter bei und malte sich seine beklagenswerte Stellung aus.

Die Bitterkeit wurde zur Stimmung, und Stimmung ist süß. Diese lyrisch angelegten Menschen, denen die Welt den Zutritt zu ihrer Tafel verweigert, haben dafür eine besondre Gabe, ihre eignen bittern Stimmungen zu genießen, im Bedauern mit sich selbst zu schwelgen; sogar das Gefühl der Reue wird zu einer Art Würze.

So will ich denn diese Liebe in meiner Brust begraben; niemals soll sie ahnen – und wenn sie dann in kurzer Zeit miteinander verbunden werden – dann will ich mit lächelndem Gesicht, aber mit Verzweiflung im Herzen der erste sein, der ihnen Glück wünscht …

Ja. diese Bitterkeit ist süß.

Sie wird zu Versen in Tymmes Seele und zu einem starken Drang, sie mit dem Auge zu sehen, sie mit dem Ohr zu hören.

Zu derselben Zeit fiel ihm ein kleines Buch in die Hand, einige der russischen Volkslieder, die mit einer so eigentümlichen und feinen Stimmung von Thor Lange ins Dänische übertragen worden sind.

»Ach du Birkenbaum, weißer Birkenbaum, – Ach wie schwer ists auf ödem Feld zu stehn, – Nach dem grünen Wald immer nur zu schaun, – Nach dem grünen Wald, den du nie erreichst!

»Keine Sterne stehn überm Felde dort, – Doch ein Feuer brennt drüben auf dem Felde, – Ein Kosake jung an dem Feuer liegt –«

Eines Tages schloß sich Tymme in sein Zimmer ein und dichtete. Dichtete ohne einen Gedanken an ein Publikum, nicht um es herauszugeben – sondern nur um sich den Rhythmen, dem wehmütigen und weichen Wellenschläge seiner Verse hinzugeben.

Der junge Dimitri

Durch die Steppe wie ein Vogel saust der Wind,
Schlägt mit seinen Schwingen, heiser tönt sein Schrei,
Findet niemals Ruhe, niemals hält er Rast,
Aus der Wüste kommt er, flieht zur Wüste hin.

Aus dem Lager Männer, Weiber ziehn vereint zur Richtstatt hin,
Um der Väter Eiche sammeln sich des Stammes Ältste still,
Die die Reife jetzt errungen, sie zu prüfen gilt es heut,
Ob sie eines Kriegers Namen, feiner Waffen würdig sind.
Wer schon Tapfres hat verrichtet, Mannesthat zum Stammeswohl,
Der erhält des Stammes Zeichen, Kriegers Namen, Kriegerrecht.
Und er krümmt die schlanken Glieder, schießt zum Himmel einen Pfeil,
Eia, ruft er, eia, eia, Männer, Weiber jubeln drein.
Wer zu rühmen sich nicht wußte, aus der Reihe tritt er stumm.
Sinnt auf Thaten doch im stolzen Herzen schon für künftges Jahr.

Dimitri, mein Freund,
Junger Dimitri!
Der zum drittenmal
Steht zur Prüfung hier,
Mann seit Jahren schon,
Doch an Ehren Kind!

Sag, wie viele schlugst
Feinde du im Streit?
Wieviel fingst du ein?
Wieviel Beute auch?
Wieviel Männer hast
Du vom Feind befreit?

Keinen, keinen, alter Häuptling, flüstert Dimitri und schweigt.
Schweigend stehn die Männer, Weiber halten still den Blick gesenkt.

Dimitri, mein Freund,
Junger Dimitri!
Gabst du klugen Rat?
War es gut, dein Wort?
Führtest du zum Sieg,
Schufst dem Stamm du Heil?

Dimitri zuckt mit der Wimper. Niemals, flüstert er und schweigt.
Schweigend stehn die Männer, Weiber, keiner hebt die Augen auf.

Fandest du im Sand
Eine Quelle kühl?
Hast du einen Baum
An den Weg gepflanzt?
Und dem Hungrigen,
Gabst du ihm dein Brot?
Kleider einem Kind?
Einem Kranken Rast?
Oder ließest du
In der dunkeln Nacht
Hell die Fackel glühn
Auf die Steppe hin
Dem verirrten Gast,
Daß er heim sich fand?

Dimitri, mein Freund,
Junger Dimitri,
Mann an Jahren schon,
Hast du nichts gethan?

Dimitri an allen Gliedern zittert wie in Fieberglut,
Sieht sich furchtsam um im Kreise. Gar nichts, flüstert er und schweigt.
Doch da funkelt ihm entgegen Zornesblick von Mann und Weib.
Hundertfältger Ruf wie Donner übers Lager hallt er hin,
Und zum letztenmal der alte Häuptling spricht zu Dimitri:

Junger Dimitri,
Das Gesetz du kennst:
Der, der hier geprüft wird
Und zum drittenmal
Ruhmlos ein sich stellt,
Als wertlose Memme
Nicht mehr brechen darf
Er sein Brot bei uns.
Und kein Trunk wird ihm.
Nutzlos soll er ferner
Nicht mehr leben hier!
Dimitri, so heißt du,
Junger Dimitri –
Tot sei dieser Name,
Niemand nenn ihn mehr!

Er zerbricht Dimitris Bogen, leert des Köchers Pfeile aus,
Wie wenn Wasser er vergösse, und den starken schlanken Speer
Stößt er in den weichen Rasen wie in eines Mannes Herz.
Und des Lagers junge Leute holen rasch ein wildes Roß,
Ihm auf seinen Rücken binden Dimitri sie rücklings fest,
Jagen dann das Pferd vom Lager, stoßen es mit Pfeil und Speer,
Höhnen hinter ihm und schreien – wild es durch die Steppe flieht.
Hui – wie fährt der Wind dort durch die Steppe hin!
Schneller als ein Renner, als Dimitris Roß;
Findet niemals Ruhe, niemals hält er Rast,
Aus der Wüste kommt er, flieht zur Wüste hin.

Drittes Kapitel

Tymme wird ertappt

 

Tymme lernt nun die Landwirtschaft auf Rosgaard. Seit dem März arbeitet er wie ein gewöhnlicher Knecht auf dem Hofe. Er hat den Stall und das Vieh besorgt, das Pferdegeschirr und das Anspannen studiert, die Pferde zur Tränke geritten, ist hinter dem Pflug hergegangen und hat den Säemann begleitet. Nun ist man mitten in der Heuernte. Er ißt mit dem Gesinde und arbeitet den ganzen Tag mit diesem; am Abend aber wäscht er sich den Staub und den Schmutz ab und zieht ordentliche Kleider an, dann speist er mit der Herrschaft und ist nun in den Verwandten und Gast umgewandelt. Diese ganze Lebensweise betrachtet er als einen guten und fröhlichen Sport. Die Arbeit, der Schweiß, die Müdigkeit, der Verkehr mit dem Gesinde – alles wird zu Stimmung, gerade wie in seiner Soldatenzeit.

Der Verwalter, sein nächster Vorgesetzter, ist indes doch bedenklich:

Es geht so nicht auf die Dauer, sagt er. – Warum denn nicht, lieber Hermansen? fragt Tante Eline. – Das will ich der Frau Jägermeisterin gleich sagen, weil er es nämlich auf die Dauer nicht aushält. – Wollen Sie damit sagen, daß seine Kräfte …? – Ach nein, denn er wird ja mit jedem Tage kräftiger. – Ist es dann das Handgeschick? – Auch darüber kann ich nicht klagen, es gehört bei Gott auch nicht viel Handgeschick zu so etwas, wie den Mist wenden, um Vergebung, gnädige Frau, aber wir gebrauchen diesen Ausdruck sachmäßig unter uns. – Merken Sie denn weniger Interesse bei ihm? – Ach nein, er hat nur zu viel davon, das ist gerade das Unglück. – Aber das verstehe ich wirklich nicht, Hermansen. – Doch, denn er thut es nämlich nicht als Arbeit, sondern zu seinem Pläsir; es ist gerade wie bei den Studenten, die ihre Wehrpflicht abdienen. – Ja, aber wenn … – Gott segne Sie, Frau Jägermeisterin, aber ich bin selbst Soldat gewesen und bin Unteroffizier geworden. Aber glauben Sie mir, als ich den jungen Herrn im vorigen Jahr in der Uniform sah und ihn erzählen hörte, wie »famos fidel« das sei mit der Landluft und dem Sonnenschein, und all das Geschwätz und Gerede, wie es die Studenten in einem Buch aufschreiben, da sagte ich zu mir: Der wird bei Gott nicht zum Unteroffizier gemacht! Um Vergebung, gnädige Frau, und er wurde es auch nicht.

Frau E.: Nun ja, lieber Hermansen, Nun adieu, ich muß hinein –

H. (setzt sich): Ich will der Frau Jägermeisterin etwas sagen. Wenn von den sogenannten praktischen Berufen die Rede ist, wie beispielsweise von der Landwirtschaft, dann sage ich: Die Studenten sind die Verkehrten dazu, und das ist mein letztes Maximum.

Frau E.: So? Ja, nun muß ich aber doch …

H.: Ich ziehe nämlich in Betracht, daß es zweierlei Arten Studenten giebt, und alle beide sind gleich verkehrt. Sehen Sie, die einen verlieren den Mut und jammern; aus diesen wird gar nichts, das werden Sie begreifen. Die andern aber, das sind die, die zu viel sogenannten Sprit haben, und aus diesen wird auch nichts –

Frau E. will ihn unterbrechen.

H.: Wenn die gnädige Frau nur die Güte haben wollte, den richtigen Landmann ins Auge zu fassen, solche wie mich und meinesgleichen, dann werden Sie in Ihrem ganzen Leben niemals einen von uns sagen hören: Gott, wie das Heu duftet! oder: Es ist doch wirklich herrlich frisch am frühen Morgen! oder: Nein, wie ist die Aussicht von hier aus unvergleichlich! denn wenn ich die Sorte Flausen höre, dann sage ich: Du bist ein Student, mein Freund.

Als Tante Eline Hermansens Betrachtungen später ihrem Manne mitteilte, sagte dieser – nach dem gewohnten Lachen, in das er immer über die Rhetorik seines Verwalters ausbrach:

Hermansen hat trotzdem nicht so Unrecht. Der Bursche hat zu spät damit angefangen, der Landmann steckt ihm nicht im Blut, wie wohlgemut er jetzt auch mit angreift. Hermansen hat Recht.

Aber was soll der arme Junge denn dann werden?

Ja, da liegt der Hund begraben. Zu allem, was mit dem Kopf gethan werden muß, ist er zu faul, das hat er ja gezeigt. Zu dem aber, was mit den Fäusten geschafft werden muß, dazu ist er trotz allem zu fein; elende Erziehung das.

Es kommt mir aber nicht vor, als halte er sich jetzt hier für irgend etwas zu fein.

Das ist schon wahr, aber … aber … Hermansen hat doch Recht.

Dann wäre ja noch, sagt Tante Eline zögernd, der Weg des Dichters offen.

Dichter …?

Ja, er dichtet in seiner freien Zeit, und Ingeborg hat einiges davon gelesen, worüber sie ganz begeistert ist.

Das wäre schon recht, aber hat er etwas von dem gelernt, was man dazu braucht?

Gelernt? Bei der Poesie kommt es doch nur auf das Herz und das Gefühl an.

O nein, darauf kommt es gerade nicht allein an. Das heißt, es ist ja schon so, gewissermaßen, aber auch dazu gehören heutigestags Kenntnisse.

Aber Ingeborg sagt doch …

Ach, du und Ingeborg, ihr seid alle beide sentimental, das wissen wir ja wohl.

*

Eines Tages kam Hermansen mit ziemlich verdrießlicher Miene zu Onkel Johannes.

Um Vergebung, Herr Jägermeister, aber nun ist es gerade so gegangen, wie ich damals opponiert habe.

Nun, was giebt es denn, Hermansen?

Der Herr Jägermeister weiß, daß ich nicht gerade das bin, was man inhuman nennt, aber bei diesem hier, da ist es geradezu meine Pflicht, einzugreifen.

Heraus damit, Hermansen.

Ja, denn Ihr sehr geehrter Herr Neffe …

Nun? – Onkel Johannes runzelt die Stirn.

Nein, nicht so. Niemand kann sich über ihn beklagen, denn er ist willig und fleißig. Aber …

Aber?

Ja, denn das geht auf die Dauer wahrhaftig nicht. Denken Sie sich, er hat angefangen, es aufzuschreiben.

Es aufzuschreiben?

Ja, und es ging so zu. Schon seit längrer Zeit hatte ich ein sogenanntes Notizbuch, das er immer in der Brusttasche trägt, absolviert. Da komme ich nun über ihn, so ganz plötzlich post festum. Die Leute ruhten vom Heumachen aus, und er hatte sich für sich gelegt. Ich trete hinter einem Heuschober hervor. Was schreiben Sie hier auf, Lemvig, wenn ich so frei sein darf? sage ich. Aber rasch wie ein Miezekätzchen klappt er das Buch zu, und da fallen ein paar Blätter heraus. Er rafft auf, ich raffe auch auf, und da stand er dann vor mir mit einem eben so roten Gesicht wie die Marthe, als ich sie auf dem Heuboden mit dem Knecht Mads in flagrantum, wie man es nennt, überraschte –

Ha ha ha! – und dann?

Ja, dann wollte er sie wieder haben, aber ich meinte ja, als Verwalter des Hofs berechtigt zu sein, in die Schreiberei hineinzugucken, und ich muß gestehn, es wurde mir ganz schwarz vor den Augen, denn es handelte strikte weg von lauter Heu und Gänseblümchen und Sonne und Wolken, und was noch schlimmer ist, von Kindheit und Unschuld und wilden Rosen. – Das sind ja Gedichte, sagte ich, denn ich gebe es zu, ich war wild. – Geben Sie her, denn es gehört mir, sagt er. – Das wird der Jägermeister entscheiden, denn jetzt gehe ich mit dem corpus zu ihm. – Geben Sie es mir, es ist nur ein Entwurf, sagt er. – Nein, das ist es nicht, zum Henker, es ist ein richtiges Gedicht, sage ich; im übrigen ist der Jägermeister nominell der Mann, der aufs Haar hin sagen kann, ob es ein Gedicht ist oder – das andre. – Und bitte, hier ist es.

Onkel Johannes lachte, legte die Blätter ungelesen in einen Umschlag, reichte diesen Hermansen und sagte: Nein, Hermansen, gehn Sie nur wieder zu ihm und geben Sie es ihm hübsch zurück, das ist nichts, was wir ihm nehmen dürfen.

Soll ich ihm denn nicht wenigstens sagen, daß so etwas nicht zum Dienst gehört?

Nein, Sie sollen es ihm nur geben.

Gott bewahre, Herr Jägermeister, ich meine nur, daß dies etwas Neues ist, denn so lange ich die Ehre habe, bei dem Herrn Jägermeister Verwalter zu sein, hat sich noch kein Dichter auf den Hof hereingeschmuggelt.

*

Hör du, sagte Onkel Johannes noch an demselben Abend zu Tymme, als sie allein waren. Wie kannst du es eigentlich leisten, Landmann und auch Dichter auf einmal zu sein?

Dichter darfst du mich nicht nennen, Onkel; ich versuche es nur ab und zu in meiner freien Zeit. Aber du darfst es niemand sagen.

Nein. Aber zieht die Dichterei deine Gedanken nicht von deiner eigentlichen Arbeit ab?

Nein, im Gegenteil, das eine hilft dem andern. Es ist wie bei Leo Tolstoj, weißt du.

Aha, der Russe. Ja, ich verstehe mich ja nicht besonders auf euch gelehrte Leute, aber ich meine, ein gewöhnlicher Mensch kann nur eins auf einmal mit Erfolg treiben.

Viertes Kapitel

Parkuriunk –

 

Das, wobei Hermansen Tymme attrappiert hatte, war keines der kleinen Stimmungsgedichte, die dieser ab und zu während seines Aufenthalts auf Rosgaard zu seinem eignen Trost verfaßt hatte, wobei manchmal Ingeborg seine Vertraute gewesen war; nein, er hatte etwas Großes angefangen – und der Entschluß dazu war eigentlich ganz plötzlich gefaßt worden.

Im Sommer kommt Onkel Leonhard mit dem neuen Vetter, hatte Ingeborg eines Tages gesagt.

Ja, das kann ich mir denken, hatte Tymme erwidert, worauf er sich umgewandt hatte und seiner Wege gegangen war, Ingeborg aber ganz verwundert über diese Aufführung hatte stehn lassen.

Aber bei der Arbeit auf Feld und Hof grübelte Tymme an diesem Tage und am nächsten und am übernächsten wieder nur darüber nach, wovon die große Dichtung handeln und welcher Art sie sein sollte, denn nun wollte er etwas Großes leisten, nun wollte er allen miteinander zeigen, daß auch er etwas sei und etwas könne! Ein großes Gedicht! und es sollte herausgegeben werden und seinen Verfasser berühmt machen.

Am Abend des dritten Tages hatte er schon ein großes Stück des ersten Gesangs fertig, und das, wobei er am Mittag des vierten Tages erwischt worden war, das war schon der Entwurf oder die Kladde zum zweiten Gesang gewesen.

Was ist das Neblige, Große, das durch seine Phantasie wogt, und das bis jetzt weder Umriß noch Kern hat?

Oft ruht Tymmes Harke oder Sense, und Tymme selbst starrt gerade vor sich hin, während Hermansen brummt! und in der Mittagsruhe, wenn die andern schlafen, liegt Tymme hinter dem Heuschober und schreibt, während sich Ingeborg enttäuscht, daß er sie nicht mehr seines Vertrauens würdigt, von ihm fern hält. Bei den Mahlzeiten in der Familie vergißt er manchmal, die Gabel zum Munde zu führen und greift sich dafür an die Stirn, sodaß Tante Eline ihn fragt, ob er Kopfschmerzen habe. Wenn dann endlich die Tagesarbeit gethan ist, und der lange Feierabend kommt, da schließt er sich in sein Zimmer ein, denkt und schreibt, anstatt wie früher mit der Familie zusammen zu sein.

Aber das neblige Große, das durch seine Phantasie wogt, beginnt Umriß anzunehmen und Kern zu erhalten. O Tymme! Ist dein Geist stark genug, in diesem Chaos über den Wassern zu schweben? Wird es auf dein Gebot Licht werden? Kannst du Himmel und Erde, Land und Wasser scheiden, und vermagst du es, dann lebendige Wesen darauf zu setzen und schließlich einen wahren Menschen als ihren Beherrscher?

Es soll ein großer symbolischer Gedichtcyklus werden, episch-lyrisch, die Geschichte des Paradieses in einem Menschenleben wiedergegeben. Unschuld, Sündenfall, Verstoßung; Reue und Sehnsucht!

Gürte deine Lenden, Tymme Styrbjörn Frode Lemvig, zu deiner großen That! Leg dir den Geist des gereiften Mannes zu!

Denn im Sommer kommt der neue Vetter!

*

Wie? Redet ihr von Middelthun, von ihm, dem Norweger? sagt Onkel Johannes. Ein Bildhauer, glaube ich, und ein tüchtiger.

Nein, Vater, wir sprachen von Milton, sagt Ingeborg. Ich habe etwas von ihm gelesen, und da fragte ich Tymme, wann er gelebt habe, denn das habe ich vergessen.

So, Milton, ja, das weiß ich wahrhaftig nicht. Laß hören, Tymme, du bist ja ein studierter Mann. Nun, wann war es?

Der Dichter Milton? antwortete Tymme etwas verlegen. Der große –

Ja, gerade der.

Er – eh – er lebte gewiß im achtzehnten Jahrhundert, glaube ich.

»Gewiß,« wiederholte Onkel Johannes etwas spöttisch.

Ingeborg meinte, es sei früher gewesen, sagte aber nichts. Es that ihr leid, daß sie Tymme in Verlegenheit gebracht hatte.

Nein, sagte Onkel Johannes, der sich niemals in irgend einem Fach mit einer halben Auskunft begnügte, nein, wir wollen im Konversationslexikon nachsehen, ich verlasse mich heutzutage nicht besonders auf die Herren Gelehrten. – Aber zum Henker, wo ist – wer hat es von seinem Platz weggenommen?

Ich, Onkel, sagte Tymme mit einem etwas roten Kopf, ich will sofort – und schnell verließ er das Zimmer.

Ein komischer Kauz, sagte der Onkel und schaute ihm nach.

Tymme mußte nämlich in dieser Zeit das Konversationslexikon so oft zu Rate ziehen, daß er es mit in sein Zimmer genommen und nun vergessen hatte, es wieder an seinen Platz zu stellen.

Die Ursache war, daß er sich bei der Ausarbeitung seines großen Werks von einem Umstand aufgehalten sah, der ihn bei seinen frühern kleinen Gedichten nicht belästigt hatte; er wußte nämlich aller Augenblicke nicht, wie dies oder jenes, das er gerade anwenden wollte, eigentlich hieß, und hier konnte er dann nicht so leicht darum herum und daran vorbeigehn, wie bei den kleinen Gedichten, wo der Gegenstand je nach Belieben geändert werden konnte. Bald war es etwas Historisches, bald etwas aus der Litteraturgeschichte oder etwas Sprachliches – ein griechischer oder lateinischer Ausdruck, der gerade hier so ausgezeichnet gepaßt hätte und ungefähr lautete, wie – ja was war es nur? Und so ging es auf allen Gebieten der Wissenschaft.

Die Orthographie, die Plage seiner Schulzeit, genierte ihn nicht weiter. Alles klein geschrieben, ausgenommen nach einem Punkt; keine stummen e, das übrige ist von gar keiner Bedeutung. Bei manchen Wendungen sah er auch geschwind in einem Wörterbuch nach.

Auch die Versmaße drückten ihn nicht besonders. In der Familienbibliothek gab es lyrische Gedichtsammlungen genug; es fiel ihm leicht, den Rhythmus zu finden, der zu seiner Stimmung paßte; so war also das heilige Grab wohl verwahrt. Sieben bis acht verschiedne Versmaße wären wohl für das ganze Werk genügend, dachte er. Den Hexameter wollte er nicht anwenden, er konnte ihn von seiner Schulzeit her nicht leiden. – Aber da hatte Ingeborg eines Tages bei Tisch erzählt – ganz zufällig war das Gespräch darauf gekommen –, daß ein jüngerer gründlicher Schriftsteller eine Metrik geschrieben habe, worin die Gesetze für alle nur möglichen Versmaße stünden. Das wäre doch vielleicht angenehm, dachte Tymme, und ganz heimlich hatte er sich die »Metrik« aus einer Bibliothek in Odense kommen lassen, hatte dann das Buch ganz durchgelesen und war zu der Überzeugung gekommen, daß es, nach diesem Buch zu urteilen, ganz unmöglich sein müßte, richtige Verse zu schreiben, und da er überdies die Fachausdrücke nicht verstand, war er sehr verdrießlich geworden und hatte das Buch wieder zurückgeschickt.

Hierauf stockte seine Dichtung ein paar Tage, aber dann bekam die Stimmung doch wieder die Oberhand – und dann auch das Bewußtsein, daß der Vetter im Sommer käme. Er schrieb also weiter mit dem festen Entschlusse, niemals in seinem Leben wieder in eine »Metrik« hineinzusehen, denn »es hemme nur den Flug,« schrieb weiter, der Weltgeschichte und dem Lateinischen, der Schriftstellerbildung und der Metrik Trotz bietend, schrieb weiter, indem er sich auf Konversationslexikon und Wörterbuch stützte, von den Rhythmen der Stimmungen getragen, die sich in seiner Seele wiegten.

Fünftes Kapitel

Landwirtschaft und Dichterei nebst anderm

 

Die Flagge weht auf dem Gipfel der himmelhohen Rosgaarder Fahnenstange. Ingeborg, von Diana begleitet, kommt eben von dem Hügel im Garten an der Ecke, die nach der Nyborger Landstraße geht: Da sind sie, Mutter, sagt sie, und darauf begeben sich alle in die Hausflur. Der Hofhund springt aus seiner Hütte heraus, bellt aus vollem Hals und zerrt an seiner Kette. Wagengerassel ertönt. Onkel Johannes tritt aus seinem Kontor – Peitschenknallen. Jens fährt mit dem kleinen Charabanc, worin die zwei erwarteten Gäste sitzen, an der Treppe vor, Hut- und Taschentuchschwenken. »Willkommen aus Rosgaard!«

Da habt ihr ihn, sagt Onkel Leonhard mit einem aus stolzer Erwartung und demütiger Bitte gemischten Ton, etwa so, als ob er auf einmal sagte: Ist er nicht prächtig? und: Seid gut gegen ihn um meinetwillen!

Onkel Johannes hat Christians Hand ergriffen und drückt sie fest und lange. Schweigend und ernst betrachtet er das junge Gesicht, während er immer noch die Hand festhält. Onkel Leonhard beobachtet die beiden ängstlich und mit angehaltnem Atem; aller Augen sind auf sie gerichtet. Da bricht sich ein gutes Lächeln in Onkel Johannes Augen Bahn, und er murmelt: Bei Gott, du sollst mir ein lieber Junge sein, und in demselben Augenblick legt Onkel Leonhard seinen Arm um den Bruder und flüstert: Ich danke dir. – Na na, sagt Onkel Johannes und wischt etwas von seiner wettergebräunten Wange ab, wo Onkel Leonhards Schnurrbart sie berührt hatte. – Ihrer war ich vollständig sicher, liebe Schwägerin, sagt Onkel Leonhard später zu Tante Eline, die sich noch immer die Augen wischt; und deiner auch, meine Prächtige Ingeborg.

Sentimental alle miteinander! sagt Onkel Johannes zu sich; er war auf dem Wege nach dem Keller. Da drunten in der Tiefe der Tiefen hat er nämlich einen alten, sehr alten edeln Rheinwein. Diesen holt er bei sehr feierlichen Gelegenheiten selbst aus der mystischen Finsternis herauf.

Auch Diana hat sich von der Gesellschaft losgemacht; sie läuft Tymme entgegen, der merkwürdig scheu und verlegen über den Hof daherkommt, um seinen Onkel und den Vetter zu begrüßen.

*

Bruchstück eines Briefes von Onkel Johannes an Tante Erika:

… Deine Frage wegen Christians beantworte ich folgendermaßen: Ja, er macht einen ausgezeichneten Eindruck. Ich will nicht von Leonhard reden, der ja immer verdreht ist, aber auch meine beiden Frauenzimmer sind von ihm ebenso eingenommen wie Du. Immerhin muß ich mit meinem einfachen Landmannsverstand sagen – ja, ich kann es nun einmal nicht unterlassen, die beiden zu vergleichen, Tymme nämlich und nun diese neue glänzende Erscheinung! Es kommt mir vor, daß während der eine zu wenig davon bekommen hat, ist dem andern zu viel davon zu teil geworden, und das merkt man! Ich meine, die Zucht von Anfang an, und was dazu gehört. Die kleinen Verhältnisse und der vollständige Mangel an Vergnügen und all das Traurige während seines Heranwachsens, das hat in seinem Wesen Spuren hinterlassen, verstehst Du? Und das wird er erst spät überwinden. Ja, er thut mir leid, aber das sage ich natürlich Leonhard nicht. Auf der andern Seite sind seine Kenntnisse, seine Tüchtigkeit und sein Charakter unübertrefflich, und Energie, die hat er! Es wird etwas aus ihm, aber es kann vielleicht lange dauern, bis er von Herzen froh wird, die Vergangenheit ist zu schwer für ihn gewesen. Aber darüber spreche ich natürlich nicht mit Leonhard …

… Über das andre auch nur ein einziges Wort zu verlieren, würde ich mich schämen, es ist ja der reine Unsinn. Leonhard ist in diesem Stück ganz unzurechnungsfähig, aber wenn Du auch damit kommst, dann sage ich: Bleibt mir vom Leibe! Außerdem kann niemand über die Zukunft bestimmen, laßt die Jungen das allein ausmachen …

*

– Denn der Oberst arbeitet an einem Plan, der in seiner Anlage allzu unverhohlen und in der Ausführung allzu offenherzig betrieben wird, als daß er, so sollte man denken, viel Hoffnung auf Gelingen haben könnte. Gleich am ersten Abend, als Vater und Sohn in ihrem Gastzimmer allein sind, sagt der Oberst: Du, gefällt dir Ingeborg nicht auch ganz ausgezeichnet? Und seither, wohl hundertmal zur Zeit und zur Unzeit, schlägt der Oberst diese Saite an. Christian sagt jedoch nicht viel dazu, aber so ist die menschliche Natur, wenn es etwas auf der Welt gäbe, das ihn davon abhalten könnte, sich in Ingeborg zu verlieben, so wären es diese immerwährenden Winke.

Dann rühmt der Oberst Christian vor dem Bruder und vor der Schwägerin. Er thut es so oft, daß Onkel Johannes schließlich sagt: Du bist verrückt, Leonhard! Und wenn etwas die beiden dazu bringen könnte, Christian weniger lieb zu haben, so würde es des Obersten Handlungsweise sein.

Endlich geht dieser Waghals auch noch zu Ingeborg selbst und rühmt den Vetter mit Begeisterung. – Ja, er ist gewiß sehr gut, sagt Ingeborg, mit einer kleinen Spur von Neckerei. – Gut? antwortet der Onkel aufgebracht. – Ja, das denke ich jedenfalls, fahrt Ingeborg fort. Wenn diese junge Dame necken will, dann kann sie es ausgezeichnet. Aber wenn etwas auf Erden – und so weiter.

– Tymme, der in diesen Tagen nicht zum Dichten aufgelegt ist und auch gerade nichts weiter mit der Heuernte zu thun hat, geht meist allein umher und bleibt für sich; aber nicht die andern sind es, die ihn ausschließen, sondern er selbst scheut die Gesellschaft. Er hat mit Diana einen Bund geschlossen, und wenn er in seiner Einsamkeit den Hund streichelt, dann will seine Liebkosung so diel sagen wie: Du bist die einzige, die mich lieb hat. Und Tymme ist sehr gerührt über sich selbst.

Ingeborg sucht ihn auf und wirft ihm sein verschlossenes Wesen vor. Aber Tymme, der sich für den Helden eines rührenden Romans hält – der unglückliche Liebhaber, der aus lauter Edelmut seine Liebe verbirgt –, Tymme treibt den Edelmut doch nicht so weit, daß er sich der Worte enthielte:

Ach, ihr könnt mich gewiß ausgezeichnet gut entbehren, ihr habt ja den andern! – der andre ist Christian.

Ingeborg: Du bist erbittert über ihn, das ist ungerecht, und es gleicht dir gar nicht. Ich kann auch nicht begreifen, warum.

T.: Ich weiß nichts davon, daß ich erbittert über ihn wäre. Übrigens ist er eingebildet und – im ganzen genommen – jawohl eingebildet. Ihr vergöttert ihn ja alle miteinander, da muß er schließlich eingebildet werden.

I.: Er ist durchaus nicht »eingebildet.« Im Gegenteil sehr nett und bescheiden, ebenso bescheiden wie tüchtig und liebenswürdig. Sie spricht sich warm, denn ihr Gerechtigkeitsgefühl empört sich bei dem kleinsten Unrecht.

T. (sehr bitter): Ja, im Vergleich mit mir nimmt er sich allerdings vorteilhaft aus. Ich weiß übrigens gut, daß ich ein Stümper und ein Taugenichts bin, der es in der Welt zu nichts gebracht hat – bis jetzt, fügt er im stillen hinzu –, sodaß du mir dies nicht vorzuwerfen brauchst.

I.: Ich habe dir gar nichts vorgeworfen, aber da du es selbst sagst, Tymme, so paßt es sich allerdings nicht für dich, der selbst – der selbst noch nicht – so viel – so – so viel Tüchtigkeit gezeigt hat, so hart über einen andern zu urteilen, der …

T. (fährt auf): … über einen andern, in den du verliebt bist, willst du sagen.

Aber da merkt Tymme, daß er ein unbesonnenes Wort gesprochen hat. Sie sieht ihn mit einem Blick an, der zuerst Verwundrung verrät, dann Zorn und schließlich tiefe Betrübnis. Ihre Lippen beben, sie wendet sich kurz ab und entfernt sich.

Verzeih mir! ruft ihr Tymme verblüfft und beunruhigt nach.

– Aber eine halbe Stunde später hatte Ingeborg die Freude, die beiden Vettern in freundschaftlicher und vertraulicher Unterhaltung miteinander spazieren gehn zu sehen. Tymme war es, der auf diese Weise sein Unrecht wieder gut zu machen suchte, und er richtete es so ein, daß es Ingeborg zu sehen bekam. Auch Onkel Leonhard sah es.

Am Abend trat er zu Tymme hin und sagte plötzlich ganz unmotiviert:

Höre, Kerl, jetzt, wo uns niemand hören kann, möchte ich gern – hm. Zum Henker, ein junger Mann in deinem Alter – bist du in Verlegenheit, um – eh – was man – hm – bist du in – Geldverlegenheit? Ich meine –

Danke, Onkel, antwortete Tymme errötend, ich kann nicht sagen, daß ich in Not bin, du und Tante Erika, ihr gebt mir ja so reichlich, daß ich nur wünschte, ich könnte bald … Und hier bei Onkel Johannes brauche ich ja nicht viel.

Die Absicht war, daß ich dir gern so ein kleines – ein kleines Extravergnügen machen möchte. So, so, nimm nun dies hier – er reichte ihm eine Hundertkronennote –; Mon Dieu, bin ich denn nicht dein Onkel? Habe ich nicht trotzdem genug für mich und Christian? – So, sag nun nichts mehr darüber. – Ein herrlicher Sommerabend, ah!

*

Die Gäste sind abgereist, die Heuernte ist vorüber, und der Herbst ist angebrochen. Onkel Johannes hätte zwar Tymme noch viel auf Hof und Feld zu bestellen geben können, aber da dessen Eifer augenscheinlich nicht mehr so groß war wie früher, so ließ der Onkel die Zügel immer lockerer, und Tymme nahm es stillschweigend hin.

Denn die Stimmung zum »Dichterwerk« war wieder über ihn gekommen, und er arbeitete mit einer größern Ausdauer daran, als er jemals vorher gezeigt hatte. Allen war es bekannt, daß Tymme eine schriftstellerische Arbeit vorhatte, wenn man auch ihm gegenüber, so lange er selbst nicht darüber redete, so that, als ob man von nichts wisse. Immerhin merkte es Tymme sehr gut, daß die andern es wußten, aber er schwieg trotzdem und arbeitete weiter. Das Konversationslexikon und die andern Bücher waren wieder in sein Zimmer geschafft worden, und diesesmal ohne Einspruch.

Aber ach, wie nötig wäre Tymme ein Vertrauter gewesen! Was würde er dafür geben, wenn er all das Schöne, das er geschrieben zu haben glaubt, jemand, zum Beispiel Ingeborg, vorlesen dürfte! – Aber ganz überraschend wie eine Bombe soll es über alle auf einmal hereinplatzen. Er denkt sich den glücklichen Tag, wo die Blätter der Hauptstadt die ersten Anzeigen bringen würden –

»Frau Ideas Garten, ein Märchengedicht in neun Gesängen von Tymme Lemvig.« Wir gratulieren dem Verfasser zu seiner wirklich bedeutenden Erstlingsarbeit. Endlich einmal ein echtes Dichterwerk … rührend in seinem Inhalt, ergreifend in seinen Einzelheiten … Möchten wir bald eine neue Arbeit von seiner Hand sehen … dem Vernehmen nach ist die erste Auflage schon vergriffen … und so weiter.

Der Frühling kommt, und mit ihm viel Arbeit im Freien – gerade so viel, wie Onkel Johannes für Tymmes Gesundheit zuträglich hält, nicht mehr –, aber die Frühlingsluft macht Tymme nervös. Schon lange hat seine robuste Gesundheit abgenommen; er ist bleicher und magrer geworden. Und oft ist er gereizt gegen seine Umgebung, am meisten aber gegen Ingeborg.

Onkel Johannes spricht verständig mit ihm:

Mein Junge, wir wissen es ja alle recht gut, wie es mit dir steht. Die Landwirtschaft werden wir wohl nun aufgeben; ich meine, es kommt nichts dabei heraus, du verstehst mich schon – im Grunde haben wir es schon lange aufgegeben. Nicht wahr?

Tymme möchte widersprechen, schweigt aber.

Der Onkel fährt fort: Nun, dann ist ja das andre, das dir am Herzen liegt – zur Zeit (fügt er mit einer etwas mißvergnügten Betonung hinzu).

Zur Zeit? Was meinst du mit »zur Zeit«? fragt Tymme auffahrend, aber dem leicht satirischen Ausdruck in des Onkels Blick gegenüber verstummt er.

Nun, nichts für ungut. – Du hast ja jetzt für dieses andre all deine Kraft eingesetzt, was es nun auch sein mag. Ich habe wohl kein Verständnis dafür, du hast ja keinem von uns dein Vertrauen geschenkt, aber ich will hoffen, aufrichtig hoffen, daß dieser Weg – er stockt und kraut sich hinter dem Ohr. Seine Augen sprechen so deutlich das aus, was er nicht laut zu sagen wagt.

Wäre es nun nicht am besten, fährt er fort, ehe du so weit bist, daß du dir einen Verleger suchen müßtest – so macht man es doch, nicht wahr? –, daß du dich vorher mit jemand anders beratschlagtest, ob vielleicht irgend etwas daran – eh – umgearbeitet werden müßte.

Tymme schaut auf, und Onkel Johannes, der in seinem Blick Gereiztheit zu sehen meint, mildert seine Worte:

Ich meine natürlich nicht umarbeiten, sondern nur zum Beispiel so ein wenig an den Kommas feilen – ach, ich verstehe mich ja bei Gott nicht auf so etwas, aber ich will dir etwas sagen, in den Sommerferien kommt unter andern auch der Oberlehrer Nielsen von Odense, ein guter Bekannter von uns.

Ja, wenn der es durchlesen wollte! sagt Tymme mit unerwarteter Bereitwilligkeit. Der Name des Oberlehrers, Dr. phil. Nielsen, war wohlbekannt, nicht nur als der eines Lehrers der dänischen Sprache, sondern auch als eines erfahrnen Ästhetikers.

Siehst du wohl! sagt Onkel Johannes. – Ja, ich hoffe, er wird es mir zuliebe gern thun – dieses »mir zuliebe« verletzt Tymme wieder –, und dann will ich vorschlagen, daß du dich bis dahin ein wenig ausruhst. Du könntest dich ja mit der Heuernte zum Beispiel etwas aufmuntern. –

Zu seiner Familie sagt Onkel Johannes:

Er hat diesesmal wahrhaftig Vernunft angenommen. Aber was soll trotzdem bei dieser Dichterei herauskommen? Im besten Fall ist es ein kärgliches Brot. Und er (er geht ärgerlich im Zimmer auf und ab) … keine Kenntnisse, keinen Willen, keine … (bleibt stehn und sagt mit Nachdruck) keine Zucht, keine Erziehung, verpfuscht von Anfang an, gerade so wie die arme Schwester – die beiden unglücklichen Schwestern (schweigt und geht wieder auf und ab).

Eline, hast du Töllöses letzten Brief gelesen und ihn dann zerrissen? … Und die Sachen eingepackt? … Ach, dieser Vater, er ist es, bei dem sie sich dafür bedanken können; ja und dann bei dem kleinen rebellischen Frauenzimmer, wie heißt sie gleich, sie, Erikas Schrecken –

Und nun dieses Gedicht hier oder was es sein soll! – Das wird wahrscheinlich auch nur so ein Windei sein.

Das darfst du nicht sagen, Vater, meint Ingeborg.

Sechstes Kapitel

Nasrekur –

 

Die Sommerferien sind da. – Die Flagge weht wieder auf ihrer himmelhohen Fahnenstange; es werden mehrere Gäste an diesem Tage erwartet. Natürlich Onkel Leonhard und Vetter Christian; gegen Abend können sie da sein, wenn sie von der nächsten Bahnstation aus zu Fuß gehn – sie hatten sich auf diese Fußtour gefreut. – Außerdem Oberlehrer Nielsen mit Familie von Odense; Jens war schon mit dem Landauer weg, um sie abzuholen.

Aber da kam der Oberlehrer plötzlich in voller Fahrt auf seinem Rad auf den Hof gesaust.

Ich konnte wahrhaftig nicht so lange warten – guten Tag alle miteinander – Daß Gott erbarm, diese Hitze! pu ha! Warten Sie ein wenig – ach, liebe gute Frau Jägermeisterin, ein klein bischen Bier oder Wasser oder Milch, sonst – ach danke! So eine herrliche Tour, Jägermeister! Sie sollten sich wahrhaftig ein Rad anschaffen – na guten Tag und schönen Dank, daß Sie uns bei sich haben wollen. – Die Bücher, die Frau und die Kinder kommen im Wagen nach.

Das war ein von der Rasse der Oberlehrer, die in den Romanen grassieren, vollständig verschiedner Oberlehrer. Ein kleiner, eifriger, netter Mann im mittlern Alter, mit dünnen Haaren und einem Kneifer. Die kleinen klugen Augen wanderten lebhaft umher, nach Kenntnissen, nach Leben und Freude. – In Tymme erwachte eine unbestimmte Erinnerung an frühere Tage, aber er war zu erregt, als daß er sich auf etwas Bestimmtes hätte besinnen können.

Als Onkel Johannes später unter vier Augen mit seinem Anliegen wegen eines »jungen Verwandten,« den er im Hause habe, und der da etwas zusammengedichtet habe, herausrückte, machte Nielsen eine böse Grimasse.

Diese Art Aufgabe, mein lieber Jägermeister, ist in neun von zehn Fällen die reine Henkerarbeit und für beide Teile sehr peinlich.

Nun, dann wollen wir nicht mehr davon sprechen, bester Doktor Nielsen.

Nielsen überlegte ein wenig. Nun ja. Es könnte ja sein, daß es etwas taugte, das ist ja auch schon vorgekommen. Ist es Ihr Verwandter?

Der Sohn meiner Schwester.

Hm. – Nun, dann wollen wir es gleich abmachen. Wo ist der Delinquent?

Herrgott, lassen Sie uns doch zuerst zu Mittag essen!

*

Fangen Sie an! sagte der Oberlehrer Nielsen fast in demselben Augenblick, wo Tymme nach Tisch mit seinem Manuskript in der Hand zu ihm ins Zimmer trat. Tymme begriff, daß Nielsen wünschte, er solle ihm vorlesen, was ihm selbst auch das liebste war. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, sah den Zuhörer nicht an, sondern begann mit der ersten Seite der Dichtung.

Halt! sagte der Oberlehrer, als Tymme noch nicht mehr als ein Dutzend Verse gelesen hatte. So gehts nicht, noch einmal, deutlicher!

Tymme las es noch einmal und kam ein wenig weiter.

Halt! unterbrach ihn Nielsen wieder. Ich muß Ihnen sagen, Sie lesen verdammt vor, ganz unkultiviert. Sie sind wohl nicht gewöhnt vorzulesen? – Nun nun, schon recht. Nur frischen Mut, es kann ja gut sein, daß es besser ist, als man denkt. Weiter!

Gleich nachher:

Hören Sie, mein Freund, nun will ich Ihnen etwas sagen. Lassen Sie es mich selbst lesen – wenn ich es überhaupt kann. Dann können Sie wieder herkommen, in – Donnerwetter, so eine Menge Blätter! Sind sie numeriert? – Nun, dann kommen Sie in einer Stunde wieder.

Das war eine qualvolle Stunde für Tymme; er war ganz krank – alle waren ängstlich. Ingeborg kam und wollte ihn beruhigen, wurde aber abgewiesen.

– Na, sind Sie wieder da? Ja, ich habe erst die Hälfte durch. Aber man kann ja gleich sehen, worauf Sie hinzielen. Die Idee als solche ist nicht besonders originell, oder meinen Sie?

Ich habe keine Vorbilder gehabt.

Hm. Nein, Sie haben wohl überhaupt nicht viel gelesen – übrigens die Ausführung und die Einzelheiten sind originell, dann – es ist etwas dran, ja es ist etwas dran. Aber – aber … Er stockte und betrachtete Tymme geistesabwesend und als sei er ärgerlich.

Wollen Sie nicht ein Urteil abgeben? fragte Tymme; er brachte die Worte kaum heraus.

Herr Nielsen begann heftig und lange in seinem dünnen Haar zu wühlen, so wie es zum Beispiel ein Lehrer thun kann, wenn er beim Zeugnisgeben in Verlegenheit ist. Hier erinnerte sich Tymme wieder an etwas oder an jemand aus seinem frühern Leben, war aber zu kraftlos, den Gedanken in seinem Gedächtnis weiter zu verfolgen.

Urteil? Nun, es ist ja schon recht. Ich bin ja noch nicht einmal damit zu Ende gekommen. – Hören Sie, wissen Sie was? An manchen Stellen ist es überraschend gut, ich meine in den Stimmungen; Sie fühlen vortrefflich, ja außerordentlich! Aber der Herr erbarme sich und gnade uns allen, diese Versmaße! und diese Orthographie!

Was sagen Sie? murmelte Tymme.

Ich meine, sagte Herr Nielsen, der sich in seiner Zerstreutheit als Sprachlehrer mit einem korrigierten Aufsatzheft vor sich fühlte; der Inhalt deutet auf »ausgezeichnet,« geradezu auf ausgezeichnet, aber die Fehler sind gräßlich, hoffnungslos unverzeihlich, die deuten auf mittelm – um Verzeihung – wie alt sind Sie eigentlich? Sechsundzwanzig! Das ist bei Gott schauerlich!

Sehen Sie, selbst bei unsern verdammten ministeriellen Sprachvorschriften giebt es doch noch etwas, was richtig, und etwas, was falsch ist. Sehen Sie hier, wie nennen Sie das? einen Kapitalschnitzer, was? Und sehen Sie, hier –

Aber Tymme sah nicht hin, er konnte sich nicht vom Stuhl erheben.

Und dann die Verse. Ja, weil Sie ausgezeichnet fühlen, haben Sie wirklich einige der Verse richtig hingebracht, wie den hier und den hier auch. Aber sehen Sie nun hier – hundemiserabel, unter aller Kritik! Haben Sie denn nie eine Verslehre in der Hand gehabt? Was?

Und so geht es durch das Ganze hindurch. – Hören Sie einmal, Sie haben ja studiert, aber Ihre Kenntnisse sind bei meiner Seele – nun ja, das ist alles sehr schlimm, aber das schlimmste ist doch, daß Sie nicht dänisch schreiben können. Der Herr erbarme sich gnädig über uns alle, wer ist denn in der Schule Ihr Lehrer im Dänischen gewesen, wie hieß nur dieser grenzenlose Strohkopf, was?

Tymme stammelte mit Aufbietung seiner letzten Kräfte:

Es war der Kyklo – es war ein Herr Nielsen in Professor Löwes Schule in Kopenhagen.

Ein Herr Nielsen in Professor Löwes Schule in Kopenhagen? Aber das war ich ja selbst! – Und Sie heißen? – Nun da steht es ja, Tymme Lemvig – er, den sie Saul nannten, na lassen Sie sich einmal ansehen –

Aber was ist das nun für eine Geschichte? Bewußtlos oder so etwas? Aber liebster Mensch, der Inhalt ist ja ausgezeichnet, vortrefflich; an gewissen Stellen sogar – Herr Gott, wirklich bewußtlos!

Neben seinen andern ausgezeichneten Lehrereigenschaften hatte Doktor Nielsen von alter Zeit her noch immer die unglückliche Gewohnheit, sich seinen Schülern gegenüber in seinen Urteilen immer in Superlativen zu bewegen. In seiner litterarisch-ästhetischen Wirksamkeit vermied er diesen großen Fehler, denn da überlegte er es sich vorher.

*

Es war in der Wohnstube einige Stunden später. Doktor Nielsen hatte sein Urteil in gemäßigtern Ausdrücken dem Familienkreis kundgegeben, der übrigens durch Onkel Leonhard und Vetter Christian vermehrt worden war, die richtig von der Station aus zu Fuß gegangen waren.

Das Urteil wurde von den fünf verschleimen, aber sehr lebhaften Anteil nehmenden Zuhörern auf verschiedne Weise aufgefaßt.

Onkel Johannes sagte: Nun dann ist er also fertig – Armer Kerl, von Anfang an verpfuscht: Freiheit haben, keine Erziehung, planloses Herumtasten, lieber Gott, aber so ist es heutzutage – aber daran ist der Vater schuld – ach, diese verdammte Freiheit!

Ingeborg sagte nicht ohne Erregung: Aber ich kann es gar nicht so ansehen, Vater, ganz und gar nicht. Warum willst du denn immer das Gute vergessen, das Herr Nielsen gesagt hat? Sind denn nicht in seiner Dichtung viele Schönheiten und entzückende Stimmungen; sagten Sie nicht »entzückende Stimmungen,« Doktor Nielsen?

Ja unleugbar, im allerhöchsten Grad so –

Aber dann hat er doch das wichtigste, dann ist er ein Dichter, nicht wahr, Doktor Nielsen?

Tante Eline hielt sich in der Mitte. Wenn das eine recht gut und das andre recht schlecht war, so lautete ihrer Ansicht nach das Resultat: grau in grau – und daraus konnte werden, was da wollte.

Onkel Leonhard: Ich habe den Jungen einmal sehr lieb gehabt – Tod und Teufel, ich habe ihn noch immer lieb, und so lange ich lebe, soll er keinen Mangel leiden –

Vetter Christian fragte, ob die Mängel des Gedichts nicht derart seien, daß sie von dem Dichter verbessert werden könnten – mit Hilfe eines andern.

Gott segne Sie, mein junger Herr! Dieses Gedicht? Ja, sehen Sie: Die Idee, der Gang, die könnten schließlich bestehn. Das Gefühl, die Stimmungen, die das Ganze und die Einzelheiten tragen, auch sie sind vorzüglich. Aber die Einzelheiten selbst sind unbrauchbar –

Dann bleibt wahrlich nicht viel übrig, warf Onkel Johannes dazwischen.

– ausgenommen ein Paar Lieder da und dort, die der Form nach tadellos sind. Aber der Bursche ist eine wahre Dichternatur, zu seinem Unglück, denn – hören Sie einmal, er müßte wieder in die Schule gehn und ganz vorn anfangen, und das wird er nicht wollen, ich kenne derlei Leute zu gut. – Gott erbarme sich, was hat er eigentlich sein ganzes Leben lang gethan?

Gebummelt, sagte Onkel Johannes. – Ein drückendes Schweigen trat ein.

Sie sagten vorhin, nahm Ingeborg schließlich das Wort, daß einige Teile davon »tadellos« seien, wie Sie es nannten. Könnten denn nun nicht diese Stellen – gleichsam – die Grundlage zu etwas ganz Neuem bilden – nein, für dieselbe Dichtung, denn Sie gaben doch vorhin zu, daß die Anlage im ganzen genommen hübsch sei.

Mein liebes gutes Fräulein. Jawohl. Sperren Sie ihn drei Jahre lang mit all den Schulbüchern ein, die er gelernt haben sollte, und dann mit drei Zentnern guter Litteratur, alter und moderner, dänischer, schwedischer, französischer, englischer, deutscher, lateinischer und griechischer – vergessen Sie auch eine dänische Grammatik nicht, schicken Sie ihm kein Essen hinein, ehe er alles miteinander kann, und dann lassen Sie ihn auf sein Dichterwerk los. Dann ist Hoffnung vorhanden, früher nicht.

Sie übertreiben seine Mängel, Doktor Nielsen.

Übertreiben? – Nun ja, das thue ich immer, ausgenommen wenn ich schreibe. Ich meine übrigens nur, daß er ein Dichter ist, zu seinem Unglück. Ich will Ihnen etwas sagen, in dem Haufen Unmöglichkeiten, die ich diesen Nachmittag gelesen habe, finden sich überall so eigentümliche, so zarte – ich scheue mich nicht vor dem Ausdruck – ergreifende Stimmungen – hören Sie, ich will Ihnen morgen etwas daraus vorlesen – wenn er nur noch etwas lernen wollte, aber das will er nicht.

Nein, das will er bei Gott nicht! sagte Onkel Johannes.

Ach, das weißt du doch gar nicht! rief Ingeborg ziemlich heftig aus.

Dann sagte Tante Eline: Wie nahm er es denn auf – und wo ist er eigentlich jetzt?

Ach, antwortete Herr Nielsen ein wenig verlegen, er nahm es eigentlich – merkwürdig auf; er – eh – saß da und dann – eh – ging er seiner Wege. Und da ist er, fügte er hinzu, denn in diesem Augenblick trat Tymme ins Zimmer.

Man konnte ihm nichts besondres anmerken, eine etwas forcierte Gleichgiltigkeit vielleicht. Er ging, anscheinend ohne Onkel Leonhard und des Vetters Gegenwart zu bemerken, in die andre Stube, um zu sehen, ob der Tisch zum Abendbrot gedeckt sei, wie er sagte.

Ingeborg folgte ihm. Sie flüsterte: Es ging ja gar nicht so schlecht, er lobte dich ja auch.

Meinst du? sagte er vollständig ausdrucklos. Ach, sag doch den andern, daß ich nicht zum Thee komme, ich habe schon mit den Leuten gegessen. Dann entfernte er sich durch das Eßzimmer.

Siebentes Kapitel

Eine Liebeserklärung

 

Es war dunkel und lange nach der Theestunde.

Nun Gott sei Dank, hier bist du! sagte Ingeborg, als sie Tymme in dem entferntesten Teil des Gartens ganz regungslos auf einer Bank sitzen fand. Warum hast du nicht geantwortet? Wir haben lange nach dir gerufen. – Ich möchte gern allein mit dir reden, aber warte ein wenig, ich muß zuerst zu den andern hin und sagen, daß du hier seist.

Während sie weg war, dachte Tymme, ob es nicht angenehmer wäre, ihr auszuweichen, indem er sich wo anders hin begäbe, aber auch dazu war er zu niedergeschlagen.

Konntest du es nicht begreifen, daß ich am liebsten allein sein wollte, sagte er, als sie zurückkam.

Hör, Tymme, es steht ja gar nicht so schlecht. Du hast nicht gehört, was er über –

O ich habe genug gehört, daß ich verstehe, daß es – daß es nun aus mit mir ist. Er sprach flüsternd, aber in den letzten Worten lag ein eigentümlicher Ausbruch, der sie sehr erschreckte.

Nein, im Gegenteil, beeilte sie sich zu widersprechen. Er sagte, es seien viele wunderschöne Stellen darin, »ergreifende,« sagte er, und zarte eigentümliche Stimmungen. So sagte er, das ist wirklich wahr.

Quäle mich nicht, Ingeborg. Summa summarum ist doch, daß es unbrauchbar ist. Verspielt. Verspielt. Mein ganzes Leben ist verspielt.

Das ist nicht wahr. Wir müssen – du müßtest etwas von dem Gedicht retten können.

Ich kann nicht.

Hör mich an, Tymme, ja, du sollst mich anhören. Vorläufig mußt du es liegen lassen, und dann mußt du eine Menge Bücher lesen, die andre begabte Leute auch studieren. Du mußt eben mehr lernen, denn du hast gewiß seit der Zeit, wo du Student warst, sehr viel vergessen. Und besonders, so meinte er, müßtest du dich auf die dänische Verslehre werfen, und dann – ja auf die Orthographie.

Tymme schwieg.

Und wenn dann, fuhr sie fort, vielleicht ein paar Jahre hingegangen sind, dann möchte ich und würde dich darum bitten, daß ich – nein, daß du mir jetzt gleich das Gedicht gäbst, ich möchte es so schrecklich gern lesen. Und wenn dann einige Zeit darüber hingegangen ist, könnten wir ja miteinander, ich meine du und ich, und ich glaube, daß zum Beispiel auch Christian gern –

Christian? Er fuhr auf. In ein paar Jahren, sagtest du? – er schien sich zu beherrschen – nun, das ist ja keine lange Zeit für einen kleinen Jungen von siebenundzwanzig Jahren – buchstabieren lernen? Ja, warum denn nicht? Und dein Christian sollte mein Lehrer sein?

Und ehe sie etwas thun oder sagen konnte, hatte er in der größten Leidenschaft das Manuskript aus der Tasche gezerrt; sie hörte, wie er es zerfetzte und zerriß; die Papierstücke flogen um ihn zu Boden, sie glänzten in dem dämmernden Mondschein, er stampfte darauf herum und war wie ein wildes Tier – dann sank er auf die Bank zurück und schluchzte krampfhaft.

Sie saß neben ihm und hielt seine Hand fest, wie eine gute Schwester, die ihren kleinen Bruder beruhigt. Sein Weinen wurde allmählich ruhiger und natürlicher.

Aber Tymme, was hast du gethan!

Ach, Ingeborg, ich bin so unglücklich! – Wie kindlich und hilflos klang das! – Du mußt noch ein wenig bei mir bleiben, fuhr er fort, das thut mir gut. Es ist, als sei ich wieder klein, und du seist meine Mutter.

Ingeborg lächelte nicht; in diesem Augenblick war sie die Erwachsene, und sie fühlte, ein wie großes Kind er sei, der große starke Mensch.

Weißt du, Ingeborg, du gleichst meiner Mutter, und manches mal, wenn ich dich ansehe – ach könnte ich doch das Leben von vorn anfangen, und du könntest immer bei mir sein …

Der Mond war jetzt aufgegangen. Büsche, Bäume, der ganze Garten stiegen wie eine Erscheinung aus der Dunkelheit empor. Die Nacht, die tote Nacht, erwachte unter den Strahlen des Mondes und empfing ein Leben, das »einem Tag, der krank ist« glich. Wunderbar wurde Tymme von dieser Veränderung in der Natur ergriffen, fiebrisch und verstört, wie er war, sagte er nun Worte, die ihm nur neue Kränkung bringen konnten, unüberlegte Worte aus einer Stimmung heraus, die sich jetzt Bahn brach – unter Thränen machte er die seltsamste Liebeserklärung, die ein junger Mann jemals einem jungen Mädchen gemacht hat. Es war keine Liebe, es war weder Mannesmut noch Manneskraft darin – es glich dem Ruf eines Kindes nach seiner Mutter, wenn es Schutz gegen Einsamkeit und böse Träume sucht. Und doch begehrte er sie als seine Gattin, er!

Ingeborg hatte sich erhoben und betrachtete ihn überrascht, unfreundlich, fast zornig. Matt und weich saß er da in dem matten und weichen Mondschein, ein Mann und doch unähnlich einem Manne – und rings um ihn her gestreut lagen die Beweise von – ja von der Unfähigkeit seiner Vergangenheit, und nun von seinem feigen Aufgeben – und er –!

Aber das währte nur einen Augenblick, dann sah sie wieder den guten Spielkameraden der Kindheit in ihm, den träumerischen, tief und fein fühlenden poetischen Jungen, der anders war als alle die andern, den armen Vetter, der ohne eigne Schuld so geworden war, daß er nicht in diese Welt paßte, ihn, den sie beschützt und verteidigt hatte – und nun, wo er diese letzte Enttäuschung erlebt hatte –

Tymme, sagte sie, sei nun wieder vernünftig. Ich trage dir das, was du eben gesagt hast, nicht nach, denn du bist jetzt krank, aber du darfst nie wieder so zu mir sprechen, denke daran, hörst du, niemals! Wenn du dir überhaupt etwas daraus machst, daß ich dich als deine gute Kusine oder Schwester lieb habe; ich habe es immer gethan und werde es immer thun, das verspreche ich dir.

Von der Thür des Gartenzimmers herab – weit drüben durch das Laub – fiel jetzt der Schein einer Lampe auf die Verandastufen nieder und auf die nächsten Wege heraus. Der blassere Schein des Mondes schien zurückzuweichen, als scheue er die Berührung mit diesem irdischen, weniger reinen Licht. Die Gesellschaft zeigte sich auf der Veranda, vielleicht um einen kleinen Abendspaziergang zu machen, vielleicht auch, um die beiden zu suchen.

Ingeborg ging zu den andern, Tymme begab sich unbemerkt auf sein Zimmer.

Achtes Kapitel

Nach einer Gesellschaft

 

Es ist im Oktober nach jenem Tag in den Sommerferien, wo über Tymme das Urteil gefällt worden war.

Holmer hat in seiner Villa in Valby eine Gesellschaft gegeben. Die Lampen brennen noch immer, Gläser mit Weinresten, Dessertteller mit Kuchen und Obstresten stehn in den kleinen aber elegant eingerichteten Zimmern unordentlich auf Tischen und Konsolen umher, ein bläulicher Nebel von feinem Cigarrenrauch schwebt unter der Zimmerdecke hin. Der Herr des Hauses geht im Gesellschaftsanzug, eine unangezündete Cigarre zwischen den Lippen, mit verdrießlicher Miene und langen Schritten in den Zimmern hin und her. Die Dame des Hauses ruht in einem amerikanischen Schaukelstuhl im Wohnzimmer; ihr elegantes Gewand ist stark ausgeschnitten und läßt die schönen Formen des Halses und der Arme sehen, der Ausdruck ihres Gesichts ist müde und gleichgiltig, aber eine zurückgedrängte Gemütsbewegung verrät sich durch das unruhige Treten des Schaukelschemels mit den hübschen Füßen.

Er setzt seine Wandrung ununterbrochen fort. Im Wohnzimmer auf dem Smyrnateppich klingen die Schritte leise und weich, auf dem Linoleum des Herrenzimmers schlürfend, stampfend auf dem gefirnißten Boden des Eßzimmers, immer aber einförmig knarrend.

Immerfort. So, jetzt schlürft es, in kurzem wird es stampfen – da, nun kommt es – und dann wieder schleichen. Friederike führt nervös die Hand ans Ohr und sagt: Ach Holmer, könntest du nicht mit dieser unaufhörlichen Wandrung aufhören?

Er bleibt stehn. Na, es freut mich, daß du doch noch sprechen kannst. Das möchten wohl ungefähr die ersten Worte sein, die du den ganzen Abend während unsrer Gesellschaft gesagt hast.

In deiner Gesellschaft, verbessert Friederike.

Nun wohl, ja, in meiner also. – Dann seufzt er wie jemand, der sich zu etwas Unangenehmem entschlossen hat, das er schon lange verschoben hat aber jetzt thun muß. Ja, sagt er wie zu sich selbst, aber doch sind die Worte so bestimmt, daß sie von ihr vernommen werden können – ja es muß doch einmal heraus. So soll es denn jetzt sein.

Eine leichte Röte breitet sich über ihre Wangen, die schaukelnde Bewegung ihrer Füße hält an, aber sie schaut nicht auf. Es ist so still im Zimmer, daß man sogar den leisen knisternden Laut von einer armen Motte, die über dem Lampenglas versengt wird, hören kann. Von dieser plötzlichen Stille wird ein Hund geweckt – ein kleines feines Windspiel, das unter dem Tisch zu den Füßen seiner Herrin geschlafen hat. Es streckt die Schnauze unter dem Tischtuch vor und betrachtet die beiden.

Holmer zündet sich an einem der Lichter seine Cigarre an und sagt halb abgewandt:

Ich bin, wie du wissen wirst, heute abend unzufrieden mit dir gewesen – du wahrscheinlich auch mit mir und mit meiner Gesellschaft – meiner Gesellschaft –, das ist ja nichts Neues.

Seine Cigarre brennt jetzt, und er geht – indem er vermeidet, sie anzusehen – in eine Ecke nach einem Aschenbecher.

Ich habe nicht selten und schon seit lange die Saite angeschlagen, die ich nun – aber du wolltest – oder konntest – meine Anspielungen nicht verstehn, obgleich du sonst klug genug bist. Ich muß es darum jetzt gerade heraussagen, amica mia.

Jetzt schielt er von seiner Ecke aus zu ihr hinüber. Sie hat sich halb erhoben, die Farbe ist aus ihren Wangen gewichen, aber sie sieht ihn noch immer nicht an und spricht auch nicht.

Ich gebe zu – das ist nicht mehr als billig –, ich gebe zu, daß wir viele gute Stunden miteinander verlebt haben, und ich danke dir aufrichtig dafür. Der Ton ist wirklich weich und sanft. – Es sind – laß mich sehen – jetzt vier Jahre –

Er wartet, ob sie ihm vielleicht antworten oder ihn berichtigen werde. Er möchte gern, daß sie ihn berichtigt; es sind nämlich fünf, nicht vier Jahre, und er weiß, daß sie es ebensogut weiß wie er. Gerade in diesen Tagen im Oktober – vielleicht an demselben Tage – vor fünf Jahren ist sie aus dem Pfarrhaus entflohen, und hat er sie auf dem Bahnhof in Kopenhagen empfangen.

Vier Jahre also.

Und als sie fortgesetzt schweigt und ihn fortgesetzt nicht korrigiert, aber doch offenbar gespannt auf ihn horcht, wird er wie ein wenig verlegen. Er fährt aber doch in demselben freundlichen Tone fort:

Ja, ich danke dir aufrichtig. Es war wie ein schönes Märchen, Friederike. Es hat seine Zeit gehabt, aber lassen wir es nun zu Ende sein. Dasselbe Märchen schmeckt einem nicht auf die Dauer, nicht wahr, wir haben ja beide schon ein gewisses fatales Gefühl …

Wenn das ein Scherz sein soll, unterbricht sie ihn unerwartet – er fährt leicht zusammen, obgleich sie sehr leise spricht –, wenn das ein Scherz sein soll, Holmer, dann bitte ich dich, diesen Scherz zu lassen.

Sie sieht aus, als würde ihr übel.

Trink ein wenig Wasser, Amica. – Nein, es ist kein Scherz, und das weißt du auch. Versuche, vernünftig zu sein. Ich hätte es leicht par distance mit dir abmachen können, denn – das wirft er wie beiläufig hin –, denn in einem Monat reise ich nach dem Süden; aber diese Art, Angesicht in Angesicht, paßt mir besser. Nun, ich reise also weg, bleibe, sagen wir ein halbes Jahr fort, während dieser Zeit ist das Haus noch dein Eigentum, hörst du, und du hast reichlich Zeit, dich zu – zu – eh – arrangieren, verstehst du. Wenn ich dann nach Hause komme, dann bist du nicht mehr da. Das ist das Ganze. In Beziehung auf deine Versorgung, jedenfalls vorläufig …

Er stockt, als er sieht, daß sie sich ganz erhoben hat und auf dem Boden steht, aber da sie nichts sagt, sondern scheinbar nur danach ringt, etwas zu sagen, schiebt er ihr ruhig ein Glas Wasser hin und fährt in einem leichten, geschäftsmäßigen Tone fort:

Was also deine Versorgung anbelangt, so erkenne ich an, daß mir eine vorläufige Verpflichtung obliegt, jedenfalls lege ich es mir als eine Verpflichtung auf. Diese Sache soll so geordnet werden, daß du dich nicht zu beklagen haben wirst. Glücklicherweise sind die Umstände nicht weitläufiger geworden – es zeigt sich ein unbedeutendes Zucken um den Mund, das einem vorübergehenden Lächeln gleicht.

Kleine Amica, nun komm hierher. Wir haben also noch einen Monat Zusammensein vor uns. Wir wollen die Zeit so viel wie möglich benutzen. Laß uns Freunde sein. Er streckt ihr die Hand hin. Nicht? Na ja, dann nicht. Er runzelt leicht die Stirn. Gute Nacht! Und indem er sich entfernt, sagt er draußen in der Küche zu einem Dienstmädchen: Ach, Margrete, wollen Sie nach dem Fräulein sehen, ich glaube, sie ist nicht ganz wohl.

Margarete geht zu dem Fräulein hinein, findet aber nichts Ungewöhnliches. Das Fräulein steht nur steif und zwecklos mitten im Zimmer. Der Hund hat seine Schnauze in ihre schlaff herunterhängende Hand gesteckt.

Was wollen Sie, Margrete?

Der Herr Kandidat sagte –

So. Gehn Sie nur zu Bett. Gute Nacht.

Soll ich nicht zuerst die Lichter auslöschen.

Doch …

Margrete löscht in allen Zimmern Lichter und Lampen. Friederike steht noch immer steif da und hilft ihr mit keiner Hand; Margrete kann diese sichere, hochmütige Dame nicht leiden, die außerdem –

Löschen Sie auch dieses Licht hier!

Ja, aber dann hat das gnädige Fräulein ja kein Licht zum Hinaufgehn.

Löschen Sie es aus!

Margrete brummt etwas vor sich hin und geht dann, das letzte Licht mitnehmend, hinaus. Nun ist es ganz dunkel im Zimmer, der Hund winselt, seine Schnauze in Friederikens Hand gedrückt. Jetzt erst fühlt sie die kalte feuchte Berührung und schaudert leicht zusammen; der Hund ist ein Geschenk von ihm. Dann hebt sie den Hund vom Boden auf und schlägt ihn aus allen Kräften. Der Hund wimmert und taumelt in der Dunkelheit zurück.

Friederike tastet sich in das Vorzimmer hinaus. Sie setzt einen Hut auf und öffnet die ins Freie führende Thür, aber als ihr der kalte Hauch der Oktobernacht Hals und Arme streift, weicht sie zurück und ergreift einen Shawl oder einen Mantel – das erste beste –, das sie über sich wirft. – Ihre Bewegungen sind eilig, nun steht sie draußen.

Neuntes Kapitel

Flucht

 

Der kalte Hauch der Oktobernacht bringt insofern Ordnung in ihre wirren und erhitzten Gedanken, daß sie still steht und sich fragt: Was nun, und wohin?

Ja, sie schlägt den Weg nach der Stadt ein. Die Laternen brennen noch. Am Eingang zum Söndermarks-Park versucht sie die Thür zu öffnen; diese ist zufällig offen, gegen Vorschrift und Gewohnheit. Sie geht in der breiten Allee geradeaus, es ist stockdunkel, aber sie geht immer geradeaus. Vor ihr glänzt etwas. Das ist der Bassinplatz. Sie berührt das eiserne Gitter – das hatte sie vergessen, daß ein eisernes Gitter darum war.

Wieder geht sie in der rabenschwarzen Dunkelheit auf der Breiten Allee, immer geradeaus. Wieder zum Thor hinaus. Dann links herum, der Stadt zu. Der Mann, der eben im Begriff ist, die Laternen zu löschen, schaut ihr nach, es muß an ihrer Kleidung oder ihrem Gebaren etwas Auffallendes sein. Ein einzelner Spaziergänger redet sie an; sie eilt vorbei. Halb laufend halb gehend erreicht sie die Admiralstraße, da wohnt ja Tym. Nein – jetzt erst entsinnt sie sich, daß er weit weg ist; verzweifelt bleibt sie stehn und überlegt.

Tante Erika? Nein, nein, nein!

Zurück durch die Stadt nach der westlichen Gegend. Eine Schar betrunkner Menschen stürzt aus einem Kellerhals heraus, ein Schutzmann steht dabei und schilt den Wirt aus, der von unten her antwortet. Sie eilt vorbei.

Nun steht sie auf dem Eisenbahnperron. Der südwärts gehende Zug? – Ist vor einer Stunde abgegangen. – Giebt es noch mehr Züge heute nacht? – Nein. Der Portier beachtet sie mit Verwundrung. – Ob sie bis morgen früh im Wartesaal bleiben könne, fragt sie.

Züge kommen aus Norden, aus Westen, aus Süden, und Züge gehn nordwärts und westwärts, aber nicht südwärts. Der Wartesaal füllt und leert sich, sie merkt, daß viele sie im Vorübergehn ansehen. – Lange sitzt sie allein da, der Portier betrachtet sie und sagt: Wollen Sie wirklich die ganze Nacht hier sitzen bleiben? – Mehrere Bedienstete gehn ab und zu und sehen sie an, sie flüstern miteinander. Das hält sie nicht aus, und sie schleicht sich fort. Heda, Sie dort! hört sie einen hinter ihr her rufen. Sie läuft, jemand ist hinter ihr. Halt, haltet sie auf! ruft man. Hält man sie etwa für einen Dieb oder so etwas? Sie läuft, bis sie merkt, daß sie allein ist und nicht mehr verfolgt wird.

Wo ist sie jetzt?

Der schwarze Waldrand dort rechts? Das Haus dort? Das Haus dort? – Sie besinnt sich und weiß nun, daß sie wieder in Valby ist.

An ihrer eignen Villa vorbei – vorbei, vorbei! Eher in einem Graben am Wege sterben als wieder da hinein. Vorbei, weiter!

Eine ferne Kirchenuhr schlägt einmal; sie weiß nicht, ob es halb eins, ein Uhr oder halb zwei ist. Weiter, weiter!

Der Wind wird rauher, die Stadt liegt hinter ihr. – Auf der Landstraße also und südwärts, das weiß sie. Über ihr jagen die Wolken phantastisch dahin.

Den Weg, aus dem sie geht, kann sie, wie einen grauen Streifen mit der dunkeln Ebne zu beiden Seiten, gerade noch unterscheiden; die entblätterten Bäume am Straßenrand ächzen und stöhnen, sehen kann sie sie nur, wenn sie dicht an ihnen vorübergeht.

Einmal lehnt sie sich an einen Baumstamm; es war in einem Augenblick, wo sie glaubte, die Kräfte verließen sie. Ein dünner Staubregen fällt ihr auf Haar und Stirn, der Hut mußte ihr weggeweht worden sein, aber die kalte Feuchtigkeit auf dem Kopf thut ihr wohl. Weiter!

Manchmal ist es ihr, als ob ein kleiner Schatten von etwas Lebendigem sie auf der andern Seite des Wegs begleite – aber weiter – weiter!

*

Alles ist noch still und im Schlaf draußen im Lundbyvester Pfarrhaus, denn es ist vor Sonnenaufgang. Jungfer Lemvig, die ihr Zimmer im Nebenflügel hat, in der Nähe der Knechte- und Mägdekammern, meint im Schlafe, ein Rütteln an der nach dem Feld hinausführenden Pforte zu vernehmen. Jungfer Lemvig hat einen leichten Schlaf; als der Laut sich wiederholt, ist sie schon wach.

Diebe denkt sie oder irgend eine Geschichte mit den Dirnen; sie wirft eilig einige Kleidungsstücke über, bewaffnet sich mit einem Kehrbesen und schleicht beherzt hinaus – um solcher Dinge willen scheint es ihr nicht der Mühe wert, jemand zu wecken. Es ist in der ersten Morgendämmerung. Der Regen schlägt ihr von der Seite ins Gesicht, hu, wie kalt es ist! Sie eilt die Pforte zu öffnen, eine Gestalt steht davor, eine Frauengestalt – diese schwankt in demselben Augenblick und fällt – Tante Gine fängt sie in ihren Armen auf.

*

Tante Gine hat sie ausgekleidet, ihr einen wollnen Strumpf um den Hals gebunden und sie in ihr eignes, noch warmes Bett gelegt, dann ist sie über den Hof gelaufen, hat in aller Eile Feuer angefacht und ist dann mit einer Tasse brühheißem Thee zurückgekommen, und das alles, ohne jemand zu wecken.

Kind, liebes Kind, unser eignes Friemütterchen, ach Herrjemine, ach Herrjemine!

Sie steht mit der heißen Tasse neben dem Lager des Flüchtlings. Friederike schien zu schlafen, die Tante setzt die Tasse weg und seufzt:

Und Karoline, die so schwer krank liegt. Und nun die. Und Gott im Himmel mag wissen, wie es Tym geht!

Ein kleines feines Windspiel ist ins Zimmer hereingewitscht, es hat sich in einen Winkel verkrochen und zittert am ganzen Leibe; seine Schnauze ist blutig, und das Wasser läuft an seinem gelben Fell herunter. Du auch da, du thörichtes Vieh! sagt Tante Gine und deckt ihn mit einem Tuche zu. Aber Friederike hat sich im Bett aufgerichtet und ruft: Jag ihn hinaus, schlag ihn tot, schlag ihn tot! – Tante Gine meint, sie rede im Fieber, und sucht sie zu beruhigen; sie giebt ihr den Thee zu trinken. Bald schläft Friederike denn auch friedlich ein.

Zehntes Kapitel

In guten Händen

 

Propst Fibiger lag gut und fest in seinem Bett droben in dem großen Schlafzimmer.

Gegen acht Uhr trat Gine herein, ganz plötzlich und ohne vorher angeklopft zu haben – so wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie in Aufregung war. Propst Fibiger schlug die Augen auf. Sind Sie es, liebe Lemvig? Aber warum wecken Sie mich denn zu einer so ungewöhnlichen Zeit?

Ich möchte dem Pastor melden, daß sie nun gekommen ist.

Wer, meine Gute?

Unsre Tochter, die Friederike, wer sonst?

Der Propst lag eine Weile still, bis ihm die Sache klar wurde. Dann schlug er plötzlich mit dem Arm auf die Bettdecke, und darauf lag er wieder ganz still da.

Tante Gine sagte alsdann: Ja, nun habe ich es Ihnen mitgeteilt, und sie wollte wieder gehn, aber der Propst hielt sie zurück.

Wie ist sie gekommen, und wann?

Wie? Gelaufen.

Gelaufen? Gelaufen? na!

Wieder wollte Tante Gine gehn, und wieder hielt sie der Propst zurück.

Lemvig – geben Sie ihr sogleich etwas Warmes zu trinken und auch etwas zu essen.

Meint der Herr Pastor Fibiger vielleicht, daß ich die Tochter des Hauses hier im Hause Hunger leiden lasse? Niemals werde ich deswegen um Erlaubnis fragen, und wenn hundert neue Pastoren Fibiger hier auf dem Hofe säßen. Sie hat ihr Theewasser bekommen.

Hm. – Aber wo soll sie denn schlafen, meine gute Lemvig, so viel ich weiß, sind alle …

Das Fräulein soll in Friederikens und Karolinens Stube hier nebenan schlafen, natürlich, da drin, wo Adolf liegt.

Ja, aber ich schlafe doch hier, das geht durchaus nicht an.

Nein, der Herr Pastor Fibiger zieht in das grüne Zimmer, das nach dem Hof hinaus geht, hinunter, und Gusta muß mit ihrer Mutter in der runden Stube schlafen, und ich ziehe mit den zwei kleinen Mädchen herauf, denn dann bin ich neben dem Fräulein, und Adolf bekommt meine Stube, und Petersen kann mit seiner Frau in der Zwischenstube wohnen –

In der Gardero–?

Ja, in der Zwischenstube, sie ist groß genug, und wenn wir so viele unnütze Gäste haben, dann müssen sie es nehmen, wie es gerade ist.

*

Der Propst saß mit allen seinen Gästen um den großen Frühstückstisch, es war zwei Tage später.

Lemvig, sind Sie droben gewesen bei unsrer – eh –

Ja, Herr Pastor Fibiger, ich war bei dem Fräulein.

Fragen Sie unsre arme – eh – ob nicht ein wenig von diesem guten Doppelbier …

Das Fräulein hat vorhin ein wenig davon getrunken.

– oder ein paar Spiegeleier?

Das Fräulein hat schon eins gegessen.

Die Ärmste, ja sie hat grob gesündigt. – Vielleicht ein bischen von diesem konservierten Hummer …

Nein, das Fräulein läßt vielmals danken.

Einer der Gäste ließ die Bemerkung fallen: Unser lieber Propst ist ein Engel. Aber erlauben Sie mir, zu sagen, daß Ihre Güte gegen diese – eh – fast …

Durchaus nicht, unterbrach ihn der Propst streng. Und sagen Sie unsrer armen – eh –, daß ich heute wieder zu ihr kommen werde, um mit ihr von geistlichen Dingen zu reden.

Nein, Herr Pastor Fibiger, denn gestern wurde es ihr schon übel davon, und sie mußte sich erbrechen.

Hm.

*

Kennst du mich? Ich bin deine alte Tante Erika. Ihre Stimme klang so weich, und ihr Wesen war so zart und rücksichtsvoll, daß Friederike mit hervorstürzenden Thränen ihren Kopf an der Tante Brust lehnte, weil sie fühlte, daß diese Dame, deren sie sich nur undeutlich erinnerte, ihre Tante sei.

Ach, Tante Erika, hätte ich dich doch früher kennen gelernt! – und sie zog sich rasch von ihr zurück und verbarg ihr Gesicht in den Händen, aber Tante Erika nahm ihr sanft die Hände weg und küßte sie auf den Mund. Und rücksichtsvoll, damit es nicht aussähe, als beobachte sie ihr heftiges Weinen, wandte sich die alte Dame an Gine, die mit einer Tasse Fliederthee neben dem Bett stand, und sagte:

Ja, liebe Jungfer Lemvig, jetzt erst haben wir Ihre Treue gegen alle Kinder der armen Amalie so recht kennen gelernt – und sie reichte ihrem frühem Widersacher die Hand.

Zögernd und auf eine eigentümlich unbeholfne Weise erwiderte Tante Gine den Händedruck, indem sie antwortete: Ach, es sind ja ebensogut die Kinder des seligen Mathis Lemvig als die der andern.

Tante Erika überhörte die Bemerkung. Und Karoline, sagte sie seufzend. Ja, nun muß ich auch zu ihr. Ach, liebe Jungfer Lemvig, wollen Sie nicht Jutta sagen, sie solle sich bereit machen, mich zu begleiten? Ich kann nicht gut soweit allein gehn, fügte sie mit einem wehmütigen Lächeln hinzu, in der letzten Zeit bin ich etwas alt geworden. Es steht wohl sehr schlimm dort?

Karoline ist schrecklich krank, und Töllöse behandelt sie niederträchtig. Er hat sich neuerdings auch zur Rechten geschlagen. Es sind nun sechs Kinder da.

Tante Erika schüttelte betrübt den Kopf und streichelte Friederike die Wange, während diese aufrecht in ihrem Bett saß und den Fliederthee trank. Adieu, liebe Friederike, ich komme wieder, sobald ich bei deiner Schwester gewesen bin.

Grüße sie von mir, sagte Friederike.

– Später am Tage rollte Tante Erikas Landauer zum Pfarrhof hinaus. In dem geschlossenen Wagen saß Friederike halb liegend auf dem einen Sitz, auf dem andern saßen Jungfer Jutta und Taute Erika; diese nickte zum Wagenfenster hinaus dem Propst freundlich zu, der mit entblößtem Haupt im Hofe stand. Sein Gesicht verriet die Bewegung seines guten Herzens. Tante Gine stand neben ihm und sah den Wegfahrenden nach.

Pastor Fibiger, sagte sie plötzlich, und die Worte kamen wie mit Überwindung heraus: Sie sind doch ein guter Mann, Pastor Fibiger.

Da eilte solche anerkennende Äußerung von dieser Seite etwas ganz Neues war, und die Stimme überdies hart und streng klang, war der Propst eher erschrocken als geschmeichelt.

Na na. Hören Sie, liebe Lemvig, haben Sie nun unsrer armen – eh – haben Sie ihr auch ein Paar gute Kissen mit in den Wagen gegeben?

Ich habe ihr des Pastor Fibigers eignes Eiderdaunenkopfkissen mitgegeben.

Hm. – Damit war das Verhältnis zwischen den beiden wieder in das gewohnte Geleise gekommen.

*

Man hatte mit dem Doktor und allen Beteiligten beschlossen, daß Friederike vorerst bei Tante Erika in Kopenhagen bleiben, im Sommer aber nach Rosgaard gehn sollte – wahrscheinlich auch nur vorläufig; auf alle Fälle war Kopenhagen als bleibender Aufenthaltsort für das tief verletzte Mädchen unerträglich, darüber war man sich vollständig klar.

Aber schon während der Wagenfahrt von Lundbyvester nach Kopenhagen begann Friederike aufgeregt zu werden. Schon der Weg – dieser Weg, auf dem sie bei ihrer nächtlichen Flucht so große Leiden durchgemacht hatte, schien etwas ähnliches bei ihr wachzurufen. Als man sich der Hauptstadt näherte, konnte sie sich gar nicht mehr beherrschen, und sie gebärdete sich so unheimlich, daß Tante Erika, die selbst nervös und schwach war, nicht wußte, was sie anfangen sollte. – Wenn ich mir nur nicht mehr aufgeladen habe, als ich durchzuführen vermag, dachte sie. Als man durch Valby fuhr, sah Friederike zufällig zum Fenster hinaus, da stieß sie einen Schrei aus, hielt sich die Augen zu und rief: Ich kann nicht, ich kann nicht! Die andern glaubten, es sei ihr schlecht geworden, und Jutta mußte den Wagen halten lassen, aber da rief Friederike: Weiter, weiter, weiter! Tante Erika sah Jutta angegriffen und ratlos an. Da riß Friederike wie verzweifelt das Fenster auf und rief: Fahren Sie weiter, weiter! Als der Wagen sich dann wieder in Bewegung gesetzt hatte, wurde sie auf einmal ruhiger. Tante Erika schüttelte den Kopf und wischte sich die Stirn mit ihrem Taschentuch.

Tante Erika, bitte, sei nicht böse, aber ich kann nicht bei dir wohnen, ich kann es einfach nicht. Darf ich nicht jetzt gleich nach Rosgaard reisen?

Tante Erika sank in die Polster zurück – alle diese Beschlüsse und plötzlichen Bestimmungen – und nun wieder etwas ganz andres!

Da sagte Jutta, daß es gewiß das beste wäre, wenn man Fräulein Lemvig ihren Willen lasse, und wenn man sie nur ein paar Tage da behalte, um die Garderobe des Fräuleins zu richten und Fräulein einzupacken, dann werde es schon gehn. Aber man werde doch wohl vorher noch einen Doktor fragen müssen, und dann müsse sie auch jemand dorthin begleiten.

– In den nächsten Tagen erholte sich Friederike körperlich fast vollständig. Sie kam zwar nicht auf die Straße, ging aber in Tante Erikas Zimmern umher und machte sich nützlich, so gut sie konnte; auch war sie freundlich und dankbar und folgsam in allem. – Nur einem widersetzte sie sich mit ganz außerordentlichem Widerwillen: der Begleitung nach Rosgaard. Ihre krankhafte Heftigkeit in diesem Punkt war unbegreiflich.

Schließlich wurde die Sache so geordnet, daß Onkel Leonhard sie bis Korsör begleiten und sie dort auf die Dampffähre bringen sollte – mit der Bitte an die Aufwärterin, sich ihrer ein wenig anzunehmen –, in Nyborg sollte dann der Wagen von Rosgaard schon auf sie warten.

Elftes Kapitel

Anscheinender Unglücksfall

 

Auf dem wohlbekannten Weg über den Großen Belt schäumt die Dampffähre, groß, schwarz und schwerfällig hin; heiß schnaubend schneidet sie ihre gerade Bahn. Aber die Wogen eilen frei und lachend ihre eignen wilden Wege.

Auf dem Hinterdeck der Fähre, hoch über den Wogen steht Friederike und starrt in das brausende Kielwasser hinunter. So hat sie einstmals mit Tymme hier gestanden – sie dachte jetzt daran; es war auf einer ihrer Sommerreisen nach Rosgaard in ihrer Kindheit gewesen – und hatte in das Kielwasser hinuntergeschaut. Sie hatten es mit Schlagsahne verglichen, mit der, die man bei Tante Eline bekomme. Tymme hatte auch gesagt, daß er glaube, die Wogen seien deshalb so vergnügt und lustig, weil sie, so oft sie wollten, nach Fünen laufen, am Bollwerk von Nyborg hinaufspritzen und dort Jens mit dem Wagen von Rosgaard sehen könnten. Daran dachte Friederike jetzt.

Ein paar Möwen flogen dicht an ihr vorüber, und sie erinnerte sich daran, wie Tymme und sie damals den Möwen Brotstückchen in die Luft geworfen und sich an diesem Spiel ergötzt hatten. Als sie dann – sie und Tymme – ihren ganzen Brotvorrat verbraucht hatten, hatten sie den Vögeln lachend zugerufen: Ich habe nichts mehr! Auch jetzt sah Friederike den Vögeln zu und flüsterte: Ich habe nichts mehr. – Wieder starrte sie ins Wasser hinunter, und die Wogen lachten herauf, grünlich, winterkalt, die freien Wogen, die ihre eignen, wilden Wege gingen. Die schweren, kalten Wogen, die so gut alles zu verhüllen und auszulöschen vermochten. Die so gut Vergessen und traumlosen Schlummer bringen konnten, eine gute Wiege, darin zu ruhn.

Die Kajütenjungfer nähert sich ihr und sagt freundlich: Will die Dame nicht lieber in die Kajüte gehn? Es ist kalt, und alle Passagiere sind drunten.

Friederike nickt mechanisch und folgt ihr. Sie gehn zusammen hinunter, Friederike voraus, die Aufwärterin hinterdrein.

*

In dem Verhör, das später in Nyborg aus Anlaß der traurigen Begebenheit auf der Dampffähre »Seeland« am 5. November 189. angestellt wurde, gab die Aufwärterin gerade diese Erklärung ab, daß die Dame voran, sie selbst aber hinter ihr hinuntergegangen sei; sie bestand ausdrücklich darauf, daß die Dame zuerst hinuntergegangen sei. Dann habe sie die Dame links in den Damensalon treten sehen, sie selbst aber sei nach rechts gegangen, in die Anrichtekajüte, und später habe sie die Dame nicht mehr gesehen.

Die Passagiere, die damals im Damensalon gewesen waren, bezeugten alle, daß die verschwundne Dame zu dem besprochnen Zeitpunkt in den Salon getreten sei, sich aber unmittelbar nachher wieder hinaus und die Treppe hinauf begeben habe. Einige erklärten aus eignem Antrieb, daß dieses Benehmen einigermaßen ihre Verwundrung erregt hätte, aber sie hätten gedacht, die Dame habe vielleicht droben etwas vergessen, oder es sei ihr plötzlich übel geworden.

Die Aufwärterin wurde nochmals vernommen. Wie lange sie sich in der Anrichtekajüte aufgehalten habe? – Ungefähr zehn Minuten. – Ob die Thür zu der Anrichtekajüte offen gestanden habe? – Das glaube sie; dies sei meist der Fall. – Wie es dann möglich gewesen sei, daß sie nicht gesehen oder bemerkt oder gehört habe, wie die Dame wieder hinaufgegangen sei? – Das könne sie selbst nicht verstehn, sie pflege von dort aus alle, die die Treppe hinauf oder hinunter gingen, zu sehen und zu hören. Die Dame müsse vorbei geschlichen oder gehuscht sein.

Ob die Dame nachher von niemand mehr gesehen worden sei? Von keinem der Passagiere? Nicht vom Kapitän? Nicht vom Steuermann, von niemand von der Mannschaft? – Nein, von niemand.

Ob das Schiff heftig geschwankt habe? – Die Fähre schwanke niemals. – Ob es nicht windig gewesen sei? – Nein, nicht so, daß man es einen Wind hätte nennen können. Wenn der Herr Richter wissen wolle, was man Wind nenne, so hätte er mit ihm – dem Steuermann – in dem Biskayischen Meerbusen sein sollen … – Ob es aber nicht so stark gewindet hätte, daß zum Beispiel eine Dame, die sich über die Reling hinauslehnte, hätte über Bord geblasen werden können? – Das käme darauf an, wie weit sich eine Dame über die Reling hinauslehne, denn wenn sie sich weiter als bis zur Mitte hinauslehne, dann brauche man keinen Wind dazu.

Ob jemand etwas Besondres an dem Benehmen der Dame während der Reise bemerkt habe? – Einer der Passagiere hatte einen der andern Passagiere sagen hören, daß es eine sehr schöne Dame sei, und hatte selbst gleich nachher dieselbe Bemerkung gemacht. – Sonst nichts? – Nein, nur daß sie ausgesehen habe, als sei sie nicht ganz gesund. – Sonst nichts Besondres? – Nein.

Die Sache wurde dann als »anscheinender Unglücksfall« eingetragen, und als solcher stand sie überall in den Zeitungen. Später, nachdem man Auskunft eingeholt hatte, kam noch eine Notiz über den Namen, das Alter und die Familie der Dame.

Zwölftes Kapitel

Das letzte des Buchs

 

Drei Jahre und noch länger sind die Wogen des Großen Belts nun über die Stelle hin und her geeilt, wo das junge Weib versunken war. Hin und zurück, unaufhörlich bei Tag und bei Nacht: hier war es, hier, gerade hier! Sie freuen sich, die grünlichen Wogen, sie blinken und rauschen und scherzen, denn es ist ihnen eine Freude, zu wissen, was niemand auf der ganzen Welt weiß! Die Dampffähre gleitet über die Stelle hin. Ist vielleicht unter den vielen Menschen da droben einer, der das geringste ahnt? – Nun ist die Fähre darüber weg. – Die Möwe streicht vorbei; du wilder Vogel mit den schwarzen glänzenden Augen, hast du vielleicht etwas gesehen? Weißt du etwas? Weg ist er. – Es wird Nacht; ein einsamer Stern schaut wehmütig herab. Du fernes Himmelslicht, solltest du vielleicht? – Aber die Wolke schließt sich über dem Stern, und die Wogen jubeln in dem sichern Besitz ihrer Kunde. Ja manchmal, besonders in dunkeln stürmischen Winternächten, wenn die Einsamkeit da draußen vollständig und grenzenlos ist, da versammeln sich die Wogen über der Stelle, bäumen sich und führen einen wilden Tanz auf, heulen und brüllen in schäumender Lust: Wir wissen es, hier war es, hier, hier!

*

Und dies, sagen Sie, sei der erste Brief, den Sie seit drei und einem halben Jahre von Ihrem jungen Anverwandten bekommen haben?

Ja, Herr Pastor Fibiger. Damals als das Unglück eintraf, als Friederike hinging und – und starb –

Allerdings, sagt der Propst, und es entsteht eine kurze Pause. Nun, fährt er fort, fassen Sie sich, gute Lemvig, die Wege des Herrn –

Ja, denn als er dann so ganz wild geworden war, und dann sofort abgereist war, als er dem Holmer, dem Kandidat, das gethan hatte –

Den beklagenswerten Skandal, ja. Aber das schlimmste war, fährt der Propst mit wachsender Erregung fort, daß dieser Radikale eine solche körperliche Züchtigung überlebt hat – nein, das wollen wir nicht sagen –, aber daß er kurz nachher auch noch erreicht hat, Reichstagsabgeordneter zu werden, und nun als Wortführer des Radikalismus, der ein Krebsschaden ist, drin sitzt –

Der Herr Pastor Fibiger hat nicht nötig, mich so anzustarren, sagt Gine mit einem Anflug ihres alten Trotzes, denn das, was die Linke will, das ist nicht der Radikalismus, sondern Freiheit und Erleuchtung für das Volk.

Der Propst sieht, wie betrübt und angegriffen Gine ist, und schweigt deshalb gutmütigerweise. Sie aber fährt in niedergeschlagnem, wehmütigem Tone fort:

Dann ging er ja von uns allen fort und kam nicht wieder; das nächstemal schrieb er von New-York aus, daß er es gut habe, und daß er Vögel und Tiere austrockne und nicht zurückkommen wolle.

Austrockne?

Ja, es war in so einem Vogelmuseum. Dann schickten Güllichs ihm Geld hinüber, daß er heim kommen solle, und nun haben wir ihn seit drei und einem halben Jahre tot geglaubt, jetzt aber ist er wieder am Leben und schreibt dies hier – will es der Herr Pastor nicht selbst lesen, ich kann die Adresse nicht herausbringen.

Der Propst liest: Meine Adresse ist: Mr. Lemvig, letter-carrier, West Plains near Chicago, Illinois, United States of America. – Ja, er ist das, was wir einen Briefträger oder Postboten nennen, an einem Ort, der Westebne heißt, ein kleinerer Ort, vermute ich, bei Chicago in Nordamerika. Ja. Hier, sein Sie so gut, Lemvig.

Nein, will der Herr Pastor nicht das Ganze lesen, denn es steht etwas drin, was mir angst und bange macht. Und während der Propst den Brief murmelnd liest, beobachtet sie ihn ängstlich.

Hm … hm … außerordentlich liebevoll geschrieben … hm … viel Gefühl … hm … so ist er also zufrieden mit seiner Stellung, sieh, sieh, das ist schön von Ihrem jungen Anverwandten … hm … und dann diese christliche Grundlage, die bei der Jugend heutzutage so selten ist …

Aber auf einmal zeigt sich eine gewisse Betroffenheit in dem Gesicht des Propstes, und augenblicklich sagt Gine:

Ja, jetzt kommt es.

Der Propst sieht sie einen Augenblick an, senkt dann den Blick wieder und liest:

… ja, meine liebe alte Tante Gine, nun komme ich an das, was mir einen so segensreichen Frieden ins Herz gegeben hat, obgleich du es wahrscheinlich nicht verstehn wirst. In den letzten Monaten bin ich nämlich sehr viel mit einem gewissen Pater Andreas umgegangen, einem außerordentlich klugen und angesehenen dänischen Mann und, was du vielleicht an seinem Namen erraten kannst, einem katholischen Geistlichen. – Hier in der Gegend sind die meisten Skandinavier Katholiken, und Pater Andreas allein soll den größten Teil davon bekehrt haben. – Obgleich meine soziale Stellung hier sehr weit unter der seinigen ist, wurde er doch mein Freund, ich weiß nicht recht, wodurch. Ich schloß ihm dann mein Herz auf, und er wurde mein wahrer Beichtvater, noch ehe das Entscheidende eintraf. Ach, wie wohlthuend ist es doch, jemand zu haben, dem man alles anvertrauen kann, ja anvertrauen muß, alles, alles. Wie notwendig wäre mir so jemand mein ganzes Leben lang gewesen. – Dieser Pater Andreas verstand mich so gut und sagte, daß mir ein fester und sichrer Halt fehle, ein Ankerplatz für die Seele. Und eine solche Ruhestätte, sagte er, finde sich nur in der katholischen Kirche, alles außerhalb sei schwankend und unsicher.

(Der Propst, der das Vorhergehende mit immer stärkerm Stirnrunzeln begleitet hatte, machte hier eine zornige Bewegung.)

– Werfen Sie nur alles auf die Kirche, sagte er, nicht nur Ihre Sünden, sondern auch Ihre Zweifel; die Kirche übernimmt die Verantwortung für Sie, sagte er, und kurz und gut, liebe, liebe Tante Gine, du bist die einzige, die sich um mich kümmert, das weiß ich wohl, du, die mich besser kennt als alle andern – kurz gesagt, betrübe dich nun nicht über mich, ich mußte, ich konnte nicht anders, um mir endlich Frieden zu verschaffen – ich bin katholisch geworden.

(Katholisch! ruft der Propst. Gefangen von diesen, diesen …)

– Die Gemeinde nahm mich sehr freundlich auf. Ich verfasse zu verschiednen Gelegenheiten kleine Gedichte für sie, besonders für die beiliegende Zeitung, und ich werde recht gelobt dafür, manchmal bekomme ich auch etwas Geld dafür … ich habe es gut, aber ich habe Heimweh, Heimweh, Heimweh! …

Hier ist noch mehr, sagt Gine und zieht dem Weinen nahe – doch mit einem kleinen, ganz kleinen Anflug von Stolz – ein Zeitungsblatt, das mit Tymmes Brief zugleich angekommen war, hervor; es ist ein kleines, sehr ländlich aussehendes Blatt, schlechtes Papier, grobe Buchstaben, der Text bald schwedisch, bald dänisch mit englischen Ausdrücken vermischt: Wochenblatt für katholische Skandinavier in Chicago und Environs – ein durchbohrtes Herz war die Vignette. Gleich auf der ersten Seite war da zu lesen: Wir haben heute wieder das Vergnügen, unsern gläubigen Lesern ein schönes Gedicht unsers neubekehrten Landsmanns zu bringen, nämlich des dänischen Mr. T. Lemvig:

Sancta Ecclesia

Im offnen Boot
Auf wildem Meer,
Mit der Hand das Auge beschattend,
Späht' ich nach Land, nach Land!
Das Steuer zerbrochen,
Das Segel zerfetzt,
Das Ruder entrissen der kraftlosen Hand.
Und ich dürstete qualvoll,
Die Sonne verbrannte
Mein schmerzend Gesicht
Jeden Tag, jeden Tag,
Und ich dürstete qualvoll.
Kam die dämmernde Nacht,
Lag ich auf dem Boden
Des schwankenden Bootes
Und träumte von Wasser,
Von Wasser, das erquickend mich letzte.

Das Fieber ergriff mich;
Ich rief nach dem Freunde,
Den früher ich hatte,
Rief nach dem Vater,
Der einstmals mich liebte,
Nach der Mutter, der Mutter
Mit dem milden Auge,
Das über mir wachte,
Wenn sicher ich schlief,
Mich lächelnd ansah,
Wenn süß ich erwachte.

Doch der Freund war fern,
Wohl tausend Meilen,
Der Vater war tot,
Und die Mutter war tot,
Ihr Auge geschlossen!
Und ich träumte von Wasser,
Von Wasser, das erquickend mich letzte.
Doch das Fieber nahm zu,
Da rief ich der Wolke,
Der eilenden Wolke,
Der flatternden Möwe,
Die schrie mir nur zu
Und war dann verschwunden.
Und ich rief dem Sterne
Und starrte ins Aug' ihm,
Doch er funkelte bös
Und war dann verschwunden.

Dann kam ein Tag:
Vor dem matten Auge
Tauchte ein Schiff auf,
Aus dem Meere stieg es
Mit weißen Segeln,
Größer und größer
Dem matten Auge.
Ich hört' eine Stimme,
Eine Hand ergriff mich,
Und meine Lippe netzte
Erquickendes Wasser!

Nun ruhe ich aus,
Ich armer Schiffbrüchiger,
Auf sicherm Deck;
Denn hier ist Rettung
Und nirgend anders.
Sancta Ecclesia,
So heißt das Schiff,
Una catholica.
Wohl dem, der an Bord ist,
Weh dem, der will steuern
Sein eigenes Boot!
Heil dir, Sancta Ecclesia!

T. Lemvig

 

Das ist sehr katholisch, sagte der Propst düster.

Ich möchte gerade den Herrn Pastor Fibiger um Auskunft bitten, ob das, was man katholisch sein heißt, dasselbe ist wie reine Gottlosigkeit, so wie ich es gelernt habe, und wie es alle Menschen lernen?

Allerdings, sagt der Propst streng.

In großer Angst, die Hand auf das Herz pressend, fährt Gine fort:

Herr Pastor Fibiger, Sie sind ein guter Mann und können mich nicht belügen: ist es denn ganz gewiß, daß es die reine Gottlosigkeit ist?

Allerdings, antwortete der Propst, aber mit weniger fester Stimme als vorher.

Gine schweigt eine Weile und sagt dann schließlich mit verzweifelter Entschlossenheit:

Dann will ich, so alt ich bin, über das Meer fahren und ihn wieder zu seinem Kinderglauben bekehren.

Es entsteht eine lange Pause. Schließlich ergreift der Propst das Wort, während sich seine guten blauen Augen mit Thränen füllen:

Sie sind eine edle Seele, Jungfer Lemvig. Aber das geht nicht. Was sollte denn dann aus … ich will nicht sagen, aus mir und meinem Hause werden …

Ach, aus Ihnen! sagt Gine mit einer so deutlichen Kundgebung, daß er für sie nur eine Nebensache ist, daß der Propst unwillkürlich in sein Hm ausbricht.

Aber dann die arme Töllöse hier, für die Sie in Ihrer großen Tüchtigkeit auch eine Mutter sind, ja mehr als eine Mutter.

Ja, das ist allerdings richtig. Um ihretwillen muß ich ja bleiben, ja, ich muß.

Hierauf geht sie zögernd und tief betrübt mit Tymmes offnem Brief in der Hand aus dem Zimmer.

Propst Fibiger bleibt sinnend zurück. Er macht ein paar Schritte hinter ihr her, bleibt aber stehn und versinkt wieder in Gedanken, während er sich die Stirn mit der Hand reibt. Dann geht er ihr nach, durch alle Zimmer schneller und immer schneller, die Treppe in den Hof hinunter und durch die Pforte hinaus, die auf den Kirchhof führt, erst da erreicht er sie.

Hören Sie, Gine.

Sie dreht sich etwas verwundert um.

Hören Sie, Gine, sagt der Propst verlegen. Aus Anlaß von dem, was Sie mich vorhin gefragt haben, muß ich Ihnen noch sagen, daß – obschon der Katholizismus – obschon ich als protestantischer Theologe gezwungen bin – so – könnte man ja von einem allgemeinem Standpunkt aus einen gewissen Vorbehalt machen, nein, natürlich nicht einen Vorbehalt, aber – er stockte in noch größerer Verlegenheit und sehr unzufrieden mit sich selbst. Da überkommt es ihn wie eine Eingebung:

Ich meine, liebe Gine, lesen Sie, was auf dem Grabstein des alten Pfarrers steht, das enthält einen Trost für uns alle. Hierauf wendet er sich ab und geht eilig zurück.

Gine kennt die Inschrift wohl – sie hat sie seit acht Jahren täglich gesehen –, ist aber zu müde zu denken und zu deuten. –

An einer friedlichen Stelle liegen die beiden Grabhügel nebeneinander, Pastor Lemvigs und seiner Gattin; eine Esche neigt sich über beide herunter, blaues und weißes Immergrün bedeckt die Erde. Eine gemeinsame Marmorplatte trägt die Namen der Verstorbnen, das Geburts- und das Todesjahr, sowie die Inschrift:

In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Joh. 14, 2.

Nach ihrer täglichen Gewohnheit beschäftigt sich Gine ein wenig mit dem Grabe; sie begießt es mit Wasser aus dem nahen Brunnen – erst das Grab des Pfarrers, dann das der Frau Lemvig und zuletzt noch einmal das des Pfarrers; dann setzt sie sich auf das Bänkchen unter der Esche und liest Tymmes Brief noch einmal. Mathis, flüstert sie, das ist dir doch erspart geblieben. – Liebster Gott, der kleine Tym! Er ist doch so gut und freundlich wie ein Kind, murmelt sie im Weiterlesen. Er hat schrecklich Heimweh, das kann ich wohl merken, er bittet, seinen alten Nußbaum zu grüßen – und unwillkürlich suchen ihre Augen durch das Grün den Giebel des Pfarrhauses. Dabei streift ihr Blick die marmorne Tafel mit ihrer Inschrift; ihr Mund wiederholt sie, und das erwachende Verständnis verbreitet feinen freudigen Schimmer über das alte Gesicht.

– Nun aber muß sie heim zu ihrer Arbeit. Ehe sie geht, läßt sie ihr Auge noch einmal auf Pastor Lemvigs Grab ruhen und murmelt:

Lieber Gott, Mathis, wie kommt es nur, daß es allen deinen Kindern so schlecht gegangen ist, sie haben doch so viel, viel Freiheit gehabt!

 

Druck von Carl Marquart in Leipzig

 


 << zurück