Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Ach noch einmal dasselbe

 

Man führt mit der Eisenbahn von Kopenhagen nach Lundbyvester in weniger als einer Stunde. Es ließ sich darum machen, daß Tymme zu seinem Vater in den Konfirmationsunterricht ging, und zwar so, daß er jeden Montag und jeden Donnerstag Vormittag hinausfuhr und am Abend wieder herein. Diese Tage gingen also für den Schulbesuch vollständig verloren. Sein neuer Rektor Mathisen fand sich darein, denn sonst hätte der Vater wohl einen andern Rektor entdeckt, der sich darein gefunden hätte. – Und da Tymme sich in seinem Pensionat gottserbärmlich langweilte, wurde es feste Gewohnheit, daß er schon am Sonnabend gleich nach der Schulzeit nach Lundbyvester hinausfuhr – manchmal auch schon etwas früher, um mit dem Einuhrzug fortzukommen – und dann erst am Dienstag Morgen wieder zurückkam, wo er dann so ungefähr um neun Uhr die Schule erreichen konnte und also nur eine Stunde oder etwas mehr versäumte – und ebenso am Mittwoch Mittag und Freitag Morgen. Auf diese Weise blieben für den Schulbesuch doch noch fast vier Tage in der Woche, und das mußte ja in einer Schule genug sein, »wo für die besondre Individualität des einzelnen Schülers Sorge getragen wurde.«

Um so beklagenswerter war es deshalb, daß man Tymme Lemvigs besondrer Individualität fast nicht beikommen konnte; eine überhandnehmende Trägheit und Interesselosigkeit löschte die geistigen Kundgebungen aus, wie das Öl die brausenden Meereswogen dämpft.

Das geistige Leben gärt in dem Alter, wir wollen es in Freiheit gären lassen, sagte sein Vater.

Nein, wie er wächst! sagte Tante Gine.

Wenn er dann im Konfirmationsunterricht gewesen war, trieb er sich den lieben langen Tag im Pfarrhof herum, ausgenommen, wenn ihm der Vater in den Fächern nachhalf, die er an dem Tage in der Schule hätte haben sollen. Pastor Lemvig wußte noch ein wenig von Cäsars gallischem Krieg (erstes Buch) und von Ciceros beiden ersten katilinischen Reden, und da war es ja ganz günstig, daß Tymme in der Schule gerade daran war.

Warum muß er denn eigentlich Student werden? Er sollte auf eine Volkshochschule und später ein aufgeklärter, freisinniger Bauer werden, sagte Tante Gine.

Nein nein, sagte der Pfarrer mit unsichrer Stimme. So wie die Gesellschaft nun einmal ist, öffnen sich einem Studenten doch eine ganze Reihe von Lebenswegen. – Nun, jetzt wollen wir weitermachen, mein Junge.

Teneris undique, liest Tymme; du bist dünn überall.

Ob das wohl richtig ist? sagt der Vater; ich meine, du solltest den Lehrer über diese Stelle fragen.

Ach, mir ist es einerlei, denkt Tymme und macht ein Kreuz auf den Rand. Sein Cicero sah aus wie ein Kirchhof.

– und was hast du denn im Griechischen?

Im Griechischen? – Ach – noch einmal dasselbe.

Als er dieses sagte, ging Friederike gerade durch die Stube; sie lachte kurz auf.

Zweites Kapitel

Glück und Segen!

 

Der Konfirmationstag!

Tymme hat gelobt, dem Teufel und all seinem Werk und Wesen zu entsagen. Das hat er gelobt, und als ein ehrlicher Mensch muß er sich bestreben, es zu halten.

Er will es auch halten. Es beunruhigt ihn aber doch etwas, daß er nicht recht weiß, was »der Teufel und all seine Werke« ist. Jetzt, nach einem halbjährigen Konfirmationsunterricht nicht recht – nicht so ganz genau – sicher zu sein, ob der Teufel denn auch wirklich existiere, das ist doch ein wenig sonderbar. Während des ganzen Konfirmationsunterrichts hat der Vater das mit dem Teufel gleichsam vermieden. Friederike hat einmal gerade heraus zu Tymme gesagt, daß Vater gewiß selbst nicht an den Teufel glaube, und seither hat sich Tymme förmlich davor gescheut, den Vater darüber zu befragen. Nun, man konnte vielleicht den Teufel auch als eine Umschreibung für »das Böse« nehmen – obgleich – Aber Vater hat auch niemals etwas Näheres über das Böse gesagt. Damals zum Beispiel, als sie am sechsten Gebot waren – da war doch etwas, dachte Tymme, das man hätte sagen, hätte aufklären müssen, damit man es halten könnte. Ach, wie fest entschlossen war er, es zu halten, aber zuerst mußte er doch wissen, was es war – und dann wurden es nur lauter Allgemeinheiten; er ging ebenso klug weg, wie er gekommen war. Ob wohl die andern Konfirmanden es besser verstanden? Wohl kaum; ob denn der eine oder der andre von ihnen wohl schon im Herzen und in Gedanken dieses Gebot übertreten hatte?

Und im ganzen genommen, all dieses Strenge am Christentum: du sollst, du sollst nicht; die Forderungen, das Gesetz, die ewige Verdammnis – das stand doch auch in der Heiligen Schrift, und sie mußten ja einige Bibelsprüche darüber auswendig lernen – aber über all dies war der Vater leicht hinweggegangen. Ach, es ist so leicht, so leicht, ein Christ zu sein – bloß »Freiheit,« »aus eignem Antrieb,« »das Kindesrecht,« »Freude in Christo« – das kommt alles von selbst.

Ja, vielleicht. – Aber es war doch eine große Furcht über ihn gekommen, als er nun in der Kirche stand und die Reihe an ihn kam, zu geloben, dem Teufel zu entsagen.

Wie, wenn er sagte: Nein, ich verstehe es nicht recht. Er fühlte einen Drang, dies zu thun – oder auch plötzlich aufzupacken und davonzulaufen – aber der Skandal!

Jetzt ist es an seinem Nebenmann, Rasmus Rasmussen – ein furchtbar fauler Junge, und mausen thut er, und flunkern thut er, aber besonders ist er – sehr dumm!

Rasmus Rasmussen! Entsagst du dem Teufel und all seinem Werk und Wesen?

Ja, sagt Rasmus Rasmussen und sieht träge und verlegen auf die Seite.

Nein, daß dieser Junge ja zu sagen wagt; das ist entsetzlich! – soll ich davonlaufen? – noch ist es Zeit.

Nein, nun ist es zu spät; auch Tymme Styrbjörn Frode Lemvig hat das Gelübde abgelegt. Er weiß es erst, nachdem er es gesagt hat. Er hat Kopfweh, und eine dumpfe Gleichgiltigkeit hat die vorhergehende Spannung abgelöst.

*

Glück und Segen! sagt der Vater und umarmt seinen Sohn; sie sind nun daheim im Pfarrhaus.

Tymme fühlt eine gewisse Bitterkeit gegen ihn, ohne sich recht den Grund davon erklären zu können, aber die Bitterkeit verschwindet, als er in das gute liebevolle Gesicht mit dem gerade jetzt so väterlich milden und frohen Ausdruck sieht. Danke, sagt Tymme und erwidert die Umarmung mit einer Wärme, als ob er ein Unrecht wieder gut zu machen hätte.

Glück und Segen! sagen Tante Gine und Schwester Karoline und die eingeladnen Gäste: der Schullehrer und einige Bauern aus der Umgegend. – Von den Güllichschen lagen Briese und Gaben da, teure und gute Dinge; die Uhr ist von Onkel Leonhard.

Friederike, willst du mir nicht gratulieren?

Friederike heftet ihre tiefen blauen Augen auf ihn, sie küßt ihn und will etwas sagen – aber dann schüttelt sie sachte den Kopf und schaut mit einer eigentümlich finstern Miene auf die Seite.

*

Das erste Abendmahl!

Friederike ist nicht dabei. Friederike thut zwar immer das Gegenteil von andern Leuten, aber das ist doch zu toll, meint Tymme. Die andern betrachten es offenbar als etwas Natürliches; nur Tante Gine schüttelt den Kopf und brummt sie ein wenig an.

Tymme hat jedoch keine Lust, Friederike auszuforschen: er hat mit seinen eignen Angelegenheiten genug zu thun, ja mehr als genug.

Dies ist noch heiliger als die Konfirmation; ein Sakrament.

In dem Augenblick, wo er das Brot und den Wein genießt, wird ein Wunder mit ihm geschehen. Aber es wird eine seelische Anstrengung verlangt, ohne die er »isset und trinket sich selbst das Gericht.« Das ist entsetzlich. Wie soll er es nur anfangen, in den rechten seelischen Zustand zu kommen? Hat er Glauben? O ja, das darf er doch wohl sagen; aber hat er Glauben genug? Wieviel wird denn verlangt? Sollte er nicht lieber Friederikens Beispiel folgen und zu Hause bleiben?

Wenn er doch nur jemand hätte, mit dem er reden könnte; er schämt sich.

Aber jetzt setzen sie den Hut auf. Nimm die Gesangbücher und mach, daß du mitkommst, sagt Tante Gine.

Mit der größten Spannung sieht Tymme, wie sich die Hostie und darauf der Kelch ihm nähern; diese Spannung, ist das der Glaube?

Nun! – und aus der Tiefe seiner Seele, gerade ehe er die Lippen ansetzt, murmelt er schnell: Ach, Gott! hilf mir!

Nun ist es gethan. – Tymme fühlt eine große Erleichterung, gleichsam Ruhe; ist das Seligkeit? oder ist es nur Erschlaffung?

Aber während sie sich alle von den Altarstufen erheben und den stillen Gang nach ihrem Platz im Kirchenstuhl antreten, geschieht etwas –

Ach, wie unbedeutend ist es doch im Grunde genommen: Tymme hört einen Vater seinem Sohn zuflüstern – es ist Kaufmann Lauritzen, und der neukonfirmierte Sohn Olaf geht gerade zwischen den Eltern – Lauritzen flüstert seinem Sohne zu:

Vergiß es niemals, mein Junge!

Tymme sieht ihn an: Lauritzen ist ein kleiner, ältlicher, unansehnlicher Mann – aber welcher Ausdruck ist nun in seinem Gesicht, so gesegnet, so bewegt! und die Art und Weise, womit dieser unbedeutende Mann sein »Vergiß es niemals« geflüstert hatte – ganz verschämt, nicht für andre bestimmt, so gläubig –, und diese Zärtlichkeit für den Sohn, die darin lag!

Tymme versetzte sich an Olafs Stelle, und tief ergriffen davon, daß ein andrer Vater so zu einem andern Sohn gesprochen hatte, brach er in heftiges stilles Weinen aus – das während des ganzen Gesanges anhielt; niemand störte ihn dabei, niemand sprach mit ihm.

An der Thür der Heimat hieß es dann wieder: Glück und Segen!

Drittes Kapitel

Pastor Lemvig fühlt sich glücklich

 

Am Abend desselben Tags steht der Pfarrer mit seiner Pfeife an dem Fenster seines Studierzimmers und sieht von da in den Garten hinaus. Dies ist sein Lieblingsplatz. Er liebt es, von da aus in die Luft und auf die Wolken hinauszuschauen in der unbestimmten träumerischen Stimmung, die ihm so lieb ist und so günstig für die Eingebungen für seine Predigten. – Drunten im Garten wandern Friederike und Tymme Arm in Arm in vertraulichem Gespräch – ein schönes Paar, besonders Friederike ist außerordentlich schön in der reinen Blüte ihrer achtzehnjährigen Weiblichkeit, und nun, wo sie aus Anlaß des Festes etwas besser gekleidet ist – so wenig es auch ist, so gleicht sie jetzt doch einer jungen Königin.

Das Fenster ist geschlossen; der Pfarrer hört ihre Unterhaltung nicht.

Friederike: Glauben? Glauben? – Ja, ich weiß nicht; es muß wohl richtig sein, so im ganzen genommen, was einem gelehrt wird; aber – aber – ich bin – ich – nein, ich habe keine Lust zum Abendmahl. – Im übrigen ist es mir gleichgiltig.

Tymme: Gleichgiltig? Er sieht sie verwundert und mit einer gewissen Entrüstung an. Das Wort konnte in Leichtfertigkeit, in thörichtem Übermut gesagt sein, aber weder der Tonfall noch die Miene deuten darauf hin, eher drückt sich Zorn und Bitterkeit in beiden aus. – Ja. vollständig gleichgiltig, fügt sie hinzu.

Tymme: Das kann nicht dein Ernst sein! – er ist ganz erschrocken.

Sieh, Gine, sagt der Pfarrer droben in der Studierstube und deutet mit der Pfeifenspitze hinaus. Sieh, Bruder und Schwester – wie hübsch! – Ach – er seufzt glücklich – dies ist für mich ein guter Schluß eines gesegneten Tages. – Es gleitet wie ein Schatten über seine Stirn hin: es fällt ihm ein, daß Friederike nicht mit beim Abendmahl gewesen ist – Ich könnte ja wünschen, daß – nun Freiheit, Freiheit, dann wird alles schon kommen, mit Gottes Hilfe. – Nein, sieh doch, Gine, wie nett sie sich miteinander unterhalten; das hätte unsre teure Amalie erleben sollen, diesen Anblick an diesem Tage!

Ja, das kann schon sein, sagt Gine kurz, aber es sieht nicht nett aus, daß das große Mädchen in ihrem neuen feinen Kleid in dem Gebüsch herumläuft – sie wollte das Fenster aufmachen und Hinausrufen, wurde aber vom Pfarrer zurückgehalten.

Ach laß, ich möchte mich an diesem Stimmungsbild erfreuen, sagt er.

Tymme zu Friederike: Aber wenn du es doch für wahr hältst, ich meine das Christentum, dann glaubst du doch, und warum kannst du dann nicht wie die andern thun?

Wie die andern? antwortet Friederike mit plötzlicher Erbitterung und bleibt stehn. Ach, du weißt nicht, wie ich diesen Ausdruck hasse; »wie die andern,« das allein genügt schon –

Das verstehe ich nicht, sagt Tymme – aber das ist nicht wahr, denn er kann es ja gerade ganz ausgezeichnet gut verstehn; wenn er es nur wagte, so würde er es auch nicht machen wie »die andern.« Ist es denn nicht gerade das, was er an der Schwester bewundert, daß sie anders ist als die andern? Brüder Pflegen sonst, in diesem Alter wenigstens, ihre Schwestern nicht leicht zu bewundern, aber Tymme betrachtet sie und bewundert alles: das stolze, trotzige Gesicht, den festen, festen Blick: die prachtvolle Figur –

Du gleichst aber doch nicht einer richtigen – einer – Dame, sagt er. Doch, jetzt wohl, aber ich meine am Werktag; könntest du dich zum Beispiel nicht ein wenig anders kleiden?

Mich anders kleiden? Was sollte das nützen? Um der »Leute« willen, nicht wahr? Der harte und bittre Ausdruck verstärkt sich.

Eine längre Pause tritt ein, dann sagt Tymme:

Bist du noch nie verliebt gewesen?

O Tymme, du bist gut! – sie lacht. Tymme fragt sich in Gedanken auch, in wen sie sich denn wohl hätte verlieben sollen. Er denkt, es sei doch schade, daß sie hier draußen wohne, ohne einen Menschen zu sehen.

Du solltest eben doch ein wenig nach Kopenhagen kommen und bei Tante Erika wohnen. Sie hat so oft davon gesprochen. – Aber das läßt sich wohl jetzt nicht ausführen, denn sie und der Vater sind ja miteinander zerfallen.

Sie hat auch an Vater und ebenso an mich selbst deswegen geschrieben, aber Vater – und das ist immer so viel wie Tante Gine, sie wollen es nicht haben. Es hieß, ich solle etwas lernen, ich bin ja so unwissend wie die Ente dort … sie spricht mit zunehmender Bitterkeit – solcher Unterricht, wie wir ihn gehabt haben – solche Lehrerinnen – und kurze Zeit sind wir in die Mädchenschule hier in Lundbyvester gegangen, und das war fast das jämmerlichste – Ja, Tante Gine wollte uns sogar auf eine Volkshochschule thun. Gott weiß, es wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen.

Aber du wolltest doch selbst nicht –

Ja, weil Tante Gine es wollte, und sie und ich, wir kommen nun einmal nicht miteinander aus.

Gott mag wissen, mit wem du eigentlich auskommst, Frie.

Ich hätte von Anfang an anders behandelt werden sollen.

Der Bruder schweigt. Seine Gedanken wenden sich nun ihm selbst zu, aber er hat keine Lust zu sagen, was er denkt, oder seine Gedanken sind ratlos. Der unverhohlene Trotz in der Miene der Schwester spiegelt sich in der seinigen wieder, aber zu unbestimmter Unzufriedenheit und zu Eigensinn abgeschwächt. –

Gine, sagt der Pfarrer droben im Studierzimmer, ich fühle mich heute abend so glücklich; ein Geist des Segens scheint sich auf mein Haus herabgesenkt zu haben –

Das kann wohl sein, aber nun muß ich hinaus – und der Pfarrer sollte die Kinder hereinrufen, denn –

Die lieben Kinder! – Nun ja. – Wo ist denn aber Karoline?

Karoline? Sie ist vorhin zum Schuhmacher gegangen; sie ist wohl noch nicht zurückgekommen.

Ach ja. – Sieh doch, wie schön sich die Abendwolken dort abzeichnen; es ist, als ob – Hör, Gine, mir kommt es vor, als brauche Karoline schrecklich viel Schuhwerk, was?

Ja, sie laufen den ganzen Tag im Dreck herum, die großen Mädels, und ich habe meine liebe Not damit wie mit anderm auch; aber der Pfarrer ist ja jetzt ein reicher Mann, und Töllöse ist nur ein kleiner Schuhmacher, und es wird ihm sauer, aber fürs Volk ist er, Herrgott ja, fürs Volk und freisinnig dazu.

Viertes Kapitel

Wieder Veränderung

 

Tymmes Schulkenntnisse – ja, mit den Kenntnissen und allem andern war es eher rückwärts als vorwärts gegangen.

Da fragte der Pfarrer eines Tages seinen Sohn – Tante Gine war zugegen –, warum es denn so erbärmlich gehe, ob die Lehrer Schuld daran seien?

Ja, das werde wohl so sein, meint Tymme. Sie, die Lehrer, könnten auch lange nicht so viel wie Professor Löwes Lehrer. – Ob er nicht selbst auch weniger fleißig sei? – Ja, das müsse er schon zugeben, aber, erdreistete er sich zu sagen, warum habt ihr mich aus meiner alten Schule weggenommen?

Lieber Gott! fuhr Tante Gine auf, aber der Pfarrer winkte ihr sanftmütig zu, sie sollte ruhig bleiben. Dann kaute er eine Weile an seiner Pfeife.

Möchtest du denn, fuhr er unsicher fort, möchtest du denn gern wieder in – Nein, beeilte er sich, hinzuzufügen, durch ein kurzes energisches Grunzen von Tante Gine dazu veranlaßt; nein, du bist ja jetzt zu alt, viel zu alt – laß mich sehen, du bist ja nun, laß mich sehen –

Im vorigen Monat am dreizehnten ist er sechzehn Jahre alt geworden.

Ja, das ist wahr, sechzehn Jahre. Hm. Großer Junge. Und der Pfarrer betrachtete ihn liebevoll und versank in Gedanken.

Na, was sollen wir denn mit ihm thun? fragte Tante Gine.

Ja, sagte der Pfarrer, wir müssen wohl an eine Verändrung denken. – Was war das, was du neulich von dem Schülerheim sagtest, Gine?

Gine erklärte alsdann aufs neue, was sie über Kandidat Ejlersens neues Pensionat und Schülerheim wußte. Sie kannte Kandidat Ejlersen von früherer Zeit her ein wenig, als er an der Volkshochschule in Randsdrup in Jütland gewesen war. Und Frau Ejlersen sollte auch eine herzensgute Frau sein, und es sei ein vortreffliches Ehepaar und gerade wie Vater und Mutter mit den Jungen; freisinnig seien sie und volkstümlich, »Jugendhort« heiße die Anstalt, die sie eingerichtet hätten; sie bestehe erst seit ein paar Jahren, habe aber schon einen guten Namen. Und wenn der Pfarrer absolut an dem Abiturientenexamen festhalte, so gäbe es außer den gewöhnlichen Hochschulfächern auch noch etwas, was sie Kursus nennten, mit Latein und Griechisch und teuern Lehrern, sodaß man Student werden könne. Der »Jugendhort« sei hauptsächlich für junge Leute aus dem Bauernstand bestimmt, und sie hätten es sehr gut dort, sagte sie. Es gehe alles in Freiheit und mit Liebe vor sich; und Kandidat Ejlersen und Frau Ejlersen seien beide kirchliche Leute. Und so sei dort ein Leben –

Was sagst du dazu? fragte der Pfarrer seinen Sohn.

Ach, mir ist es einerlei.

Der Pfarrer runzelte die Stirn ein wenig und sah Tante Gine an.

Nun, dann gehe ich in den nächsten Tagen hin und spreche mit Ejlersen.

Also in Gottes Namen, antwortete Pastor Lemvig.

Fünftes Kapitel

Der »Jugendhort«

 

Tymme saß nun also im »Jugendhort« und bereitete sich auf das Abiturientenexamen vor.

Das heißt, wenn er Lust dazu hatte, denn im »Jugendhort« gab es auch eine Bibliothek der Unterhaltungslektüre, und es gab Vorträge zur Förderung der Volkstümlichkeit und religiöse Vorträge und »Diskussionen.« Nicht nur die Lehrer hielten Vorträge – in den Volkshochschulfächern –, sondern am Samstag Abend hatte meistens der eine oder der andre der Schüler – sie waren fast alle erwachsen und meistens älter als Tymme – vom Katheder des großen Saals aus etwas vorzutragen oder auch etwas zur Diskussion vorzubringen. Oft waren es die »Gedanken, die zur Zeit herrschend waren,« die zu solchen Diskussionen gewählt wurden: Frauenemanzipation, Abschaffung der Examina, allgemeine Wehrpflicht, Friedensgedanken. Diese Sitte, hier Diskussionsversammlungen zu halten, war von einem bekannten Volkspolitiker, unter dessen Führung der »Jugendhort« stand, eingeführt worden. – Für Tymme war es wie ein Aufschwung im geistigen Leben. Er fand sich in diesen Diskussionen schnell zurecht und war sogar oft der Wortführer. Er schrieb nach Hause, daß ihm alles recht gut gefalle.

Er gewöhnte sich auch rasch an die verschiednen Bauerndialekte, und daß man hier den ganzen Tag in Pantoffeln und ohne Hemdkragen herumlief, daß man in allen Stuben lange Pfeifen rauchte und im ganzen die ungebundenste Freiheit genoß, sogar noch etwas mehr als daheim in Lundbyvester – denn Tante Gine war trotz all ihrer »Freiheit« im Grunde genommen doch herrschsüchtig, darin mußte er Friederike Recht geben, während Herr und Frau Ejlersen gar nicht herrschsüchtig waren. Sie sahen es natürlich gern, daß man zur Morgenandacht und zu den Mahlzeiten und in die Lehrstunden kam, aber sie sagten nichts weiter darüber – wer hätte auch etwa zwanzig oder mehr junge Freiheitsfreunde kontrollieren können? Der Kandidat und seine Frau besorgten das Wirtschaftliche, und außerdem waren sie nette und angenehme Leute, die nur Angenehmes sagten, und die alle gern hatten. Es war angenehm und behaglich, wenn Frau Ejlersen im Schulsaal das Morgenlied auf dem Klavier spielte, und Herr Ejlersen darauf ein kurzes Gebet, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser sprach; niemand bereute es, an der Morgenandacht teilgenommen zu haben, wenn er erst einmal aufgestanden war. Aber es war eben auch angenehm, im Bett zu liegen und seine Morgenpfeife zu rauchen; man konnte dann das Singen des Chorals drunten im Saale hören. Dann gab es Kaffee und Brot, auch im Schulsaal, darauf Stunden in den verschiednen Gelassen rings herum – oder auch nicht –; dann saß man im Saal und lernte – mit Pfeifen und in Pantoffeln. Um zwölf Uhr war das Mittagessen; da wurden die Pfeifen ja weggelegt, aber die Pantoffeln beibehalten. Hernach wieder Pfeifen und Bücher, wieder Kaffee mit Brot, wieder Bücher, und zum Thee am Abend gab es belegtes Butterbrot; damit war sozusagen der offizielle Teil des Tages vorbei, denn halb zehn Uhr sagten Herr und Frau Ejlersen gute Nacht, und das Gas im Saal und in den Lehrzimmern wurde abgedreht, wenn kein Schülervortrag war.

Aber hierauf begann der unoffizielle Teil. Droben in den Zimmern war es nicht schwer, sich einen Topf warmes Wasser zu verschaffen, wenn man mit den Dienstmädchen aus gutem Fuß stand; oder man konnte sich auch eine Flasche schwedischen Punsch kaufen. Es war behaglich und doch zugleich etwas aufregend, denn Herr und Frau Ejlersen sollten es eigentlich nicht wissen. Da ging es dann los mit Toddy und Ausgelassenheit; es war zwar nicht stehender Brauch, kam aber doch recht häufig vor. Diesen Teil des Lebens im »Jugendhort« lernte Tymme auch leicht – und dann kam er sehr oft zu spät zur Morgenandacht.

Indes bekam Herr Ejlersen doch Wind von diesem Handel, und nun sollten alle Lichter Punkt zehn Uhr gelöscht sein. Das waren sie dann auch; aber halb elf war ein Teil davon wieder angezündet, und im bloßen Hemde, nur die Bettdecke um sich gewickelt, spielte man Karten – der geringste Laut auf der Treppe – husch! das Licht gelöscht und ins Bett – nein, es war niemand – also wieder heraus!

Einige der jungen Leute wurden blaß und waren bei Tage verschlafen; das viele Studieren war schuld daran.

Tymmes neue Kameraden waren von der allerverschiedensten Art; nicht alle hatten ausschweifende Neigungen – weit entfernt; es waren auch solche da, die gekommen waren, etwas zu lernen und »vorwärts zu kommen.« Diese steckten Tag und Nacht den Kopf in die Bücher; diese waren es auch, aus denen später etwas wurde, wenn sie sich nicht vorher zu schanden gearbeitet hatten. – Es waren auch Faulpelze da, ja es gab sogar einen, der beinahe seine ganze Zeit im Bett zubrachte; er sagte, er sei nicht zum Arbeiten da, sondern zuerst und vor allem andern, »sich selbst zu finden.« – Es gab auch einfache Phlegmatiker, vernünftige Leute, die zum Kuckuck! ihren guten Nachtschlaf haben wollten, um am nächsten Tage in guter Verfassung zu sein. Auch Schlauköpfe gab es, augendienerische, die die Zeiten streng einhielten. Auch Tolpatsche gab es, die den andern immer auf die Zehen traten, ohne es zu wissen, und es gab auch Bösewichte, die dasselbe thaten, aber absichtlich. Es gab aufgeweckte Leute und faule Leute; es gab Jütländer, Fünenbewohner, Seeländer; es gab Hämmer und gab Ambosse – gerade wie in andern gesellschaftlichen Vereinigungen.

Außer den offiziellen Bibliothekbüchern wurden natürlich auch andre neuherausgekommne Bücher, besonders novellistischen Inhalts, in Umlauf gesetzt. Über die »modernsten« gab es oft Debatten, und sie wurden eifrig verschlungen; die »Probleme« darin wurden zum Gegenstand der Sonnabendsdiskussionen gemacht. Aber die Unterströmung in vielen davon, nämlich das Sinnliche, wurde bei dem Abendpunsch ringsum in den Schlafzimmern besprochen. Und nach geschlossener Diskussion, wenn das Licht gelöscht war, und man schlafen sollte, dann kamen die dadurch erweckten Phantasien und regten Seele und Sinne auf.

Die Punschdiskussionen waren übrigens nur selten, was man roh oder plump hätte nennen können. Die meisten dieser jungen Leute waren gerade gebildet und belesen genug, daß sie den Kern ihrer Diskussionen mit einem Gewande zu umgeben suchten, das – wie soll man es nennen – eine Art wissenschaftlichen Anstrich hatte. Sie thaten, als seien es die Begriffsbestimmungen oder Abstraktionen, die sie interessierten, obgleich es doch das Interesse jedes Einzelnen war, aus den andern die möglicherweise gemachten Erfahrungen in diesem Kapitel herauszupumpen. Man that so, als stelle man sich objektiv dazu. Nachher, und allein, dann –! Wären es gediegne Kopenhagner Jünglinge gewesen, hätte man vielleicht den Deckmantel mehr fallen lassen. Aber so genierte man sich voreinander und vermied private Zugeständnisse; Großstädter hätten vielleicht gerade darein ihre Ehre gesetzt – und da heißt es, unsre Landbevölkerung sei nicht sittlicher als die der Hauptstadt!

Es waren ein paar Bursche da, die sich zuweilen am Abend die Hintertreppe hinunterstahlen und erst spät in der Nacht oder gegen Morgen zurückkamen. Diese nahmen nicht eifrig teil an den Punschunterhaltungen, aber sie nahmen bald den einen bald den andern mit auf ihre nächtlichen Ausflüge. Die meisten Zöglinge hatten eine Ahnung davon, was die Burschen vorhatten, und diese waren der Gegenstand einer gewissen Scheu, einer Mischung von Mißbilligung und – um die Wahrheit zu sagen – Bewunderung. Aber es gingen immer mehr mit ihnen. – Wohl war es verboten, daß den Zöglingen der Schlüssel zur Hintertreppe überlassen würde, aber sie verschafften sich ihn doch, oder sie gingen wohl auch früher fort und kamen erst am Morgen zurück, wenn die Hausthür wieder offen war. Daß aber einer oder zwei dieser Nachtschwärmer relegiert werden sollten, davon war nie ernstlich die Rede. Herr Ejlersen war ein gütiger Mann und »hoffte das beste.« Frau Ejlersen weinte bittre Thränen und versuchte, die Jungen an das Familienleben zu fesseln, indem sie alle ihre Abende opferte, um »Lieder« vorzuspielen oder Ingemann vorzulesen, aber das fruchtete nur wenig.

Tymme Lemvig hatte eine angesehene Stellung unter den Kameraden im Jugendhort. Als einer, der vom Gymnasium kam und der Sohn eines reichen Pfarrers war, genoß er schon von vornherein eine gewisse Achtung. Dazu kamen seine große Bereitwilligkeit, die andern mit seinem reichlichen Taschengeld freizuhalten, sein offner Charakter und dann auch, daß er zu den Anstaltsfesten Lieder dichten und mit nicht geringem Geschick an den Samstagsdiskussionen im Saal teilnehmen konnte; daß er in den Pflichtarbeiten und in der Vorbereitung zum Abiturientenexamen nicht viel that, das setzte ihn in den Augen der meisten Kameraden nicht herunter.

Aber diese Führerstellung Lemvigs begann allmählich auf die obengenannten Burschen überzugehn, auf Jens Olsen und besonders auf Närumgaard. Diese nahmen ein überlegnes und großmäuliges Wesen an, das den andern imponierte. Und wenn ihre Aufführung auch verwerflich war, so war es doch unleugbar, daß sie Erfahrungen hatten, die, wenn sie davon hätten berichten wollen, an Interesse all das weit übertroffen hätten, was eine Unschuld wie Tymme Lemvig vorbringen konnte. So lange Tymme Lemvig von einer so wichtigen Seite des Lebens nichts wußte, war er noch zu »grün,« als daß er mit über die großen Probleme des Lebens hätte sprechen dürfen. Dies letzte und noch andres dazu wurde ihm bei einer großen Diskussion über ein kürzlich erschienenes sehr modernes Buch entgegengehalten. Es war an diesem Abend sehr heiß zugegangen: wohl hatte die von Lemvig verteidigte religiös-sittliche Lebensanschauung die weitaus überwiegende Stimmung für sich, aber, wie gesagt, dies hatte er von Närumgaard zu hören bekommen und hatte dazu stillschweigen müssen, obgleich er über achtzehn Jahre alt war.

Beim Schluß der Versammlung war Herr Ejlersen anwesend gewesen; es war ihm offenbar unbehaglich zu Mute, er hatte aber nicht gewagt, einzuschreiten und die ganze Versammlung aufzuheben, hätte es wohl auch gar nicht gekonnt bei der Aufregung, in der sie waren. Aber später, als die Lichter in den Lehrzimmern gelöscht waren, ging Närumgaard in den Schlafzimmern herum und erzählte allen Zöglingen, nun sei wahrhaftig Ejlersen bei ihm gewesen und habe gesagt, daß das unpassend sei, worüber sie gesprochen hätten. Ob das nicht großartig sei? Ob einer von ihnen es wohl unpassend fände? Ob sie sich einen solchen Eingriff in die Redefreiheit gefallen lassen wollten? – Nein, das wollten sie sich nicht gefallen lassen, auch Lemvig nicht. – Ob sie Ejlersen nicht damit strafen wollten, daß sie alle einen Nachtausflug unternähmen, jetzt gleich –

Nur zum Trinken – aber sonst nichts, sagte Lemvig.

Dann stahlen sie sich fort, drei Viertel des Pensionats.

Sie saßen in einem Café und tranken und lärmten. Der Punsch wurde nicht gespart; Tymme spendierte den größten Teil davon. Um Mitternacht ersuchte sie der Wirt, sich zu entfernen. Dann trieben sie sich eine Weile auf den Straßen umher. Tymme wußte nicht, wie es zuging, aber er merkte, daß ihre Schar immer kleiner wurde. Schließlich kam es ihm vor, als ob er mit Närumgaard und Olsen allein sei.

Jetzt meine ich doch, wir sollten heimgehn, sagte Tymme, aber die beiden blieben mitten auf der Straße stehn und beratschlagten miteinander und hörten nicht, was er sagte.

Wollen wir nicht heimgehn? wiederholte Tymme einmal ums andre und schließlich ganz gedankenlos. So oft er es sagte, schlug er mit seinem Stock wie zum Takt auf das Straßenpflaster. Er zählte acht mal, und beim achten mal zerbrach der Stock; da lachte Tymme laut auf – er konnte es selbst vernehmen, wie dumm und tonlos es klang.

Aber auf einmal standen sie vor einem Haus, wo man noch ein schwaches Licht im ersten Stock wahrnehmen konnte. Tymme hört Jens Olsen Närumgaard zuflüstern:

Was denn? Soll es hier sein? Das ist verdammt teuer.

Was ist das für ein Haus? hörte Tymme sich selbst fragen.

Das ist ein Café! sagt Närumgaard.

Dann gebe ich Kaffee, sagt Tymme, und dann gehn wir heim.

Wie sie die Hausthür berühren, legt Närumgaard seinen Mund dicht an Tymmes Ohr – ein heißer, widerlicher Hauch – und flüstert:

Wieviel Geld hast du, Lemvig, denn dies hier ist verdammt teuer?

Die Tasche voll, mehrere Scheine, ach was – aber während er dies sagt, ergreift ihn eine plötzliche Angst.

Nein, ich gehe heim, adieu, wir wollen –

Aber schon stehn sie in einem erleuchteten Korridor, und er sieht Närumgaards Gesicht; es scheint ihm, als sähe es ihn spöttisch an.

Ach was, denkt er, ich kann ja doch gehn, wann ich will.

Ganz unten am andern Ende des Korridors kommen ein paar herausfordernde Frauengestalten zum Vorschein; sie verschwinden wieder – Närumgaard ist weggegangen, um mit dem Wirt oder einem Kellner zu reden. Da überfällt Tymme die plötzliche Angst aufs neue, aber viel stärker; ein zusammenschnürendes, erstickendes Gefühl, kalter Schweiß steht auf seiner Stirn, er richtet sich auf, jetzt will er fort – da zeigt sich Närumgaard in der Thür, und hinter ihm drei Damen. Bitte, bitte – Herrn Olsen kennen Sie, dieser Herr ist Herr Lemvig – einige Damen meiner Bekanntschaft – Herr Lemvig bezahlt –

Sechstes Kapitel

»Der gesegnete Tag …«

 

Was sind das für Töne, für Worte, die sich durch den traumlosen schweren Schlaf drängen?

Dort über dem Meere ist strahlend und hell
Der gesegnete Tag aufgegangen –

Na, das ist das Morgenlied von drunten zu Frau Ejlersens Klavierspiel. Tymme erwacht dabei. Sein Schlafkamerad mußte drunten sein, denn sein Bett war leer, die Decke zurückgeschlagen. Es ist eine Schande, daß ich nicht bei der Morgenandacht bin.

Wir fühlen es wohl als Kinder des Lichts,
Daß vorüber die Nacht ist gegangen

Aber während der Gesang weiter tönt – er hat diese Melodie immer gern gehabt –, liegt er ruhig da und hört zu.

Nun sind sie am Gebet, denkt er, als der Gesang verstummt. Er vernimmt Herrn Ejlersens Stimme und dazwischen auch einige Worte. Tymme ist noch halb im Schlaf; aus alter Gewohnheit hat er die Hände gefaltet. Auf das Gebet folgt der Katechismus; Ejlersen ist hier deutlich zu hören: »Ich entsage dem Teufel und all seinem Werk und Wesen.«

Da reißt Tymme plötzlich die gefalteten Hände auseinander; er richtet sich halb auf und starrt in dem leeren Zimmer umher, dann wirft er sich wieder zurück und verbirgt das Gesicht in den Händen: Ach, was habe ich gethan – ach Gott – was habe ich gethan! – Und er schluchzt krampfhaft, ohne Thränen – ach Gott!

Später traf er mit Frau Ejlersen zusammen; sie sah sehr niedergeschlagen aus. Sie sah sich um, ob sie niemand hörte, dann sagte sie:

Es hat uns recht weh gethan, daß Sie auch dabei gewesen sind – wir glaubten doch – ach, lieber Lemvig, um Gottes willen, waren Sie mit diesem Närumgaard? Was haben Sie gethan?

Gethan? antwortete Tymme, nichts. Er wollte vor Scham vergehn.

Sie sollten mir lieber alles anvertrauen, ich vertrete ja hier Mutterstelle an Ihnen, und diese armen jungen Menschen – o dieser Närumgaard auch –

Es war ergreifend, diese kleine kindliche Frau in ihrer eifrigen, hilflosen Mütterlichkeit zu sehen – sie hat selbst keine Kinder. – Tymme möchte am liebsten weinen und irgend jemand zu Füßen fallen und gestehn, gestehn – Aber er kann ja nicht; und wenn sie auch seine eigne Mutter gewesen wäre, ja, dann hätte er es noch weniger gekonnt! – Ach, Mutter, Mutter, wärest du doch nicht tot, denkt er.

Sie müssen mir versprechen, fuhr die gute kleine Frau fort, nie, nie wieder mit diesem – mit diesen – auszugehn. Sie haben ja Verwandte, feine Leute und gewiß auch gute Leute, können Sie nicht an den Abenden – doch es ist wahr, das sei ja auch nicht gut für Sie, sagt Ejlersen – ach, wenn Sie doch am Abend zu uns kommen wollten, nach halb zehn Uhr, wir lesen vor; ich spiele –

Ja, ich danke Ihnen, liebe Frau Ejlersen, ich werde kommen.

O ja, thun Sie das.

*

Tymme geht im ganzen Haus herum, um Einsamkeit zu finden; aber überall sind Menschen. In den Stuben sitzen sie und lernen; da ist auch Närumgaard und Jens Olsen; sie geben nicht auf ihn acht, sondern lesen in ihren Büchern. Sogar droben in seiner Schlafstube ist jemand. Da geht er fort und sucht sich eine einsame Bank im Örstedpark; er muß allein sein, und wenn er heute seine Stunden versäumen müßte. Er ist im Begriff, sich auf die Kniee zu werfen – das ist es, was ihm not thut – und zu sagen, zu rufen: Ich bitte dich um Verzeihung, Gott! – aber da kommt jemand vorbei – findet sich denn nicht ein einziger einsamer Fleck in diesem entsetzlichen Kopenhagen? – Es sind ein paar Studenten; der größte, der mit dem dunkeln, lockigen Haar, das ist ja – ja, das ist Mollerup! – Tymme wendet das Gesicht ab, bis sie vorüber sind. Wie gut und tüchtig sah Mollerup aus – er ist gewiß auch unschuldig. – Nein, die Einsamkeit ist noch schlimmer; es ist, als verfolge ihn ein großer, strafender, in der Einsamkeit doppelt scharf beobachtender Blick.

Das ist der Blick Gottes, murmelt er und springt auf. Er geht in die Stadt, in die vom Menschengewühl erfüllten Straßen. Aber jeden Bekannten, dem er begegnet, muß er ja grüßen, einige wollen ihn sogar aufhalten – ob sie – ach, was wissen die? – Er lächelt über seine eigne Thorheit.

Nein, in den Straßen hält er es auch nicht aus. In den katholischen Zeiten hatte man einen Beichtvater; wenn ich einen kennte, dann könnte ich mich ihm anvertrauen und erfahren, ob es auch wirklich eine so entsetzliche Sünde ist.

Onkel Leonhard fällt ihm ein. Es ist lange her, daß er den Onkel besucht hat. – Ja, vielleicht; der hat ja auch gesündigt, das weiß ich, es war das mit Viborg.

Und wirklich steuert er auf Onkel Leonhards Wohnung, auf dessen neue, feine Wohnung zu.

Aber Onkel Leonhard ist nicht zu Hause.

Da kehrte Tymme in den Jugendhort zurück.

*

Närumgaard mußte aber jetzt doch weg; das hat Frau Ejlersen durchgesetzt, obgleich ihn Herr Ejlersen etwas milder beurteilte. Närumgaard nahm Jens Olsen und ein paar andre mit sich, was die Einnahmen der Familie Ejlersen verringerte, aber einen andern Ton in den Jugendhort brachte.

Der Abendpunsch und auch die nächtlichen Ausflüge fielen fast ganz weg; eine Art Reaktion nach der Seite der Frömmigkeit trat ein. Bei der Morgenandacht waren alle anwesend, sogar die »Lieder« und Ingemann waren recht gut besucht.

Die Zeit verging, und die Reaktion ließ wieder nach, aber eigentliche Zügellosigkeit trat zu Tymmes Zeit nicht wieder ein.

Tymme lernte sich selbst »milder beurteilen.« Wenn alle Bücher, die nicht gerade die Religion angingen, aber doch das Leben, diese Art Vergehen zum allerwenigsten mild beurteilten, wenn alle Leute, die überhaupt darüber sprachen, ebenso mild darüber urteilten – und die meisten Männer, wie es überall hieß, hatten dergleichen auf dem Gewissen –, mußte es ihm dann so schrecklich nahe gehn?

Die Stimme in seinem Innern sprach freilich anders, aber es war nur eine Stimme, und sie hatte, so schien es, alle Stimmen des Lebens und die ganze Welt gegen sich, darum wurde diese Stimme es natürlich schließlich müde, besonders laut oder besonders oft zu reden.

Tymme wurde also gerade wie jeder andre auch, zum Beispiel wie sein Zimmergenosse, Peter Madsen, der Sohn eines Hofbauern aus der Gegend von Slangerup. Dieser sagte:

So etwas ist natürlich an und für sich schlecht, aber es gehört eben dazu.

Siebentes Kapitel

Wichtige Nachrichten von Lundbyvester

 

Tante Erika saß an ihrem Frühstückstisch, der in all seiner Einfachheit einen zierlichen und hübschen Anblick gewährte. Tymme trat ein; er war nun ein aufgeschossener, etwas über neunzehn Jahre alter Bursche; nicht Student, nein, keineswegs; er sollte gewiß im nächsten oder übernächsten Jahre »hinein« – ins Examen. Noch immer kam er einmal und besuchte sein früheres Heim in der Amalienstraße, – auch Onkel Leonhard gab er nicht ganz auf –, aber nur, wenn er eingeladen war. Deshalb war Tante Erika etwas verwundert, ihn zu sehen.

Ach, lieber Junge, putz doch erst deine Stiefel draußen ab.

Tymme ging, und unterdessen machte Tante Erika am Tisch Platz für ihn; sie schüttelte den Kopf und seufzte.

Eine Tasse Kaffee? fragte sie, als er zurückkam.

Nein, ich danke. Er war über das Stiefelabwischen etwas beleidigt.

Zu Hause giebts Hochzeit, Tante Erika, oder weißt du es schon?

Gott erbarme sich! Sie setzte die Kaffeetasse auf den Tisch, daß sie kippte. Es ist doch hoffentlich nicht sie, die Person, Gine … Ach Jutta, trockne den Kaffee hier auf dem Boden auf – es ist doch hoffentlich nicht so weit gekommen, daß sie deinen armen –

Was meinst du, Tante?

Wer denn dann, um Himmels willen?

Ja, es ist ganz auf einmal gekommen. Es ist Karoline und Töllöse. Ich wußte nicht einmal, daß sie verlobt seien, aber jetzt höre ich, daß sie schon lange heimlich verlobt gewesen seien. Ich wußte ja wohl, daß er ihr den Hof machte.

Töllöse? Töllöse? Was ist das für ein Mensch?

Ich will dir etwas sagen, Tante, du darfst nicht über jemand spotten, weil er arm und einfach ist; darüber ist man in unsrer Zeit erhaben, und auch wir draußen bei uns sind es schon lange. Ich und Vater und Tante Gine freuen uns über die Partie, das ist endlich einmal echte Liebe. Aber ich weiß wohl, daß du und Onkel – –

Lieber Gott, ich sage ja gar nichts, aber wer ist denn dieser Töllöse?

Dieser Töllöse ist ein fleißiger Mann, ein außerordentlich fleißiger Mann. – Er ist Schuhmacher und wohnt in Lundbyvester, in der Höhlengasse.

Schuhmacher – und wohnt in Lundbyvester, in der Höhlengasse, wiederholte sie matt. Hierauf entstand eine Pause, dann sagte Tymme: Also, das war es; ich soll von Hause grüßen und es mitteilen, für den Fall, daß du es noch nicht gehört hättest. – Ja, nun gehe ich, Tante Erika, ich meine übrigens, fuhr er mit ungeschicktem Ärger fort, ich meine übrigens, du solltest dich was schämen, du und Onkel Leonhard. Da komme ich und erzähle ein so freudiges Ereignis, wie eine Hochzeit es doch ist, und dann werde ich auf solche Weise empfangen.

Damit ging der beleidigte Jüngling. – Aber Tante Erika jammerte: Frau Töllöse – na! – Amalie, ach Amalie, wenn du das erlebt hättest! – Nein, dann wäre es nie geschehen. – Jutta, wie kommt dir das vor?

Es ist, weiß Gott, schrecklich mit diesen Leuten, sagte Jutta; sie war eine Aristokratin.

Ob sich der Vater Lemvig wirklich über die Partie freute, wie Tymme gesagt hatte, ist eine Frage; aber er glaubte selbst so ungefähr, daß er es thue. Dagegen freute sich Tante Gine mit aufrichtigem Herzen, es war ein neuer Sieg in der Sache des Volks.

Es war nämlich nichts Aristokratisches an dem Schuhmacher Rasmus Töllöse in der Höhlengasse in Lundbyvester. Er war ein »kleiner« Schuhmacher im Ort; eigentlich der geringste; »gut zum Flicken, aber ungeschickt zu neuem Schuhwerk,« so lautete das Urteil der bessern Leute über ihn.

Als das Paar zum erstenmal in der Kirche aufgeboten worden war, erzählte Töllöse seinem guten Freunde Svendsen sehr umständlich seine Liebesgeschichte, und zwar folgendermaßen:

… Sieh den Schuhmacher Knudsen, der hat nun immer damit geprahlt, daß die bessern Leute ihr Schuhwerk von ihm nähmen und bei mir nur flicken ließen; aber da sage ich drauf: Ja, aber Pfarrers, die nehmen auch neues von mir, und nun hat es sich ja mit Eklatanz gezeigt, daß sich das bezahlt hat. Ich hielt mich einfach ganz so lala und dachte: Sieh nur, der Pfarrer, der treibt sich ja viel im Ort und im Bezirk herum; und die Mädchen, die waten im Dreck herum und treten die Absätze krumm, und dann wachsen sie auch so ganz ungewöhnlich. So machte ich mir meine Gedanken darüber, lieber Gott, die Familie hat ja auch die Mittel dazu. Und man kann nun allerdings sehen, daß Gott für das größte wie für das kleinste sorgt, denn die Mädchen wuchsen sich so hübsch heraus, daß es ordentlich ein Pläsir war, den niedlichen Gänschen das Maß zu nehmen. Na, ich sage darüber nichts weiter; denn jeder hat ja seine Liebhaberei, wie der Franzose sagt, und die hast du bei Gott auch, Schmied: wenn nur das Herz gut ist. – Das heißt, Fräulein Friederike war eine von denen, die den Fuß gleich wegziehn, aber Karoline war nicht so stolz, sie blieb sitzen und unterhielt sich mit mir und Sine, während ich das Maßnehmen in die Länge zog; sie habe zu Hause niemand, mit dem sie reden könne, sagte sie, denn den Vater könne sie nicht verstehn, und Friederike sei zu stolz, mit ihr zu reden, und Jungfer Gine habe nie Zeit – das war nun nicht wahr, dies, denn es kommen eigentlich Leute genug zu Pfarrers, Unterlehrer Blocks und auch Mads Hansen und Hans Nielsen und Ole Larsen und er, der Politiker von Rundby. – Na, da geschah es eines Tags, daß sie sagt, meine Schwester drin nämlich, Sine – es war gleich, wie Karoline dagewesen war –, hör, sagt sie, weißt du was, Ras? – Ja, sage ich und blinzle ihr zu, ja, Sine, ja, ich glaube beinahe auch, daß ich es weiß. – Dann solltest du es das nächstemal versuchen und es thun, Ras; das ist eine große Ehre, und Geld ist da wie Heu. – Ja, Sine, sage ich, Geld ist genug da, und das Mädchen selbst ist hübsch und drall. Ja, ich will es das nächstemal versuchen. – Na, es dauerte ja nicht lange, so war die Naht an der linken Sohle aufgegangen, und dazu hätte ich eigentlich nicht nötig gehabt, ihr wieder Maß zu nehmen, aber es war nun einmal so eine Art Pläsir für mich geworden; na, und da sage ich: Ja, wollen Sie dann so freundlich sein und sich setzen, Fräulein, daß ich Maß nehmen kann? Und während ich that, als ob ich anmesse, sah ich ihr fest in die Augen. Da wurde sie rot, und da merkte ich schon, daß ich es gleich probieren könnte. Und da bewarb ich mich um sie, wie man es nennt. – Ja, und mehr erfährst du diesesmal nicht, Schmied, außer dem, daß die Zeit – na, die verging. Bitte, hier ist das Schuhwerk für die Kinder, es kostet 5 Kronen 50 Öre, wenn du nicht lieber mit dem Bezahlen warten willst, denn nun bekomme ich ja Geld genug. – Der Pfarrer, sagst du? – Na der – Ja, als dann einige Zeit vergangen war, trat er wahrhaftig selbst hier in meine arme Stube in der Höhlengasse herein. Ich die Mütze herunter und aufgestanden. Er sieht sich in der Stube um, und dann seufzt er und sagt: Sie sind ja ein braver Mann, Rasmus Töllöse! – Ja, das weiß der liebe Gott, sage ich, und der Herr Pfarrer kann sich bei der ganzen Gemeinde erkundigen, was ich für einen Leumund habe. Und das weißt du ja selbst auch, Schmied. Darauf sagt der Pfarrer: Ich weiß auch, Töllöse, daß du ein freisinniger Mann bist, nicht wahr? – Freisinnig? sage ich, es kommt ja nie eine andre Zeitung bei mir ins Haus als die »Freiheitsbotschaft« und da liegt sie, der ganze Jahrgang, wenn der Herr Pfarrer nachzählen will. Denn ich hatte ja einen ganzen Haufen aufgestapelt. Aber der Pfarrer sieht vor sich hin und bleibt eine Weile stehn, denn er hatte vergessen, sich zu setzen. Hör, sagt er, Rasmus, Rasmus, ich glaube von dir zu wissen, daß du ein christlicher Mann bist, ein kirchlicher Mann. – Der Herr Pfarrer weiß ja selbst, sage ich, daß nie ein Sonntag vergeht, wo ich nicht in der Kirche sitze und Gottes Wort höre, es sollte denn eine Extraarbeit geben, die gethan werden muß, denn dann halte ich meine Andacht daheim, der Herr Pfarrer muß nicht böse werden, aber alles Fleisch ist wie Heu, und ich bin ein armer Mann. – Da war es wieder, als ob er sich etwas überlegte, aber ich war ja meiner Sache sicher, und dann sagt er: In Gottes Namen denn, so nenne mich Schwiegervater – und ich war flugs bei der Hand und ließ Sine mit Wein und Kuchen aufwarten, denn daran hatte ich auch schon gedacht gehabt.

Na, ich danke, Schmied, es hätte aber stehn bleiben können, denn jetzt bekomme ich ja Geld genug.

*

Im Ort liefen gewisse Gerüchte umher; sie waren von der Frau des Schmieds ausgegangen. Aber es war wohl nichts andres, als was man unter dem gemeinen Volk immer sagt, wenn eine Hochzeit unerwartet schnell festgesetzt wird. Sie erreichten nie das Ohr des Pfarrers und erstarben nach der Hochzeit schnell wieder.

Der Pfarrer hatte gewollt, daß die Hochzeit in aller Stille gefeiert werde. Aber es wurde doch eine »große« Hochzeit. Die Kirche war aufs schönste mit Blumen und Grün geschmückt; die Frauen der Gemeinde hatten sich dazu zusammengethan, denn der Pfarrer war beliebt. Die Kirche war voll; alle wollten das Ungewöhnliche mit ansehen: wie der Schuhmacher Rasmus Töllöse die Tochter des Pfarrers Lemvig zum Altar führte. Die Braut war hübsch anzusehen; auch der Bräutigam war ein hübscher, gut gebauter junger Mensch, aber ein wenig »ordinär«; sein schwarzer Frack saß nicht gut, und die Hände in den weißen Handschuhen – Nummer zehn – quollen ganz lächerlich an den Seiten heraus. Sehr viel wurde Friederike, die Schwester der Braut, betrachtet, aber während die Leute die Schönheit dieser jungen Dame bewunderten, die wirklich auffallend war, gefiel ihnen die nachlässige und fast höhnische Art, womit sie auftrat, gar nicht.

Im Pfarrhaus waren auch eingeladne Gäste: Unterlehrer Blocks, Mads Hansens und Hans Nielsens und Ole Larsens und dann noch ein paar Verwandte von Töllöse und noch einige andre. Tymme, der Sohn des Hauses, war natürlich auch von Kopenhagen herüber gekommen. Bei Tisch sprach Pastor Lemvig; es war eine lange und herzliche Rede, dazu kamen die schöne, würdige Gestalt und die wohlklingende Stimme – ja, dieser Wohlklang war es, der, wie in der Kirche auch, über vieles im Inhalt hinüberhalf, das entweder an und für sich unklar oder den Zuhörern zu hoch war. Die Stimmung war hierauf eine Weile verlegen und schweigsam; aber allmählich, als der Wein seine Wirkung that, wurde freier und volkstümlicher gesprochen; besonders hielt Ole Larsen auf das Brautpaar eine so derbe Rede, daß Friederike sich mit Ekel abwandte. Aber Töllöse blinzelte seiner Karoline, die tief errötete, mit seinen kleinen Augen vergnügt zu; der Pfarrer verstand dergleichen gar nicht.

Einige der entfernter wohnenden Gäste blieben über Nacht; es gab Platz genug in dem großen Hause. – Frau Töllöse, oder wie die meisten sagten, Madame Töllöse ging mit ihrem Manne heim in sein Haus in der Höhlengasse.

Achtes Kapitel

Das Vaterunser

 

Es ist Nacht, die Gäste, mit Ausnahme der Logierbesuche, sind gegangen. In dem großen Schlafzimmer droben hört man den Nußbaum mit seinen regenschweren, schlaffen Blättern an die Scheiben klopfen; es ist Herbst. Da droben sollen der Pfarrer und sein Sohn schlafen. Sie haben im Lauf des Tags nicht viel miteinander sprechen können, und auch jetzt, während des Auskleidens, wechseln sie nicht viel Worte; sie sind vielleicht beide müde.

Tymme fühlt sich sonderbar verlegen in Gegenwart seines Vaters, er beeilt sich, ins Bett zu kommen. Der Vater folgt ihm; sie liegen eine Weile ruhig da, während das Licht noch brennt; ein paar Worte über dies und das, dann verstummt die Unterhaltung. Der Pfarrer löscht das Licht aus. Welche tiefe und schwarze Dunkelheit um sie herum! Aber drin in Tymmes Kopf da wimmelt und braust es; Gespenster von gehörten Worten, gesehenen Dingen und Personen, von Lichtern, von Speisen, von tausend unbedeutenden Kleinigkeiten umdrängen ihn – ein ermüdendes Gewirr und Gewimmel –, und dann plötzlich kommen ungerufne Erinnerungen der vergangnen Woche und dann der vorvergangnen und dann der Nächte, wo er sich fortgeschlichen hatte – wie ihn das quält. – Er glaubt, es sei eine Stunde vergangen, und da sind es erst ein paar Minuten; dann hört er plötzlich des Vaters Stimme sagen:

Nun wollen wir ein Vaterunser miteinander beten, ehe wir einschlafen.

Ein Vaterunser! – jetzt! – Tymme hat diese Gewohnheit schon lange abgelegt. Es fährt ihm ein Stich durchs Herz; und ehrlich, wie er ist und immer war, ist er im Begriff, zu antworten: Vater, ich kann nicht – jetzt nicht. Aber er schweigt; der Vater ahnt nur wenig von dem, was in der Seele des Sohnes vorgeht. Und während die feierlichen Worte durch die dunkle, stille Nacht tönen, liegt Tymme mit ungefalteten Händen und schmerzlich klopfendem Herzen da. Und gegen Morgen wacht er plötzlich auf, wie er es als kleiner Junge zu thun gepflegt hatte und es manchmal noch thut. Mutter! sagt er; er hat geträumt. Oder hat das betrübte und liebevolle Mutterauge es vermocht, sogar durch diese schwarze Nacht auf das Lager ihres Kindes hinabzuschauen?

Neuntes Kapitel

Bruder und Schwester

 

Regnerisch und naßkalt und bleich ist der Tag, der auf diese schwarze Nacht folgt. Bleich ist er noch um die Mittagszeit; Friederike geht im Garten umher, dünn und nachlässig angezogen; sie beachtet es nicht, daß die Regentropfen auf ihren Shawl fallen, oder die nassen Himbeerbüsche ihr Kleid streifen, oder daß die durchweichte Gartenerde sich an ihre Schuhe hängt. Schön ist sie, vornehm sieht sie aus, wie sie da so ruhig und gemessen auf und ab geht; aber in der Art, wie sie mit einer abgerissenen Gerte auf die Büsche schlägt, drückt sich Unruhe aus.

Tymme kommt zu ihr heraus; vor seiner Abreise möchte er noch ein wenig mit seiner bewunderten, mit seiner liebsten Schwester reden.

Tym, sagt Friederike, indem sie das Wort ergreift, sobald sie ihn sieht; es ist ekelhaft, ekelhaft mit diesen Menschen, diesen – Bauern; immer und immer dasselbe ansehen und immer dasselbe anhören zu müssen, ich begreife Vater nicht; ich verstehe ihn nicht – und dieser Töllöse – o, wie ich Karoline verachte – nein, ich halte es nicht aus!

Aber Frie! – Und Töllöse, was hast du eigentlich gegen ihn? Du bist doch über all das Zeug, was Geld und Vornehmheit und so weiter heißt, erhaben. Er ist ja ein guter, schlichter Mensch. Und Vater ist ja zufrieden mit ihm, und Gine auch.

Ach du, mit deiner Gine! – Ich will dir etwas sagen, ich bin nahe daran, sie zu hassen. Ja, ich glaube, ich hasse sie wirklich. Sie ist an allem schuld.

Tymme schweigt eine Weile, dann sagt er: Hör, Friederike, weißt du was? Ich glaube, daß es die vielen Romane sind, die dich verrückt machen.

Friederike fährt in ihrem eignen sprunghaften Gedankengang fort: Und nun bin ich fast zweiundzwanzig Jahre alt und sollte doch schon lange eine Dame sein, ja, eine Dame, Tymme; aber ich bin nur ein dummes Mädchen, denn ich weiß gar nichts, habe nichts gelernt und nichts gesehen und nichts erlebt. Ich kann das nicht mehr aushalten, pfui! Und die abgerissene Gerte sauste auf die Johannisbeerbüsche hinunter, daß die Tropfen aufspritzten.

Tymme ging stumm neben ihr her und kaute an einem Blatt; er sah nur vor sich hin, die Gedanken hatten sich von Friederike ab und dem eignen Ich zugewandt. Obgleich er im ganzen ein hübscher junger Mensch war, sah er jetzt nicht besonders gut aus; es war in diesem Augenblick etwas Scheeles an ihm, und in der letzten Zeit war auch etwas von dem, was man »verlebt« nennt, dazugekommen, das zwar ganz wenig und nur in einzelnen Augenblicken hervortrat. Friederike hatte, vielleicht unwillkürlich, einen solchen Eindruck; jedenfalls wandte sie sich plötzlich von ihm ab, und ein schwacher Ausdruck von Widerwillen flog über ihr Gesicht. Die Gerte wurde weit auf die Beete hinausgeschleudert.

Gine rief von dem Gartenzimmer aus: Seid ihr verrückt, Kinder, euch bei solchem Wetter im Garten herumzutreiben? Kommt jetzt herein zum Mittagessen!

Tymme ging sofort. Aber Friederike blieb noch eine Weile stehn, damit es nicht aussehe, als ob sie gehorche.

Zehntes Kapitel

Tymme blamiert sich

 

Tante Erika sah es doch gern, daß Tymme ihr hin und wieder einen regelrechten Vormittagsbesuch abstattete. Sie rechnete so etwas zu den Pflichten eines Kavaliers, das dazu angethan war, in gewissem Grade dem verwerflichen proletarischen Schlendrian entgegenzuwirken, in den sie ihn zu ihrem großen Kummer tiefer und tiefer versinken sah, denn das ganze »Jugendhortswesen« war ihr ein Greuel. Auch hatte sie Tymme wirklich lieb, und sie hatte keine andre Möglichkeit, etwas von den Nichten in Lundbyvester zu hören; der ganze Verkehr beschränkte sich auf einen nichtssagenden, kühlen Briefwechsel.

Tymme dagegen konnte seinerseits diese Besuche nicht ausstehn; er fühlte sich da in der Stille kritisiert und mißbilligt, fand auch selbst, daß seine Kleider schlecht säßen, war unzufrieden mit seinen eignen »Manieren« und im ganzen verlegen und unbehaglich in der Amalienstraße. Noch mehr scheute er sich vor Onkel Leonhard; in Gesellschaft mit ihm, den er in seinem Herzen liebte und bewunderte, hatte er immer ein besonders starkes Gefühl des Abfallens von dem Gehörigen und Gentlemanmäßigen. Und Onkel Leonhard, der mit dem größten Vergnügen den Umgang mit seinem einstigen Liebling fortgesetzt hätte, fand unter den veränderten Verhältnissen keinen Weg dazu – ein großer Kummer für den einsamen Mann mit dem warmen Herzen, der früher sicher gehofft hatte, in Tymme eine Art Sohn zu finden.

Ganz vorbei war aber der Umgang mit dieser Seite der Familie doch nicht. Ab und zu wurde Tymme zu Tante Erika eingeladen, wenn bei ihr »Gesellschaft« war, und da mußte er sich dann, so ungern er es that, in Staat werfen.

So stand er an einem Winterabend vor dem Spiegel in seinem Zimmer, das er mit Peter Madsen, dem Hofbauernsohn aus der Gegend von Slangerup, teilte, und kleidete sich zum Diner bei seiner Tante an. In der Einladung stand, daß er Onkel Johannes und Kusine Ingeborg von Fünen, die auf Besuch in Kopenhagen seien, treffen würde; etwas, was äußerst selten vorkam. – Er hatte seit seinem elften Jahre weder Rosgaard noch jemand von dort mehr gesehen. Deutliche Erinnerungen an den Garten, die Zimmer, die Menschen, an alles zusammen, an die ganze Kindheitspoesie, die über dem geheiligten Gebiet jener Sommerferien ausgebreitet lag – all dies stürmte auf ihn ein und machte seine Hand beim Befestigen des Hemdkragens am Halsknopf unsicher. Er sehnte sich hinzukommen, und fühlte sich doch beklommen. Aber als Peter Madsen mit seiner Pfeife und in seinen Schlappern hereinkam und über »diese verrückte Ausstaffierung«, die er doch in seinem Herzen bewunderte, spottete, da schämte sich Tymme seiner Sehnsucht und seiner Beklommenheit und vollendete seinen Anzug mit Würde.

*

In dem vordersten der Gesellschaftszimmer in der Amalienstraße waren, als Tymme eintrat, erst zwei der Gäste: Onkel Leonhard und Onkel Johannes. Die Brüder standen in lebhafter Unterhaltung am Fenster und hielten einander umschlungen; ihre Gesichter leuchteten in vertraulicher Liebe; es war ein hübscher Anblick, die beiden zusammen zu sehen. – Onkel Johannes war ein wenig dicker und kleiner als der schlanke Onkel Leonhard. Die gemeinsamen Güllichschen Züge hatten bei jenem den wettergebräunten und derben Anstrich bekommen, der dem Landmann so gut steht; seine blauen Augen hatten nicht wie die des Bruders einen Anflug von Melancholie, sondern leuchteten im Gegenteil in kräftiger Lustigkeit und Lebhaftigkeit; er war schön wie alle, die Güllich hießen, und glich mit seiner festen, ruhigen Haltung so recht einem Landedelmann von dem echten, einfachen dänischen Schlag. – Mit der größten Offenherzigkeit und Freundlichkeit ergriff er Tymmes Hand und sprach mit ihm, und doch glaubte dieser zu bemerken, daß die Augen zugleich seine ganze Person scharf beobachteten. Das, dachte er, während die gewöhnliche Verlegenheit über ihn kam, sei wieder die widerwärtige Güllichsche Art, dieses unausstehliche schweigende Kritisieren! Und zugleich wurde er sich bewußt, daß auf seinen schwarzen Kleidern ein paar unausgebürstete Schmutzflecken waren, und daß sein Hemd nicht tadellos geplättet war.

Mit diesem unbehaglichen Gefühl mußte er nachher in das andre Zimmer gehn, die Wirtin begrüßen und einige Vorstellungszeremonien durchmachen, worauf er sich mit dem mürrischen Wunsch, weit weg von hier und daheim in seiner Schlafrockbehaglichkeit zu sein, in eine Ecke zurückzog.

Guten Tag, Vetter Tymme, kennst du mich nicht mehr? fragte da plötzlich eine tiefe und weiche Mädchenstimme, die in ihrem reinen ernsten Altklang so anziehend war, daß sie ihm sogleich zu Herzen drang. Überrascht sah Tymme auf; eine junge Dame war zu ihm getreten und betrachtete ihn mit großen, ernsten dunkelblauen Augen. Die Augen und der Gesichtsausdruck stimmten mit dem Klang der Stimme überein. Ihre Gestalt, obgleich die eines ganz jungen Mädchens, war vollständig entwickelt, kräftig und harmonisch; sie trug ein weißwollnes anspruchsloses Gewand, das kastanienbraune Haar war in der Mitte gescheitelt – alles im einfachsten und edelsten Stil.

Sie – du – Sie müssen Kusine Ingeborg sein.

Ihre ernsten Augen wurden auf einmal lustig und schelmisch, sie wurden denen des Vaters ähnlich; sie lachte – kurz und weich, und es war mit diesem Altklang herrlich anzuhören:

Du mußt aber wirklich du zu mir sagen.

Tymme wußte nicht, was er antworten sollte: er dachte an die unausgebürsteten Flecken und das schlecht geplättete Hemd.

Auf der Tafel strahlte das Familiensilber in seinem soliden Glanz: Aufsätze und Armleuchter: da waren Böcke aus Silber für die Messer und blaue Spülnäpfe – wie in manchen altmodischen Häusern; seitdem sind sie wieder modern geworden –, Rotwein in Foglietten, Madeira in altertümlich geschliffnen Karaffen; da waren auch dunkelgrüne Römer. Nichts gemietetes, alles ererbt bis zu dem aufwartenden Diener Anders jetzt ein älterer gesetzter Kavalier, der noch immer in gemäßigter Weise Onkel Leonhard nachzuahmen sucht. Schon die komischen altmodischen Rotweingläser versetzten einen auf stilvolle, angenehme Weise in alte Zeiten, und wenn der Blick auf den Tapeten des Speisezimmers ruhte, begegnete er den einstigen Güllichern und Sehestedern, deren Reihe nun mit den nach einer Photographie gemalten charakteristischen Zügen der »Großmutter Güllich« abschließt; diese scharfen Augen scheinen über die genaue Aufrechterhaltung der Familientraditionen an diesem Tische zu wachen.

Obgleich Tymme im Prinzip diesen Stil und diese Tradition verachtete, ließ er sich doch immer davon gefangen nehmen, und während er nun neben seiner Kusine saß, wünschte er trotz seiner Verlegenheit nicht länger, weit weg zu sein. Er sah sie von der Seite an; sie sprach mit ihrem andern Nachbar Onkel Leonhard, der ihr eigentlicher Tischherr war. – Tymme hatte als der Jüngste der Gesellschaft keine Dame bekommen; er hatte halb und halb den Verdacht, es sei eine Zurücksetzung, vergaß aber allmählich sein Beleidigtsein. – Früher, als er noch im Hause gewohnt hatte, hatte er öfters, besonders Onkel Leonhard, von Ingeborg sprechen hören, und zwar immer mit Begeistrung; viele Züge eines wahrhaftigen und originellen Charakters hatte Onkel Leonhard erzählt. Tymme selbst erinnerte sich ihrer nur noch als eines kleinen Mädchens, eines Zubehörs von Rosgaard, das nur aus diesem Grunde wertvoll war. Nun sprach Onkel Leonhard mit ihr und legte dabei eine liebenswürdige Ritterlichkeit in Wort und Wesen an den Tag, eine schöne Verbindung von Onkel und Kavalier. Tymme sah sie wieder von der Seite an, trank einen Schluck Wein, hätte gern etwas zu ihr gesagt, wußte aber nicht, was. Nun entstand eine Pause zwischen ihr und dem Onkel; Tymme kam ein Gedanke, er trank wieder einen großen Schluck und sagte:

Wie geht es euch in Rosgaard?

Sie wandte sich ihm zu, und die dunkelblauen Augen strahlten in fröhlicher Energie:

Brillant!

Ja, natürlich, dachte Tymme, während die reinen Sommerferienerinnerungen der Kindheit in ihm auftauchten, ja natürlich, es geht ihnen immer gut auf Rosgaard. Er betrachtete ihr Haar; eine kurze Ranke mit zwei oder drei künstlichen wilden Rosen lag darauf; ein zweiter kleiner Strauß steckte an ihrer Brust. Sind die Rosen von der Hecke um euern Hof? fragte er.

Im Dezember? sagte Ingeborg und lachte.

Um Vergebung, sagte Tymme verlegen, ich dachte an die Sommerferien in frühern Zeiten –

Hör, das gefällt mir von dir. – Weißt du noch – Und damit knüpfte sich zwischen den beiden eine eifrige Unterhaltung an, die von jeder Seite mit: Weißt du noch? begann. Und zahlreiche kleine Züge aus den Kinderjahren wurden ausgegraben; wieder leuchtete die Sonne über den grünen Feldern, wieder bogen sich die Kirschenbäume unter ihrer reifen Last, wieder schimmerte der liebe See durch die Buchenstämme, wieder schaukelten sie in dem verbotnen Kahn – Onkel Leonhard war zum Schweigen verdammt, aber er sah darum nicht weniger liebenswürdig aus.

Ich kann mich noch an etwas von dir erinnern, woran ich immer mit großem Vergnügen denke. – Tymmes Herz klopfte vor Freude, einer reinern Freude, als er seit vielen Jahren gefühlt hatte, dachte er.

Was ist es? fragte er gespannt.

Weißt du noch, wie wir Kinder alle einmal ausmachten, recht früh aufzustehn, ganz früh –

O ja – um vier Uhr! rief Tymme eifrig. Wir wollten uns ganz im geheimen an dem Thürchen, das zum Schmied führt, treffen – ja, aber es wurde sieben Uhr, ha ha ha!

Ja, es war eine Schande. – Aber du warst doch der erste gewesen, und als ich dich sah – und die ganze Hecke – weißt du, die, von der du vorhin sprachst – sie war ganz übersät mit Rosen, ganz aufgeblühten – aber du standest allein daneben und sahst so eigen darüber hin – es war mir beinahe, als ob du weintest –

Nein, das habe ich nicht gethan.

Ja, ich weiß es nicht – aber ich ging zu dir hin und fragte, warum du –

Nein, das weiß ich nicht mehr.

Doch, und dann sagtest du, als ich weiter fragte: Es ist, weil alle die Blumen hier bald verwelkt und tot sein werden. – Daran habe ich seither oft gedacht, wenn Vater und die andern – –

Sie verstummte plötzlich, aber Tymme, dem eine Stelle aus seiner Examensvorbereitung einfiel, wollte sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern rief:

Das ist gerade wie Xerxes; das steht – Herodot im siebenten Buch.

Xerxes? – das war ja der Perserkönig? Erzähl mir doch die Geschichte!

Und Tymme erzählte, so gut er sich noch daran erinnern konnte. Aber anstatt Bewundrung für sein klassisches Wissen zu ernten, mußte er folgendes hören:

Hör, Tymme, sei nicht böse, aber sie sagen alle miteinander, du seist gar nicht mehr fleißig und noch vieles andre; wäre es nicht besser, wenn du – aber du darfst nicht böse werden …

Tymme trank Wein und trank immer mehr, er war schweigsam und verstimmt geworden, und trank noch mehr Wein.

Kurz nachher forderte Onkel Johannes vom andern Ende des Tisches her Tymme fröhlich auf, ein Glas mit ihm zu trinken, und, fügte er hinzu, wenn du je Lust hast, uns wie in den alten Tagen auf Rosgaard zu besuchen, so bist du herzlich willkommen, recht herzlich willkommen, mein Junge.

Aber bei Tymme war der knabenhafte Trotz erwacht, auch war der Wein nicht ohne Einfluß auf seine Antwort, was man auch an der Stimme merken konnte:

Danke, ich komme lieber nicht; ich passe gewiß nicht recht zu euch; ihr seid gewiß reaktionär, ihr und was drum und dran ist auf Rosgaard, aber ich bin, ich bin – Demokrat, und – und –

Diese Antwort war ja – unter andern: – ein Vergehen gegen den guten Ton; alle hatten sie gehört; Tante Erikas Ausdruck wurde steif, Kusine Ingeborgs erstaunt; aber Onkel Johannes, der zuerst seinen Neffen ein wenig verblüfft angestarrt hatte, suchte einen weitern Skandal zu vermeiden, indem er ein gutmütiges Lachen anstimmte, worauf alle thaten, als ob nichts geschehen sei.

Aber es entging Tymmes Aufmerksamkeit nicht, daß Onkel Leonhard, dessen Gesicht Scham und Ärger ausdrückte, seinem Bruder ein kleines Zeichen – den Finger an die Stirn und ein schwaches Kopfschütteln – gab. Da beging Tymme gleich eine neue Dummheit. Er erhob sich halb und rief:

Ihr glaubt vielleicht – Sie glauben vielleicht, ich habe zu viel getrunken, aber – das habe ich nicht; ich bin nur … »indigniert,« wollte er wahrscheinlich sagen, konnte aber das Wort nicht finden; er setzte sich wieder, oder fiel beinahe – mit einem kleinen Bums auf seinen Stuhl nieder.

*

Man hatte sich vom Tisch erhoben. Tymme stand mit seiner Kaffeetasse in dem vordersten Zimmer: einen Teil des Kaffees hatte er auf seinen Anzug verschüttet, es war ihm äußerst unbehaglich zu Mut, und er dachte daran, ohne Abschied heimzugehn. Da trat Onkel Leonhard zu ihm; er sah jetzt eher betrübt als ärgerlich aus. Sie waren allein im Zimmer.

Hörst du, Tymme, eins von beiden: das beste wäre ja, du bliebest; aber wenn du dich nicht so ganz vollständig – sicher fühlst – der Oberst errötete leicht –, dann mußt du lieber in aller Stille gehn.

Ich fühle mich vollständig »sicher,« davon darfst du überzeugt sein – und zum Beweis ließ er die Untertasse auf den Boden fallen – aber ich will doch gehn: ich passe ja nicht hierher.

Der Onkel sah ihn mit betrübten aber liebevollen Augen an, schüttelte den Kopf und sagte weich: Kerl, Kerl!

Dieses stumme Kopfschütteln, diese mißbilligende Stimme, worin das Mitleid größer war als der Zorn, enthielt ein Urteil, das Tymme viel schwerer traf, als wenn der Onkel zu schelten begonnen hätte.

Tymmes darauffolgendes Betragen muß dem Leser ebenso sonderbar wie unerwartet vorkommen, wie es nachher dem Onkel und Tymme selbst auch vorkam.

Und doch, denke zurück, geehrter Leser, denke zurück an die Zeit, wo dein Gemüt noch weicher und doch heftiger als jetzt gewesen ist. Sieh dich als jungen Burschen einer lieben Person gegenüberstehn, vor einer teuern Person, vielleicht deinem Vater oder deiner Mutter; du hast gefehlt, dich richtig bloßgestellt; dein Verstand sagt es dir, aber deine zwanzigjährige Eitelkeit will es nicht zugeben; du leugnest es störrisch und trotzig ab. Da steht nun die geliebte ältere Person vor dir, will deine Erklärungen nicht anerkennen, kann wohl auch deine Handlungsweise nicht verstehn, hört nicht, was du sagst, sondern schüttelt nur das ehrwürdige Haupt, betrübt, liebevoll, tadelnd. Kannst du dich an deine Wut über diese schweigende, unüberwindliche Verurteilung erinnern? Kannst du dich daran erinnern, daß du zwischen diesem Gefühl und einem ganz entgegengesetzten schwanktest, nämlich der Sehnsucht, dich in die lieben Arme zu stürzen und um Verzeihung zu bitten, wie ein Kind es thut? Deine Handlungsweise konnte nach beiden Richtungen hin ausfallen, und sei du dankbar, wenn du es nicht so gemacht hast, wie Tymme jetzt.

Tymme hatte von klein auf Anfälle von Jähzorn gehabt; sehr selten zwar, aber dann sehr heftig. Während der Schulzeit waren sie manchmal über ihn gekommen; Professor Löwe hatte sie ja »diesen dummen Zorn« genannt.

*

Onkel! Onkel! flüsterte Tymme gleich nachher, indem er, von Schrecken und Reue erfüllt, fast vor ihm niedersank.

Still, Junge, still – daß uns niemand hört – Onkel Leonhards Stimme zitterte, seine Hand zitterte, er war ganz blaß – still, still, du wußtest nichts davon, du stießt mich nur ein wenig an – du wußtest nichts davon. – Geh nun, mein Junge, ehe jemand …

Onkel, lieber Onkel!

*

Als Tymme draußen in der Vorstube stand und nach seinem Hut und Mantel tastete, da merkte er, wie auch seine Hände zitterten und seine Zähne klapperten. Doch fühlte er sich durchaus nicht mehr benebelt oder weinschwer, im Gegenteil, er war nun merkwürdig klar im Kopf. Eine eigentümlich weiche und kindliche Stimmung hatte sich seiner bemächtigt, und als der Diener Anders zufälligerweise durch das Vorzimmer ging, reichte er ihm die Hand und sagte zu diesem, seinem einstigen Vertrauten:

Leben Sie wohl, Anders; ich komme nie wieder hierher.

Ach, Herr Tymme, das müssen Sie nicht sagen, antwortete Anders, während er den Händedruck halb vertraulich halb zurückhaltend erwiderte.

Erlauben Sie mir, fuhr er fort, als Tymme mit einem Kopfschütteln zur Thür hinauswollte, erlauben Sie mir, obgleich nur in dienender Stellung, in Anbetracht der frühern –

Freundschaft, sagte Tymme.

Nein, keineswegs eine solche Bezeichnung, Herr Tymme, ich besitze Delikatesse, und Sie gehören doch zur Herrschaft. – Ach, Herr Tymme, Sie sind noch jung, und das Leben liegt vor Ihnen. Erlauben Sie mir als Diener, Ihnen meine Philosophie über das bei Tisch vorgefallne, dem ich ja infolge meiner Stellung als passiver Teilnehmer anwohnte, mitzuteilen. Ich will nur sagen, daß der begangne Fehler wieder gut gemacht werden kann, er kann wieder gut gemacht werden. Mon Dieu, ein Mensch ist nur ein Mensch; enfin, es ist Ihnen diesesmal im Gesellschaftsleben nicht gelungen, Sie haben nicht rejiziert, wie man sagt; aber Sie werden ein andermal rejizieren. Ich hoffe deshalb nicht, daß diese Thüren, fuhr der brave Anders fort, der offenbar gerührt und an der Grenze des Pathetischen angekommen war, daß diese Thüren Ihnen immer verschlossen sein werden – entschuldigen Sie, ich bin vielleicht etwas –

Leben Sie wohl, lieber Anders, leben Sie wohl! Und Tymme drückte ihm zum Abschied noch einmal die Hand, während Anders ganz ohne Affektation seinen linken Ärmelaufschlag an die Augen führte.

*

Wirre Träume suchten Tymme in dieser Nacht heim. Er war wieder ein Kind; er wanderte wieder unter den grünen Buchen im Walde von Rosgaard auf dem Waldpfade, wo der See zwischen den Stämmen vor schimmerte. Er stand auf der offnen, sonnenbeschienenen Wiese an der Rosenhecke, und sie war voll Blüten, feine, liebliche, schwachduftende. Thränen? – war denn das etwas zum Weinen?

Er war mitten in einem Gedicht; er dichtete es selbst! Über des Sommers milde Lüfte, über das reine Paradies der Kindheit, über das verlorne Glück – und wie leicht flössen ihm die Verse, ohne Anstrengung, unmittelbar aus der Seele, und so stimmungsvoll, schön, innig! War er es wirklich selbst, der so schön dichten konnte? O, möchte dann doch der Traum andauern, denn gewiß war es nur ein Traum!

Der Kamerad, der Stubengenosse, der aus der Gegend von Slangerup, lag in dem andern Bett und schnarchte. Es war ein brutales, anspruchsvolles Schnarchen. Tymme erwachte aus seinem süßen Traum. Ja, er hatte wirklich Thränen in den Augen. Aber bei dem Geräusch dieses Schnarchens trat augenblicklich ein Umschwung in seiner Stimmung ein:

Peter Madsen, zum Teufel, ich kann es nicht aushalten, du schnarchst so abscheulich. – Ein Gurgeln, ein Knirschen mit den Kinnladen, ein Gähnen – Peter Madsen drehte sich auf die andre Seite um.

Dann kamen die Träume wieder, aber nun waren sie von andrer Art. Die Szene vom Mittag wiederholt sich und das, was darauf geschehen war, aber noch greller, noch unangenehmer. Der Schluß war ein vernichtendes Schamgefühl unter dem Eindruck voll Ingeborgs ernsten Augen, die auf ihm ruhten. Nein, es waren ja die Augen der Mutter!

Mutter! Zu ihr könnte er sich mit seiner Schande, in seinem Schmerz flüchten. Mutter!

Tymme wurde immer wieder zum Kind, wenn er träumte.

Elftes Kapitel

Lucifer

 

Tymme wurde Student, als er einundzwanzig Jahre alt war. Er machte ein schlechtes Examen, in allen Fächern war es schlecht bestellt, und die Behandlung der Muttersprache besonders war es, die das Zeugnis herabdrückte; in dem gebundnen Stil – einer historischen Aufgabe – sah es ganz schlecht aus mit den Kenntnissen, die er vergeblich durch Schwung und poetische Phrasen zu ersetzen versucht hatte, und sowohl im »gebundnen« wie im »freien« fanden sich schlimme orthographische Fehler, – Tymme nannte dies eben »orthographische Selbständigkeiten« – und fügte nach einer Unterredung mit den Censoren hinzu, daß sie diesen Meergreisen zu schaffen gemacht hätten. Aber, fuhr er fort, jeder hat doch selbstverständlich das Recht, seine eigne Schreibweise anzuwenden, und wenn die Herren so unfrei sind und dies nicht anerkennen, nun, dann ist dies um so schlimmer für sie. Ich habe im Sinn, auch künftighin meine eigne Schreibweise beizubehalten, darauf können sich die alten Herren gefaßt machen. – Dies sagte Tymme nachher.

Nach einer kurzen Erholungszeit in Lundbyvester – »Erholung« mochte er auch recht nötig haben, der Ärmste! – ging er wieder nach Kopenhagen; er sollte ja doch das Philosophicum machen und mittlerweile sehen, daß er zu einer Entscheidung über seinen Lebensberuf käme. Der Vater wünschte wahrscheinlich, er solle Theologe werden, wollte ihn aber nicht einmal mit so viel als einer Anspielung beeinflussen, und er selbst hatte keine ausgesprochne Neigung zu irgend etwas. Im ganzen genommen war er etwas abgestumpft geworden, etwas gleichgiltig, und dann hatte er auch etwas verdammt Hochmütiges angenommen. Seinen Güllichschen Verwandten wich er aus, aber im »Jugendhort,« wo er bis auf weiteres gut wohnen konnte, hatte er einen Kreis, wo er etwas zu sagen hatte, und wo er sich deshalb wohl befand.

Er meldete sich in den »Studentenverein.« Aber um diese Zeit bildete sich gerade ein Klub von Studenten, die in und außerhalb des Studentenvereins standen. Es waren ältere und jüngere Studenten, deren Zweck, wie es in der Einladung hieß, sein sollte, andern geistigen Interessen entgegenzukommen als denen, die beim Dominospiel, schlechtem Punsch und dummen Liedern ihre Befriedigung fänden. »Solche dänische Studenten, die sich bei den eben genannten Genüssen allein schlecht verpflegt finden, laden wir zur Bildung eines Klubs mit eignem Lokal ein, wo litterarische, politische und ethisch-religiöse Themata an einigen Abenden der Woche unter lebhafter allseitiger und vorurteilsfreier Besprechung behandelt werden sollen.«

Das lautete nach etwas. Tymme war mit bei der konstituierenden Generalversammlung. Es waren – außer den Gründern und deren Freunden – eine ganze Menge ganz junger Studenten und fast alle Bauernstudenten aus dem »Jugendhort«, die Tymme als eine Art Führer betrachteten, zugegen.

Der Name des Klubs wurde beraten. Von den Gründern wurde der Name »Lucifer« vorgeschlagen. Einige lachten und riefen Bravo, Tymme aber fuhr zusammen, und bei den Bauernstudenten, in deren Mitte er stand, nahm er eine entsprechende Bewegung wahr. Die zwei folgenden Redner befürworteten den Namen, beide gehörten zu den Gründern. Die Bauern, die schüchterner als die Kopenhagner waren, beschränkten sich darauf, etwas zu der Tribüne hinauf zu brummen, reizten aber Tymme zum Vortreten auf. Nach einem heftigen innern Kampf mit seiner Furchtsamkeit drückte er sich mitten durch und bat um das Wort; teils war er wirklich entrüstet, teils mußte er seine Autorität bei den Bauern geltend machen.

Student Lemvig hat das Wort! erklang es laut, während er sich sehr bleich und verlegen zu der Rednertribüne durcharbeitete. Wohl hatte er bei Diskussionen im Jugendhort schon oft droben gestanden, aber das hier war doch etwas andres. – Im Anfang stotterte er ein wenig, kam aber doch mit dem, was er sagen wollte, ganz gut zustande. Er fand den vorgeschlagnen Namen anstößig, ja das religiöse Gefühl verletzend. Er könne nicht verstehn, daß sie, die doch das Zeichen des Kreuzes auf ihrer Studentenkokarde trügen, Mitglieder eines Vereins sein könnten, der den Namen »Lucifer« trage.

Ein etwas älterer Mann stand dabei – er mochte bald dreißig Jahre alt sein, mit geistreichem Blick, intelligenten Zügen; er stand etwas abseits und schien die Bauernphalanx und deren Stärke zu mustern. Als sich nun bei Lemvigs kurzer Rede ein spöttisches Lachen erhoben hatte, da hatte dieser Mann plötzlich mit gebieterischer Stimme Stille! gerufen – und das hatte sofort gewirkt, und als nun Lemvig fertig war, trat er selbst auf die Rednerbühne. Das ist Holmer selbst, flüsterte man, und alles wurde mäuschenstill. Kandidat Holmer, der Litterat, war wohlbekannt; er war der erste und eigentliche Führer des Radikalismus innerhalb der Studentenwelt.

Ich erlaubte mir vorhin, begann er in leichtem, gleichsam spielendem Ton, der sogleich den Eindruck der Überlegenheit machte, ich erlaubte mir vorhin, den Herren, die lachten, ein Still! zuzurufen. Nicht weil mir etwa der Sinn für das Komische fehlte, sondern weil hier wirklich nichts Komisches vorgefallen ist. Das, was wir gehört haben, war ein ernstes Wort, nämlich ein von Entrüstung eingegebnes Wort. – Nun gut. Entrüstung, meine Herren – es ist durchaus gleichgiltig von welcher Überzeugung sie stammt –, will nicht verspottet, darf nicht verspottet werden, das am allerwenigsten – was mich anbelangt, so liebe ich die Entrüstung eines ehrlichen Gemüts, darin lebe ich ja selbst auch. Erlauben Sie mir deshalb, Herr Lemvig, Ihnen für Ihre Worte zu danken und Sie für Ihre Überzeugung zu ehren, kraft dessen nämlich, daß sie eine Überzeugung ist – wir haben alle gefühlt, daß sie das ist.

Ich war natürlich – es ist ja den Herren bekannt, daß der Vorschlag zu der Gründling des Klubs von mir ausgegangen ist, sowie auch der Vorschlag des Namens –, natürlich war ich aus Einwendungen der Art, wie die von Herrn Lemvig vorgebrachten, vorbereitet. Vorbereitet auch darauf, daß der vorgeschlagne Name, ja gerade dieser Name viele abschrecken würde.

Nun wohl, das ist es gerade, worauf ich hinzielte.

Unsre Gesellschaft soll ihre Stärke nicht in der Menge ihrer Mitglieder suchen, das am allerwenigsten. Mag der Name abschrecken, mag er als abschreckendes Zeichen dastehn für die Feigen, die Lauwarmen, die Schlaffen, kurz gesagt für die vielen. Wir wünschen nur die wenigen zu sammeln, nämlich die Ehrlichen, die Mutigen, die Hochherzigen, die Warmen. – Ich wiederhole hier nachdrücklich, was ich des öftern schon anderweitig gesagt habe, daß ich zu den Ehrlichen auch die rechne, die einer positiven Religion huldigen, also auch speziell der christlichen Religion, notabene wenn sie es auch wirklich thun. Ich spreche mit Ihnen, Herr Lemvig, als dem Vertreter für diese; Ihre Entrüstung bürgt mir dafür. Nun wohl, ich selbst bin kein Christ nach Ihrer Anschauung; ich betrachte Ihren Standpunkt für unhaltbar, aber nicht für unedel, und Sie und die Ihrigen wünsche ich nicht abzuschrecken, sondern zu gewinnen.

Aber der Name »Lucifer« hat – hier – durchaus keine mythologische, kirchliche Bedeutung. Der vorige Redner war in einem Mißverständnis befangen. Ich freue mich, dieses aufklären zu können. Übersetzen Sie das Wort! übersetzen Sie es! Ganz einfach der »Lichtbringer.« Was ist denn an diesem Namen unchristliches?

Lichtbringer! welchen bessern Namen wollen Sie denn haben? Der Name? Das ist unsre Fahne, wir haben keine andre. In den Namen setzen wir unsre Losung, unser Ziel, unsern Willen! Ist unser Ziel nicht hoch, unsre Losung nicht stark, unser Wille nicht flammend? Ja flammend wie der kühne Sternenengel, der zuerst gegen die Nacht ankämpft und dem Lichte den Weg bahnt! Der starke Geist, der zuerst das Dunkel durchbricht, während die Erde noch im Verborgnen da unten kriecht. Der hohe Geist, der zuerst die Fackel der Freiheit über der schlummernden Erde schwingt!

Sie, Herr Lemvig, und Sie alle, meine Herren! Ich appelliere an Ihre Herzen; ich appelliere an Ihren Verstand – vereinigen Sie sich mit uns, vereinigen Sie sich mit uns, das Licht zu verbreiten, das diese Verbindung durch freien Austausch freier Anschauungen hervorzurufen sucht. Oder vereinigen Sie sich wenigstens mit uns, es zu suchen. Ich appelliere an alles, was edel und freigeboren und männlich in Ihnen ist; ich appelliere an Sie, und Sie werden mir antworten – hier ging er plötzlich in einen leichten Ton und ein Lächeln über, das wunderbar anziehend wirkte –, ja, Sie werden natürlich antworten, denn Sie können ja gar nicht anders, mit:

Hoch Lucifer!

Tymme schien es unmöglich, sich nicht dafür zu begeistern, und den andern ging es ebenso. Der Saal erdröhnte von ohrenbetäubenden Hurrarufen.

So etwas hatte Tymme noch niemals gehört. Auch fühlte er sich in hohem Grade geschmeichelt, und seine Autorität unter den »Bauern« hatte zugenommen. Der Name »Lucifer« wurde angenommen, die Verbindung gegründet, die Gründer zum Verwaltungsrat gewählt.

Die meisten blieben diesen Abend beisammen; es gab Wein und Punsch. Tymme war von brennender Sehnsucht erfüllt, mit Holmer in Berührung zu kommen; er wagte es, sich ihm mit dem Glas in der Hand zu nähern, aber Holmer, der an einem Tischchen mit einigen der andern Lucifer-Matadoren saß, beantwortete Tymmes Huldigung fremd und kühl, sodaß dieser sich bestürzt zurückzog. Aber dies vermehrte nur noch seine Bewundrung und seine Sehnsucht.

Als Tymme an diesem Abend nach Hause ging, fühlte er mehr Lebenskraft in sich, als er seiner Erinnerung nach in den letzten Jahren jemals empfunden hatte. Er meinte, es sei doch der Mühe wert, zu leben, für etwas zu kämpfen, für etwas Hohes, Ideales – einige der Worte, die Holmer geredet hatte, umrauschten ihn wie der Flügelschlag dieses Hohen, dieses Idealen. Dafür kämpfen, danach leben, ja das ganze Leben dransetzen, murmelte er begeistert, während er zu den Sternen aufsah.

Kämpfen für was? Das Leben einsetzen wofür? – diese naheliegenden Fragen stellte sich Tymme nicht, denn er war jung und, wie gesagt, von Holmers Persönlichkeit und seinen Worten begeistert, wie so viele andre auch.

Als er die Treppe zu seiner Stube hinaufstieg – nun brauchte er nicht mehr zu schleichen –, fiel es ihm auf, wie langweilig und nichtssagend und klatschbasig dieser »Jugendhort« im Grunde doch sei, und ehe er sich auskleidete, war es ihm klar geworden, daß die ganze Zeit seines Lebens, wo er in diesem Wesen aufgegangen war, verloren sei – nun erst begann das Leben.

Zwölftes Kapitel

»Eros«

 

In dem neuen Verbindungsleben zeigte es sich bald, daß die »Kopenhagner« den »Bauern« die Führung nahmen; diese waren mehr als im Rennen geschlagen, sie waren überrannt. Im Anfang hatten sie zwar Zeichen des Widerstands zu erkennen gegeben, aber als sie Lemvig sich vollständig und unbedingt auf Holmers und seines Stabes Seite schlagen sahen, gaben die meisten schnell ihre entgegengesetzten Anschauungen preis und setzten ihren ganzen Ehrgeiz jetzt nur nach in eine rasche Verschmelzung mit den andern.

Holmer war die Seele und das Leben; die andern besorgten die Wirtschafts- und die Verwaltungsgeschäfte, aber Holmer gab die Stellung und den Ton an. Von den untergeordneten Verhandlungen blieb er fern; wenn er sich zeigte, war es mit Eclat, immer Gedanken weckend, Vorurteile besiegend, neu. Er konnte die überraschendsten Behauptungen als selbstverständlich aufstellen, sodaß man, nachdem man sich dazu bekehrt hatte, glaubte, daß man nie anders gedacht habe.

Es war bei einer Diskussionsversammlung; Thema: »Eros.« So stand es auf dem Anschlagzettel, nichts andres, Gegenstand: Eros.

Der Saal war voll. Holmer eröffnete die Sitzung. Er begann mit Platons Symposion und ging den Inhalt dieser klassischen Tischrede zurechtgestutzt aber geistreich durch. Ein gewisses gelehrtes Behagen ruhte über der Versammlung; die Zuhörer fühlten sich gewissermaßen geschmeichelt, wenn Holmer, wie er es zuweilen that, Ausdrücke wie: »Sie erinnern sich« oder »wie Sie wissen« gebrauchte – schließlich glaubte man förmlich, daß man das Buch gelesen habe.

… Und was ist nun die Tendenz dieses Buchs? – Sie stutzen vielleicht, meine Herren, über dieses Wort in dieser Verbindung. Aber das muß Ihnen klar sein, daß jedes Buch eine Tendenz haben muß – außer – vielleicht – die exakten Wissenschaften – ja, jedes Wort, wenn es einen Wert haben will. Einen Zweig der Litteratur aber kann ich ausnehmen – aber auch diesen nur vielleicht. Sie verstehn, daß ich die Poesie meine, als Poesie an und für sich. Aber jede Mitteilung eines Gedankens – also nicht die Mitteilung einer That oder einer Stimmung – enthält eine Tendenz, oder soll eine solche enthalten. Natürlich, denn Tendenz oder Absicht ist ein und dasselbe, und wenn der Gedanke keine Absicht verfolgt, ist er wirkungslos und darum auch wertlos. Entschuldigen Sie die Abschweifung, sie wird Ihnen vielleicht nützlich sein, meine Herren. Die Tendenz im Symposion fällt in die Augen, blättern Sie das Buch durch, und Sie werden sie in jeder Zeile pulsieren fühlen. Sie zielt, sie verkündigt, sie predigt. Sind nicht die Reden des Pausanias, des Aristophanes und des Alcibiades ebensoviele glühende Agitationen für das, was diese Leute für berechtigt hielten? Mißverstehn Sie mich nicht, ich billige die Sache nicht, vielleicht ausschließlich darum, weil ich zufällig Däne bin. Nun wohl, wäre Platon ein Däne gewesen, ein Kopenhagner, da hätte er wahrscheinlich sein Symposion als eine Verteidigung dessen geschrieben, was wir für uns verlangen – weil es natürlich ist –, was trotzdem aber von der Moral hier verworfen wird. Die Moral, meine Herren, ist nämlich allezeit im Streit mit dem Leben und der Wirklichkeit – das heißt, sie ist immer in einer langsamen Umgestaltung unter dem Einfluß dieser beiden begriffen, ist aber immer weit hinterdrein. Unsre Aufgabe, meine Herren, müßte es sein, diese Umgestaltung zu beschleunigen …

Aber all dies war mehr eine Einleitung. Das, was Holmer schließlich zur Diskussion stellte, war folgendes: Mit welchem Recht kann die freie Befriedigung eines natürlichen Triebs eine Unsittlichkeit genannt und als unberechtigt betrachtet werden?

Es wurde zwei Stunden lang darüber diskutiert. Da Holmer erklärt hatte, er wolle nicht an der Diskussion teilnehmen, sondern sie nur einleiten und schließen, hatten viele den Mut gefaßt, dem sonst im Klub vorherrschenden Gedankengang entgegenzutreten, und es wurden von ein paar theologischen Studenten unter den »Bauern« Dinge wie Gewissen und Religion vorgebracht – ja es war einer da, der im Namen der »Wohlanständigkeit« widersprach. Dem ersten wurde auch gleich zuerst der Kopf gewaschen, und er verließ die Rednertribüne unter allgemeiner Heiterkeit. Der zweite, der mit der Religion, ging von Anfang an gleich etwas kräftiger ins Zeug, wurde aber doch schnell von der Religion im allgemeinen zu der spezifisch christlichen Religion hingedrängt; hierauf wollte man ihn festhalten und im Alten Testament fangen, aber er gab dieses preis und flüchtete sich in das Neue hinüber, wo er sich schließlich hinter Christi eigne Worte verschanzte, nachdem er zu hören bekommen hatte, daß die ganze übrige Heilige Schrift nicht als unbestreitbares Christentum anzusehen sei. Endlich, nachdem einige Worte des Heilands auch als philologisch angezweifelte Stellen verworfen worden waren, hatte er nur noch die Bergpredigt übrig: Wer ein Weib ansiehet und so weiter. Da blieb er fest, bis sein Gegner – der selbst Theologe war, nämlich Bramsen, der Vizepräsident des »Lucifer« und Holmers rechte Hand – ihm klar bewies, daß die Stelle entweder buchstäblich verstanden werden, und daß dann die Ehe selbst verdammt werden müsse, oder auch in Zusammenhang mit dem Vorhergehenden gebracht werden könne, und dann bedeute das Wort »Weib« an dieser Stelle »die Frau eines andern Mannes.«

Ein härterer Widersacher war Rasmus Pedersen von Blouströd. Er trat mit funkelnden Augen und zornbebender Stimme auf und sagte nicht viel weiter als: Das Gewissen verbietet es. Von Bramsen interpelliert, heruntergemacht und verspottet blieb er doch bei seinem: »das Gewissen verbietet es,« und das mit einer störrischen Heftigkeit, die sich Bewundrung erzwang aber auch Heiterkeit erregte. Unbesiegt verließ er die Rednerbühne mit einem kraftvollen: Nein, nein, nein! Es ist doch, wie ich sage: das Gewissen verbietet es, worauf ein allgemeines dröhnendes Gelächter erscholl.

… Ich weiß nicht, sagte Holmer, als er zum Schluß das Wort ergriff, ob wir das Resultat der heutigen Diskussion ungefähr so ausdrücken könnten:

Der Liebestrieb ist an und für sich natürlich, also sittlich; seine freie Befriedigung selbstverständlich, wenn sie vom Gesundheits- und Nützlichkeitsstandpunkt eingeschränkt wird, der Nutzen möge nun persönlich oder sozial sein … war sonst noch etwas? Doch ja, die Einwendungen des Studenten Pedersen, auf die offenbar etwas mehr Rücksicht genommen werden muß, als Kandidat Bramsen es gethan hat; diese Einwendungen haben mich heute abend darüber belehrt – er lächelte leicht –, daß es noch eine weitere Beschränkung giebt. Herr Pedersen nannte sie »das Gewissen.« Ich liebe nun diese Benennung nicht, denn ich finde sie altmodisch und nichtssagend. Doch einerlei; diese Beschränkung findet sich bei Herrn Pedersen und vielleicht auch bei andern – einerlei; sie ist vorhanden also als eine Beschränkung. Ihren Ursprung werden wir vielleicht ein andres mal untersuchen, hier ist er uns gleichgiltig; die Beschränkung ist da. Wir konnten uns vielleicht darauf einigen, sie das individuelle Μή zu nennen. Nun wohl, wenn der Einzelne sein individuelles Μή über alles setzt, so muß er ihm selbstverständlich gehorchen. Also: die freie Befriedigung des Liebestriebs, nur durch Gesundheits- und Nützlichkeitsrücksichten beschränkt, und dann auch durch das individuelle Μή ist natürlich und demgemäß sittlich. Daraus aber folgt, daß das Gegenteil, die von der öffentlichen Meinung vorgeschriebne Askese unnatürlich ist und also unsittlich. Darüber ungefähr, meine ich, könnten wir alle einig sein, nicht wahr?

Die meisten bejahten, niemand verneinte.

Meine Herren, ich verlange nun von Ihnen, daß Sie nach der heutigen Diskussion und nach Ihrer Zustimmung zu ihrem Resultat mit den veralteten Anschauungen brechen der öffentlichen Meinung gegenüber, wenn sich die Gelegenheit bietet.

*

Ein unreifes Phrasentum, nichts weiter, war das meiste, was heute abend vorgebracht wurde, sagte Bramsen zu Holmer; sie saßen für sich allein und nippten an einem Glase Absinth, oder was es sonst war.

Holmer zuckte nur die Schultern.

Warum kamst du mit deinem individuellen Μή fuhr Bramsen in demselben gedämpften Ton fort, das war nicht ganz glücklich, es schwächte die Wirkung ab.

Da irrst du dich, antwortete Holmer. Diese Leute müssen eine Hinterthür haben, durch die sie wieder zurückschleichen zu können glauben, wenn es darauf ankommt, sonst würden sie gar nicht vorwärts gehn.

Dreizehntes Kapitel

Tymme wechselt die Wohnung

 

Im »Jugendhort« war es vor Langeweile nicht mehr auszuhalten. Bramsen und andre neue Bekannte, die Tymme im »Lucifer« kennen gelernt hatte, spotteten außerdem über dieses Stift und sein bäurisches und naives Wesen. Bramsen, der recht zuvorkommend sein konnte, wenn er nicht in seiner spöttischen Laune war, empfahl ihm eine kleine zweizimmerige Wohnung in der Admiralstraße im dritten Stock eines Hauses, wo er selbst ab und zu verkehrte; zwischen ihm und der Hausbesitzerin, besonders auch ihrer Tochter, bestand eine alte Bekanntschaft; die beiden Damen bewohnten jetzt in recht heruntergekommnen Verhältnissen die Mansarden desselben Hauses, und Bramsen hatte besondre Gründe, die Familie etwas zu unterstützen, zum Beispiel hier, indem er ihnen einen zahlungsfähigen Mieter verschaffte.

Ich hatte eigentlich zuerst gedacht, sagte Bramsen mit liebenswürdiger Offenheit zu Tymme, ich hatte zuerst daran gedacht, die Dicke auf Sie zu hetzen – die Dicke, das war Bramsens Name für die jüngere der beiden Damen – und sie so auf einmal loszuwerden, aber ich weiß nicht – ich mag mich nicht so von ihr losmachen, und was schlimmer ist, sie kann mich bei Gott auch nicht entbehren, sodaß es vorläufig beim alten bleibt. Man ist zu treu, matt ist bei meiner Seligkeit zu edel, und auf Sie kann ich mich ja verlassen, Lemvig, ich kenne Ihre Moralität, he?

Tymme wurde es immer schwer, ein Gefühl des Ekels zu unterdrücken, wenn er mit Bramsen zusammen war; doch war es ihm in der letzten Zeit leichter geworden, seit seine Anschauungen und sein Geschmack einer gründlichen Änderung unterworfen worden waren. Das Techtelmechtel zwischen Bramsen und der Dicken ging ihn außerdem gar nichts an, die Miete war billig, es war nichts andres bei der Hand; der »Jugendhort« war unausstehlich, und außerdem hatte er schon gekündigt. Das Ende war, daß er über seinen Plan an seinen Vater schrieb und zugleich um einen größern Wechsel bat.

Da er der Antwort im voraus sicher war, verabschiedete er sich sofort von Ejlersens und den Kameraden und zog in die Admiralstraße. Bramsen stellte die vertragschließenden Parteien einander vor. Die Mutter, Frau Winter, grüßte auf das holdseligste, aber das Fräulein – sie hieß natürlich Rosalie –, die ein erfahrnes Frauenzimmer war und Bramsen nicht recht traute, legte Tymme gegenüber ein eiskaltes Wesen an den Tag, um Bramsen deutlich zu verstehn zu geben, daß sie seine etwaigen Pläne durchschaue, und diese ihm also nichts nützen würden. Und als sie am ersten Morgen in der Frühe Tymme seinen Kaffee hinuntergebracht hatte, wandte sie sich unter der Thür um und sagte mit keuscher Strenge, die im höchsten Grade ergötzlich gewirkt hätte, wenn sie nicht gerade höchst beleidigend gewesen wäre: Ich sage Ihnen, Herr Student, da giebts von vornherein keinen Streit, kommen Sie mir mit keinen Fisimatenten oder dergleichen, halten Sie sich nur fern von mir, ich kenne die Hinterlistigkeit Ihres Freundes. Adieu! – worauf sie hochaufgerichtet wie eine Diana verschwand. Sie flößte Tymme einen solchen Widerwillen ein, daß er Kaffee und Butterbrot – die sie wohl selbst zubereitet hatte – unberührt stehn ließ und noch an demselben Tag ausmachte, das; in Zukunft jegliche Naturalverpflegung von Winters wegfiele. Darüber vollzog sich eine Verändrung in der Stimmung der Familie, denn nun wurde die Alte eiskalt, während Rosalie freundlicher zu werden schien, doch mit einer komischen Beimischung von Beleidigtsein. Denn vollständige Kälte auf der Seite des schönen jungen Mannes war auch nicht ihre Absicht gewesen; er mochte ihrethalben gern ein wenig schmachten, aber er sollte nur wissen, daß es hoffnungslos wäre.

Die Erlaubnis des Vaters kam, aber in dem Brief stand auch, daß es ihn betrübt, geärgert, ja erschüttert habe, als er den Namen der Studentenverbindung, in die Tymme nun eingetreten sei, erfahren habe. – Tymme schrieb zurück und berichtigte des Vaters Auffassung des Namens »Lucifer.« Der Vater hätte vielleicht darauf geantwortet, vielleicht auch nicht – es kam andres, das ihm zu denken gab.

Vierzehntes Kapitel

Wie das Recht schließlich siegt

 

Es war nämlich Volksthingswahl im ganzen Lande, und Pastor Lemvig hatte sich als Kandidaten der Linken in dem Kreise, wo er wohnte, aufstellen lassen. Der Kreis war konservativ, aber er konnte gewonnen werden; die Linke machte Fortschritte im ganzen Lande. Lemvig war der rechte Mann: ein beredter Mann, ein geachteter Mann, ein hübscher Mann, der sich dem Gegenkandidaten gegenüber, einem Rechtsanwalt drüben aus Kopenhagen und auch einem hübschen Mann, recht gut ausnehmen würde. Ja, wenn es sich nur um den Lundbyvester und die Nachbarbezirke gehandelt hätte, dann wäre der Sieg sicher gewesen, aber weiter drüben, der Kopenhagner Gegend zu, sah es etwas anders aus, da waren auch die großen Grundbesitzer im Süden des Kreises, und die Pfarrer und die Ärzte und die andern »Feinen.« Unter diesen gab es allerdings auch eine ganze Anzahl, die nicht zur Rechten gehörte; diese mußten gewonnen werden, aber sie mußten auf eine ganz andre Weise behandelt werden, als wenn Lemvig und sein Freund, der Politiker von Rundby, Zusammenkünfte mit den Bauern hielten. Wenn man nur einen Mann aus der Hauptstadt hätte, einen etwas gewandten und unterhaltenden, das würde bei solchen Leuten helfen. Wenn man den Kandidaten der Rechten stürzen wollte, mußten alle Segel aufgezogen werden, und dann mußte man notwendigerweise auch die Sozialisten zu sich herüber bekommen – es waren gar nicht so wenige –, aber dieses wußte der Pfarrer gar nicht richtig anzufassen.

Als man im Hauptquartier in Kopenhagen diese Verhältnisse erkannte, wurde einer vom richtigen Schlag ausgeschickt, der in Gemeinschaft mit dem Pfarrer wirken sollte. Es war kein geringrer als der Litterat Kandidat Holmer. Übrigens war es dessen erstes Auftreten in der aktiven Politik; er begann sogleich mit der gewohnten Energie, und nun fuhren er und der Pfarrer und der Rundbyer Politiker vom Morgen bis zum Abend herum und »wirkten« jeder auf seine Weise.

Tymme war besonders eifrig bei der Sache. Teils hatten sich in der letzten Zeit überhaupt Lust und Humor bei ihm eingestellt – und dies ging ihn ja beinahe selbst an –, teils hoffte er dadurch Holmer näher zu kommen, was sein beständiges aber bis jetzt erfolgloses Streben gewesen war. Er war auf den Pfarrhof hinaus gezogen und half bei allem, wo man es verlangte, ja bei noch mehr, aber trotz seines Eifers vollzog sich die »große« Aktion beständig über seinem Haupte weg; er wurde nie zu den Beratungen zugezogen und nur zum Vermittler oder dergleichen verwandt; auch kam Holmer nicht ins Pfarrhaus, sondern hatte sein festes Standquartier daheim in Kopenhagen, von wo er jeden Tag auf der Eisenbahn zu den Zusammenkünften seines Kreises fuhr. Der Politiker von Rundby stellte sich dagegen regelmäßig ein, und die meisten Befehle aus dem Hauptquartier im Pfarrhaus gingen – so kam es Tymme vor – nicht vom Pfarrer selbst, sondern vom Rundbyer und von Tante Gine aus. – Trotzdem war es für Tymme ganz pikant, wie eine andre öffentliche Persönlichkeit in den Dörfern umherzufahren, vor den Höfen anzuhalten und zu fragen: Ist Per Nielsen daheim? Ich soll ihn einladen, am nächsten Dienstag im Lysöjekrug an der Versammlung teilzunehmen; es handelt sich um die Wahl; adieu, ich bin sehr in Eile. – Aber so recht zufrieden war er doch nicht.

Holmers Wirksamkeit war außerordentlich. Außerdem daß er einer Versammlung nach der andern vorsaß – entweder allein oder im Verein mit dem Pfarrer oder dem Rundbyer –, hatte er sich auch gleich zum Herrn im Kontor der »Freiheitsbotschaft« gemacht, von wo aus aufreizende Aufrufe und flott geschriebne Laufzettel fast täglich im Ort und in der Umgegend verbreitet wurden; das Blatt selbst war in eine sprudelnde Agitationsmaschine verwandelt, dieses Blatt, dessen größte Thaten bisher in einem schlechten Witz über die Person des konservativen Reichstagsabgeordneten oder in einer kleinen Anzüglichkeit irgend einem Landrichter gegenüber oder in einer mürrischen lokalen Anspielung bestanden hatten. Seine neue schwungvolle akademische Sprache wurde zwar von den Bauern nicht verstanden, aber viele der »Gebildeten« konnte man als für die Linke durch Holmer gewonnen ansehen, und außerdem schwuren die meisten Sozialisten zu ihm, und ihre Anzahl war größer, als man zuerst geglaubt hatte.

Aber rund um das Ziegelwerk »Knudsminde,« das eine Viertelstunde südlich von Lundbyvester lag, wohnte eine zahlreiche geschlossene Arbeiterbevölkerung, die auch für Holmer unzugänglich zu sein schien. Diese Leute hätten am liebsten einen eignen Arbeiterkandidaten aufgestellt, aber da sie dazu zu wenig waren, thaten sie, als ab sie sich diesesmal der Wahl enthalten wollten. Vergebens versicherte Holmer ihnen bei wiederholten Versammlungen im Knudsminder Krug, daß Lemvig bis in die Fingerspitzen freisinnig sei, sie entgegneten ihm, daß er ein Pfarrer sei, und daran scheiterten Holmers Bestrebungen in dieser Gegend immer wieder.

Der Tag brach an. Der Wahlort war Lundbyvester; auf dem Marktplatz war eine große Tribüne errichtet. Die im Pfarrhaus versammelten Damen – einige der Frauen von den benachbarten Bauernhöfen und einige der Gattinnen und Töchter der handelnden Personen – konnten sie von ein paar Fenstern aus sehen, und wenn diese offen gehalten wurden, und der Wind in dieser Richtung wehte, so konnten einzelne Ausrufe und Worte wohl verstanden werden. Da hatten sich also die Damen zusammengedrängt und schauten auf das wogende Volksmeer drunten auf dem Marktplatz hinaus. Tante Gine war nicht dabei; sie war in der Küche beschäftigt – es gab ein allgemeines Essen, wenn die Wahl vorüber war –; und Friederike mußte ihr ja beistehn, wie gleichgiltig ihr dies und alles andre auch war. Karoline war daheim in der Höhlengasse.

O wie die Damen sich reckten und streckten! Nun ist einer droben! Ach, es ist nur der Landrichter – So, nun kommt ein andrer – und nun ist wieder ein neuer da, das ist wahrhaftig Christensen von Rundby – ja, er ist ja der Bürge des Pfarrers, pst … was hat er für eine scharfe Stimme, still! … »Im ganzen Land« das sagte er, habt ihr es gehört? … »Schulter an Schulter,« das war nun deutlich genug; lieber Gott, hört doch, wie sie schreien; ja der kanns, der Christensen … still: »das unverlierbare Recht des Volks,« ja, es ist bei Gott auch eine Schande, wie die Großen mit uns umgehn; hört! »das Grundgesetz bestätigt« … Seht, nun steigt er herunter. – Nun rufen sie wieder hurra: still! das ist der Pfarrer selbst, still!

Und deutlich konnte man die sonore Stimme des Pfarrers hören, so oft der Luftzug von dort her kam, aber sie drang nicht so durch, wie die des Rundbyer Politikers, und die Damen verstanden die einzelnen Worte nicht, doch meinten sie, es sei erhebend zuzuhören, gerade wie in der Kirche. Es dauerte lange. Friederike sah gleichgiltig hinaus und ging gleich wieder. – Hurra! Hurra! Nein, wie laut sie schreien! … er wird gewiß gewählt! – Sieh, da ist das Reichstagsmitglied! er sieht übrigens hübsch aus. – Ja, aber nicht so hübsch wie der Pfarrer. – Der Wind trug die Töne deutlich heran: »Des Königs Recht,« »das Recht des Landsthings« – ja, prost Mahlzeit! – Sollen das Hurrarufe sein? Pah, man konnte sie ja kaum hören; na, der wird gewiß nicht wieder Abgeordneter. So, nun ist ein neuer droben, wer ist denn das? den habe ich noch nie gesehen. Doch, das ist der Litterat aus Kopenhagen – hört nur, wie sie brüllen, das ist gut, was er sagt. – Hast du es denn verstanden? – Nein, kein Wort, – Sieh, wie er droben steht und sich nach allen Seiten dreht; es ist gerade so, als ob es ihm selbst Spaß machte. – Nein, nun lachen sie alle – und nun wieder – und wieder – jetzt geht er hinunter; sie haben doch schrecklich gebrüllt.

Die Wahlkur war vorüber. Natürlich war sie zum Vorteil des Pfarrers ausgefallen, aber das bewies noch gar nichts; jetzt saßen sie drüben in den Schulzimmern und schrieben die Stimmen auf. Mittlerweile kam der Pfarrer über den Markt daher, lind zwar in Begleitung einer Anzahl Männer, die er zu einer Herzstärkung in das Pfarrhaus eingeladen hatte, die Bürgen und einige der Agitatoren.

Friederike sollte die Honneurs machen; sie empfing die Gäste in der Hausflur. Sie gab allen die Hand, einem nach dem andern, das hatte der Vater aufs bestimmteste von ihr verlangt. Es waren fast lauter Bauern, und sie kannte alle, aber dann fiel ihr Auge auf einen, den sie nicht kannte, und der von den andern vollständig verschieden war. Das war Holmer.

Dieser trat ein, und zwar so nachlässig, daß es an der äußersten Grenze von dem war, was sich mit der Höflichkeit vertrug – denn er hatte, gerade heraus gesagt, nicht viel Respekt vor so einem ländlichen Pfarrhaus –, aber als er Friederike sah, war er augenscheinlich erstaunt. Das hatte er nicht erwartet, in Lundbyvester eine solche Schönheit zu finden. Denn schön war Friederike, außergewöhnlich edel geformt, sowohl ihre Gesichtszüge wie ihre Gestalt. Mit ihrer Toilette hatte sie sich nur wenig Mühe gegeben, sie war so ungekünstelt, wie sie überhaupt sein konnte, wenn sie nicht geradezu nachlässig genannt werden sollte. Er war wie die andern mit der Cigarre im Munde eingetreten; jetzt warf er sie zu der offnen Hausthür hinaus – aber erst nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie es sah. Sie fühlte die Galanterie, aber nicht, daß sie beabsichtigt war; sie errötete leicht und begann zu wünschen, daß sie ein wenig feiner in ihrem Anzug aussehen möchte.

Während der Mahlzeit und auch nachher sprach er viel mit ihr, aber keineswegs so anhaltend oder überhaupt so, daß es den andern hätte auffallen können; die Männer sprachen sonst nur untereinander. Er sprach leicht und interessant, gar nicht von Politik; sie hatte noch nie jemand in dieser Weise reden hören. So oft er ein Thema berührte, das ihr fremd war – und das war fast immer der Fall, das merkte sie mit bitterer Beschämung –, lenkte er rücksichtsvoll ab und sondierte weiter, bis er an ihre Romanlektüre kam, da fragte er sie ein wenig aus, und sie wußte, daß er innerlich über die Wahl ihrer Bücher lächelte.

Tante Gine und Tymme, der glücklich darüber war, daß Holmer ihn einiger Worte gewürdigt hatte, hatten angefangen, zwischen der Schule hin und her zu laufen, und brachten jedesmal unklare Gerüchte über den augenblicklichen Stand der Wahl mit. Es fange an wacklig zu werden, hieß es. Mehrere Herrschaftswagen rollten am Pfarrhaus vorüber. Es waren Gutsbesitzer von Begtrup und Fjösinge und Aarsholm und den andern im Süden liegenden Herrenhöfen; sie verachteten das Wahltreiben und die Wahlkur und kamen erst jetzt zum Abstimmen.

Dieses Pack gilt Gott sei Dank nicht mehr als wir andern auch, sagte Gine, während sie mit stechenden Blicken den feinen Wagen nachsah.

Nun sind wir ein wenig unter dem andern, heißt es an mehreren Tischen, meldete Tymme, als er von der Schule kam.

Aber da kamen vier gedrückt volle Leiterwagen vom Knudsminder Weg in weitem Bogen um die Ecke gefahren. Es waren die Arbeiter von der Ziegelbrennerei; sie waren sehr ausgelassen und schwangen eine Menge Bierflaschen unter Schreien und Hurra in der Luft, während sie an den Fenstern des Pfarrhauses vorüber rollten.

Also hatte Holmer die Ziegeleileute doch herumgebracht, und das ohne seinen Freunden etwas davon zu sagen. Da hatte er ihnen allerdings eine Überraschung bereitet.

Der Rundbyer Politiker sprang auf und rief: Nun ist der Sieg unser. – Ihr Wohl, Herr Litterat Holmer! – Sie haben hier eine großartige Arbeit vollbracht. Ihr Wohl! Und er beugte sich mit einem mächtigen Bierglas in der Hand über die Dazwischensitzenden, unter denen auch Friederike war, zu Holmer hinüber, um mit ihm anzustoßen.

Eine Weile verging, eine Weile voll Spannung, dann meldete Gine:

Nun hast du die meisten, Mathis Lemvig, das Recht hat zuletzt doch noch gesiegt! Was kurz nachher auch von der Tribüne auf dem Markte bestätigt wurde.

Fünfzehntes Kapitel

Wie es trotzdem mit dem Kreise ging

 

Vater, sagt Friederike am nächsten Tage beim Frühstück – ihre Augen sind matt, und sie sieht bleich aus. Vater, ich kann es dir ebensogut gerade heraus sagen: ich habe zu wenig gelernt. Ich kann nichts. Ich habe auch keinen Umgang.

Liebes Kind, sagt der Pfarrer; zerstreut und müde sieht er auf. – Liebes Kind?

Gine sagt in scharfem Ton: Du hast all das gelernt, was eine dänische Frau aus dem Volke zu wissen braucht, du hast ebensoviel gelernt wie ich, ja noch mehr; du bist nicht besser als ich, nein, das bist du nicht, nicht ein bischen.

Friederike (zum Vater): Darf ich nicht nach Kopenhagen und dort ein paar Halbjahre ordentlichen Unterricht nehmen!

Der Pfarrer: Du – du – machst mich ganz unruhig; ich glaubte nicht …

Gine: Du bist verrückt, jawohl, daß du jetzt mit so etwas zu deinem Vater kommst, jetzt in der frohen Stunde des Siegs –

Friederike schweigt lange; es gärt in ihr, endlich sagt sie noch immer ruhig: Ich könnte ja bei Tante Erika wohnen; sie hat oft genug an dich und auch an mich deswegen geschrieben.

Gine will einfallen, aber diesesmal kommt ihr der Pfarrer zuvor. Er ist böse und spricht mit erhobner Stimme: Friederike, du thust mir weh. Mit deiner Tante Erika haben wir nichts mehr zu thun, und das weißt du wohl. Die Güllichschen und solche Menschen sind von einer andern Art als wir. Wir sind freisinnig; sie und ihr ganzes Wesen ist reaktionär, unfrei, unvolkstümlich. Meine Tochter soll nicht – ich verbiete dir, darüber zu sprechen.

Ja, weil du freisinnig bist, Vater! – schneidend, schneidend erklang ihr kurzes Lachen.

Der Pfarrer schwieg einen Augenblick und sagte dann mit Nachdruck: Du hast deine Freiheit in allem, nur nicht in dem, daß du unfrei wirst. – Und er fühlte sich durch diese Phrase in seiner Verwirrung und seiner Betrübnis erleichtert; fröhliche Erinnerungen an die Siege seiner Jugend, bei den Diskussionsversammlungen der »Theologischen Gesellschaft« verdrängten auf einen Augenblick die Bitterkeit der gegenwärtigen Stunde. – Gine nickte energisch mit dem Kopfe; so hätte sie freilich nicht zu antworten vermocht, obgleich sie sonst den Pfarrer schon beraten konnte; aber sie war immerhin vergnügt darüber, daß er noch der Herr im Hause war, wenn es darauf ankam.

Friederike saß noch eine Weile da und starrte in die Luft. Ihr Gesichtsausdruck war finster und hart. Dann sagte sie, kalt und gemessen, während sie ihrem Vater fest in die Augen sah:

Könnte ich nicht mein mütterliches Vermögen bekommen?

Der Pfarrer war eben im Begriff, sich ein Butterbrot zu streichen. Das Messer fuhr langsam über das Brot hin, strich immer weiter, immer weiter. Tymme trat herein; in der letzten Zeit sah er etwas netter aus und hielt mehr auf seine Kleidung und Haltung, aber er stand schrecklich spät auf.

Guten Morgen! Ach, wie bin ich herrlich hungrig. Guten Morgen, Herr Reichstags … aber Vater, bist du krank?

Noch immer strich das Messer über das Brot hin, in demselben langsamen Tempo; der Kopf neigte sich ein wenig vor, ein wenig mehr, immer mehr – nun stießen alle einen erschreckten Ruf aus; die Hand ließ das Messer los, und der Kopf sank Plötzlich auf den Teller hinunter; da lag er schwer auf dem Butterbrot und dem Messer. Sie drängten sich entsetzt um ihn; die Augen waren geschlossen – Wasser! Wasser!

Aber ehe das Wasser geholt war, kam der Pfarrer wieder zu sich. Er sah sich ein wenig verwundert um, blieb dann ruhig sitzen, als ob er überlegte, erhob sich dann und sagte freundlich: Na, wohl bekomms euch! Ich muß jetzt in mein Zimmer, es giebt viel Arbeit, die ich fertig machen muß. –

Sie hörten ihn Schubladen ausziehn und darin kramen, als ob er etwas suchte.

Nach etwa einer Viertelstunde sahen sie in das Studierzimmer; ganz gegen seine Gewohnheit hatte er sich auf das Sofa gelegt. Da lag er nun und schlief fest; die Decke hatte er über sich gezogen.

Man holte trotzdem den Arzt und erzählte ihm den Vorgang, indem man mit dem Streichen des Butterbrots begann. Doktor Meinke betrachtete den Schlafenden, fühlte ihm den Puls und sagte: Hm. Hm. Ein kleiner – Anfall. Hm. Wahrscheinlich etwas überanstrengt. Es ist jetzt noch nichts Schlimmes, aber er darf sich nicht überanstrengen, darauf müssen Sie recht acht geben.

Gine kam aus dem Studierzimmer; draußen stand Friederike und horchte. Du bist ein ungeratnes Kind, sagte Gine zu ihr, während sie an ihr vorüberging.

Volle drei Stunden schlief der Pfarrer ohne Unterbrechung. Dann trat er plötzlich aus seiner Thür, offenbar wohl und frohen Muts. Friederike hatte vor der Thür gesessen, die Wange daran gedrückt, eine Beute widerstrebender, aus Trotz und Reue zusammengesetzter Gefühle. Du hier, mein liebes Kind? sagte er in seinem liebevollsten Ton und küßte sie auf das schöne Haupt. Da merkte sie, daß er von dem Streit am Vormittag gar keine Erinnerung mehr hatte.

Das Frühstück! rief er fröhlich in die Küche hinaus.

Das Essen wurde aufgetragen, und niemand machte eine Bemerkung darüber, welche Tageszeit man hatte; er aß mit ausgezeichnetem Appetit.

Aber gerade als er sich ein Butterbrot strich, war es, als würde er nachdenklich. Hört, sagte er, ich muß hinüber und arbeiten, es ist etwas da, das ich fertig machen muß. Hierauf ging er in sein Zimmer. Sie hörten ihn die Schubladen des Schreibtischs und des Büreaus herausziehn und eine Menge Papiere herausnehmen.

Am nächsten Tage kam der Doktor von selbst. Der Pfarrer war den ganzen Vormittag – und am Abend vorher auch – mit einer Menge Papieren und Dokumenten beschäftigt gewesen, die sonst nie auf seinen Tisch kamen. – Ja, man muß sich um schrecklich viel bekümmern, Wahlsachen, Reichstagssachen und nun auch noch um einen Hilfsgeistlichen, sagte der Arzt, als er in das Studierzimmer trat.

Er blieb eine halbe Stunde drinnen und sah sehr ernst aus, als er wieder heraus kam.

Hören Sie, Fräulein Lemvig und Herr Lemvig und Jungfer Lemvig – denn Sie sind vielleicht in mancher Hinsicht die vernünftigste – na! Sie müssen nicht erschrecken, aber – Ihr Vater darf nicht in den Reichstag. Er kann leider nicht so viel auf einmal vertragen –

Nicht in den Reichstag? fragte Gine leidenschaftlich.

– denn sehen Sie, sagte Meinke, er muß sein Mandat jetzt niederlegen. Er hat es mir schon versprochen.

Da kam Gine außer sich vor Erbitterung. Das sagen Sie, rief sie, weil Sie zur Rechten gehören! Sie wollen den Kreis der Linken abschwindeln und zur Rechten hinüberlotsen! – Gine kannte den braven kleinen Doktor schon so lange, wie sie im Hause war, aber es gab nichts, was sie diesem konservativen Pack nicht zugetraut hätte.

Der Doktor war über diese unerwartete Beschuldigung ganz verblüfft; er hatte aber nicht erst Zeit, ärgerlich zu werden, denn Friederike sagte zu Gine: Pfui, das ist eine Schande! und Tymme schloß sich diesen Worten mit einem protestierenden Brummen an.

Ja, wir wollen es nun gut sein lassen, sagte Gine mit etwas herabgestimmtem Tone, und sie meinte mit diesen Worten Abbitte zu leisten, gründlicher wünschte sie sich nicht auszusprechen. Aber – eh – der Hilfsgeistliche, um den wir schon eingekommen sind?

Hm, antwortete Meinke, wissen Sie was, lassen Sie ihn nur kommen. Pastor Lemvig soll ihn nur behalten. Bis auf weiteres.

Sie sahen einander an. Aber als Meinke hurtig zur Thür hinausging, sagte er: Es ist ja gar nichts Gefährliches, nur keine Überanstrengung oder dergleichen; darauf müssen Sie recht acht geben.

*

Es war eine schreckliche Geschichte für den Kreis, als es bekannt wurde, daß sich Pastor Lemvig so plötzlich gezwungen fühle, sein Mandat niederzulegen. – Nun mußte der ganze Wählapparat noch einmal in Bewegung gesetzt werden. Viele warfen ihre Blicke auf den Litteraten Holmer, der nun schon eine vielversprechende politische Berühmtheit war. Er wurde auch wirklich aufgestellt und verrichtete wieder Wunder der Geschwindigkeit, der Beredsamkeit und der Zeitungsagitation. Die Sozialisten waren äußerst eifrig für ihn, die Bauern aber langsamer als das erste mal, besonders in den wichtigen Dörfern um Lundbyvester. Hier hatte sich Gine bei den verschiednen Großbauern, die ins Pfarrhaus kamen, dahin ausgesprochen, daß dieser Holmer doch nicht so recht volkstümlich sei. – Und da geschah es denn, daß der nette Rechtsanwalt aus Kopenhagen den Sieg davon trug, und der Kreis wieder der Rechten anheim fiel.

Die »Freiheitsbotschaft« brachte dann einen Artikel, worin es hieß – Holmer war aber schon abgereist und hatte keine Schuld an dieser Dummheit –, daß der Hausarzt des Pastors Lemvig u. s. w. Doktor Meinke verklagte das Blatt – dies war sein erstes und letztes Auftreten in der Politik –, und es wurde zu einer größern Geldstrafe verurteilt, die ihm aber von dem anständigen Meinke erlassen wurde. Zum Dank dafür wurde er von der »Freiheitsbotschaft« verhöhnt und von der »Gesetzlichkeit« – wegen übertriebnen Edelmuts – streng getadelt. – So lange ich mich noch rühren kann, pflegte Doktor Meinke von da an mit einer für ihn ungewöhnlichen Leidenschaft, so oft diese Episode berührt wurde, zu sagen, so lange ich mich noch rühren kann und noch im Besitz meiner geistigen Kräfte bin, werde ich mich der Politik unter jeder Form zu enthalten wissen, die Politik ist nichts wie Stuß, meine Herren, das ist leider wahr.

Sechzehntes Kapitel

Gine

 

Während all diese Schändlichkeiten außerhalb des Pfarrhauses vor sich gingen, besserte sich der Zustand des Patienten zu Hause allmählich. Er hatte wieder angefangen zu predigen, abwechselnd mit dem Vikar, einem sehr tüchtigen jungen Theologen Namens Hansen, der im Hause wohnte, und der auch andre kirchliche Geschäfte übernehmen konnte. Er war freundlich und gut gegen jedermann, besonders liebenswürdig gegen Friederike. Tymme kam oft, nach dem Vater zu sehen, bisweilen von Holmer begleitet, der seit seinem ersten Besuch im Pfarrhaus angefangen hatte, sich zuvorkommend, ja fast kameradschaftlich gegen Tymme zu zeigen. Das war doch sehr nett von Holmer, der so vielerlei zu thun hatte, daß er sich Zeit nahm, das Pfarrhaus zu besuchen; er war außerordentlich taktvoll und liebenswürdig, und die Kälte, die die unbeugsame Gine ihm zeigte, schien er zu übersehen.

Töllöses dagegen kamen nicht; die hatten ein Kind bekommen – es klappte zur Not mit der Zeit, sagte man beim Schmied. Alle Tage war eins vom Pfarrhaus drunten in der Höhlengasse, entweder Friederike oder Gine oder auch der Pfarrer selbst, und immer brachten sie Lebensmittel oder etwas andres mit dorthin.

Die Aufgabe der Hausbewohner war es, den Pfarrer so viel wie möglich vom Arbeiten abzuhalten, aber jeden Tag, immer beim Frühstück, überkam ihn die seltsame Unruhe, und dann mußte er in sein Studierzimmer hinüber zu seinen Papieren und Dokumenten. Er hatte sich angewöhnt, den Schlüssel von innen umzudrehn.

Er ahnte es nicht, daß Friederike mit klopfendem Herzen außen stand und sich an die Thürpfosten drückte, und sie ahnte nicht, welche Papiere es waren, zwischen denen er mit seiner unpraktischen Hand so eifrig umhertastete.

Eines Tages wurde die Studierzimmerthür plötzlich von innen geöffnet, und Pastor Lemvig rief mit ungewohnter Ängstlichkeit und Unruhe heraus: Gine! Gine! Zu Friederike, die sofort bei ihm war, sagte er lächelnd und wie entschuldigend: Ich weiß nicht, was heute mit mir ist, ich kann fast nicht denken – nun, es ist wohl auch diese Reichstagsgeschichte, die bevorsteht –

Die Reichstagsgeschichte, die bevorsteht! Er redete ja irre!

Gine, Gine! rief er ungeduldig zu einer Thür hinaus. Und als Gine in das Studierzimmer getreten war, hörte Friederike ihn sagen: Höre, du mußt kommen und mir hierbei helfen; ich kann heute nicht damit zurecht kommen.

Friederike dachte: Immer Gine vorn und Gine hinten – und erfüllt von Bitterkeit gegen Gine, gegen sich selbst und gegen die ganze Welt entfernte sie sich und ging in ihr Zimmer hinauf zu ihren Büchern – den Büchern, die Doktor Holmer ihr geliehen hatte.

Am nächsten Vormittag saß Gine mehr als drei Stunden beim Pfarrer drinnen an der rätselhaften Arbeit. Während dieser Zeit kam sie nur einmal heraus, um etwas in der Küche anzuordnen. Sie kam nicht einmal heraus, um zu sehen, ob ihren Befehlen nachgekommen wäre, und die Folge davon war, daß der Braten angebrannt war, etwas, das unter Gines Regiment kaum jemals vorgekommen war.

Nach dem Essen sagte sie zu dem Pfarrer: Nun glaube ich, daß ich es allein fertig machen kann, und sie ging allein in das Studierzimmer zurück. Der Pfarrer wanderte ein wenig herum und sah geistesabwesend aus; er küßte Friederike im Vorbeigehn ein paarmal, sagte aber nichts; dann fiel es ihm ein, zu Töllöses in die Höhlengasse zu gehn.

Als er wieder zurückkam, hörte ihn Friederike zu Gine sagen: Nun? – in einer eigentümlich ängstlichen, kindlichen Weise. Gine sagte nichts, und man konnte auch nichts aus ihrer Miene erraten. Friederike war zu stolz, zu fragen, empfand es aber als eine tiefe Beleidigung, daß man sie in Unwissenheit darüber ließ, was vorging. Dann ging sie zu ihren, das heißt zu Holmers Büchern. – Tymme war in Kopenhagen und wußte auch nichts von den sonderbaren Geschäften in der Studierstube.

Ob – wir nicht – einen Rechtsanwalt nehmen sollten? fragte der Pfarrer.

Was könnte das nützen?

*

Nein, was hätte das nützen können? Die Sache war wahrlich leicht zu übersehen. Der Pfarrer brauchte nur all seine Wertpapiere, die er in seinen Schubladen liegen hatte, herauszunehmen: Obligationen, Aktien und bares Geld, ebenso die Liste über seine verschiednen Besoldungseinkünfte; dann schrieb Gine es alles zusammen auf ein Papier. Ferner alle seine Rechnungen, Verpflichtungen, Schulden – wie es genannt werden konnte; es war eine böse Kolonne von Rechnungen oder Angaben aus der Druckerei der »Freiheitsbotschaft« und andre gräßliche Ausgaben aus Anlaß der Wahl – dann schrieb Gine auch dies auf ein Stück Papier.

Es war nur ein Monat oder etwas mehr seit jenem Anfall am Frühstückstisch vergangen, aber erst drei Tage, seit Gine sich an die Arbeit gemacht hatte. Gine rief dem Pfarrer; sie hatte im Studierzimmer gesessen und eine Menge Papiere und Dokumente zu verschiednen Bündeln auf dem Schreibtisch geordnet. Nun stand er neben ihr, die in seinem Stuhl vor dem Tisch saß.

Du hast mich gerufen, Gine, möchtest du, daß ich dir etwas suchen helfen soll?

Nein, nun ist es gut. Wenn du sonst keine Papiere mehr hast, dann weiß ich jetzt Bescheid.

Nun, es steht wohl nicht schlimm?

Ich habe noch keinen Mann gesehen, der so wenig Bescheid in seinen Sachen wußte.

Das ist wahr, sagte der Pfarrer demütig, ich habe es nicht in Ordnung gehalten, in Zukunft soll es besser werden. Das Resultat ist wohl nicht so schlimm?

Nun bin ich seit zwanzig Jahren in deinem Haus, ja sogar noch länger, und nie habe ich gewußt, was du überhaupt besitzt. – Bei deiner Verheiratung hast du die zehntausend Kronen bekommen, die hier stehn, und so viel Geld jedes Jahr, und Stol und Gebühren und Kleider und andre Dinge, und dann bist du in einem großen, großen Amt gesessen.

Die Kinder haben Geld gekostet, und – und – ich weiß nicht, wie es zugegangen ist, aber – Gine, ich habe auch sehr viel gethan – viel … Gutes hatte er hinzufügen wollen, und das mit Recht, aber er senkte nur stumm den Kopf. – Und dann habe ich doch gewiß noch das meiste von dem, was die Kinder, was wir … Seine Stimme bebte, und er konnte den Satz nicht vollenden.

Hier stehn die neunzigtausend Kronen aufgeschrieben, die die Kinder bekamen, als die alte Güllich starb, und sie waren in königlichen Obligationen …

Du bist es ja selbst gewesen, Gine, die mich überredet hat, die Volksbank zu unterstützen und in all den Zeitungen Geld anzulegen, und … und …

Lieber Gott, Mann! unterbrach ihn Gine scharf, ich dachte, du seiest steinreich! Bin ichs denn, oder bist du es, der es schließlich gethan hat?

Ja, aber beste Gine, ich habe ja die Aktien alle miteinander, ausgenommen die von der Volksbank, weil sie bankerott wurde.

Ja, du hast einen ordentlichen Wirrwarr daraus gemacht. Hier stehn alle die dummen Aktien, oder wie du es nennst – sie las ihm eine Anzahl Nummern vor –, oder hast du vielleicht noch andre?

Nein, das weißt du ja gut, aber …

Ich bin beim Kaufmann Petersen gewesen und habe mir ein gedrucktes Papier geborgt, wo drin geschrieben steht, was alle die Aktien jetzt wert sind, und er hat mir gezeigt, wie ich es ausrechnen müßte, und das habe ich gethan, und hier steht es nun, wenn ich es recht gemacht habe. Bitte, sieh selbst.

Der Pfarrer ergriff das Papier mit zitternder Hand, gleich darauf entsank es seinen Fingern und fiel flatternd zu Boden. Gine nahm es auf; sie hörte ihn sagen: Min Kinnings! und das war seit einem Menschenalter das erste mal, daß er im heimatlichen Dialekt gesprochen hatte.

Sie sah ihn nicht an, sondern sagte – und ihre Stimme klang gedämpft merkwürdig weich:

Mathis, sagte sie, ich habe dich lieb gehabt von der Zeit an, wo wir kleine Kinder gewesen sind und draußen auf der Vildberger Heide miteinander gespielt haben, aber du hast nichts davon gewußt. Du zogst nach Kopenhagen und wurdest ein großer Mann und verheiratetest dich mit einer andern. Dann starb diese, und ich wurde dir eine treue Dienerin einundzwanzig lange Jahre. Und nun bin ich ein alter Mensch, und du auch. Aber ich werde dich nicht in deinem Unglück verlassen, und auch deine Kinder nicht. Vielleicht bin ich hier selbst viel schuld daran. Gott gnade uns armen sündigen Menschen allen miteinander.

Aber der Pfarrer hörte diese Ansprache nicht, er war in dem Lehnstuhl zusammengesunken.

Siebzehntes Kapitel

Tymme wird Soldat – Er beschließt, Schriftsteller zu werden

 

Eine herrliche Zeit die Soldatenzeit! – Trotz der unumgänglichen Unbequemlichkeiten, Strapazen und so weiter hört man sehr oft Leute, die diese Zeit selbst durchgemacht haben, in dieses Urteil einstimmen. Und je älter sie werden, mit desto größerer Liebe erinnern sie sich an diesen lustigen Abschnitt ihrer Jugend. Es sind vielleicht hauptsächlich Leute aus dem akademischen Beruf, oder gleichgestellte, bei denen sich die Bedingungen finden, die Soldatenzeit gerade so zu nehmen, wie es sein soll.

Wer Sinn für Humor hat, für den bietet die Soldatenzeit eine Reihe kleiner Erlebnisse, die später nie wieder aus der Erinnerung verschwinden, und mit denen er später sich und andre ergötzen kann.

Er kommt in Situationen, und es werden ihm Aufträge zu teil, die auf die komischste Weise von den Lebensgewohnheiten und Beschäftigungen seines bürgerlichen Lebens abstechen, und er fühlt, daß ihm das gut thut. Er tritt in nahe Berührung mit einem Stand, dem der Unteroffiziere, dessen derbe Sprache ihn verblüffen wird, aber dessen oft geradezu genialer Humor ihn so zum Lachen bringt, daß es für den ganzen Tag aufheiternd wirkt, und er wird es schließlich lernen, diesen pflichtgetreuen kräftigen und originellen Menschenschlag lieb zu gewinnen.

Wenn man selbst gesund ist, wird man die Einfachheit, die Pünktlichkeit und die starke physische Entwicklung dieses Lebens geradezu als eine Wollust empfinden, und ich hätte beinahe gesagt, war man nicht gesund, dann wird man es.

Und wenn man Sinn für Poesie hat, für die Poesie der Natur und des Lebens im Freien, da bietet die Soldatenzeit Gelegenheit genug zu Genüssen dieser Art. Oder könnte ich wohl jemals die frohe Stimmung der Sommernachtstunden vergessen, wo ich auf der Schmiedelinie Schildwache stand? Es war zwischen eins und zwei; die tiefe Dunkelheit der Nacht lag unter den alten dichten Bäumen rund um einen, über einem und unter einem; schwarz und einsam war es wie mitten in einem Walde. Aber mitten im Wallgraben zeigte sich eine glänzende, klare Fläche, das war des Himmels Morgengrauen, das sich da schon widerspiegelte, glänzend, wie geschliffner Stahl. Und nun erklang der erste Ruf eines erwachenden Vögleins, und darauf, beinahe wie auf einen Taktschlag, fielen die frohen Kameraden ein. Der Chor nahm an Stärke zu, da und dort und überall sang und klang es; ich weiß noch, wie die Töne hell durch die Stille und die Dunkelheit schmetterten. Doch ganz dunkel war es nun nicht mehr; ich konnte jetzt den knorrigen Arm der alten Esche unterscheiden, der lang über den Wallgraben hinausragte, ich sah, wie die glänzende Fläche mitten auf dem Wasser sich erweiterte und schließlich errötete; geblendet schloß ich meine übernächtigen Augen für ein Weilchen, und als ich sie wieder aufschlug, da war der Morgen da! Im Nu der herrliche sommerfrische Morgen! Und alsbald hörte ich auch die taktfesten Schritte der Ablösungspatrouille. Das Laub raschelte unter ihnen, näher und näher.

Oder entsinnst du dich, alter Dienstkamerad, wenn du dies vielleicht liest, entsinnst du dich des Mundvolls frischer Luft, der dahergestrichen kam, als wir an einem feuchtkalten Aprilmorgen früh halb sechs Uhr drüben beim »Sternpfahl« Posten standen und uns Kopf, Hals und Arme wuschen? Et haec meminisse juvadit! Und dann die gesunde Wärme, die uns nachher durchströmte; und vor den Augen die malerischen Umrisse der langen Baumreihe des Kastellwalls.

Ebensowenig kannst du die Ausmärsche aus dem dröhnenden Kastellthor vergessen haben, noch die feinbelaubte, sonnenbeschienene Ahornallee – oder waren es Ulmen? –, die Frühstückspausen auf dem Exerzierplatz und – ja und wenn der Tag vorüber war, die langen widerhallenden Töne der Retraite, und zuletzt den tiefen gesunden Schlaf auf dem harten Soldatenbett. Gesteh, daß du später auf deinen Daunenkissen nie so gut geschlafen hast!

*

Tymme hatte es so eingerichtet, daß seine Militärzeit in dem April begann, der auf sein Abiturientenexamen folgte; da konnte ihm nämlich niemand einen Vorwurf machen, wenn er das Philosophicum nicht zur rechten Zeit machte; das war ein guter Vorwand, mit dem er sogar sein eignes Gewissen beruhigte.

Die neue Lebensweise gefiel ihm bald außerordentlich gut. Es war eine Wohlthat für seinen großen, starken, aber etwas vernachlässigten Körper. Ebensowenig hatte er etwas gegen das beruhigende Gefühl der Verantwortungslosigkeit, die der Rekrut hat, dessen Handlungen fast alle vorgeschrieben, nicht selbstgewählt sind.

In vollen Zügen genoß er das vielfache Leben im Freien, und das starke Gefühl für Naturschönheit, das von Kindheit an in ihm gelebt hatte, aber seit einer Reihe von Jahren zurückgedrängt worden war, erwachte nun aufs neue, ja es erwachte in einer Stärke wieder, die ihn selbst überraschte. Es wollte in Gedanken, in Bildern, in Worten, in Reimen Gestalt gewinnen, mit einem Wort, er hatte Drang zum Dichten. Er hatte, seit er den »Jugendhort« verlassen hatte, kaum einen Vers geschrieben, und die damaligen Gelegenheitsgedichte betrachtete er jetzt als schlechte Verse.

Er wußte ja jetzt, vom »Lucifer« her nämlich, daß im ganzen die Poesie und ganz besonders die lyrische Naturdichtung, die ihn nun lockte, ein verlassenes Genre sei und unter der Würde des modernen Menschen. Deshalb hielt er sich auch tapfer davon zurück, die Feder anzusetzen. Aber es kribbelte ihm doch in den Fingern.

Da es in Tymmes Bataillon nicht schwer hielt, sich Nachturlaub zu verschaffen, nahm er regelmäßig an den »Luciferabenden« teil, aber der stärkste Anlaß dazu war es für ihn, daß Holmer angefangen hatte, sich zu ihm herabzulassen, ja Tymme hatte sogar begonnen, bei Holmer zu verkehren. Einmal schon hatte er mit Bramsen und Meyer und einigen andern der obersten Geistesgrößen bei diesem großen Manne zu Abend gegessen.

An diesem Abend war ein Teil der Jüngern versammelt gewesen, die nämlich, von deren Begabung Holmer etwas erwarten konnte; unter ihnen war auch Tymme gewesen und hatte wie die andern den Abend damit verbracht, daß er stillschweigend anhörte, was die Übermenschen sprachen.

Holmer war ein freigebiger und liebenswürdiger Wirt, aber sogar seine Gastfreundschaft war Agitation und Tendenz. Wenn er wie hier alle Vorsicht und alle Zurückhaltung wegwarf, dann erschien er den Jungen am hinreißendsten. Paradoxen üben eine begeisternde Macht auf die Jugend aus, bloß weil sie Paradoxen sind. – Die Unterhaltung drehte sich natürlich um das geistige Leben und die Litteratur. Einige der jüngern Anwesenden gaben sich damit ab, ästhetische Artikel für die Zeitungen zu schreiben, und diesen gab Holmer folgende Ratschläge:

Unsre Kritik soll parteiisch sein, gerade das, wir müssen es dahin bringen, daß das, was von unserm Kreis ausgeht, eine notwendige Bedingung dafür ist, in der Litteratur Erfolg zu haben. Wir sind nicht neutral, wir führen Krieg.

Oder er sagte: Es kommt ein Roman voll sinnlicher Ausmalung heraus; schreiben Sie: ein nobles Buch, ein vornehmes Buch – »vornehm« ist ein gutes Wort, aber gebrauchen Sie es nicht zu oft. – Umgekehrt: das, was die Leute Keuschheit, Vaterlandsliebe und so weiter nennen, brandmarken Sie es mit geeigneten Eigenschaftswörtern; ich sah neulich das Wort »unappetitlich« mit Erfolg auf so etwas angewandt.

Eigenschaftswörter wie »ideal,« »erhebend« oder dergleichen – gebrauchen Sie sie immer als herabsetzend. Es kann so gemacht werden, wie ich selbst einmal von jemand schrieb, »ein grundlangweiliger und ideal angelegter Mensch.« Wenn die Leute sich daran gewöhnen, derartige Eigenschaftswörter in Gesellschaft zum Beispiel von »langweilig« zu sehen, dann hören sie auf, sie zu lieben, und der Name ist sehr oft die Sache selbst, das wissen Sie wohl. Wir müssen ihre Epitheta erobern. – Meyer hat in seinem letzten Buch folgendes über ein modernes junges Mädchen: »Sie war süß und frivol«; das ist vortrefflich; »frivol« wird in Gesellschaft von »süß« etwas Lobendes. Das ist das Umgekehrte.

Angehenden Schriftstellern gab Holmer einige praktische Ratschläge:

Es steht immer in der Macht eines angehenden Schriftstellers, für sich Reklame zu machen, ja sogar besser, als wir es können. Kompromittieren Sie sich, machen Sie irgend einen Streich, geben Sie Ärgernis, sodaß man in der Stadt über Sie redet, alsdann geben Sie Ihr Buch heraus, und Sie werden sehen, ein »schlechter« Ruf ist besser als gar keiner. Aber das ist sicher, sich auf eine richtige Art zu kompromittieren, dazu gehört auch Talent. Verlästert werden ist besser, als totgeschwiegen werden. Lassen Sie sich nur »frech« heißen, dann werden Sie gelesen werden. – Man kann sich gleich mit seinem ersten Buch kompromittieren, sorgen Sie dafür, daß es der öffentlichen Moral ins Gesicht schlägt; Sie können gern noch weiter als ich gehn, in Ihrem Alter können Sie überhaupt nicht weit genug gehn.

– In dieser Gesellschaft war es für Tymme etwas peinlich, daß er allein noch nichts geleistet hatte, nicht einmal soviel wie einen richtigen Vortrag im »Lucifer.« Er fühlte sich übersehen, und doch mußte Holmer in Beziehung auf ihn Erwartungen hegen, sonst hätte er ihn ja nicht eingeladen.

Aber er wollte –!

Ja, auf dem Heimweg nach dem Kastell hatte es Tymme jetzt beschlossen.

Welcher Art? – Ach, die Art war ja schon gegeben. Die heutigestags würdigste litterarische Beschäftigung war die kritische. Keine Zeitungskritik; höher hinauf: ein Buch, ein Buch!

Plötzlich wie ein Brandpfeil in unser versumpftes Volk hinausgeschleudert!

Ein kritischer Gang durch die ganze dänische Litteratur? – Ach nein, dazu wären ja gewisse Vorstudien nötig gewesen, das war unnötiger Zeitverlust! Und warum mußte es denn überhaupt von der Litteratur handeln? – Aber etwa von der Moral? die landläufigen moralischen Begriffe? Prächtig, prächtig, da konnte man sofort loslegen!

Nun der Titel? – »Alte und neue Moral.« Ach, das sah nach so wenig aus – es gab auch schon so etwas, das hieß: »Altes und Neues,« es stand daheim in des Vaters Bücherspind. »Neue Ethik«? – »Moderne Ethik«? – Hallo: »Die Moral nach dem Durchbruch«? – »Durchbruchsmoral«? – Pfui, das erinnert an Durchschnittsmoral. – »Sittlichkeit nach modernen Begriffen«? Das sah verdammt gut aus. Einfach, wahrhaftig, unkritisierbar – sehr gut. Stolz in seiner einfachen Wahrheit. Unkritisierbar in seiner stolzen – halt, er hatte doch wohl bei Holmer zu viel Wein getrunken.

Am nächsten Morgen meldete er sich als »Kompagnieschreiber.« Man hatte es ihm schon vor längerer Zeit angeboten; er hatte es verschmäht. Nun kam es ihm gelegen, denn so ein Kompagnieschreiber braucht nur ein paar Stunden täglich auf dem Kontor zu sein, im übrigen ist er ein freier Bürger – jedenfalls wenn er sich mit dem Sergeanten dort gut zu stellen weiß.

Achtzehntes Kapitel

Schriftsteller und Kritiker

 

Schon prangt es mit gewaltigen Buchstaben auf der ersten Seite des ersten Kollegienhefts: » Über Sittlichkeit nach modernen Begriffen.« Hierauf taucht Tymme die Feder fünf – sechs mal ein, reibt sich die Stirn, taucht die Feder wieder ein – geht spazieren.

Die Hauptregeln für meine Arbeit, denkt er, sollen sein: Kurzer und knapper Stil, strenger Stil, vornehmer Stil. Und neu von Anfang bis zu Ende: nicht ein Gedanke, der vorher schon dagewesen wäre. Nüchtern, konzis, jedes Wort wie ein Keulenschlag. Unbarmherzige Logik. – Diese Worte hatten einen förmlichen Wohlgeschmack. Knapp. Nüchtern. Unbarmherzig. Keulenschlag. Und stolz trug er das Haupt, während die Augen funkelten.

Guten Morgen, Lemvig, haben Sie begonnen? – Bramsen war es, der in seine Schule ging – dieser große Mann gab Stunden, wie es andre große Männer vor ihm auch schon gethan haben. Tymme dachte: Ich muß gestern abend etwas ausgeplaudert haben.

Bramsen fuhr fort, während er Tymme auf den Hut klopfte: Es arbeitet wohl hier in diesem gigantischen Hirn – adieu, ich will Sie nicht stören.

Einerlei, dachte Tymme, ich werde sie schon noch in Erstaunen setzen.

In der Schule waren ihm die dänischen Aufsätze, mit Ausnahme des Orthographischen, immer leicht gegangen, wenn er nur erst einmal begonnen hatte. Und so ging es ihm jetzt auch; es ging vorwärts. Tag für Tag schrieb er in seiner ganzen freien Zeit.

Bramsens regelmäßige Neckereien, wenn sie im »Lucifer« oder in der Hausflur in der Admiralstraße zusammentrafen, schmeichelten ihm mehr, als daß sie ihn ärgerten.

Auch heute abend nicht am Freudenbecher nippen?

Nein, heute nicht!

Mensch! Was ein Geist wie der Ihrige unsern frühern Nocturnen vorzieht, das muß von außerordentlicher Beschaffenheit sein, von diabolischem Reiz. – Ah! nun Hab ich es! – Mensch, Sie stehn im Begriff, die Welt zu überraschen.

Tymme leugnete es bescheiden.

Ich sehe es aber doch in Ihrem Blick! – diesem Blick! – Mensch, Sie haben die Feder ergriffen!

Ach, so schweigen Sie doch!

Adieu! Eile! heim in die Werkstatt! Jede verlorne Minute ist eine Sünde gegen den heiligen Geist. Von dannen!

Als Tymme gegangen war, dachte Bramsen: Das wird ein netter Brei werden, den er da zusammenschmiert, der Milchbart; der bekommt nie den richtigen Wildgeschmack. Verstehe nicht, was Holmer mit ihm will.

*

Als drei Wochen vergangen waren, meinte Tymme, nun sei der erste Teil fertig; er schrieb ihn also ins Reine und setzte »Erster Teil« auf den Umschlag. Dann gab er einigen auserwählten Kameraden ein großes Punschgelage in der Admiralstraße, denn festlich und süß ist das Bewußtsein, der Träger von etwas Großem zu sein, von etwas, das sich zur gegebnen Zeit der Welt enthüllen soll. Und am nächsten Mittag suchte er Bramsen auf – denn noch süßer ist es, einen Vertrauten zu haben, und Bramsen hatte ihn oft genug geneckt, daß er sein Vertrauter werden konnte – und bat ihn, von sieben bis halb zehn in die Admiralstraße zu kommen, dann wolle er ihm etwas anvertrauen und ihn bitten, etwas durchzulesen … und er gestand errötend die Wahrheit.

Aber das war nichts für Bramsen. Diese Art, seinen Abend zu verbringen, paßte ihm durchaus nicht. Die neckische Laune wurde von einer mürrischen abgelöst, aber er wagte es doch nicht, Holmers Protegé so gröblich vor den Kopf zu stoßen.

Es ist wohl noch nicht groß, das Werk?

Nein, ganz kurz, antwortete Tymme selbstverständlich. Ich bin erst mit dem ersten Teil fertig. Und der ist ins Reine geschrieben. –

Die Gefühle eines angehenden Schriftstellers während einer solchen Prüfung seines Produkts, das verstohlne Hinüberschielen, die gezwungne Gleichgiltigkeit und so weiter, all dies ist wohlbekannt und schon oft beschrieben worden.

Gleich als er die Überschrift gesehen hatte, sagte Bramsen, anstatt in Begeisterung zu geraten: Nun ja, und dann ging er mit einer ungeduldigen Bewegung rasch zum Text über. Nachdem er eine Seite gelesen hatte, verlangte er einen Bleistift und begann schweigend da und dort zu korrigieren, indem er zuweilen kleine ärgerliche Ausrufe ausstieß. Einmal sah er auf: Aber, Mensch, Sie können ja nicht buchstabieren, nun habe ich drei feste Schnitzer korrigiert. – Ja, aber der Inhalt? fragte Tymme, dessen Mut auf den Gefrierpunkt heruntergesunken war. – Ach, der Inhalt! war die ganze Antwort. Und weiter las er in entsetzlicher Eile, ab und zu mechanisch korrigierend und zugleich vor sich hinbrummend, als sei es einer seiner Schulaufsätze.

Sogar als er an die brillante Stelle kam, Seite 25 ff., wo der Schriftsteller mit unbarmherziger Logik seinen freien Standpunkt vertritt und ein so pathetisches Gemälde eines natürlichen Liebesverhältnisses giebt – sogar da konnte Bramsen schweigen und korrigieren und rasch weitermachen.

Das Ganze währte kaum dreiviertel Stunden, dann erhob er sich rasch und sagte: So!

Tymme erwartete, daß er doch ein Wort darüber fallen ließe, aber Bramsen zog nur seinen Überzieher an und verlangte eine Cigarre. Tymme hielt ihm das Streichholz hin – seine Hände zitterten – und wartete noch immer. Es war nicht zum Aushalten, da fragte er schließlich.

Ach! sagte Bramsen, während er die Treppe hinunterging.

Während Tymme noch über dieses »Ach« nachdachte, richtete Bramsen seine Schritte wieder die Treppe hinauf, schlich ganz leise an Tymmes Thür vorüber und hinauf zu der Familie Winter. Ein Paar mal hielt er inne, als ob er überlegte. Droben im vierten Stock blieb er wieder stehn, murmelte mit einem Ausdruck des Widerwillens: Nein! und ging langsam die Treppen wieder hinab. Er öffnete die Hausthür mit seinem eignen Schlüssel – er hatte einen riesigen Schlüsselbund.

Aber dieses »Ach« hielt Tymme den größten Teil der Nacht wach. Gegen Morgen hatte er jedoch die einzige natürliche Erklärung dafür gefunden. Bramsen war neidisch, das war das Ganze; Bramsen war von jeher ein Egoist erster Güte gewesen, blasiert, engherzig und unfrei. Nein, Tymme würde zu Holmer selbst gehn, ja gleich morgen. Da war Freisinnigkeit, Hochherzigkeit, die wahre Urteilskraft.

Neunzehntes Kapitel

Höhere Instanz

 

Um ein Uhr am nächsten Mittag stand er angst und bange mit seinem Manuskript vor Holmers Büreauthür in dem Zeitungslokal des Fin de siècle. Obgleich Holmer zunächst nur der zweite Chef dieses Blattes war, war sein Kontor doch mehr besucht und ein wichtigeres Heiligtum als das des Hauptredakteurs. »Geöffnet von ein bis drei Uhr« stand an der Thür. Das Kontor war freilich offen, aber »der Kandidat kam heute nicht.« Ob er zu Hause in seiner Wohnung sei? Das wußte man nicht.

Sollte er sich nun erdreisten und ihn in seiner Wohnung aufsuchen? – Tymme dachte an Holmers freundliche Protektion in der letzten Zeit, also fort und nach dem Alten Königsweg! – »Nicht daheim, über Land, kommt gewiß erst spät am Abend wieder.«

An diesem Tage war es also vergebens. Wieder zurück in die Stadt. Als er an dem Südbahnhof vorüberkam, strömten die Leute gerade heraus. Aber sieh, dort, ja wahrhaftig, das ist er selbst. Tymme glaubte ganz bestimmt zu bemerken, daß Holmer ihn sah aber darauf plötzlich eine Wendung machte, um ihm auszuweichen; aber das mußte doch eine Einbildung sein. Jedoch Holmer jetzt anzuhalten, fand er unpassend.

Aber am nächsten Tag um ein Uhr fing er ihn auf seinem Kontor ab. Und welcher Empfang! Ehe Tymme sein Anliegen vorbringen konnte, hieß es lustig:

Hallo, Soldat! Hören Sie, Lemvig, ich sprach gestern abend mit Bramsen über Sie, und ich kann Ihnen sagen, daß ich Sie gerade heute aufsuchen wollte.

Sie – mich?

Ja. Dieser Bramsen hat doch – er lächelte ein wenig schelmisch; wie gut ihm das stand! – die Erlaubnis erhalten, eine gewisse kleine Arbeit zu lesen. – Nun, ich kann in Wahrheit nicht sagen, fügte er mit offner Ungeniertheit hinzu, die das Unangenehme der Äußerung wegnahm, daß er Ihre Abhandlung gerade gelobt hätte, aber er machte mich doch neugierig. Der Mann könnte ja vielleicht ein verkehrtes Urteil darüber haben; das ist schon öfter vorgekommen. – Darf ich es nicht selbst lesen?

Seelenfroh antwortete Tymme: Ich habe es gerade bei mir. Es ist der erste Teil. Und heraus aus der innern Tasche des Rocks kam der erste Teil. Holmer lächelte und nahm das Manuskript. Hierauf sah er aus, als ob die Audienz nun eigentlich vorbei sein müßte, aber Tymme, der mit Freude sein Geisteskind in den Händen des Meisters ruhn sah und die Situation so lange wie möglich genießen wollte, sagte naiv und mit einem warmen Blick auf das Heft:

Das beste, das heißt – das – das – eigentliche steht, glaube ich, auf Seite 25 und den folgenden.

So so, das ist also das beste, lieber Lemvig, ja, das werden wir ja sehen, sagte Holmer und lächelte aufs neue.

Es entsteht eine Pause, in der Tymme fühlt, daß er jetzt gehn sollte, aber dann meint er, daß er auch noch bemerken könnte, er habe Holmer gestern nachmittag gesehen, als dieser vom Südbahnhof gekommen sei. – Holmer scheint zu stutzen, als sei er unangenehm berührt, aber er faßt sich schnell und sagt lebhaft:

Ja, es ist wahr, ich war in Lundbyvester, ich soll Sie grüßen; o ja, es geht ziemlich gut draußen.

Sind Sie wieder draußen gewesen und haben nach Vater gesehen? Das war sehr hübsch von Ihnen, da Sie so viel beschäftigt sind. Das ist schön von Ihnen.

Ach! sagt Holmer. – Wieder eine Pause: nun giebt es keinen Vorwand mehr, und Tymme geht. Er denkt an sein Manuskript und an dessen Aufnahme. Siehst du, das ist etwas andres. Ja, die Größten sind nie so »wichtig« wie die Zweitgrößten.

Sehr verwundert wäre Tymme aber gewesen, wenn er die Betrachtungen geahnt hätte, die Holmer in derselben Minute über ihn anstellte.

Dieser junge Bauernlümmel, schön und kräftig gebaut. Ja die Schönheit hat nun nichts damit zu thun. Aber die Kraft um so mehr. Phlegmatisch und so weiter. Nein, von Natur wohl kaum, kann es aus Faulheit und infolge von Vernachlässigung geworden sein. Vermutlich im Grunde jähzornig, solche Gefühlsmenschen sind unberechenbar. Einziger Bruder und so weiter; er wird desperat werden, darüber herrscht kein Zweifel. Hu! ich sehe ihn, wenn der Instinkt erst einmal losgelassen ist, sich wie einen Stier auf mich stürzen, Tag für Tag. Netter Skandal! Und die Leute werden sich daran ergötzen, am allermeisten meine eignen …

Und dieses Machwerk – er warf einen Blick auf das Manuskript – sollte wirklich zu einem ganz kleinen Kappzaum zu gebrauchen sein? – Wohl kaum – doch –

Herein! sagte Holmer laut zu einem Eintretenden. Aber während er auf seinem Stuhl saß und dem Neuangekommnen noch den Rücken zuwandte, hatte er doch Zeit genug, mit routiniertem Blick eine Seite nach der andern des Manuskripts durchzufliegen. Bitte, nehmen Sie Platz, ich stehe gleich zu Ihren Diensten. –

(Zu sich selbst, als er Seite 25 gefunden hatte) … Aber hier. Ja, hier muß … Halt, damit müßte man ihn ja beinahe binden können, laß mich sehen – funtus – eitel; Lucifer. – Ja, hier steht allerdings »das beste,« kleiner Lemvig. Und mit einem Seufzer, der einer Erleichterung glich, legte er das Manuskript unter einen Briefbeschwerer.

Hierauf wandte er sich dem Angekommnen mit einem frischen und liebenswürdigen Lächeln zu:

Ach Cohn, was haben Sie aus Norwegen zu melden?

Zwanzigstes Kapitel

Sittlichkeit nach modernem Begriff

 

Dienstag, den …

Lieber Lemvig!

Ihre mutige Abhandlung hat mich mehr als Br. interessiert. Ich darf sie mir doch wohl für den Lucifer aneignen? Wollen Sie nicht selbst einige Bruchstücke daraus vorlesen, etwa am nächsten Sonnabend? Näheres darüber, wenn wir uns sehen. Einige unwesentliche sprachliche Änderungen darf ich doch wohl wegen der knappen Zeit selbst vornehmen?

U. A. w. g.

Ihr ergebner H.

*

Mittwoch, den …

Lieber Herr Kandidat Holmer!

Machen Sie mit der Abhandlung, was Sie wollen, Sie dürfen ändern, was Ihnen gut dünkt; doch nur ungern das auf Seite 25 ff. Ich bin sehr dankbar und sehr stolz über Ihr warmes Lob; das ist etwas andres als cand. Bramsen. Darf ich kommen und es abholen, denn ich möchte es noch ein paar mal durchlesen und mich einüben. Und auch erfahren, was ich beim Vorlesen überspringen soll; es ist nicht so leicht, wenn man da droben steht. (Also nur ungern Seite 25 ff.)

Ihr dankbarer und ehrerbietiger
Tymme Lemvig,
Student.

Als Folge dieser Korrespondenz fand sich an demselben Abend folgender Anschlag im Lokal des Lucifer:

Vorlesung im Saal.

Am nächsten Sonnabend werden Bruchstücke einer Abhandlung über »Sittlichkeit nach modernem Begriff« von dem Schriftsteller Herrn T. Lemvig vorgelesen werden. Die Vorlesung beginnt um neun Uhr.

Tymme las den Anschlag: »Schriftsteller Herrn T. Lemvig.« Sein Herz klopfte. »Schriftsteller Tymme Lemvig.«

Großer Mann! sagte Bramsen. Was stehn Sie da, und was betrachten Sie mit offenbarer Freude? Seit vier Minuten ist Ihr Geist nun auf dieses Papier genagelt; was kann wohl …

Tymme wandte sich rasch um und trat ärgerlich zurück.

Ah – Ihre eigne Apotheose! Ja, dann verstehe ich – er lachte laut, trat dann zu Holmer und fing mit diesem ein Gespräch an. –

Hören Sie, Bramsen, sagte Holmer, ich handle niemals ohne eine bestimmte Absicht. Das muß Ihnen genügen. Und ich bitte Sie besonders, am Sonnabend Ihrer bekannten Heiterkeit einen Zügel anzulegen.

Ja aber …

Sie werden es thun, wenn ich Sie ausdrücklich darum bitte.

Bramsen schnitt eine Grimasse. Er konnte Holmer nicht leiden, aber er war abhängig von ihm.

*

Tymme hatte seine Vorlesung begonnen. Die Stimme klang ängstlich, es mangelte ihr der Tonfall, und es ging zu schnell; es hatte beinahe das Gepräge von etwas Auswendiggelerntem. Der kundige Zuhörer merkte bald, daß die Gedanken nichts als ein Absud von Dingen waren, die sie von den Versammlungen im »Lucifer« und den Artikeln des Fin de siècle her kannten. Nicht einmal der Stil war gut. Man begann sich untereinander anzusehen, ob es nicht bald an der Zeit sei, über diese Vorstellung seinen Spott zu treiben. Aber Holmers Aufmerksamkeit und Bramsens übernatürlicher Ernst machten die Leute unsicher, ob nicht am Ende doch etwas daran sei. Der vollkommne Mangel von Beifallslauten oder irgend einer Aufmunterung von seiten der Zuhörer machten den Vortragenden beklommen, aber er setzte sein Vertrauen auf Seite 25, die er auf Holmers Anraten laut, langsam und mit Nachdruck lesen sollte.

Als er diesen Abschnitt mit seiner neuen gewichtigen Betonung begann, bemerkte er eine Bewegung drunten im Saal in der Gegend, wo Bramsen stand; dies konnte lebhafte Sympathie sein, aber es konnte auch der Anfang eines Heiterkeitsausbruchs sein. In demselben Augenblick erklang ein kräftiges und ausdruckvolles: Hört! von Holmer; die Bewegung legte sich sogleich wieder, und mehrere Hört! Hört! klangen befreiend zu ihm herauf.

… Deshalb sage und behaupte ich, der landläufigen Ansicht gerade entgegengesetzt, daß das freie Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau das einzige ist, das unsrer Zeit würdig ist. Weg mit den Zeremonien bei der Eheschließung; sie sind nur bewußte Lüge oder im besten Fall dummer Aberglaube, und vor allem weg mit den Hindernissen für ihre Auflösung, wenn die Beteiligten sich nicht mehr lieben. Man erlaubt, daß die Freundschaft frei sei; warum der Liebe Sklavenketten anlegen? Man spricht von »Verführung«; aber warum soll ich weniger Recht haben, eine Frau zu veranlassen, freiwillig das Leben der Liebe mit mir zu teilen, als ich das Recht habe, einen Mann zu veranlassen, Freundschaft mit mir zu schließen? Beides ist gleich freiwillig, sollte ich meinen. Mit der Vernunft auf meiner Seite trotze ich der öffentlichen Meinung und erkläre hiermit: Sollte ich es zum Beispiel erleben, daß eine Mutter, eine Tochter oder eine Schwester von mir dem Rufe der Natur folgte und freiwillig ein freiwilliges Liebesverhältnis einginge mit einem Manne, den sie liebte, niemals wollte ich alsdann das Vorurteil der Gewohnheit die Herrschaft über meine Vernunft gewinnen lassen, sondern ich würde ihr zurufen: Du hast recht gehandelt!

Hört! erklang es von Holmer, und ein Beifallsmurmeln folgte darauf; einige klatschten sogar in die Hände.

Ein ganz sonderbares Gefühl hatte sich Tymme während dieses schwungvollen Passus bemächtigt; es kam ihm vor, als sei nicht er es, der das las, als seien es nicht seine eignen Sätze, nicht seine eignen Gedanken. Wie oft er auch diesen Passus wieder durchgelesen hatte, er erkannte ihn doch nicht als den seinigen, es war ihm, als läse er aus einem wildfremden Buche vor.

Derselbe sonderbare Nebel lag den ganzen Abend über ihm.

Er hörte nur dunkel, was der sagte, der nach ihm die Rednerbühne bestieg; es war eine kurze Danksagung an den Redner von einem Mitglied des Ausschusses. Er trank ein paar Gläser Punsch in Gesellschaft mit ein paar andern, wußte aber später nicht mehr, mit wem. Hierauf ging er heim, ohne sich zu erinnern, ob jemand über seinen Vortrag mit ihm gesprochen hatte, und ohne eine deutliche Vorstellung davon zu haben, wie dieser überhaupt ausgenommen worden war.

Einundzwanzigstes Kapitel

Façon

 

Oberfeldwebel Dahl saß am nächsten Vormittag – Sonntag – in seiner Wohnung im Kastell und las den Fin de siècle zum Kaffee.

Zum Teufel, Lemvig, wollen Sie nun schon wieder Nachturlaub haben? sagte er zu dem eintretenden Rekruten.

516 wollte gern die ganze Nacht Urlaub haben; ich bin Kompagnieschreiber, Herr Oberfeldwebel.

Hm. Sind Sie der Lemvig, der heute in der Zeitung steht?

Ja wohl, Herr Oberfeldwebel.

Dann sind Sie wohl ordentlich geschwollen heute, was?

Nein, Herr Oberfeldwebel.

Das möchte ich Ihnen auch geraten haben, denn es könnte leicht sein, daß Sie Ihren Meister fänden. – Nun, so mögen Sie Urlaub haben. – Halt, zum Teufel, kommen Sie unbekleidet zu Ihrem Oberfeldwebel? – Eine Schulterklappe war nicht eingeknöpft. Tymme bemerkte es und brachte sie errötend in Ordnung.

So, nun können Sie gehn. Treten Sie ab. Halt, sind Sie heute morgen bei der Reinlichkeitsmusterung gewesen?

Nein, Herr Oberfeldwebel, ich bin Kompagnieschreiber.

Hm. Lassen Sie mich Ihren Lederriemen sehen. Hm. Könnte feiner sein. Im Lederriemenputzen sind Sie scheints nicht so groß wie im Vortrag halten. Treten Sie ab.

Und nachdem er so die Überlegenheit des militären Standes über alle zivilen Redner der ganzen Welt und doch die Rücksicht des gebildeten Mannes der Wissenschaft gegenüber bewiesen hatte, wandte sich der Oberfeldwebel wieder seiner Zeitung zu, während Tymme frohen Sinnes zum Kastell hinaus und heim in die Admiralstraße eilte. Mein Ruf ist schon über die ganze Stadt verbreitet, dachte er unterwegs, und das war das einzige, was er dachte. Er meinte, die Leute sähen ihm schon auf der Straße nach.

Sein Glückseligkeitszustand hatte schon am Morgen begonnen, als er zum erstenmal nach Hause gekommen war. Da hatte er auf seinem Tisch die Morgennummer des Fin de siècle gefunden; die mußte Holmer selbst geschickt haben, da mußte etwas darin stehn. Ach, wie er darüber herfiel; da, da war es mit Rotstift unterstrichen. – Er erinnerte sich später, daß auch ein Telegramm in einem Umschlag für ihn dalag; er erinnerte sich ganz genau daran, daß er es gesehen hatte – aber das andre, das andre war vorgegangen, und dann hatte er das Telegramm vergessen.

Und nachdem er den kleinen Zeitungsartikel verschlungen und nachher noch mehr als ein halbes Dutzend mal gelesen hatte, hatte er beschlossen, sich einen vergnügten Tag zu machen, einen recht langen Festtag. Deshalb war er noch einmal ins Kastell geeilt, um sich Nachturlaub zu erbitten, und nun war es seine Absicht, in der Stadt herumzufahren und ein paar Kameraden des »Lucifer« – von denen, die gestern Zeugen seines Triumphs gewesen waren; denn es war also ein Triumph gewesen – zu holen, dann einen großen Waldausflug mit Mittagessen an dem herrlichen Augusttag zu unternehmen.

Aber wenn es seine Absicht war, in der Stadt herumzufahren und einige seiner Kameraden aufzugabeln, warum richtete er seine Schritte dann wieder nach der Admiralstraße, wo sein Fin de siècle lag?

Ach, müssen wir denn unsre Eitelkeit auch noch vor uns selbst entschuldigen? Tymme kam zu der Überzeugung, daß er zuerst nach Hause müsse, daß es noch zu früh sei, sich bei den Kameraden einzufinden, während es doch schon – na nun da stand er also daheim und las den Artikel wieder durch:

 

Von der »Lucifer«-Versammlung gestern abend.

Gestern las in dem Studentenverein »Lucifer« Herr stud. phil. Tymme Styrbjörn Frode Lemvig den ersten Teil seiner Abhandlung über »die Sittlichkeit nach modernem Begriff,« der mit einer gewissen Erwartung entgegengesehen war. Die Abhandlung ist eine Kriegserklärung gegen die üblichen von der Kirche und der Dummheit anerzognen Anschauungen über die Sittlichkeit. Der Verfasser sprach über die Ehe und über die freie Liebe auf eine Weise, die die Spießbürger verblüffen würde; er ist durch und durch ein moderner Geist. Die Sympathie, mit der sich die Zuhörer Herrn Lemvigs Anschauungen anschlossen, ist ein neues Zeugnis dafür, welcher Teil der Studentenwelt die Fahne der Zukunft trägt.

Dem Vernehmen nach hat Herr Lemvig nicht die Absicht, seine Abhandlung der Öffentlichkeit zu übergeben, weniger, wie wir glauben, aus Furcht vor der stupiden Verfolgungslust der Gesellschaftsmacht, sondern weil er noch gereiftere Früchte seines Geistes abwarten will. Werden also nur die Mitglieder des »Lucifers« einen Nutzen von der genannten Abhandlung haben, so wird auf der andern Seite die Öffentlichkeit von nun an Herrn Tymme Lemvig in ihrer Erinnerung festhalten als einen vielversprechenden jungen Mann, der auf eine eklatante und unwiderrufliche Weise seinen geistigen Standpunkt gewählt und die Bahn angedeutet hat, die er in Zukunft verfolgen will und muß. Wir werden Herrn Tymme Lemvig nicht vergessen. –

In jedem Freudenbecher findet sich ein Tropfen Wermut. Dieses »dem Vernehmen nach hat Herr Lemvig nicht die Absicht, seine Abhandlung herauszugeben,« wozu denn das? Wer hatte das gesagt? – Na, aber im übrigen! »Kriegserklärung.« Ha, als kriegführende Macht betrachtet! »Moderner Geist.« »Nutzen davon haben.« »Öffentlichkeit von nun an festhalten …« – Er ging einige mal, beinahe fiebernd, in seiner Freude im Zimmer auf und ab. – »vielversprechender junger Mann, der auf eine …« – ja, was war es, das dort stand … er mußte es noch einmal ansehen, las dann das Ganze wieder einmal, zweimal – schämte sich schließlich und verließ eilig das Zimmer, aus Furcht, noch einmal von der verführerischen Zeitung festgehalten zu werden. – Und nun fort zu den Kameraden! und dann einen großen festlichen Tag – in den Wald, in den Wald, in den herrlichen strahlenden Sonnenschein!

Aber daheim liegt das vergessene Telegramm auf seinem Tisch.

*

Es wurde ein großes Gabelfrühstück in Lyngby. Hieraus ein noch größeres Mittagessen in Skodsborg. Der Champagner schäumt, und die Kameraden, die »Freunde« schmeicheln Tymme, der alle freigehalten hat. Träume von Größe und Ehre vermischen sich mit dem Champagnerschaum, falsch und unecht wie dieser. Und als sie in die Stadt zurückgekehrt sind, wissen die Freunde, wo es noch mehr Champagner giebt.

Als er sich allein, in der tiefen Stille der Nacht die Treppe hinauftastete, bildeten diese Träume noch immer eine Art flimmernder Atmosphäre um sein Bewußtsein. Die Lampe wurde angezündet, er wußte nicht, daß er es selbst gethan hatte, er wußte nicht, daß er am Schreibtisch saß, eine Cigarre dampfend und leer vor sich hinstarrend. Er war die Beute der Träume; sie versammelten sich im Kreis um ihn, Wie eine lange Reihe wunderlicher Gesichter, im Kreis um den betrunknen jungen Mann; von Wein erhitzte Gesichter, aber träge und von dem Übermaß des Genusses schlaff. Aber als der junge Mann seinen Blick mechanisch auf das vergessene ungeöffnete Telegramm richtete, da kam plötzlich Ausdruck in die wunderlichen Gesichter; sie sammelten sich dichter und dichter um ihn, sie starrten ihn erwartungsvoll an, und während er las, verschlangen sie ihn mit den Augen:

 

Lieber Bruder! Vater fiel gestern früh in seinem Zimmer in Ohnmacht. Er wurde zu Bett gebracht. Ach, lieber Bruder, er entschlief nun heute morgen um sieben Uhr. Erwarte dich sobald wie möglich.

Friederike.

 

Die Träume stießen im Chor einen Schrei aus und zerstoben.

In der Stube zurück blieb die lautlose Stille, schrecklicher als lautes Geschrei. Und die lautlose Stille sammelte sich an einer Stelle und nahm langsam eine Form an von etwas Bleichem, etwas Feierlichem, etwas Unbeweglichem, vom Gesicht eines toten Mannes: dem Gesicht des Vaters. Vater! – Tot!

Wer hat geschrieen? Der tote Mann läßt sich nicht zurückrufen. Er liegt dort in der Ecke, wo das Bett steht, dort drüben unter dem weißen Laken.

Und in der ganzen Stube ist nichts andres als das Lager des toten Mannes mit dem Leichentuch darüber. Nichts andres. Doch ja: ein halbbetrunkner Jüngling, der Sohn des Toten, und Cigarrenrauch, Champagnerdunst – und Ekel, Ekel vor der kürzlich genossenen Ausschweifung.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

In der Kirche

 

Der junge Hilfsgeistliche, Kandidat Hansen, hat in der kleinen Kirche des Landstädtchens an dem blumengeschmückten Sarge schön und einfach gesprochen. Auch ein Pfarrer aus der Nachbarschaft hat gesprochen; die Gedanken waren die üblichen, der Vortrag von altmodischer Salbung, aber eine Wärme, die echt war, fühlte man doch heraus; die Gemeinde war gerührt, denn der Verstorbne war geachtet und beliebt gewesen.

Tymme sitzt bei den nächsten Verwandten – den Schwestern, dem Schwager, auch Onkel Leonhard – in dem Stuhl gleich neben dem Chor. Tymme ist den kirchlichen Anschauungen längst entfremdet, und es erscheint ihm sonderbar, von dem Leben nach dem Tode, vom Gericht, von einem allmächtigen allgütigen lebendigen Vater im Himmel reden zu hören, es klingt wie längst vergessene Märchen aus der Kinderzeit; Märchen, jawohl; aber doch einstmals geglaubte Illusionen, aber einstmals teure.

Sind sie jetzt nicht mehr teuer? Würde er nicht wünschen, daß er sie noch glaubte? Und glaubt er sie wirklich nicht mehr? Gar nicht mehr?

Ach, wie grenzenlos wehmütig ist es, den Pfarrer von »Gottes reicher Gnade« reden zu hören! Und die klare, von keinem Schatten verdunkelte Sonne strahlt durch die vielscheibigen Fenster herein und fällt auf die weißgetünchten Wände, recht um die Worte des Pfarrers zu illustrieren. So hatte ja die Sonne auch hereingestrahlt, als Tymme als Knabe hier in demselben Stuhle gesessen hatte, ach, nun ist er freilich klüger. – Klüger? Ist er es auch wirklich?

Hier war es auch, hier vor demselben Stuhl, daß er gelobt hatte, »dem Teufel und all seinem Werk und Wesen zu entsagen.« Ein thörichtes Gelübde, ein Gelübde auf einer unwirklichen Sache aufgebaut – thöricht? vielleicht: wer weiß es aber, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn er es gehalten hätte, jedenfalls wäre er jetzt weniger unglücklich gewesen.

Und der Pfarrer spricht von der Herzensreinheit und dem reinen Lebenswandel des Verstorbnen; Tymme seufzt; unhörbar, in seinem tiefsten Herzen. Warum seufzt er?

Neben ihm sitzt Schwester Friederike, sie ist sehr, sehr blaß. Dann kommt Schwester Karoline ohne einen andern Ausdruck als den des Kummers und den der Verschüchterung, wie man es so oft bei den Leuten aus dem Volke wahrnimmt. Tante Gine, gefaßt aber tief betrübt, sitzt auf seiner andern Seite.

»Vater- und mutterlose« … kommt es vom Pfarrer herab; da geht ein Stich durch Tymmes Herz; er verbirgt das Gesicht in beide Hände. Die Thränen rinnen zwischen den Fingern durch. – »Aber im Himmel habt ihr einen liebenden, einen allmächtigen Vater« … Ja, wäre es nur so! seufzt Tymme und fühlt sich noch tausendmal verlassener als zuvor.

Eine Hand ergreift verstohlen die seine; ist es die Friederikens? Nein, die von Friederiken ist fein und weich, Tante Gines harte und rauhe Hand ist es, die ihn hält.


 << zurück weiter >>