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Dritter Teil

Erstes Kapitel

Briefwechsel

 

September, den …

Lieber Herr Kandidat Holmer!

Ich bin sehr überrascht über Ihre Güte. Soeben von Lundbyvester zurückgekehrt, finde ich ein Anerbieten von dem Schulvorsteher Blom, achtzehn Wochenstunden in den niedern Klassen in der dänischen Sprache, Geographie und Geschichte zu übernehmen, wenn ich im Oktober mit meiner Wehrpflicht fertig bin. Dies haben Sie mir verschafft, wie ich aus Herrn Bloms Brief ersehe. Das ist wirklich schön von Ihnen. Er schreibt, er könne mir im Anfang nicht mehr als fünfzig Pfennige für die Stunde geben, aber ich freue mich doch, daß ich dann wenigstens etwas verdiene. Ja, nun muß ich für Geld arbeiten. Sie haben also gewußt, daß wir Geschwister nun mittellos sind, während wir dachten, wir seien reich. Aber nach Vaters Tod war nur sehr wenig da. Gine, das ist die Jungfer, aber wir nennen sie eben Tante Gine, haben wir eine kleine Summe angeboten, aber sie wollte nichts annehmen, sie bleibt nun vorerst im Pfarrhaus und hält dem Verweser, Herrn Hansen, haus, und Friederike zieht in der nächsten Zeit zu Tante Erika, der Schwester meiner Mutter, einer Güllich, die Friederike angeboten hat, bei ihr zu wohnen. Aber was dann aus Gine werden soll, weiß ich nicht. Ich bin auch sehr in Sorge um Karoline und Töllöse, meinen Schwager, wie Sie wissen; sie sind sehr arm und haben gewiß fast alles vom Vater bekommen. Sie hilft ihm bei der Arbeit! Ja, das ist nun keine Schande, aber Gott mag wissen, ob Töllöse auch wirklich gut gegen sie ist, besonders jetzt, nach diesen traurigen Begebenheiten, und sie erwartet wieder ein Kleines. Mein Onkel Leonhard, ein Güllich, der zwar reaktionär aber doch ein guter Mann ist, will mir mit Geld aushelfen, daß ich Staatswissenschaft studieren kann, auch Tante Erika und ein andrer Onkel, der Gutsbesitzer auf Fünen ist, wollen beitragen. Es beschämt mich, ich bin aber darauf angewiesen. Ja, auf mir ruht nun die Last der Familie.

Ich schreibe Ihnen dies alles, Herr Kandidat Holmer, obgleich Sie so sehr beschäftigt sind, weil ich keinen Vertrauten habe. Mein Leben lang werde ich Ihnen dankbar dafür sein, daß Sie der erste waren, der mir einen Verdienst verschafft hat.

Nun dürfen Sie aber nicht denken, es sei wunderlich, was ich jetzt schreiben will, oder daß der Brief etwas lang wird, obgleich Sie so sehr beschäftigt sind. Aber ich sehne mich so nach Freundschaft, ich möchte Ihnen so gern näher treten. Ich bin so furchtbar einsam, und ich weiß niemand, der mich richtig lieb hat, ausgenommen vielleicht Friederike und dann Tante Gine, aber das sind ja nur Frauenzimmer, und ich habe auch einen Freund nötig. In der Schulzeit hatte ich einen, aber wir sind auseinander gekommen, und ein Onkel, den ich sehr lieb hatte, ist gewiß auch böse auf mich. Von den spätem mache ich mir aus keinem etwas, wollen Sie mir nun Ihre Freundschaft schenken? Ich bin Ihnen gegenüber nur gering, aber trotzdem, wollen Sie es thun?

Es ist mir so merkwürdig zu Mute, seit Vaters Begräbnistag. Es begann in der Kirche; eine Sehnsucht nach meiner Kindheit überkam mich, ach, könnte ich sie doch noch einmal durchleben! Wie nennt man das, wenn die Erinnerung an frühere Tage, wo man unschuldig war – ich weiß wohl, daß das ein dummes Wort ist – aber wenn all dies Macht über einen gewinnt, sodaß man gleichsam innerlich weint? Neulich fiel mir mein Manuskript über die Sittlichkeit wieder in die Hand, und da war es gerade, wie wenn ein andrer und nicht ich es geschrieben hätte. Und doch sind die Anschauungen darin ja nachweisbar richtig, und ich weiche natürlich kein Jota davon ab, darauf können Sie sich verlassen; aber ich weiß doch nicht, wie ich daran weitermachen soll. Gleich nachdem ich von Lundbyvester zurückgekommen war, dachte ich fast daran, die Abhandlung zu verbrennen, und doch versichere ich Ihnen, daß ich meine Anschauungen in allem fest halte, daran dürfen Sie niemals zweifeln, denn dann wäre ich ja ein Waschlappen. Ich werde schon auch daran weiter machen, aber ich muß mit Ihnen zusammen sein und Sie reden hören.

Nun wage ich nicht, Sie noch länger zu belästigen, sondern verbleibe

Ihr
innig ergebner und dankbarer

T. Lemvig.

*

September, den …

Sie versichern mir zweimal, daß Sie in Ihren »Anschauungen« nicht erschüttert seien. Einmal wäre schon genug gewesen, am beruhigtsten wäre ich bei gar keiner Versicherung gewesen. Sie sind unter kirchlichem Einfluß gewesen, und die Verhältnisse entschuldigen eine momentane seelische Weichheit, aber daß Sie nach so vielen Tagen noch immer angefochten zu sein scheinen, das beunruhigt mich ein wenig. Kirchliche Rührung und so weiter ist eine entschuldbare Sache, vielleicht auch etwas Angenehmes, aber fortgesetzt wird sie damit enden, gerade Ihre Anschauungen zu erschüttern, und muß darum entfernt werden. Seien Sie ein Mann und erinnern Sie sich daran, daß Sie überdies öffentlich und litterarisch für diese Anschauungen eingetreten sind. Unter solchen Umständen den Kurs zu ändern wäre nicht nur, wie Sie selbst bemerken, waschlappig, sondern auch – gefährlich. Ich möchte dies ausdrücklich hervorheben, denn in kurzer Zeit werden vermutlich die »Anschauungen« auf eine gewisse Probe gesetzt werden, wie auch ganz gewiß Ihre Freundschaft, doch dies ist Nebensache. Kurz gesagt, Ihre Lebensanschauungen müssen Sie mit Konsequenz versehen, denn sonst stürzt das Ganze um Sie zusammen, und mitten in den Trümmern steht nur noch der »Waschlappen,« und zwar in einer ganz unmöglichen Stellung. Zum Schluß, aus Anlaß Ihres »fürs ganze Leben dankbar«: Ach keine Ursache!

 

An Herrn Student Lemvig.
Ihr Holmer.

Was meint er nur damit? dachte Tymme und las den Brief noch einmal. Es war, als schlüge ihm ein kalter Luftzug aus dem Papier entgegen: nicht ein Wort von der Freundschaft, um die er gebeten hatte, außer »doch das ist ja Nebensache«; war das eine Abweisung? Nein, es war nur Holmers Art; alles Persönliche ließ er ganz aus dem Spiel, wenn von Grundsätzen die Rede war. Ja, aber wie kalt! trotzdem. Beinahe höhnisch; ach Unsinn, das war ja auch nur seine Art. – Nein! es war etwas Unheimliches, wie Drohendes; was ist das für eine Probe, worauf er anspielt, »in kurzer Zeit«?

Einerlei, denkt Tymme, ich werde sie bestehn; und er begann fast, sich darauf zu freuen, sich in jugendlicher kampflustiger Weise nach dieser Probe der Festigkeit seiner Lebensanschauungen zu sehnen. Er sah jetzt in Holmer eine Art »Hassan, der Alte vom Berge,« der seine Anhänger auf das Vorrücken in höhere Weisheitsgrade prüft, und mit dem Eifer eines Neophiten rüstete er sich dazu, mit Festigkeit und Konsequenz das entgegenzunehmen, was nun kommen mußte, eine erträgliche theoretische Prüfung höchstens, dachte er. –

Der September verging, und Tymmes Soldatenzeit mit ihm. Dann begann er nicht ohne Furcht und Zittern seine Stunden in Bloms Schule, ging auch in die Universität und studierte wirklich ziemlich viel zu Hause, aber am meisten dachte er doch an Holmer und die »Probe.« Ihn zu fragen, dazu hatte er nicht recht den Mut.

Zweites Kapitel

Tante Gine kommt endlich einmal ganz in das Wohnzimmer hinein

 

Wollen Sie sich nicht ein wenig setzen, gnädiges Fräulein? sagte Jutta zu Tante Erika. Sie hatte das Feuer geschürt, die Vorhänge zugezogen und verschiedne andre kleine Vorbereitungen zu der Bewerkstelligung der kurzen Nachmittagssiesta getroffen, der Tante Erika sich in der letzten Zeit – sie begann das Alter zu spüren – hinzugeben pflegte, wenn die Dämmerung anbrach. »Ein wenig sitzen« war die zwischen ihnen angenommne Bezeichnung; Tante Erika legte Wert auf die Aufrechterhaltung der Fiktion, daß sie um diese Zeit des Tages niemals schlafe.

Ach, ich weiß nicht, antwortete Tante Erika und spielte ein wenig mit einer Zündholzschachtel, als ob sie daran dächte, die Lampe anzuzünden und zu arbeiten. Jungfer Jutta rollte hierauf den Lehnstuhl – es war Großmutter Güllichs alter – etwas näher an den Kamin und verschwand schweigend in ihr eignes Zimmer. – So ging es jeden Tag.

Ein ziemlich lautes Klingeln an der Entreethür.

Um diese Zeit Besuch? – Man hörte Jungfer Jutta mit jemand draußen auf der Flur verhandeln. Tante Erika zündete ein Streichholz für die Lampe an; nun mußte die Siesta wohl aufgegeben werden.

Herein kam – mit Jutta auf den Fersen, die vergeblich versucht hatte, zur ordnungsmäßigen Meldung zuvor hereinzukommen –, herein kam etwas, das in dem Halbdunkel nur undeutlich als ein weibliches Wesen erkannt werden konnte; ziemlich klein, aber so unnatürlich breit und auf den Seiten gleichsam ausgebaucht, daß Tante Erika ganz nervös wurde, und daß ihr das brennende Streichholz aus der Hand fiel.

Ich soll dies hier abgeben, erklang eine bekannte und nicht sehr beliebte Stimme; sie schien leidenschaftlich und erregt zu sein.

Aber Jutta, warum hast du diese Pers – Willst du die Lampe anzünden, Jutta? Und nun offenbarte sich Gine Lemvigs Gestalt; sie war mit zwei vollgepackten, ziemlich großen Körben belastet und außerdem mit einer Menge Schachteln und Paketen und machte überhaupt den Eindruck, vier bis fünf Arme zu haben, die alle behängt waren.

Da stand also Tante Gine, und das war zum erstenmal, daß Tante Erikas Wohnzimmer sie in seinen vier Wänden sah. Mit fieberhafter Eile leerte sie auf Tische, Stühle, Fußboden den Inhalt der Körbe und Pakete: Kleider und andre Damenbekleidungsstücke kamen aus den Körben heraus; Broschen und Schmuckstücke aus den Paketen. Ich soll dies hier abgeben – und dies hier – und das, und sie beeilte sich, als ob sie sich an jedem einzelnen Stück verbrenne. Nachdem dies vollbracht war, sagte sie: Gottlob! kreuzte hierauf die Arme über der Brust und sah Tante Erika steif an, während sie zugleich am ganzen Körper zitterte.

Tante Erika stand vor ihr und sah der ganzen Szene mit zwar außerordentlichem, aber nun beherrschtem Erstaunen zu. Was bedeutet dies alles, Jungfer Lemvig? fragte sie.

Aber dann erkannte sie eine Brosche, die sie selbst einmal Friederike geschenkt hatte, und sie wurde in hohem Grade unruhig. Was bedeu – was bedeutet – stammelte sie und setzte sich nieder.

Ja, denn sie, die Karoline, wollte die Sachen absolut nicht haben, obgleich Töllöse, der Schurke, sie dazu zwingen wollte.

Aber um Gottes willen – wollen Sie sich nicht setzen, Jungfer Lemvig – ist denn etwas geschehen? Sie ist doch nicht tot oder sonst etwas? – Ach, Jutta, willst du nicht ein wenig hinausgehn?

Tante Gine war offenbar ruhiger geworden. Sie hatte ihren Blick nicht von Tante Erika abgewandt.

Nein, Fräulein Güllichen, Friederike ist nicht tot. Sie ist etwas, was schlimmer ist.

Ach Gott! sagte Jutta; sie wandte sich unter der Thür um und blieb stehn.

Tante Erika war eine zartbesaitete Dame; sie erstarrte und sah Gine mit offnem Munde an.

Denn sie ist – sie ist – Aber auch Gine war so erschüttert, daß sie sich erst wieder fassen mußte. Sie müssen wissen, Fräulein Güllichen, daß sie, Friederike, sie – sie ist durchgegangen.

Durchgegangen? Durchgegangen? Was meinen Sie? fragte Tante Erika verwirrt; aber zugleich schlug Jutta die Hände zusammen und rief: Herr Gott im Himmel droben!

Ja, denn der Bengel, der Kandidat, der Holmer, der hat sie dazu verführt, und sie sind miteinander durchgegangen. So ist es, Fräulein Güllichen.

Tante Erika erhob sich halb und sank wieder zurück; sie hatte das Bewußtsein verloren.

Drittes Kapitel

Was Tante Gine weiter unternahm

 

Tante Gine hatte bei denen, wo sie Beistand und schnelle Hilfe verlangte, nicht auf Ohnmachten und andre Schwachheiten gerechnet. Sie überlegte deshalb, als Tante Erika versagte, wohin sie sich nun wenden sollte; aber da bei ihr das, was Überlegung bedeutete, nie von Unthätigkeit begleitet war, beschäftigte sie sich zugleich mit der ohnmächtigen Dame, und erst als sie diese wohlgeborgen in den Händen von Jutta und dem Dienstmädchen sah, eilte sie fort.

Wohin? Zu Tymme? – Nein, zu Onkel Leonhard! Von ihm erwartete sie größere Entschlossenheit. Seine Wohnung? Sie hatte vergessen, Tante Erikas Dienerschaft danach zu fragen – nun, das brauchte es ja auch gar nicht; dort drüben war ein Kramladen, vielleicht gab es dort ein Adreßbuch. – Es gehörte mit zu ihrem Stolz, niemand verpflichtet zu sein, deshalb wollte sie zuerst etwas dort kaufen, und es war charakteristisch für sie, daß sie auch jetzt überlegte, was für den Haushalt daheim in Lundbyvester nützlich sein könnte. Ein halbes Pfund Seife, bitte! Das Adreßbuch, bitte! – Wieder hinaus auf die Straße; durch verschiedne Straßen; Nachfragen; wieder Straßen entlang. Endlich! – Der Oberst nicht zu Hause. – Wo? – Man wisse es nicht. – Kurze Überlegung. Ob sie um ein Stück Papier bitten dürfe. Ja bitte; einen Bleistift habe sie. »Gine Lemvig teilt mit, daß Friederike mit Kandidat Holmer davongegangen ist.« Sie vergaß den Umschlag, der Zettel wurde ohne weiteres der Betrachtung des Dieners überlassen.

So. – Nun heim. Heim? Nein, davon konnte nicht die Rede sein; Tym? Aber sie mußte ja doch zuerst nach Lundbyvester telegraphieren, im Fall – im Fall, ach sie kam gewiß heute nicht mehr nach Hause. Fragen nach dem Telegraphenamt; Straßen, viele Straßen. – Und nun zu Tym! Die Leute sahen ihr nach, wie sie die Straßen auf und ab rannte.

Hier ist seine Thür, niemand macht auf; niemand daheim!

Aber jetzt versagten ihr die Kräfte; sie sank auf den Stufen vor der Thür zusammen. Aber ihre Gedanken arbeiteten ebenso rastlos weiter – was konnte man nur thun? Was konnte man denn thun?

– Rastlos, rastlos; es drehte sich alles vor ihr im Kreise, der Kopf schmerzte sie davon. Und den ganzen Tag hatte sie keine Ruhe gehabt, fast keine Nahrung. Nun saß sie so gut hier, ach, so gut und so weich – und sie ist auf der Treppe, und es ist schon fast Nacht, und es ist dunkel, ein häßlicher rauher Oktoberabend – ach, wie gut thut ihr die Ruhe; nur nicht einschlafen; ach, ach, Mathisens Tochter, Mathisens eigne Tochter! – Und es wird stockdunkel.

– Als Tymme ein paar Stunden später heimkam, wäre er beinahe über etwas gestolpert, das vor seiner Thür lag oder saß. Er zündete ein Streichholz an. – Gine! Tante Gine! Hier! In der Dunkelheit und Kälte schlafend. Aber Gine, aber Gine!

Ach jemine, ach liebes Kind, wo bin ich denn? – Ach, ich armes Mensch, nun erinnere ich mich –

Hinein mit dir in die Wärme, Tante Gine! Er schloß auf und führte sie an der Hand hinein. Ach, es war keine Wärme drinnen, aber eine kalte Ungemütlichkeit und eingeschlossene Tabaksluft. Wart ein wenig, Tante Gine, bis ich angezündet habe! Und er ließ ihre Hand los, während er sich mit der Lampe zu thun machte.

Die Thür stand noch immer sperrangelweit offen nach dem Treppenhaus. Ein Mann kam die Treppe herunter; bei dem flimmernden Schein der Lampe, die gerade angezündet wurde, sah er Tymme und eine unbestimmte Frauengestalt drinnen. Aha–a–a, sagte er; das ist nicht übel, Herr Lemvig; die Illustration zu Ihrer schönen Abhandlung – Theorie und Praxis, nicht wahr? – Und fort war Herr Bramsen.

Ach Gott, ach Gott, wie soll ich es ihm nur sagen? Tymme mußte ihr beispringen und sie stützen; sie zitterte und war am Umsinken.

Ach ja, ach ja, nun also – sie, Friederike …

Und nachdem sie es gesagt hatte, verwunderte sie sich über die Art und Weise, wie er es aufnahm. Sie hatte einen Ausbruch rasender Heftigkeit erwartet und wohl auch gewünscht; aber in dem Augenblick, wo ein solcher Ausbruch wirklich hervorbrechen wollte, in demselben Augenblick fühlte sich Tymme gelähmt, gefesselt, einem Stärkern ausgeliefert, ausgeliefert mitsamt seinen Anschauungen, seinem Gefühl, seinem Willen und seiner Thatkraft. In seinem Innern rief es: Nein, das ist doch zu schrecklich! Rache, Rache über den Verführer! – Ganz gewiß nicht, antwortete eine andre Stimme, was ist denn das Ganze? Dinge, die du und alle vorurteilsfreien Menschen … Aber es ist meine Schwester; meine Schwester! schrie die erste Stimme. – Deshalb ist es eben so natürlich und – sittlich; das Vorurteil der Gewohnheit, weißt du noch, Seite 25, höhnte die andre. Und Tymme stand unbeweglich und sehr bleich da.

Was willst du nun thun, Tym? fragte Tante Gine.

Aber wenn sie schon über sein Schweigen verwundert gewesen war, so wurde sie es noch mehr über das, was er nun antwortete – mit einer so sonderbaren, gebrochnen Stimme:

Thun? – Thun? – Nun, das beste ist vorläufig, zur Ruhe zu kommen, besonders du; dann reden wir morgen weiter darüber; heute abend kann doch nichts mehr gethan werden. – Du kannst mein Bett haben; ich schlafe ausgezeichnet im Lehnstuhl.

All dies wurde so außerordentlich ruhig gesagt und schien an und für sich einleuchtend vernünftig zu sein. Tante Gine sah ihn verstohlen an – er hatte sich während des Sprechens abgewandt –; sie bewunderte diese männliche Ruhe und dachte: Nein, die Männer verstehn es doch besser als wir Frauenzimmer; morgen wird er Wunder verrichten, er und Onkel Leonhard; dann brauchte man sie nicht.

Rette sie! bat sie mit dem Aberglauben einer Frau an die Kraft des Mannes.

Retten? – Nun ja – vorläufig mußt du dies hier trinken, Tante Gine. Er schenkte ihr ein Schnapsglas voll Cognac ein, fand auch einige Zwieback; sie aß sie eifrig. – Dann zog sie ihren Mantel aus und legte sich in Tymmes Bett; dieser setzte sich in seinen Lehnstuhl, deckte sich mit einem Rock zu, die Beine auf einem andern Stuhl.

Die ganze männliche Ruhe, womit er Tante Gine imponiert hatte, war nur angenommen, in Wirklichkeit wußte er weder ein noch aus.

Willst du nicht die Lampe ausmachen, liebes Kind? – Die Lampe? – Ja; er stand auf und löschte sie aus. Gute Nacht, Tante Gine, nun mußt du schlafen, du hast es nötig. (Lauter Verstellung.)

Gute Nacht, liebes Kind, und Gott der Herr stärke dich zu deiner großen Aufgabe morgen.

Gute Nacht.

Tante Gine schlief rasch ein, mit erleichtertem Herzen und verhältnismäßig ruhig ihrem großen Kummer gegenüber.

Nur einmal, nach Verlauf mehrerer Stunden, erwachte sie; sie hörte nämlich Tymme sagen: Das war also die Probe. Er stand aufrecht da, die Lampe war wieder angezündet.

Aber was ist denn das, sagte dann Tante Gine, schläfst du nicht, Kind?

Ich – ich – habe nur die Lampe angezündet; ich fand es so unheimlich – aber wenn es dich geniert, dann …

Nein, aber es ist unnötig Geld ausgegeben, Licht zu brennen, wenn man schläft. – Darauf schlief sie wieder ein.

In dieser Nacht schlief Tymme keinen Augenblick; aber er fand heraus, wie er am richtigsten auftreten müsse.

Natürlich seiner Schwester und Holmers Benehmen verteidigen. Es würde zwar falsch aufgefaßt werden, von ihr dort; besonders auch von Onkel Leonhard und von vielen andern, aber das nützte alles nichts. Anschauungssache, ganz einfach; nur Konsequenz. Außerdem war etwas Großes in diesem Verkanntwerden, man war wie ein Märtyrer … Und die ganze Nacht wiederholte er seine »Anschauungen,« wie man in einem Buch nachliest, Seite 25 ff.; er wiederholte und wiederholte, bis die Buchstaben förmlich glühten, und er ganz fieberisch wurde; aber zwischen den Buchstaben steckte Holmer mit einem kalten Lächeln seinen Kopf heraus. Tymme schlug mit geballter Faust danach, aus aller Macht – die Hand fuhr durch die leere Luft, und er fühlte sich an Hand und Willen und überall gelähmt – gelähmt, gefesselt, einem Stärkern ausgeliefert.

– Aber Tante Gine ging früh am nächsten Morgen fort und reiste heim nach Lundbyvester in dem Glauben, daß nun alles gethan würde, was menschliche Macht ausrichten könnte, den Flüchtling aufzuspüren und ihn mit oder gegen seinen Willen zurückzubringen, und daß hierauf Rache an dem Verführer genommen würde. Auf welche Weise? Ja, Tymme war schweigsam gewesen und hatte ihr nichts anvertraut, aber »so machen es die Männer, wenn sie etwas Großes vorhaben,« dachte sie.

Viertes Kapitel

Tymme benimmt sich auch ferner wie ein Mann

 

Soll ich Ihnen heute morgen hier einheizen? fragte Jungfer Rosalie und steckte ihren à la Sarah Bernhardt frisierten Kopf zur Thür herein, gerade als Tante Gine weggegangen war. Rosalie sprach mit ihrer süßesten Stimme, denn sie begann jedes neue Gespräch mit Tymme in der Absicht, ihn auf platonische Weise – nein, nicht platonisch, sondern erfolglos – in sich verliebt zu machen, aber es endete immer mit Enttäuschung und Beleidigtsein. So begann sie jeden Tag mit neuer Hoffnung, denn sie konnte die Möglichkeit nicht fassen, daß ein junger Mann sie ohne eine gewisse Art von Blick betrachten könnte.

In dem Augenblick, wo Tymme sie sah, kam ihm durch eine widerwärtige Gedankenverbindung seine Schwester in die Erinnerung. Ja; ihr schönes Gesicht tauchte vor ihm auf, keusch, edel – und nun, und nun!

Sie antworten nicht, Herr Student, Sie sehen mich starr an, sagte die Dicke mit süßlichem Lächeln und versuchte zu erröten. Als Tymme sie dann noch immer geistesabwesend anstarrte, begann sie zu glauben, ihre gewohnte Absicht sei diesesmal erreicht, und es sei also nun höchste Zeit, wieder abzuschwenken.

Es liegt übrigens ein Brief für Sie in Ihrem Kasten, der gestern ankam, sagte sie in geschäftsmäßigem Tone; Sie sind recht nachlässig mit Ihren Briefschaften, seit Sie einen Kasten draußen haben. – Es ist eine Damenhand, fügte sie hinzu, indem sie sich niederbückte und durch das Glas des Briefkastens sah, ja wohl, so ist es. Und nun schaute sie auf mit einem Blick, der zeigte, daß die Koketterie von neuem beginnen sollte.

Lieber Gott, Menschenkind, wollen Sie denn nicht gehn! brach Tymme los.

Menschenkind? – nun, das muß ich sagen! antwortete die verschmähte Schönheit und schlug die Thür hinter sich zu.

Der Brief war von Friederike, der Poststempel Kopenhagen, eine blaue 4 Öre-Marke. Innen keine Ortsangabe. Der Brief hatte das Gepräge, als sei er in Eile geschrieben worden; Worte und Sätze waren häufig unterstrichen. – Das Datum von gestern.

 

Mein lieber Bruder!

Nun, da es geschehen ist, will ich es Dir mit leichtem Herzen erzählen (es stand zuerst »gestehn« da, aber es war ausgestrichen). Du urteilst frei und vorurteilslos, ich habe es in der Zeitung gelesen, habe es von ihm gehört und bin darum unaussprechlich beruhigt und erleichtert. Wie ganz anders schwer wäre es, wenn mein einziger Bruder mich so verurteilt hätte, wie mich die Welt verurteilen wird.

Er sagte mir, daß er mich liebe; er hatte es mir schon lange gesagt. Alles, was ich weiß, was ich denke, was ich kann, was ich bin, das verdanke ich ihm, alles, alles miteinander. Daß ich ein erwachsener Mensch bin und nicht eine ganz unwissende Gans, das verdanke ich ihm. Er hat mir das Auge geöffnet, meine Sehnsucht gestillt, meine Seele gebildet; nie, niemals habe ich einen geistigen Führer gehabt wie ihn, ich war ja so schändlich vernachlässigt. Aber was kann es nützen, die Toten anzuklagen; ich vergebe alles, nun bin ich ja glücklich, ach, so glücklich, Tymme! Er sagte, daß er mich liebe, daß wir zusammen wohnen wollen, ich, das unbedeutende, unwissende Mädchen, er, der große, königliche Geist! Er gab mir gute Gründe an, warum eine »Ehe« – wie ich dieses Wort hasse, gerade wie Du auch; alles, was dumm, spießbürgerlich, borniert und langweilig ist, liegt schon allein in dem Klang dieses Worts! – seiner Stellung schaden würde. Ich hätte ja gar keine Gründe verlangt, ich wollte gerade wie er, er, der immer Recht hat. Seine Geliebte! Einen stolzern Namen giebt es nicht für eine Frau. Die Flucht – jawohl, es war eine wirkliche Flucht, wie in den sonst recht dummen Romanen – ging gestern vormittag vor sich; ich gab an, ich sei bei Karoline, um ihr zu helfen; denn da würde man mich nicht vor dem nächsten Morgen vermißt haben; Gine hatte ich ein paar Worte geschrieben – auch Karoline – und hatte dafür gesorgt, daß sie sie erst am nächsten Morgen bekamen, und jetzt schreibe ich Dir ausführlicher und mit mehr Vertrauen auf Verständnis (ergreife meine Partei, wie ich – stand da, aber es war ausgestrichen).

Er hat eine kleine ländliche Wohnung für uns eingerichtet, etwas von Kopenhagen entfernt, versuche es nicht, herauszubringen, wo; da halten wir unsre Flitterwochen; am Vormittag fährt er hinein zu seinen Geschäften; den ganzen Tag werde ich mich nach ihm sehnen – sogar jetzt, während ich Dir schreibe, sehne ich mich nach ihm –, gegen Abend kommt er dann zurück. Er will mich an seinen öffentlichen Kämpfen und Plänen teilnehmen lassen, ich – ich!! – soll ihm mit meinem Rat beistehn, er traut mir »einen klaren Geist« zu – wenn ich ihn habe, dann ist er es, dem ich ihn verdanke – und etwas, das er »latente Energie« nennt; ich darf versuchen, Manuskripte und dergleichen für ihn ins Reine zu schreiben; das soll mir meine liebe Tagesbeschäftigung sein. O Tym, ich bin so glücklich! Nun, zum erstenmal in meinem Leben!

»Das Urteil der Welt,« ich fürchte es nicht, er hat mich gelehrt, ihm die Stirn zu bieten. Doch will er, daß unser Aufenthaltsort bis auf weiteres verborgen bleibe; er hat praktische Gründe dafür; später ist es seine Absicht, mich in unser bleibendes Heim zu führen, in die Hauptstadt, in seinen Kreis, unter die vorurteilsfreien, begabten und hochgesinnten Männer und Frauen; das wird dann unsre Welt, eine bessere, das darfst Du mir glauben, als die dumme, heuchlerische, gewöhnliche. – Es kann darum nichts nützen, nachzuforschen, wo ich jetzt bin; Deine Briefe mußt Du ihm mitgeben – Du kannst ihn ja leicht treffen – oder sie nur in einem an ihn adressierten Couvert auf dem Kontor abgeben. Ich freue mich nun auf einen Brief von Dir; wenn Du schreibst, dann schreibe ausdrücklich, daß Du meinen Schritt billigst, das wirst Du gewiß thun, es wäre mir eine große Freude (zuerst stand da »Trost,« aber es war dick ausgestrichen). Schreib auch, was Du von Lundbyvester hörst und weißt. Gine muß bei ihren Ansichten sehr entsetzt sein. Ich denke, sie bleibt bei Pastor Hansen, bis die Stelle besetzt ist, und dann hoffe ich, daß sie mit ihrer Tüchtigkeit leicht einen Platz findet. Sie hat sich übrigens bei der verzweifelten Verfassung, in der die Hinterlassenschaft war, von ihrer tapfersten Seite gezeigt. Ich habe für sie, wie ich in dem Billet schrieb, den größten Teil meiner Kleider und sonst noch allerlei zurückgelassen, Holmer hat genug für uns beide. – Schreib auch von Dir selbst und von Deinen Plänen. Noch einmal versichere ich Dir, daß ich sehr glücklich bin.

Deine
treue Schwester
Friederike.

*

Tymme hatte den Brief kaum fertig gelesen, als sich eilige Schritte auf der Treppe vernehmen ließen. Er kannte sie, er hatte wohl gewußt nach Tante Gines Bericht über ihre gestrigen Erlebnisse, daß sie kommen würden, zugleich aber gehofft, daß er vorher von daheim entwischen könnte. Nun muß es biegen oder brechen! Den Brief der Schwester rechnete er für eine ausgezeichnete Waffe in dem bevorstehenden Kampf.

Nun stand Onkel Leonhard vor ihm. Deine – deine – diese Jungfer Lemvig, ist sie verrückt geworden? brach er augenblicklich los.

Verrückt? – Nein, Onkel, warum denn? antwortete Tymme ungeheuer »trocken« und ruhig, aber er fühlte wohl, daß seine Beine zitterten.

Zum Teufel, was ist dann dies? Der Oberst warf Tante Gines Schreiben auf den Tisch vor Tymme hin. Dieser ließ es liegen und sah nur seinem Onkel ins Gesicht mit einer – Frechheit, über die er sich selbst wunderte.

Tod und Teufel! so lies es doch!

Nein, Onkel, das ist nicht nötig. Ich weiß alles. Es ist ganz richtig.

Richtig? – Was ist richtig? Daß Gine verrückt geworden ist?

Nein, daß Friederike – nun – daß sie und Holmer – kurz gesagt, Friederike ist mit ihm geflohen.

Und des Onkels sprachlosen Zustand benützend, ergriff er thatsächlich die Offensive:

Hör, Onkel. Du und ich, wir gehören zwei verschiednen – wie soll ich es nennen – vollständig verschiednen Lebensanschauungen an. So wie du fühlst, so fühlt und denkt die alte Generation, und du kannst nicht verlangen, daß – eh – daß, kurz gesagt, wir können nicht miteinander darüber reden.

Und als der Onkel nicht antwortete, sondern ihn nur anstarrte, fuhr er in sonderbar gezwungnem Tone fort:

Du bist in solchen Ansichten aufgewachsen, daß – und – eh; kurz gesagt, du kannst die Gegenwart und die Freiheit und dergleichen nicht verstehn. Aber ich kann es. Wir wollen nun keine Szenen machen. Ich muß außerdem in meine Schule – es ist schon –

Aber auf Onkel Leonhard hatte Tymme keinen Eindruck gemacht.

Es ist also wahr? murmelte er. Er war offenbar so tief erschüttert, daß auch Tymme, dessen ganzes Auftreten unwahr und erzwungen gewesen war, verstummte.

Zum erstenmal wich er dem Blick des Onkels aus und überreichte ihm schweigend den Brief der Schwester.

Onkel Leonhard versuchte ihn zu lesen. Eine dunkle Röte hatte sich über seine magern Gesichtszüge verbreitet; die Hand, die den Brief hielt, zitterte. Mittlerweile ergriff Tymme wieder das Wort:

Du kannst aus dem Brief sehen, daß es ihre eigne freie Wahl war, und daß sie froh ist, sie getroffen zu haben. Darum meine ich, daß wir andern nichts dabei zu thun haben.

Der Oberst, der eine Weile in den Brief gestarrt hatte, sagte schließlich:

Nein, die Buchstaben fließen mir ineinander – es ist auch einerlei. Dann richtete er sich auf, und indem er aufblickte, sagte er sehr ruhig und bestimmt: Wo sind sie jetzt? Und dabei riß er den Brief entzwei, ganz methodisch und besonnen in immer kleinere Stücke. Wo sind sie jetzt?

Das weiß ich selbst nicht.

Hm. Du hast natürlich deinen Entschluß gefaßt. Ich, als der fernerstehende und leider nicht mehr ganz junge, ich muß mich wohl darauf beschränken, dir bei der Aufspürung behilflich zu sein.

Liebster Onkel, willst du denn nicht hören? Ich habe dir doch gesagt, daß wir nichts dabei zu thun haben.

Wieder zeigte sich eine brennende Röte auf den Wangen des Obersten. Nichts zu thun? Mon Dieu, nichts zu thun? Du, ihr Bruder? – mit donnernder Stimme: Beim Satan, bist du nicht ihr Bruder?

Dieses heftige Auffahren, dieses leidenschaftliche Anrufen des Brudernamens, dieser Appell an das Ehrgefühl, das Ehrgefühl nach altem Begriff – wie wühlte es Tymmes Inneres auf! Genau derselbe Ruf in seiner Seele, derselbe heftige Antrieb – und wie bewunderte er den Onkel und verachtete sich selbst – ach, er hatte Lust, wegzueilen in Holmers Kontor, ihn niederzuschlagen, ihn niederzuschießen – aber immer dasselbe: gelähmt, gefesselt und ausgeliefert …

Und wie falsch war seine Ruhe, als er antwortete:

Onkel! Entweder kannst oder willst du mich nicht verstehn – nun, das ist auch einerlei. – Ich muß gehn, ich muß in meine Schule.

Schule? Schule? – Bist du ein Mann, oder was bist du? – Doch – fügte er in einem ruhigern Tone hinzu – ich habe dich natürlich mißverstanden. Komm nur, Kerl, geh mit mir; wir wollen ihn schon finden.

Du verstehst mich nicht, Onkel Leonhard. Und ich muß nun in meine Schule gehn.

Worauf Tymme, der seinen Hut genommen hatte, das Zimmer verließ. Der Onkel sah ihm nach. Schließlich murmelte er, während seine Züge den tiefsten Schmerz ausdrückten:

Also in der Familie eine Dirne und einen Feigling. Jedenfalls trägt keines von ihnen den Namen Güllich; Gott sei Dank.

Fünftes Kapitel

Worin Oberst Güllich einen Einkauf macht

 

Das darauf folgende Verfahren des Obersten war besonnen und methodisch. Langsam und grübelnd ging er die Treppen hinunter; hierauf richtete er seine Schritte – nach einiger Überlegung – nach dem Frauenkirchenplatz. Hier und in der Nachbarschaft wanderte er ungefähr eine Viertelstunde lang umher. Als es fast neun Uhr war, sah er einige Studenten sich der Treppe des Universitätsgebäudes nähern; höflich ging er auf einen von ihnen zu, einen großen hübschen Burschen mit dunkeln Augen und braunem lockigem Haar.

Entschuldigen Sie, mein Herr, aber da Sie Student sind, können Sie mir vielleicht sagen, wo … dieser … zum Teufel, jetzt gerade habe ich den Namen der Zeitung vergessen – ja, das muß Ihnen sehr dumm von mir vorkommen – seine Gemütsbewegung war wirklich so groß, daß sich alle Namen im Kreise vor ihm drehten –, ich meine die Zeitung, die von – von …

Es versammelte sich allmählich eine kleine Gruppe Studenten um ihn; ein unterdrücktes Spottgelächter ließ sich hören. Bei diesem Laut richtete sich der Oberst augenblicklich aus und betrachtete entrüstet die ausgelassene Schar, aber als er seine Augen über die jungen, ganz offnen und gutmütigen Gesichter hingleiten ließ, besänftigte er sich rasch und sagte mit einem liebenswürdigen, etwas wehmütigen Lächeln laut:

Als ich in Ihrem Alter war, meine Herren, da habe ich auch viel gelacht – aber doch niemals, wie Sie jetzt, über einen alten Herrn, dessen Lage, das versichere ich Ihnen … mehr Teilnahme als Spott verdient –

Beschämt zogen sich die Studenten etwas zurück.

Ich meine, fuhr er, zu dem großen hübschen gewandt, fort, ich meine das Kontor des Fin de siècle, wo ist das?

Wenn Sie erlauben, kann ich Sie sogleich dorthin begleiten; ich habe gerade noch so viel Zeit, sagte der Student und warf einen Blick auf den Turm der Frauenkirche.

Als sie sich entfernten, nahmen alle Studenten die Mützen ab.

Ich muß Sie wegen des Betragens meiner Kameraden sehr um Entschuldigung bitten, sagte der Begleiter des Obersten, aber ich versichere Ihnen, sie haben es nicht böse gemeint. Vielleicht, fuhr er ehrlich, ein wenig zögernd fort, war ich selbst nicht weit entfernt davon, mitzulachen. Ich bitte Sie um Entschuldigung.

Ach papperlapapp, sagte der Oberst gutmütig. Jugend ist Jugend. Er betrachtete wohlwollend die offnen, schönen Gesichtszüge des Studenten, die sich mit einer gut kleidenden Röte überzogen hatten.

Hören Sie, junger Mann, hols der Teufel! – er hemmte plötzlich seine Schritte, wie es ältere Herren oft in der Gewohnheit haben, wenn sie einen Nachdruck auf einen Satz legen wollen. – Junger Mann, Ihr Gesicht gefällt mir; ich sage es gerade heraus – und es ist mir ganz so – ganz so, als – hätte ich Sie schon früher gesehen.

Das haben Sie auch, Herr Oberst; ich war es, dem Sie eine Krone gaben – nein – fügte er lächelnd hinzu –, beinahe gegeben hätten; nein, Jungen vergessen so etwas nicht! – Es war in Löwes Schule.

Hallo! sagte der Oberst und blieb wieder stehn. Du bist der junge Mol – Mul – ich bitte tausendmal um Verzeihung – aber Sie waren es, der für meinen Neffen die Prügel haben wollte, der –

Ja, Lemvig. Ja – er … Mollerup hätte gern ein wenig über Lemvig gesprochen, dessen Entwicklungsgang er aus der Ferne verfolgt hatte, aber der schmerzliche Ausdruck in dem Gesicht des Obersten hielt ihn zurück. Stumm gingen sie nebeneinander her.

Der Oberst murmelte vor sich hin:

Ja, so hätte er werden sollen. Und kurz nachher: Ich werde ein einsamer alter Mann.

Noch einmal blieb er zu Mollerups Verzweiflung stehn; diesesmal aber nicht um eine Bemerkung zu machen; ein Schaufenster hatte seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen; in dem Fenster hingen Peitschen, Reitgerten und andre zur Sattelmacherei gehörige Gegenstände – vor diesem Fenster hielt er mit einem Ruck an und schien in Gedanken zu versinken.

Mollerup räusperte sich. Der Oberst, der offenbar im Begriff gewesen war, in den Laden zu treten, wandte sich bei diesem Laut um, sah seinen Führer verlegen an und ging dann mit ihm weiter.

Hier ist das Kontor des Fin de siècle, im ersten Stock.

Tausend Dank, Mul – Herr Mullerup! – Der Blick des Obersten ruhte mit eigentümlicher Bewegung auf Mollerups Gesicht, sodaß dieser sich nicht entfernen konnte, so sehr er auch wie auf Nadeln stand, weil er nicht zu spät zur Vorlesung kommen wollte. Junger Mann – junger Freund – wenn Sie, wenn Sie einen Vater – mon Dieu, grüßen Sie ihn von mir, sagen Sie ihm von Oberst Güllich – daß – zum Teufel! – daß ich ihn beneide –

Aber Mollerup hatte sich während dieser Rede rasch abgewandt und eilte nun mit langen Schritten die Straße hinunter. Es gelang ihm aber doch nicht, an der ersten Stunde teilzunehmen, denn wenn er auch gerade noch zur rechten Zeit angekommen war, bebten seine Lippen auf so sonderbare Weise, und seine Wangen brannten so, daß er es seine Kameraden nicht sehen lassen wollte.

*

Aber der Oberst stieg nicht, wie man hätte erwarten sollen, gleich die Treppe hinauf nach dem Kontor des Fin de siècle. Im Gegenteil, als Mollerup ihm aus den Augen gekommen war, ging er auf dem Wege, den sie hergekommen waren, wieder zurück, bis er zu dem Sattlerladen gelangte. Hier trat er ein.

Diese! sagte er und deutete mit düsterer und drohender Miene auf eine Reitpeitsche, die im Fenster hing; eine leichte, elastische, handliche, kleine. Diese!

Und als er hierauf mit seinem Einkauf in der Hand die Straße entlang schritt, war seine Miene noch düsterer und drohender.

Sechstes Kapitel

Worin der Oberst seinen Einkauf wieder verliert

 

Es war halb zwei Uhr, als Holmer sich an diesem Tag im Kontor des Fin de siècle einfand. Er war nun der Hauptredakteur dieses bedeutenden Blattes, und alle Angestellten des großen äußern Kontors erhoben sich bei seinem Eintritt, alle, ausgenommen Bramsen, der dies schon beim Vernehmen der ersten Schritte seines Chefs auf der Treppe gethan hatte; er hatte sich da, wie zufällig, gedehnt und gestreckt und stand nun in nachlässiger Stellung in der Nähe der Thür, die Hände um den Hinterkopf gelegt und die Beine weit gespreizt. Als Holmer eintrat, gähnte Bramsen auch noch, und all das that er mit Absicht, um dem übrigen Personal zu zeigen, daß er sich Holmer nicht untergeordnet fühle. Denn Bramsen war eifersüchtig und wollte in Holmer nur einen Studiengenossen sehen, dem es etwas besser geglückt war als ihm; im geheimen aber haßte er ihn, denn auf dem Kontor nahm Bramsen keine hohe Stellung ein und ebensowenig in Holmers Achtung. Dieser konnte jedoch Bramsens flotte und cynische Feder nicht entbehren, und das wußte Bramsen.

Holmer nickte ihm kurz zu – welches Nicken er mit einem genau entsprechenden beantwortete – und begrüßte die andern mit einem leichten Stirnrunzeln, auf welches Signal sich alle setzten und weiter arbeiteten.

Du siehst, Holmer, sagte Bramsen, ohne seine Stellung zu verändern, daß wir hier auch ohne dich brillant arbeiten, sodaß du dich wahrhaftig nicht so früh von dem Ruhebett in der – in der – Cottage draußen im parc de cerf zu erheben brauchst.

Die arbeitenden Herren lächelten. Holmer legte nur seinen Überrock ab und wollte dann in das innere Kontor gehn.

Es ist einer drinnen, sagte Bramsen und machte eine leichte, hinweisende Bewegung mit der einen Hand, worauf er beide wieder am Hinterkopf zusammenlegte.

So, sagte Holmer gleichgiltig und erfaßte die Klinke, hielt aber bei dem auffallenden Ausdruck boshafter Freude, mit der ihn Bramsen ansah, inne. So? Wer?

Ein guter Freund von dir, ohne Zweifel. Sitzt seit halb zehn Uhr drin, das macht vier Stunden. Unbeweglich, bis er mit dir – gesprochen haben würde.

Holmer sandte ihm einen kurzen, drohenden Blick zu, nahm hierauf einen andern Ausdruck an, nicht gerade wie jemand, der sich fürchtet, sondern mehr wie jemand, der sich ärgert. Er näherte sich Bramsen und flüsterte:

Lemvig kurz gesagt – was?

Der kurze, drohende Blick hatte nicht verfehlt, seine Wirkung auf Bramsen auszuüben: er kannte ihn als den unverkennbaren Vorboten der Strafe und fühlte, daß er in der Unverschämtheit zu weit gegangen war. Sein Ton war deshalb verändert, die Haltung auch, als er den Kopf schüttelte und mit gedämpfter Stimme antwortete:

Ein älterer, netter Herr; ich taxiere ihn etwa auf einen höhern Militär oder dergleichen, in Zivil. Aber dann bekam die Lust zum Necken wieder die Oberhand, und er fügte hinzu: Sitzt da drin und spielt mit – eh – mit – einer Reitpeitsche, einer hübschen, neuen, kleinen Reitpeitsche; obgleich er sonst nicht im Reitanzug ist.

Holmers Gesicht zeigte wieder das frühere Mienenspiel. Einen Augenblick – ganz kurz – überlegte er; dann trat er auf die verhängnisvolle Thür zu. Unterwegs neigte er sich über einen der jüngsten der schreibenden Herren und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser ergriff augenblicklich seinen Hut und eilte auf die Flur hinaus. Mittlerweile war Holmer ruhig in sein Privatkontor getreten und hatte die Thür hinter sich zugemacht.

Aber da brach die schon lange unter dem Personal herrschende Stimmung los; sie zeigte sich zuerst als eine schweigende, aber unruhig wogende Bewegung der Köpfe und Oberkörper; man legte die Federn weg, rieb sich die Arme und Beine mit den Händen; hierauf kam ein Laut, der einem unterdrückten Lachen glich, aber dann befahl einer von ihnen: Ruhe! worauf sie alle mäuschenstill horchten. Mit den komischsten und verschiedensten Gesichtsausdrücken saßen sie da und horchten, wie eine Klasse Schuljungen, wenn der Lehrer im Verdacht steht, mit dem Direktor draußen auf dem Gang in Streit zu geraten.

Man vernahm den Ton der Stimmen von drinnen heraus, aber keine Worte – kurze, deutliche Antworten, die von Holmer immer am ruhigsten und kühlsten – bis auf einmal die Stimme des Obersten wie ein Brüllen erklang:

Was die Sache mich angeht, fragen Sie? Was ich von Ihnen wolle, fragen Sie? Tod und Hölle; herausfordern will ich Sie, Sie frecher Kerl; mit Ihnen duellieren will ich mich, auf Säbel oder Pistolen, nach Belieben – ist das deutliches Dänisch?

Einige der Angestellten wollten jetzt eindringen, um einem weitern Skandal zuvorzukommen, aber Bramsen versperrte den Weg. Das Nachspiel! flüsterte er und sah diabolisch vergnügt dabei aus.

Von Holmers Antwort hörte man nichts als ein ziemlich lautes Lachen; es schien natürlich zu klingen; entweder mußte Holmer ein großer Schauspieler sein oder ein sehr mutiger Mann.

Hierauf klang es, als würde drinnen etwas zur Seite geschoben: der Schlüssel wurde von innen heftig umgedreht, und der Oberst sagte – nicht schreiend wie vorher, sondern im Gegenteil sehr bedächtig – doch vernahm man die Worte ebenso deutlich, denn er stand nun dicht neben der Thür:

Ich muß also zu dem einzigen Mittel greifen, das man Leuten von Ihrer Art gegenüber hat –

Der Tonfall klang so unheimlich ruhig, so exekutionsmäßig – Bramsen hielt noch immer das Personal zurück – ohne besondre Anstrengung, denn die Feigheit und die Schadenfreude der andern half ihm; aller Köpfe waren vorgestreckt, aller Augen starr. Sie schauten nach der Thür, als ob sie durch sie hindurch auf die aufgehobne Reitpeitsche starrten –

Die Spannung war so groß, daß man Holmers Antwort verstand: Der Idioten und Militärpersonen ultima ratio. Bitte, Sie sehen, ich bin wehrlos. – Nun, warum brauchen Sie denn Ihre hübsche Waffe nicht? Ich bin wehrlos.

Es entstand eine Pause drinnen. Instinktmäßig ahnte man, daß der zornige Mann die Peitsche hatte sinken lassen und wahrscheinlich etwas ratlos war. Nun versuchte das Personal wirklich die Thür zu sprengen.

Fußtritte erklangen auf der Treppe.

Holmer: Nun, Mann, so schlagen Sie doch zu, mein Personal kann mir ja nicht zu Hilfe kommen, das merken Sie doch.

Oberst – rasend –: Zum Teufel, dann will ich Sie in Gegenwart Ihres ganzen Personals züchtigen …

Und auf ging die Thür – sodaß ein Paar der Angestellten hineintaumelten –, und da sah man Oberst Güllich, hoch aufgerichtet und kraftvoll, mit zornigem Aussehen, die Reitpeitsche in der Hand, ein drohender und stolzer Anblick.

Meine Herren, ich wünsche Ihre Gegenwart, um diesem Poltron eine körperliche … er hielt erstaunt inne, er befand sich Angesicht in Angesicht mit zwei Schutzleuten.

Aha! erklang es von dem altern der Schutzleute, einem sehr beleibten und fachmäßig aussehenden Mann. Nein, halten Sie ein, dieses Spiel wird hier nicht gespielt, mein guter Mann! – Das gebieterische und gleichsam fette Rollen der Stimme im Verein mit einer gewissen unverwüstlichen Gemütlichkeit verriet den frühern Unteroffizier. – Stoffer!

Stoffer stellte sich schnell auf die andre Seite des Obersten. Indem sie aber Hand an ihn legen wollten, entdeckte der Dicke mit dem Unteroffiziersinstinkt etwas Offiziermäßiges in der Haltung oder im Gesicht des Gefangnen. Stoffer, sagte er sofort, sachte, sachte, bleibe dort auf der Matte stehn und nimm die Hand von des Herrn Rock weg!

Holmer: Thun Sie Ihre Pflicht, meine Herren Schutzleute; Sie sehen ja, daß mich diese Person in meinem eignen Haus überfällt –

Der Schutzmann – zum Obersten mit einer gewissen Höflichkeit –: Dies ist eine sehr fatale Sache, mein Herr, aber – eh – die Handhabung des Gesetzes und so weiter – und im Fall Sie diese Klatsche da in meine Hände niederlegen wollten – mit einem mißbilligenden Kopfschütteln –, es ist übrigens ein wenig passendes Spielzeug für einen ältern Herrn …

Der Mut und die Erbitterung des Obersten waren durch dieses Dazwischentreten nicht geringer geworden, aber sein festgewurzeltes Rechtsgefühl machte ihn unsicher.

Nun, ihr Schutzleute, sagte Bramsen, der nun merkte, daß Holmer trotzdem der Sieger im Streit bleiben würde, was steht ihr da und glotzt? Macht, daß ihr mit dem Betrunknen wegkommt!

Das hätte Bramsen nicht sagen sollen, denn in demselben Augenblick schwang der Oberst seine unbenützte Reitgerte und versetzte ihm mit der Flitze eine nette Strieme quer über die Stirn, Nase und Wange – nach welcher Entladung der Oberst augenblicklich sein erbittertes Aussehen verlor und dem dicken Schutzmann die Peitsche überreichte, und zwar mit einer so eleganten und zeremoniösen Verbeugung, als sei er ein überwundner Ritter, der seinen Degen übergäbe. Bramsen stürzte nicht vor, sondern – übereinstimmend mit seiner Natur – zurück.

Das war ganz unrichtig von Ihnen gehandelt, älterer Herr, sagte der Dicke, während sich eine sonderbare Mischung von Tadel und Bewundrung in seinem großen gutmütigen Gesicht zeigte. Ich bin nun dem Gesetz zufolge selbst gezwungen, Sie festzunehmen – Stoffer!

Der Oberst – höflich –: Das sehe ich vollständig ein, Herr Schutzmann, und stelle mich Ihnen zur Verfügung. Ich bin Oberst Güllich. Bitte, gehn Sie voraus.

Schutzmann: Stoffer, nicht so, es ist ein Oberst.

Oberst: Ich danke Ihnen, Herr Schutzmann, Ihr Betragen ist vollständig korrekt gewesen.

Hm, sagte der Schutzmann. Ja, das ist nun schon recht, daß Sie mir wie ein Star etwas vorzwitschern, aber – eh – Sie hätten dessenungeachtet nicht in Gegenwart der Polizei zuschlagen sollen, nein. – Und ehe wir fortgehn – Stoffer, wart ein wenig – er erhob die Stimme und sah Bramsen fest an –, ehe wir fortgehn, muß ich, kraft meines Amtes, dem jungen Herrn, der vorhin von der Polizei »glotzen« sagte, mitteilen, daß das nicht passend ist, nein – er schlug mit seinem Stock leicht auf den Boden –, und ich will Ihnen als solche mitteilen, daß diese Art Bemerkungen vollständig außerhalb des Etats fallen, ja; und vielleicht werden Sie darum Ihren Schmiß im Gesicht als eine unverschuldete Erinnerung an diesen kleinen Umstand betrachten, Herr, für den Wiederholungsfall. Im ganzen genommen – er erhob wieder die Stimme – wünsche ich den Facta zu konstatieren, daß die Polizei den Herren hier auf dem Kontor nicht zum Possenspiel dienen will, Sie mögen sich, solange Sie wollen, »feine Säckel« heißen, denn es ist durchaus nicht sehr fein, zu der Polizei »glotzen« zu sagen, nein! – Stoffer, nun können wir mit dem Herrn Obersten gehn.

Halt! sagte Holmer plötzlich. Der geschlagne Herr wünscht gewiß die Sache nicht weiter zu verfolgen. Ich auch nicht.

Der Schutzmann wandte sich majestätisch an Bramsen. Nein, murmelte dieser.

Holmer: Es wäre mir sehr lieb, wenn die Herren Schutzleute von dieser Geschichte ganz schweigen wollten. Ich halte das Kontor nun für sicher vor Oberst Güllich, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. Wir wollen das Ganze als abgethan betrachten.

Mein Wort! sagte der Schutzmann und nickte dabei; es wird für alle Beteiligten am besten sein. – Nun, dann ist es abgethan, Stoffer. Stoffer, grüße die Herren. Adiös!

Draußen auf der Treppe sagte der Schutzmann zum Obersten:

Nun, da es abgethan ist, muß ich in der Eigenschaft eines Privatmanns konstatieren, daß Ihr Schlag ganz ungewöhnlich fein appliziert war. – Gedämpft: Glotzen, sagte er.

Und ich, sagte der Oberst, fühle mich verpflichtet, Ihnen über Ihr taktvolles Auftreten mein Kompliment zu machen. Mon Dieu, einem Mann von Ihrem Zartgefühl wage ich nicht, eine pekuniäre … sonst …

Ich danke Ihnen, Herr Oberst, unterbrach ihn der dicke Schutzmann, es fällt auf eine trockne Stelle! Stoffer! der Herr Oberst will auch mit dir sprechen.

Der Oberst lächelte und griff in die Tasche.

Sollten Sie jemals, sagte der dicke Schutzmann zum Abschied, sollten Sie jemals in einen ähnlichen Kasus mit der Staatsgewalt kommen, so erinnern Sie sich daran, daß Sie in dem Aufseher Karl Nielsen auf der fünften Polizeistation einen Freund haben, immer jedoch in strenger Ausübung des Gesetzes. Stoffer, grüße den Herrn Oberst!

Drin im Kontor sagte Holmer:

Die Herren mögen belieben, das Vorkommnis dieses Vormittags bis auf weiteres nicht zu verbreiten. Bis auf weiteres, fügte er lächelnd hinzu und sah Bramsen dabei an, der verstand, daß er nun noch mehr in Holmers Gewalt sei. – So, Bramsen, komm nun zu mir herein und wasch dir das Blut ab. Alsdann setzt du wohl einen Artikel auf – natürlich im allgemeinen gehalten – über Militarismus, Brutalität und so weiter – du verstehst. Aber amüsant.

Siebentes Kapitel

L'abri

 

Zehn Minuten weit von einer der kleinen Stationen der Röskilder Eisenbahn entfernt liegt ein kleines neuerbautes Haus. Ein Fußweg führt zum Haus und daran vorüber; sonst liegt es sehr einsam, mitten in einer großen ebnen Wiese. Es sieht plump aus, unmalerisch, riecht noch nach Kalk und Ölfarbe. Das Innere ist wie für eine anständige kleine Arbeiterfamilie eingerichtet; das hatte Schreiner Mads Hansen von Sengelöse auch im Auge gehabt, als er das Haus auf Spekulation gebaut hatte, aber jetzt hatte er es mit monatlicher Kündigung an feine Leute aus Kopenhagen vermietet. Es war merkwürdig, daß sie damit zufrieden waren – aber es liegt eben auf dem Lande, wie die Kopenhagner es nennen; recht gescheit sind sie jedenfalls nicht, denn es ist jetzt November und hundekalt. Doch, was geht das Mads Hansen an!

Der Herr pflegt, in der letzten Zeit jedoch nicht immer, von Kopenhagen mit dem Nachmittagszuge um sechs Uhr zu kommen. Die Dame aber hält sich die meiste Zeit drinnen auf und thut, Gott mag wissen, was; sie ist übrigens ausnehmend schön und jung. Sie sind wohl nicht so richtig verheiratet, aber was geht das Mads Hansen an!

Die Nachmittagsschatten beginnen sich auf das Häuschen herabzusenken. Auf einer rohen Bank im Garten – der Garten besteht aus einigen Kartoffelfeldern – sitzen wohleingepackt Friederike und Tymme.

Sie bekommt nämlich jetzt bisweilen Besuch von ihrem Bruder. Holmer hat seine Einwilligung dazu gegeben, daß sie dem Bruder, aber nur ihm, ihren Aufenthaltsort kund gethan hat; die Art und Weise, womit dieser die Entführung aufgenommen hatte, hat Holmer nach dieser Seite hin beruhigt; er kann jetzt Tymme ignorieren.

Sie schauen auf die weiten, ebnen Felder, die zerstreuten Häuser und fernen Dörfer hinaus – nirgends ein Hügel, kaum ein Baum. Sie warten auf den Zug von Kopenhagen; deshalb sitzen sie hier draußen. Von drinnen ist die Aussicht beschränkter. Die Eisenbahnschienen strecken sich lang und schnurgerade nach rechts und links, Bahnwärterhäuschen in regelmäßigen Zwischenräumen. Eine Windmühle unterbricht das Einerlei des Horizonts, die Bewegung ihrer Flügel ist das einzige Belebende in der Landschaft, aber gerade jetzt fangen sie an, sich langsamer zu drehen – nun stehn sie still, und alles ist auf einmal wie tot.

Friederike wendet zögernd die Augen von der Mühle weg, auf die sie während einer langen Pause in der Unterhaltung geheftet gewesen waren.

Hör, Tymme, ist es wahr, daß das Eisen so heiß werden kann, daß es – für das Gefühl – beim Anfassen wieder ganz kalt erscheint?

Ja, ich glaube, das soll beim weißglühenden Metall der Fall sein –

Tymme glaubst du, das es mit dem Glück ebenso gehn kann? Ich meine, fuhr sie fort und sah den Bruder gespannt an, ob es denkbar ist, daß man so glücklich werden, ein solches Übermaß von Glück empfinden kann, daß die Gefühle in das Gegenteil umschlagen, und daß man es dann empfindet, wie – fast wie – sodaß man – wie soll ich es nur ausdrücken – manchmal fast – fast … Sie stockte.

Tymme sah sie an, und es wurde ihm unbehaglich zu Mute. Ihr Ausdruck stand in diesem Augenblick stark im Widerspruch zu dem »Glück,« das sie sonst in dieser Zeit in Briefen, Worten und Wesen zur Schau getragen hatte.

Wie? glaubst du es?

Das ist sehr wohl möglich. Du stellst hier eine recht interessante Frage auf, Friederike. Ich werde einmal mit – mit Bramsen darüber reden.

Warum nicht mit Holmer? – Hör, Tymme, weißt du was, du bist doch ärgerlich über Holmer, und das thut mir schrecklich weh – du hast doch selbst so oft …

Nein, es ist wirklich nicht darum – Nein, wir wollen nicht darüber reden – ich kann Holmer sehr gut leiden, das versichere ich dir.

Ja, denn er schätzt dich auch wirklich sehr.

Hm.

Friederike schwieg eine Weile und sah vor sich hin. Ihre Gedanken hatten nun wieder die vorige Richtung eingeschlagen.

Manchmal, wenn ich hier oder drinnen im Zimmer am Fenster sitze und meine Mühle dort betrachte, meine ich, es gehe mir gerade wie ihr. Auch bei mir bewegen sich die Flügel, und ich komme doch nicht von der Stelle. Oder auch: ich bin wie das Mühlwerk selbst, meine Gedanken drehen sich in der Runde und arbeiten, aber es ist kein Korn darin. Ich bin so leer, Tymme, so schrecklich leer. All die Bücher, die er mir zu lesen giebt, die lese ich, aber es nützt nur wenig, und dann ist so vieles darin, das mich abstößt, mich verletzt – sie machte eine peinliche Pause. – Daran muß natürlich meine eigne Dummheit schuld sein oder meine Unwissenheit, denn das ist ja ein Unterschied. – Ich habe keine Kenntnisse, ich habe … Wieder eine Pause, die der dann hervorbrechenden Leidenschaft Steigerung und Nachdruck verlieh. – Ich wußte es ja schon vorher, aber nun, in seiner Gesellschaft, merke ich es noch mehr. Ich bin ihm nicht ebenbürtig, Tym, er kann sich ja nicht recht mit mir unterhalten, ach, Tym, du weißt nicht, wie schrecklich das für mich ist, wenn ich mitten in meinem großen Glück – aber manchmal muß ich zu mir selbst sagen – denn ich weiß ja, daß er mich liebt –, aber ich muß fragen: Was bist du ihm denn? – Tym, ich helfe ihm nur wenig mit dem vielen Abschreiben, und – und – sogar das Essen – hier senkte sie die Stimme, als schäme sie sich der Geringfügigkeit des Gegenstands –, sogar das Essen kann ich nur schlecht zubereiten – ich versuchte es in den ersten Tagen, die Mahlzeiten mit dem Dienstmädchen selbst zu kochen, aber es endete damit, daß er in Kopenhagen zu Mittag essen mußte, und selbst das Abendessen kann ich nicht so zu stande bringen, wie er es gewohnt ist – ich weiß auch nicht: aber es ist, als könne ich gar kein ordentliches Mädchen zur Hilfe bekommen – hier zeigte eine erneuerte Pause, daß sie mit ihrer Bewegung kämpfe –, und wenn ich mich nun nicht einmal recht mit ihm unterhalten kann – dann – dann – ja, was ist es dann, was er an mir liebt – es ist wirklich manchmal schrecklich, daran zu denken, Tym … aber ist es lauter … ja, ich will sagen, was ich meine; ist es wohl lauter –. Sinnlichkeit von seiner Seite? Ist es so? Können die Männer so sein? Die besten unter ihnen?

Tymme hatte die Stirn gerunzelt. Was er sagen sollte, wußte er nicht. Haß und Bitterkeit gegen Holmer waren in seinem Herzen, Verachtung gegen sich selbst; eine peinliche moralische Verwirrung.

Eine Bauernfrau ging mit ihrer erwachsenen Tochter vorüber. Sie wandten die Köpfe ab, augenscheinlich, um nicht grüßen zu müssen, und als das Mädel trotzdem neugierig zurückschaute, bekam sie von der Mutter einen Puff.

Die Abenddunkelheit brach herein. Aber ein noch dunklerer Schein legte sich über Friederikens Gesicht.

Ein langgedehntes Pfeifen ertönte über die Ebne. Nun kommt er, sagte Friederike und erhob sich etwas fieberhaft. Ihre Wangen färbten sich mit einer schwachen Röte – Tymme sah, wie schön sie war; er sah, sie liebte –, und seine stumme Erbitterung nahm zu. Ein Rollen und ein Sausen, bald gedämpft, bald stärker. Ein leises Zittern der Erde – da gleitet der Bahnzug am Horizont vorüber, Wagen auf Wagen, Licht an Licht. Zuvorderst starren die glühenden Augen der Lokomotive gierig durch das Halbdunkel, bald ein Auge, bald zwei, nun wieder eins – wie eine Schlange, die blinzelt – eine schwarze ungeheure Schlange, die auf irgend eine in der Dunkelheit verborgne Beute losschießt. Ein paarmal scharfes Pfeifen, ein langgedehntes Zischen; die Schlange vermindert ihre Eile und hält an.

Menschenstimmen und geschäftige Laute dringen durch die stille Luft zu den Lauschenden.

Ein trillernder Pfiff, dann ein kurzes, gräßliches Heulen, ein Poltern und Sausen – und weiter schiebt sich die Schlange.

Wenn er heute abend mit kommt, fügt Friederike ihrer letzten Bemerkung hinzu; gestern kam er nicht.

Tymme streckt die Hand zum Abschied aus. Gehst du nicht ein Stückchen mit – bis wir ihm begegnen?

Friederike schüttelt den Kopf. Aber du; kannst du nicht heute abend da bleiben?

Dazu konnte sie ihn jedoch nicht überreden, aber er versprach, die zehn Minuten bis zu Holmers Ankunft noch dazubleiben. – Das Zusammentreffen könnte ja doch nicht umgangen werden, dachte er.

Die zehn Minuten vergingen, dann wanderten ein Paar Menschen vorüber; Holmer war nicht darunter. Friederike begann nervös zu werden. Heute wieder, murmelte sie.

Es ist übrigens eine Schande, sagte Tymme; der Ton war zwar ziemlich zahm, aber es kochte in ihm. Nun adieu, Frie, jetzt kann ich nicht länger warten, wenn ich den Zug noch erreichen soll.

Sie gaben sich die Hand. In den frühern Tagen hätten sie sich bei einer solchen Gelegenheit einen Kuß gegeben; nun nicht mehr – den Grund dieser Veränderung fühlten beide, aber die geringste Bemerkung darüber hätte einem Strom von Bitterkeit und Schmerz, der von beiden mit Mühe zurückgehalten wurde, den Weg geöffnet.

O, sagte Friederike so fröhlich sie konnte, er hat ja seine Geschäfte, die er besorgen muß. Wir müssen ihn entschuldigen.

Tymme verlor sich im Halbdunkel, aber in demselben Augenblick hörte Friederike Stimmen oder Laute, wie von zwei Männern, die einen kurzen Gruß wechselten, und gleich darauf nahende rasche, energische Schritte. Sie sprang auf.

Amica, Amica! erklang es. – Bist du es, antwortete sie. – Ja, habe ich dich warten lassen; hast du dich um mich gesorgt? – Sie merkte an seiner Stimme, daß er froh, daß er verliebt war. Einen Augenblick dachte sie daran, ein wenig zu schmollen, war aber zu aufrichtig und zu sehr von Liebe erfüllt, als daß sie etwas andres hätte thun können, als ihm entgegen eilen und ihre Arnie um seinen Hals schlingen.

Amica, ich glaube fast, du weinst, sagte er ein wenig ärgerlich. Nun, fügte er hinzu, das ist wegen gestern; ja ja ja. Aber nun wird mein Wegbleiben bald aufhören, denn …

Lieber Freund, nein; ich kann ja recht gut verstehn – du darfst mir nicht böse sein –, es ist hier so schrecklich einsam ohne dich.

Amica, du siehst so süß aus, daß ich noch einen Kuß haben muß. – Rate, warum ich heute etwas spät komme? – Ich bin noch bei Mads Hansen gewesen.

Gekündigt? fragte sie mit strahlenden Augen. Er nickte.

Wie froh sie wurde! – Und nun gestand sie ihm einen Teil ihrer qualvollen Gefühle hier draußen. Sie schrieb sie der Einsamkeit zu, der Jahreszeit, der Häßlichkeit des Orts und so weiter; aber daß die Bauernfrauen sie nicht grüßen wollten, und daß sie kein ordentliches Dienstmädchen bekommen konnte, das verschwieg sie. Sie sehnte sich, sagte sie, nach Menschen, nach Umgang, nach weiblicher Gesellschaft, nach etwas Leben, ein wenig Freude, etwas … (Achtung, hätte sie gern gesagt, aber das Wort blieb ihr mit einem Gefühl des Schmerzes im Halse stecken.)

Holmer, der ihre Wirtschaft hier draußen selbst als etwas Unerträgliches betrachtete, gefiel das entsprechende Gefühl bei ihr doch nicht recht. Seine Liebe sollte ihr genug sein, aber nicht umgekehrt. Nun, sagte er mit der Nachsicht oder dem Darüberweggehn, die augenblickliche Verliebtheit mit sich bringt. Ja, das ist auch ein Hundeloch, dies hier.

Sie sprachen über die Zukunft miteinander. Er hatte in der Nähe der Valby-Vorstadt eine Villa gemietet; das war die Überraschung, die er ihr heute mitbrachte. In einer Woche würde alles imstande sein; dann würden sie hineinziehn, sie wollten der Welt keck ins Auge schauen, und welcher Umgang! den besten Teil der Gesellschaft! begabte freisinnige Männer –

Und Damen? Wirkliche Damen? fragte sie.

Einige, o ja, sagte er mit einem Lächeln, das, wie fein es auch war, doch Friederikens Aufmerksamkeit nicht entging – worauf sich ihre stürmischen Hoffnungen wieder mit ängstlicher Beklommenheit vermischten.

Amica, dein Gesicht ist wie ein Himmel, an dem die Wolken allzuoft über die herrliche Sonne hinziehn.

Ich habe nicht gewußt, daß du ein Romantiker seist.

Nicht? – Doch, im Privatleben – und zum Beweis dafür sieh hier die zweite Überraschung! Er zog etwas aus der Rocktasche und hielt es in dem am Horizont noch schwach leuchtenden Tage in die Höhe. Tokaier, Geliebte, die zugepfropfte Romantik selbst! Feurig wie die ritterlichen Sohne Hungariens … Was hast du dazu, sage!

Nur Butterbrot und so etwas.

Er rümpfte die Nase, aber sie sah es nicht, denn sie zündete eben die Lampe an und war im Zimmer beschäftigt. Was ist übrigens Hungarien? fragte sie inzwischen, denn sie ließ keine Gelegenheit vorübergehn, etwas zu lernen.

Ja, da haben wir es, sagte Holmer ärgerlich – er glaubte, er sei es über ihre Unwissenheit, in Wirklichkeit aber war er es über das Butterbrot. Friederike hörte es nicht; sie war von dem Dienstmädchen eilig in die Küche gerufen worden. Draußen hörte er sie sagen: Vorsichtig, daß er nicht zerbricht! Er spitzte die Ohren und glaubte einen brodelnden Laut zu vernehmen.

Bitte, zu Tisch! sagte sie fröhlich, und hinter ihr trug das Mädchen einen dampfenden Brassen herein und stellte ihn auf den gedeckten Tisch. Was sagst du dazu? Friederike sah ihn an, voll Erwartung auf ein kleines Lob. Er hätte gern gesagt: Paßt nicht zum Tokaier; aber sie war in diesem Augenblick so hinreißend schön, daß …

Bitte, hübsch küssen! sagte sie.

Bald nachher, als sie zusammen aßen, sagte sie: Nun, was war das mit dem Hungarien?

Er antwortete mit einem Scherz. Sie fragte wieder, er antwortete in demselben Ton.

Friederike wurde ernst. Sie legte die Gabel nieder.

Etwas kann ich nicht an dir leiden; du bist es mir schuldig, ernst zu sein, wenn ich dich etwas frage, um mich belehren zu lassen. – Du wußtest, wie ich war, als du mich nahmst, daß ich dumm war – nein, nicht dumm, aber unwissend … das – das hängt übrigens mit etwas zusammen, worüber ich vorhin mit Tym sprach, aber es ist so schrecklich peinlich … du wirst – nein, ich kann nicht.

Dann laß es sein, sagte Holmer etwas spöttisch. Er hatte gerade gemeint, Anerkennung zu verdienen, daß er während der Mahlzeit die Heiterkeit aufrecht erhielt, denn das Essen schmeckte ihm nicht – der Fisch war nämlich nicht ganz gar gekocht –, und nun Vorwürfe!

Als er dabei zu ihr hinsah, begegnete er einem Blick – nein, nur einem vorübergehenden Blitz oder Schein – von etwas, das ihm gegenüber früher noch nie bei ihr zu Tage getreten war: Trotz – nein, Trotz war ein zu starker Ausdruck, aber eine Selbständigkeit, ein Wille –

Das ist es, Heinrich, daß du dich nie mehr ordentlich mit mir unterhältst; die Art, wie du mich jetzt liebst – sie ist … sie ist … Heinrich, Heinrich, sagte sie mit aufsteigendem Weinen – aber es erstarrte in ihr, jedes Gefühl erstarrte in ihr, denn es kam ihr plötzlich vor, als sehe sie in seinen Augen, die auf ihr ruhten, eine solche Herzenskälte, eine so grundlose, so …

Nein, es war nicht möglich, es mußte eine Sinnestäuschung sein, sie wollte so etwas nicht sehen, denn sie liebte ihn. Lieber sich blindlings übergeben. – Heinrich, verzeih mir; sprich mit mir! Sie kniete vor ihm nieder.

Mit dir sprechen? – Nun ja, dein Fisch ist noch ziemlich roh.

Aber dann, da er meinte, daß diese Strafe genüge, und sehnsuchtsvoll nach ihrem Lächeln und ihrer Liebkosung dazu, zog er sie an sich und setzte sie aus seinen Schoß.

Mein süßes Mädchen – wir wollen niemals Szenen aufführen; es ist kindisch. So, nun machen wir den Tokaier auf; trink, du Schöne, trink Hungariens Sonnenschein in diesem Weine – ja richtig: Hungarien ist Ungarn; weißt du vielleicht, was Ungarn ist? – Lächle nur, süße Amica. Küsse mich! Noch einmal!

Heinrich, wenn du mich nur liebst, dann ist es beinahe einerlei, wie – obgleich –

Obgleich, was?

Obgleich nichts, antwortete sie und erwiderte leidenschaftlich seine Liebkosungen.

Achtes Kapitel

Von der alten Heimat

 

Tante Gine war im Lundbyvester Pfarrhaus geblieben. Nach Pfarrer Lemvigs Tode hielt sie während des darauffolgenden mehrmonatigen Interregnums dort haus. So wurde nämlich diese Zeit von Pastor Hansen genannt, den Gine vom ersten Tage seiner Ankunft an unterjocht hatte, während sie übrigens gut für ihn sorgte. Dann kam das große Ereignis: Friederikens Flucht, die die treue Seele furchtbar erschütterte. Besonders als sie merkte, daß Tymme nichts thun wollte, war es ihr, als ob alles sie im Stich lasse, und die Welt dem Untergänge nahe sei.

Das war eine böse Zeit für Pastor Hansen, diese letzten Wochen seines Vikariats. Sie forderte ihn im Namen der Religion und der Tugend auf, in die weite Welt hinauszuziehn, Friederike zu suchen und heimzubringen, und wenn es nötig sein sollte, eigenhändig deren Verführer niederzuschlagen. Und als der milde, sanftmütige Mann, der sich nur danach sehnte, aus seiner neuen kleinen Pfarrei in Jütland mit seiner jungen Braut vereinigt zu werden, als er mit einer gewissen Bestimmtheit die Aufforderung ablehnte, da überhäufte ihn Gine mit Scheltworten und behandelte ihn von da an mit unverhohlener Geringschätzung. Hierauf wollte sie selbst – sie wollte auf die Polizei, zum König, zum Reichstagspräsidenten, an das Reichsgericht – nur irgendwo hin, denn es hatte wirklich angefangen, ein wenig bei ihr zu rappeln. Hansen erzählte später seinen jütländischen Freunden, daß dieser Zeitabschnitt der schwerste seines ganzen Lebens gewesen sei, und daß er jeden Tag nahe daran gewesen sei, ebenso wahnsinnig zu werden, wie die schreckliche Person; aber dann sei endlich, Gott Lob und Dank, sein Nachfolger gekommen, und Friedenstage seien für ihn angebrochen.

Als der neuernannte Pfarrer, Propst Jens Fibiger, eines Tages Anfang November an dem Lundbyvester Pfarrhaus vorfuhr, fand er Gine dort vor. Sie machte ihm einen steifen Knicks und sah ihm fest in die Augen.

Sind Sie vielleicht – hm – Jungfer – eh, von der ich so viel gehört habe? fragte der Propst und betrachtete sie nicht ohne eine gewisse Ängstlichkeit.

Ja wohl, Herr Pastor Fibiger, ich heiße Gine, und ich wohne hier.

Hm, flüsterte der Propst.

Sie begleitete ihn durch alle Zimmer. Ehe der Tag zu Ende war, fand Propst Fibiger, daß er, welche Pläne er auch vorher gehegt haben mochte, gut daran thäte, diese fleißige und tüchtige Haushälterin, die jeden Winkel des großen Hauses kannte, zu behalten.

Was Gine anbelangte, so betrachtete sie es als ihr Recht und ihre Pflicht zugleich, auf dem Hofe zu bleiben, es machte kommen, was da wollte; sie legte sich nämlich eine Art älteres Eigentumsrecht bei.

So bekam sie denn wieder ein großes Feld der Thätigkeit – und das rettete ihren Verstand –, denn obgleich der Propst ein Witwer und kinderlos war, führte er doch eine ziemlich große Haushaltung; in seinen Räumen trieb sich fast immer eine Schar von Gästen herum, meist Verwandte von vielerlei Verwandtschaftsgraden, die hier eine willkommne Gastfreundschaft an dem großen wohlbesetzten Tische genossen.

Aber Gine betrachtete alle Veränderungen nach Mathias Lemvigs Tod als eine Art Ungesetzlichkeit, den Propst und seine Gäste mit eingeschlossen. Auch verhehlte sie diese Betrachtungsweise durchaus nicht und kämpfte im ganzen genommen tapfer gegen die Okkupation der »Fremden,« als letzter Repräsentant der Rechte einer vertriebnen Rasse. Sie hatte auch die Vorstellung, daß der Lundbyvester Pfarrhof gewissermaßen der Mittelpunkt der ganzen bewohnten Welt sei, und daß sie von da aus am besten imstande sei, auszuspähen und die aus der Oberfläche der Welt zerstreuten Kinder des seligen Mathis im Auge zu behalten. Ihre Lebensaufgabe war, das Erbgut des alten Geschlechts besetzt zu halten, bis es einmal in die Hände der rechtmäßigen Besitzer zurückkommen würde, und diese Aufgabe identifizierte sie auf komische Weise mit ihrem ewigen Kampf für den »schließlichen Sieg der Freiheit und des Rechts hier zu Lande« – der Propst gehörte nämlich zur Rechten.

Doch erfüllte sie nun ihre tägliche Aufgabe auch bei dem neuen Pfarrer mit vollkommner und pflichtgetreuer Tüchtigkeit. Der Propst konnte sie nicht entbehren, aber die Gäste waren ziemlich bange vor ihr.

*

Dank für die heutige Predigt. – Tausend Dank, Herr Propst. – Ach ja, ich war ganz gerührt in der Kirche.

Der Propst ist mit seinem Gefolge von Verwandten und Gästen von der Kirche nach Hause gekommen. – Er neigt würdig das Haupt. Nicht schlecht, nicht schlecht, sagt er. – Er meint aber nicht die Predigt, sondern den wohlbesetzten Frühstückstisch, den er parenthetisch mit den Augen gemustert hat. – Gute Lemvig! Der Lachs? der geräucherte?

Der ist gestern abend ganz aufgegessen worden, antwortete Gine, hier sind jetzt viele Mägen zu füllen.

Hm, antwortete der Propst. Er gebraucht diesen Laut, wenn ihm etwas nicht gefällt, er sich aber doch darein finden muß; es ist eine Art tiefes Brummen oder Singen mit stark absteigendem Tonfall. Hm.

Dann wollen wir diese guten Gaben hier hinnehmen. Alle setzen sich an den Tisch.

Rasmus Töllöse steht draußen in der Zwischenstube, sagte Gine.

Zwischenstube? fragt der Propst. Ach so, in der Garderobe.

Ja, Zwischenstube haben wir es nun immer in der guten Zeit genannt, und das thue ich auch, so lange ich lebe. – Rasmus Töllöse steht in der Zwischenstube. – Es muß bemerkt werden, daß Gine immer am Sonntag beim Frühstück besonders ärgerlich war, denn Pastor Lemvig Pflegte gleich nach der Kirche zu Mittag zu essen, während Propst Fibiger ein Gabelfrühstück haben und erst um vier Uhr zu Mittag essen wollte, was konservativ und gar nicht volkstümlich war.

Schon recht, sagt der gutmütige Propst, er kann doch wohl bis nach der Mahlzeit warten. Geben Sie ihm etwas zu essen und zu trinken, gute Lemvig.

Das habe ich schon lange gethan, antwortete Gine scharf. Das wäre ja schön, wenn der Tochtermann unsers Hauses hungrig von hier weggehn müßte. Niemals werden Sie mich dazu bringen, Herr Pastor.

Das habe ich ja gar nicht verlangt, gute Lemvig.

Gine geht in Haushaltungsangelegenheiten ab und zu. Sie stellt den Kaffee auf den Tisch, während sie brummt: Niemals wurde Kaffee mit Brot dazu um diese Zeit des Tages hier getrunken, in einem Pfarrhaus. Nun, das waren andre Zeiten damals.

Der Propst – zu der Gesellschaft: Nun, meine Predigt heute hat Ihnen also gefallen? Alle beeilten sich, es ihm aufs neue zu versichern. Der, der vorhin »ganz gerührt« gewesen war, wiederholte diese glückliche Wendung. Einer der armen Verwandten, auf dem das Auge des Propsts jetzt gerade weilte, glaubte in diesem Blick einen Vorwurf zu lesen und beeilte sich errötend zu versichern: Ich habe Ihnen vorhin auch schon gedankt.

M. – Der Propst gebrauchte den M-Laut auch als ein Zeichen der Anerkennung, zum Beispiel bei der Einkassierung eines Kompliments, aber der Ton war dann nicht so tief und ein wenig kürzer. – M.

Einer der kecksten und am nächsten verwandten Gäste sagte: Mit Recht legtest du den Nachdruck auf die Worte: »Und es war viel Gras an dem Ort.« Hat einer von euch andern jemals so viel in diese anscheinend so einfachen Worte legen hören?

Ein verneinendes Gemurmel erhob sich rund uni den Tisch. Eine ganz junge Dame flüsterte ihrer Mutter zu: Was war es denn, was das Gras bedeuten sollte? Die Mutter, ebenfalls flüsternd: Schweig still und schäme dich. Aber der Propst hatte die Frage doch gehört.

Das viele Gras, woraus die fünftausend saßen, kleine Gusta, das sind die angenehmen und guten Verhältnisse. Nicht wahr, wir möchten ja alle gern, bildlich gesprochen, so in dem fetten Grase sitzen, es gut haben, irdisch gesprochen – darum wohl uns, wenn wir auch Anteil bekommen können an den geistlichen Gütern des Herrn, die …

Die fünf Sinne sind, beeilte sich Gustas Mutter zu sagen, sehr erfreut über ihr gutes Gedächtnis.

… zum geistlichen Gebrauch, ja; so legte ich die fünf Roggenbrote aus; während dagegen …

… die beiden Sakramente, unterbrach ihn zu früh ein eifriger Vetter, der von Gustas Mutter nicht in den Schatten gestellt werden wollte.

… während dagegen die beiden kleinen Fische, fuhr der Propst wuchtig fort …

Fische, meinte ich natürlich; um Vergebung.

Fische, ja, die beiden Sakramente bedeuten, ganz gewiß. Denn gleich wie bei einer irdischen Mahlzeit der Fisch das Hauptgericht ist, wobei das Brot nur als Zugabe zu rechnen ist – so, glaube ich, habe ich mich ausgedrückt? …

Wörtlich so, sagte einer.

Ja, da war es, wo ich so gerührt wurde.

M – so ist es auch …

Hier murmelte Gine, aber leider für alle vernehmlich: Mir kommt es wie ein leeres Geschwätz vor. Es konnte indes ignoriert werden, denn sie verließ in demselben Augenblick das Zimmer. M – m, sagte der Propst, womit er seinen Vortrag abschloß.

Nach einer kurzen Pause sagte der Nächstverwandte, um den Gastgeber ein wenig aufzumuntern: Die Predigt des vorigen Pfarrers soll nach dem, was man hört, etwas frei gewesen sein, etwas nach der Seite, was man »volkstümlich« nennt. – Er war der einzige der Anwesenden, der außer dem Propst richtig laut und ohne Scheu redete, aber es war doch etwas gezwungen. Er schielte zu dem Propst hin, um einen Blick des Beifalls zu erhaschen.

Frei oder nicht frei, antwortete dieser, volkstümlich oder nicht volkstümlich, es lehrt jeder nach dem Geist, den Gaben, dem Pfund, das der Herr ihm zu verwalten gegeben hat.

Nach einer kleinen andächtigen Pause unterbrach Gustas Mutter das Schweigen:

Wie reizend ist es, hier am Tisch zu sitzen und über geistliche Dinge zu reden; so soll es in einem rechten Pfarrhaus sein, meinst du nicht auch, Gusta?

Ja, antwortete Gusta.

Von Ihrer Lehre, lieber Propst, könnte das jüngere theologische Geschlecht gewiß viel lernen, sagte eine andre Mutter, die bisher geschwiegen hatte; mein Adolf, der selbst Theologie studiert, spricht so oft davon, wie schön es wäre, wenn …

Aber die praktische Gine, die augenblicklich verstand, worauf es hinzielte, unterbrach sie, indem sie sagte:

Alle unsre Betten sind belegt.

Als das Frühstück vorüber war, ging der Propst in sein Zimmer, wo sich alsbald auch Töllöse einfand.

Nun, mein guter Töllöse?

Ja, zuerst muß ich wohl dem Herrn Propst für seine trostreiche Predigt danken.

Töllöse ist also heute im Gotteshaus gewesen?

Lieber Gott, Herr Propst, der Herr Propst wissen doch selbst, daß es keinen Sonntag giebt, wo ich nicht in der Kirche säße – Sie brauchen nur den Küster danach zu fragen –, es wäre denn, daß ich daheim bei meiner kranken Frau säße und sie mit dem Worte Gottes tröstete, Gott seis geklagt.

Das muß ich Ihnen aber doch sagen, guter Mann, daß Sie keinen so unbedingt guten Leumund haben, gerade in kirchlicher Beziehung.

Da haben der Herr Propst ganz recht, ja, das war aber – Sie wissen es selbst, zu Zeiten des vorigen Pastors. Aus der Zeit stammt mein Ruf und noch vieles andre, Gott bessere es, denn gerade heraus gesagt, da war nicht diese Freude am Gotteshaus wie jetzt. Damals war ich nicht der Mann, der ich jetzt geworden bin, lange nicht, aber dafür bin ich Gott und dem Herrn Propst dankbar.

M. – Aber was hat Töllöse sonst auf dem Herzen? Ein geistliches Anliegen? Eine Anfechtung?

Ja, Herr Propst, es ist eine große geistliche Anfechtung. Ich habe das, was man einen häuslichen Krieg nennt, und werde aus meiner Stellung hinausbakottiert. Die Leute haben mir ihre Kundschaft entzogen, ich sitze wegen meiner politischen Überzeugung brotlos da, und sie haben sich gegen mich verschworen, daß sie bei mir kein Schuhwerk mehr machen lassen wollen, sondern zu dem andern gehn, zu Knudsen, wegen der politischen Überzeugung, Herr Propst.

Aber ist es denn nicht auch, weil – mir selbst scheint es so, Töllöse, als ob meine Schuhe nicht immer.

Nein nein, Herr Propst, das ist nur, weil Knudsen ein Linker ist und ein Radikaler, darum ist es, Herr Propst.

Weint nicht, weint nicht, lieber Töllöse. – Aber ich kann nicht verstehn – gehören Sie denn nicht selbst zur Linken? so heißt es wenigstens.

Herr Gott, nein; aber meine Frau, ja sie ist ein Linker, daher kommt es.

Ja, aber wie kann –

Ja, damit ist es gerade wie mit dem andern auch. Es stammt alles aus jener Zeit. Denn der vorige Pastor, der ging mir so um den Bart mit meiner Poletek –

Um den Bart gehn, ist ein häßliches Wort, Töllöse.

Ja, da hat der Herr Propst Recht, denn der vorige Pastor, von dem ich meine Frau habe, wo ich aber um die Erbschaft betrogen wurde –

Nichts davon, Töllöse!

Nein, nicht so viel, als unter den Nagel geht – aber er machte es eben doch, wie ich vorhin sagte – er hatte es immer mit meiner Poletek, und da wurde ich ein Linker, denn unsereiner hat nicht den Verstand, den man haben sollte; aber nun ist es in diesem Stück hier im Ort besser geworden wie in andern Stücken auch …

M.

– und dann sind einem ja die Augen für die Erkenntnis der Wahrheit aufgegangen, und nun kommt keine andre Zeitung mehr in mein Haus als die »Gesetzmäßigkeit,« und ich bin beweislich ebenso königstreu wie irgend ein andrer im ganzen Ort, Herr Propst, denn das kann ja jeder mit einem Auge sehen, daß wenn Gesetzlichkeit im Lande herrschen soll, so muß es auf provisorischem Wege geschehen, und mit der Gleichberechtigung der Güter und der Beobachtung der Vorschriften und …

Gut, gut, gut, lieber Töllöse – und Ihr glaubt also, daß Ihr um dieser Eurer Überzeugung willen verfolgt werdet?

Ja, Herr Propst, das ist leicht festzustellen, denn ich kann beweisen, daß ich oft nichts zu essen im Hause habe – und meine Frau, sie macht Ansprüche, sie ist ja auch von bessern Leuten, und so eine kann sich nicht immer nach der Decke strecken, und dann sind da auch die Arzneien für sie, die Geld kosten, denn sie liegt zu Bett, Gott seis geklagt …

Faßt Euch, faßt Euch, Töllöse …

– und vier Kinder, Herr Propst, und … das Vaterherz … und … alles das …

Töllöse, hier habt Ihr zehn Kronen, ich kann es nicht ertragen, daß – Aber wartet noch ein wenig, Töllöse, es heißt auch, daß – eh – daß – Ihr nicht immer gut gegen Eure Frau seiet, ist das wahr?

Nein, das ist auch so eine Lüge, und sie kommt daher, daß ich ihr ins Gewissen rede und ihr Gottes Wort vorlese, denn sehen Sie, Herr Propst, sie will es nicht annehmen.

Annehmen?

Ja, den Glauben annehmen; sie verhärtet sich gegen Gottes Wort, und dann muß man ihr doch ins Gewissen reden.

Soll ich da nicht lieber selbst kommen und …

Lieber Gott, nein, dann redet sie Ihnen einfach nach dem Munde und macht dem Herrn Propst etwas weis.

Hm. – Ja, dann müßt Ihr Euch eben im Gebet an den Herrn wenden, daß er der verirrten Seele doch die Augen öffnen möge.

Amen, antwortete Töllöse und faltete die Hände. Aber nun bedanke ich mich auch schön; ja, der Herr Propst sind allerdings ein ganz andrer Mann …

M. – Wartet ein wenig, Töllöse; man sagt – man sagt auch andres Schlechtes von Euerm Lebenswandel … ich meine wahrhaftig selbst … er machte eine Bewegung mit der Nase, als röche er … Aber das ist möglicherweise ein Irrtum –

Ja, das ist allerdings ein großer Irrtum, denn es ist bei meiner Seligkeit kein Branntwein über meine Lippen gekommen, seit ich bekehrt worden bin; der Herr Propst kann ja selbst an meine Kleider riechen; das ist lauter Kampfer und Tropfen, denn daheim ist es immer voll von Arzneien – nun, so empfehle ich mich …

Nein, Töllöse, ich muß Euch alles sagen. Es heißt auch – der Propst errötete und senkte die Stimme –, man sagt auch, daß Ihr einen liederlichen Lebenswandel führt.

Lebenswandel, wie?

Daß Ihr Eurer Frau untreu seiet – hm – mit andern Frauen …

Ich, Herr Propst, ich? – Nein, da kann ich für mich und den ganzen Ort und das Filial dazu einstehn, denn das giebt es nicht, das kann ich vor Gott bezeugen, denn was Gott an Liederlichkeit hat wachsen lassen, das giebt es gar nicht mehr, seit der Herr Propst Fibiger gekommen ist, die Sorte ist wie weggeblasen. Wie könnte auch so etwas noch gedeihen bei der Lehre, die wir jetzt haben? In den alten Tagen war es nicht so, aber es sind uns in diesem Stück die Augen aufgegangen wie in andern auch. – Und das ist ganz leicht beweislich, denn ich habe gerade am vergangnen Abend mit dem Schmied darüber geredet. Nein, dergleichen kennen wir nicht. – Leben Sie wohl, Herr Propst.

Aber das junge Mädchen, das bei Ihnen daheim ab und zu geht …

Aber das ist doch nur ein Geschwisterkind von mir, das ein wenig in der Wirtschaft hilft in äußerster Zucht und Ehren, wie der Schmied beweisen kann.

Na ja! Ich glaube Euch, Rasmus Töllöse, und nun sei der Friede Gottes mit Euch, und seid des rechten Wegs eingedenk.

Ja, darauf können sich der gute Herr Propst Fibiger verlassen.

*

Draußen im Hof ging Gine ihm nach. Wie steht es daheim?

Ja, wie sollte es anders stehn als schlecht, denke ich.

Hat sie viel Schmerzen?

Was zum Teufel weiß ich davon, wahrscheinlich.

Sag ihr, ich werde mit den zwei Kronen von mir kommen, die ich ihr gestern versprochen habe; ich glaube, daß ich sie entbehren kann.

Kannst du sie mir nicht mit heim geben?

Nein, ich traue dir nicht, du bist ein schlechter Kerl, Rasmus, du riechst nach Branntwein.

Er sah sie mit einem bösen Funkeln seiner kleinen Augen an.

Ich habe von dem Pfarrer wahrhaftig zehn Kronen herausgeschunden, hi. – Er vermutete, sie werde es doch erfahren, deshalb sagte er es.

Herrjemine! Dann gieb sie doch gewiß Karoline, Rasmus.

Ich habe mich bei Gott zu einem echten und rechten Konservativen gemacht, hi – für den Tropf –, und du kannst meinethalb gern mit ihm darüber reden.

Ja, das werde ich thun. Das darf nicht sein, es ist schändlich von dir. Er ist ein guter Mann – ja, ich gehe jetzt gleich zu ihm und erzähle ihm, wie du ihn angelogen hast.

Ich habe gar nicht so arg gelogen; ich kann ebensogut zur Rechten wie zur Linken gehören, das ist mir ganz Wurst. Aber du gehst nicht zum Pfarrer!

Jawohl, ich gehe.

Nein, du thust es nicht, meine liebe Gine, denn wenn du es thust, dann geht es Karoline schlecht, der Teufel soll mich holen, ganz gewiß. Und mit einem äußerst unheilverkündenden Grinsen ging er seiner Wege.

Gine sah ihm nach; sie preßte heftig die Hände ineinander vor ihrer Schürze.

Neuntes Kapitel

Holmers Villa

 

Es war ein großer und plötzlicher Übergang für Friederike gewesen, als sie in Holmers neue Villa in Valby eingezogen war.

Hier bekam sie Umgang genug.

Zum größten Teil waren es Herren. Meist Litteraten, aber auch Künstler und einzelne Politiker, unter ihnen einige bekannte Männer, ein paar sogar, die fast Berühmtheiten waren. Friederike hatte allerdings mehr von ihrer Unterhaltung erwartet, als sie gewährte, aber die meisten von ihnen schienen im Privatumgang etwas matt und schlaff zu sein; vermutlich sparten sie ihr Pulver für ihre Feder oder für ihre Pinsel oder für die Tribüne auf und sahen die Geselligkeit für ihre Ruhezeit an. Sie verrieten da jedenfalls sehr wenig Originalität und zeigten selten Ecken oder Rauheit in ihrem Betragen; etwas kritisch und kalt, bei Tisch eine etwas erhöhte Temperatur, gute Esser.

Als sich Friederike nach der ersten großen Gesellschaft, die das Paar gegeben hatte, gegen Holmer etwas enttäuscht über diese Gäste aussprach, sagte er: Warte nur, bis wir eine junge Gesellschaft geben, da wirst du die richtigen Typen sehen, die, die noch nicht verwischt sind.

Zu der jungen Gesellschaft kamen Studenten oder solche Herren, die noch keine Stellung in der Welt hatten, doch auch eine Anzahl älterer Herren, die aus irgend einem Grunde zu diesem Teil des Holmerschen Kreises gerechnet wurden.

Da sah Friederike also die Typen, die Idealisten in verschiednen Abstufungen: den titanischen Gesellschaftstürmer, dessen Worte wie Lawinen polterten, und dessen Seele von Entrüstung erfüllt war; und den »Negativen« – jede seiner Mienen war Hohn, jedes Wort kalter Spott; und den stillschweigend verzweifelnden Jüngling, ein Opfer seelischer Qualen unaussprechlichen Weltschmerzes. Diese drei Arten flößten Friederike im Anfang lebhaftes Interesse ein, aber später mißtraute sie der Echtheit ihres Wesens und wurde darin durch Holmers eigne Bemerkungen über sie bestärkt. Besser hielt sich der naive Cyniker, ein ältlicher litterarischer Gassenjunge, der die plumpsten Dinge sagte, aber mit einer so kindlich aufrichtigen Freude daran, daß er trotz seines schallenden Gelächters einem beinahe liebenswürdig vorkam. Er war schon in den Fünfzigern, aber der Junge in ihm erhielt sich, wie die Scheibe einer halbrohen gelben Rübe in den Mixed Pickles. In der Litteratur war er wie ein wilder Stier, im Privatleben dagegen war er gutmütig und verletzte niemand, ausgenommen die Anständigkeit. – Ein sehr hervortretender Herr war der poetus laureatus der Gesellschaft, ein Mann, der in seiner Dichterseele die verschiedensten Typen abspiegelte. Er war periodisch Gassenjunge, Spötter, Titan, »zerrissen« und vieles andre dazu; das Ganze gab ein knochenloses, gliedertierartiges Wesen ohne eigentliches eignes Selbst. Er pflegte – zu seiner großen Verwundrung – immer gerade mit der Person in Streit zu geraten, mit der er gerade anbändelte, ebensobald mit dem richtigen Gassenjungen wie mit dem richtigen Titanen und so weiter, hätte aber doch – hilflos wie er bei solchen Kämpfen war – ertragen werden können, wenn er nicht bei seinem unablässigen Knospentreiben oder seinen Selbstentwicklungen immer auf eine lärmende selbstzufriedne Weise auf die Aufmerksamkeit und Bewundrung aller Beschlag gelegt hätte durch seine prahlerischen Ankündigungen von jeder neuen Moral und jedem neuen Kultus, dessen Mittelpunkt er selbst war, oder richtiger gesagt, wobei er das letzte Glied des Wurms war. Auch was die Liebe anbetraf – er liebte fachmäßig – verlangte er bei seinen wechselnden zärtlichen Anfällen auf taktlose Weise die öffentliche Aufmerksamkeit. Als Dichter war er ein unübertroffner Dolmetscher unbestimmter Gefühle, ein gewandter Versemacher, aber ein schwächlicher Geist; Holmer zog aber doch im Dienste seiner Partei keinen kleinen Nutzen aus ihm.

Unter all diesen wilden Tieren des Waldes war Holmer der Löwe, und Friederike sah mit Stolz, daß alle seine Überlegenheit anerkannten. Diese hatte er kraft der größern Männlichkeit seines Willens, der Klarheit seines Verstandes, der Sicherheit seines Zieles. Dieses Ziel war, kurz gesagt: die Lebensanschauung der neuen Generation in moderner Richtung hin umzuwälzen. – Wohl hatte er bis jetzt noch nichts Monumentales hervorgebracht – er war ja auch noch jung –, aber es wurde von ihm erwartet, daß er es thun werde. Große Arbeit ging täglich durch seinen Kopf oder seine Hände: die Richtung der Parteibewegung, die Schlachtpläne und dergleichen wurden meistens von ihm angegeben. Er war es auch, der die Begeisterung der Partei erweckte und damit die Quelle der Arbeitskraft. Wenn zum Beispiel der Titan für die Partei wütete, wenn der Cyniker für die Partei verblüffte, der Spötter für die Partei höhnte und so weiter, dann waren es meistens Worte aus Holmers Mund, der ihnen etwas gegeben hatte, worüber sie stürmen, verblüffen und spotten konnten. Nebenmänner im Kommando duldete er nicht, wenn er bei jemand solche Bestrebungen witterte, so unterdrückte er ihn entweder, wie er es bei Bramsen machte, oder er schloß ihn aus dem »Kreise« aus.

Und nun die Damen. Obgleich ein großer Teil der Damenwelt der Hauptstadt, besonders der jüngere, den modernen Anschauungen huldigte und sich für Holmer begeistert zeigte, so oft er als öffentliche Person auftrat, war es doch auffallend, wie wenige davon eigentlich zu seiner Gesellschaft im engern Begriff gehörten. Dem Mangel einer Wirtin war ja nun durch Friederike abgeholfen, die ganz gewiß in jeder Beziehung der Schmuck der Zimmer und der Tafel war, und deren losere Verbindung mit dem Wirt ja eigentlich eine freigeistige Frau nicht abzuschrecken brauchte. Aber trotzdem: die der Herren, die verheiratet waren – richtig verheiratet –, konnten ihre Frauen nicht gut veranlassen, mitzukommen, denn wie freigeistig diese auch von Anfang an gewesen sein mochten oder es im Ehestand geworden waren, so hatten sie eben doch ihre Vorurteile und wollten nicht gern mit den unverheirateten Damen zusammen sein, die regelmäßig dorthin kamen. Auch nicht – wie Friederike bald mit großer Bitterkeit merkte – mit ihr. Die andern unverheirateten aber hatten ein Benehmen und sprachen in einem Jargon, die von Anfang an Friederike so peinlich berührten, daß sie es nicht aushalten konnte, mit ihnen zusammen zu sein, besonders wenn sie sie als ihresgleichen betrachteten – selbstverständlich.

Wie die Schönste dem Stärksten zufällt, so war Friederike Holmer zugefallen. So süß dieses Bewußtsein für die niedrigere Seite der Natur des Weibes ist, so demütigend ist es für die edlere, dies mußte sich Friederike aufdrängen, wenn sie die Art der Huldigung sah, die die Männer ihr zu teil werden ließen. Da sie sich bewußt war, weder über große Kenntnisse, noch über haushälterische Tüchtigkeit zu verfügen – obgleich sie sehr viel las, um mitzukommen, und sich – gegen ihre Natur – zum Kochen und zu wirtschaftlichen Verrichtungen zwang –, auch über keine »Fertigkeiten« – die Mutter hatte ein wenig mit ihr Klavier gespielt, als sie ein ganz kleines Mädchen war, aber Tante Gine hatte derlei verachtet, und der Vater war vollständig unmusikalisch gewesen –, so fühlte sie um so stärker, daß die Galanterie der Herren nur ihrer Schönheit galt. Sie machten ihr auf eine Art den Hof, als ob sie sagen wollten: Entzückende Frau, jetzt gehörst du Holmer, worein wir uns leider finden müssen, aber Tod und Teufel, wenn du mein wärest! Das empörte sie, aber Holmer schmeichelte es offenbar, was sie dann wieder schmerzte. Wenn auch der Ton ihr gegenüber nicht gerade frivol war, so wußte sie doch, daß die Anschauung es war – sie mußte es ja unter anderm aus den Büchern wissen, die sie schrieben.

Holmers Villa war der Mittelpunkt der Geselligkeit des Kreises, andre der Herren gaben wohl auch Gesellschaften, aber weder so große noch so häufige. Aber warum denn all diese Menschen zusammen einladen? dachte Friederike bald. Was sie von dieser Geselligkeit erwartet hatte und für sich nötig gehabt hätte, nämlich Erweiterung ihrer Kenntnisse, Bereicherung ihres Geistes, fand sie nur in geringem Maße, nur Holmers Worte, so schien es ihr, waren es wert, im Gedächtnis behalten zu werden – aber wozu dann die andern?

Bisweilen nahm die Geselligkeit einen lärmenden und ausgelassenen Charakter an, von Bacchus entflammt, Venus im Hintergrund. Holmer duldete es, indem er sich selbst passiv dabei verhielt; wenn aber der Ton allzu unbändig wurde, billigte er es, daß Friederike sich zurückzog. Die Rolle, die von ihr verlangt wurde, war allein die der liebenswürdigen Wirtin.

Wenn die Temperatur nicht bis aufs unbändige Stadium gestiegen war, drehte sich das Gespräch häufig um Kunst und Litteratur und dergleichen – und wie eifrig lauschte da Friederike in der ersten Zeit! Aber wenn Holmer nicht selbst das Wort führte, drehte sich die Unterhaltung meist um einzelne Wendungen und Schlagwörter, oder sie wurde zur Selbstverherrlichung – wie bei dem knochenlosen Dichter –, auch manchmal zu gegenseitiger Schmeichelei – dann aber mit einem gewissen Gepräge, als sei es etwas, was zum Parteidienst gehöre, gerade wie die lobenden Zeitungsartikel, die dieselben Herren übereinander schrieben –, nach welchen notwendigen dienstlichen Geschäften sie sich dann häufig genug durch recht artige Streitereien erfrischten. Über Religion wurde natürlich auch viel gesprochen; es wurde gemeiniglich unterschieden zwischen »Religiosität« im allgemeinen, die einige Achtung zu genießen schien, und jeder positiven Religion, besonders der christlichen, deren Dogmen bald eine Sammlung der größten Thorheiten, die jemals von verrückten Gehirnen ersonnen worden seien, genannt wurden, und bald die schlausten Erfindungen, die von Spitzbuben hätten erdacht werden können, um die Gesellschaft in Gehorsam zu erhalten – nach welchen verschiednen Anschauungsweisen dieselben Dogmen bald mit wildem Haß als ein mächtiges Weltjoch, das abgeworfen werden müßte, bekämpft wurden, bald wieder – und von denselben Personen! – als eine kaum mehr vorhandne Lächerlichkeit, die vollends weggefegt werden müßte. – Über dem Ganzen schwebte die feste Überzeugung, daß die unter ihnen selbst herrschende Lebensweise und Lebensanschauung nicht nur die richtige, sondern auch die thatsächlich normale sei. Die außerhalb stehenden Widersacher waren einfach Heuchler, die in Wirklichkeit ebenso lebten und dachten wie die andern. Wohl wurde das Vorhandensein einzelner »Asketen,« die in gutem Glauben handelten, zugegeben, aber diese wurden für verrückt gehalten oder – wissenschaftlich betrachtet – für Beispiele eines mittelalterlichen Atavismus. – Die kleine Inkonsequenz gegenüber den christlichen Dogmen merkte man auch, wenn von den Widersachern draußen die Rede war: bald waren es einige wenige jämmerliche Überbleibsel eines geschlagnen Heeres, bald aber – und das sagten dieselben! – machten sie die ganze Gesellschaft aus, und in diesem Fall waren die Mitglieder der Clique die Verfolgten.

Dieser Geselligkeit und dieser Gaste wurde Friederike bald überdrüssig, sie kämpfte aber tapfer dagegen an und ließ sich nichts davon anmerken, vor allem Holmer gegenüber. Umsomehr aber klammerte sie sich mit ihrer suchenden Seele an Holmer allein an, indem sie krampfhaft an das Vorhandensein ihrer Art Liebe bei ihm glaubte, obgleich sie eben immer nur seiner Art begegnete. Sie wurde betrogen und wußte es beinahe selbst, wollte es aber nicht ganz wissen. Wenn sie an seine Liebe dachte, flüchtete sie sich immer – wie in eine Burg, die sie in ihrer Seele erbaut hatte – zu dem Glauben, daß »seine Liebe jedenfalls dauernd und bindend sei.«

Aus welchem Material hatte sie diese Burg gebaut? Mit welchen Worten aus seinem Munde, mit welchen Gelöbnissen? – Sie wußte es nicht, konnte sich auch an nichts erinnern; sie glaubte es, als eine Voraussetzung ihrer und seiner Verbindung, als etwas, das sein mußte, dessen Berechtigung auf Erden oder im Himmel vorhanden war, als etwas, woran zu zweifeln eine Entheiligung, ja lange daran zu denken geradezu eine Sünde gewesen wäre.

»Jedenfalls dauernd und bindend!« Und doch sah sie ja, wie andre Liebespaare ihres Kreises sich trennten oder vertauschten. Und doch hörte sie ja aus Holmers eignem Munde, daß dergleichen nur die konsequente Ausübung einer gewissen Lebensanschauung sei – der Lebensanschauung nämlich, für deren Verbreitung er der Anführer war.

Aber dann schloß sie die Ohren und die Augen ihres Verstandes und flüchtete in ihre selbsterbaute Burg.

*

Es war Abendgesellschaft bei Holmer gewesen; die Gäste waren eben gegangen.

Friederike sagte: Hör – könnten wir nicht, könntest du uns nicht von diesem – diesem – Waschlappen von einem Menschen befreien; er ist mir herzlich widerwärtig.

Diese schmeichelhafte Rede galt dem lorbeergekrönten Dichter der Partei. Er hatte sich kürzlich nach einem neuen Knospenansatz öffentlich als einen begeisterten Anhänger der – Enthaltsamkeitslehre der Kreutzersonate, so wie sie in der Nachschrift gepredigt wird, kundgegeben. Er hatte es in einem stimmungsreichen Gedichtcyklus gethan, mit Versen, die herrlich klangen, aber fast sinnlos waren; er hatte des weitern heute abend in Holmers Villa eine große gerührte Tischrede darüber gehalten. Seine, das heißt des Redners, letzte und vollkommenste Entwicklungsstufe sei nun erreicht, alle seine Phasen seien nur Vorbereitungen, nur Übergangsstufen dazu gewesen, die Stadien eines »großen Menschenlebens.« Habe er gepredigt, man solle genießen, so sei das nur ein Fingerzeig auf die Askese hin gewesen, habe er der Fleischeslust gelebt, so sei das nur die natürliche Vorbereitung zur Askese gewesen. Alles bei ihm sei eine harmonische Entwicklung zu der neuen Lehre hin gewesen, der er von nun an in Wort und That seine großen Kräfte weihen wolle. Ob sie darauf mit ihm anstoßen und sich im übrigen mit ihm über die Vollkommenheit freuen wollten? Wenn nicht, so war ihm das auch Wurst, er habe dann ja immer noch sich selbst; er stehe auf eignen Füßen, eine Welt dürfe ihm keine Gesetze vorschreiben, er sei ein Mann, ja das sei er.

Er ist mir herzlich widerwärtig, wiederholte Friederike.

Mir auch; aber ich brauche ihn – jetzt noch, antwortete Holmer.

Und dann ist da dieser – ja, es sind viele – aber dieser Bramsen haßt dich überdies, glaube ich.

Das weiß ich ganz gut.

Woher hat er die Schramme im Gesicht? – Warum gehst du eigentlich mit ihm um?

Ich brauche ihn, er ist mir nützlich.

Aber …

Aber! Mische dich nicht zu viel in meine Angelegenheiten.

Aber es sind doch auch die meinigen, antwortete Friederike mit einer gewissen Heftigkeit.

Nein.

Sie schwiegen beide einen Augenblick. Sie machte eine kleine Bewegung mit der Hand nach der Stirn, als ob ihr etwas geschehen sei, das sie nicht verstehn könnte, und das sie verwirrte. Hierauf sagte er ebenso ruhig und kalt wie vorher:

Du hast kein Verständnis für unser gegenseitiges Verhältnis, deins und meins. Ebensowenig hast du jemals zarte Andeutungen verstanden. Soll ich dir unsre Konten vorlegen, so wie sie in Wirklichkeit stehn?

Sie verstand ihn nicht, nein, gar nicht, aber ein Ausdruck wachsender Angst in ihrem Gesicht brachte ihn dazu, die Abrechnung für diesesmal zu verschieben. Sie denkt, ich wolle sie auf der Stelle verabschieden, dachte er. Das war aber durchaus nicht seine Absicht, er wollte ihr nur eine genaue Berechnung ihrer gegenseitigen Verpflichtungen und Forderungen vorlegen, so wie er sie immer betrachtet und vorausgesetzt hatte, damit sie sie nun auch so betrachtete oder mit der Zeit so betrachten lernte – aber es ging ärgerlich langsam mit ihrem Verständnis. Also: Erstes Konto: das Liebesverhältnis. Die Freude, die wir uns da gegenseitig gegeben und voneinander empfangen haben, könne wohl so berechnet werden, daß sie sich ausgleicht. Zweites Konto: sie giebt meinem Haus, meinen Gesellschaften und so weiter einen gewissen Glanz, ich gebe ihr Wohlleben, schöne Kleider, Schmuck. Auch das dürfte sich ausgleichen. – Aber durch mich ist sie aus der Armut emporgerissen worden, ohne mich hätte sie im höchsten Fall bei einer alten Tante das Gnadenbrot gegessen, ohne das Geringste dafür leisten zu können; ich habe ihr diese Demütigung erspart, das wird sich bei einem Mädchen von ihrem Stolz doch mit der Möglichkeit ausgleichen – auch nur eine Möglichkeit –, daß die Güllichs sie enterben könnten. In jedem Fall war es ja ihrerseits ebenso eine freiwillige Sache, wie meinerseits; sie konnte das alles selbst überlegen, ehe sie sich mir hingab. Mit welchem Recht will sie die Dauer eines Bandes fordern, wenn ich weder eine solche verlangt noch versprochen habe? Zum Überfluß will ich ihr ja nach der Trennung ein Auskommen sichern; wie viele thun das wohl?

Er war ärgerlich geworden. Es war ärgerlich, sie so anspruchsvoll zu finden, wenn die Abrechnung doch so stand, wie sie stand. Es ärgerte ihn auch, daß er nicht ganz offen mit ihr reden durfte, ohne eine Szene der schlimmsten Art zu riskieren.

Wir sind beide frei, sagte er. Ich wähle meine Gesellschaft, es steht dir ja frei, die deinige zu wählen. Wir sind beide frei, wiederholte er mit einem gewissen Nachdruck.

Ihr Blick verlor den starren Ausdruck der Angst. Sie hatte offenbar Schlimmeres befürchtet. Ihre Wangen bekamen wieder Farbe, und ihre Augen glänzten feucht, als sie weich antwortete:

Wie kannst du sagen, daß es mir freistehe, mir meine Gesellschaft zu wählen?

Ach, antwortete er, du empfängst doch am Vormittag einen – Menschen, der mir kaum gut ist; er müßte denn ein noch größerer Waschlappen sein, als für den ich ihn betrachte.

Meinst du meinen Bruder? fragte sie betrübt. Und so sprichst du, gerade du?

Gott bewahre – er mißverstand sie absichtlich. Gott bewahre! Ich verwehre dir ja nicht, zu empfangen, wen du willst. Ich sage dir ja gerade, wir sind beide frei. – Verstehe dies doch endlich einmal, fuhr er mit einer gewissen Schärfe fort. Wir – sind – beide – frei! – Und zugleich wandte er sich um, ging in sein Zimmer und schloß die Thür hinter sich zu.

Da wurde sie aufs neue von der unerträglichen Angst ergriffen, die in der letzten Zeit in kürzern oder längern Zwischenräumen über sie gekommen war.

Heinrich! rief sie flehend wieder und wieder zur Thür hinein. Heinrich, Heinrich! – Aber die Thür blieb verschlossen.

Sie flüchtete sich in ihre Burg: »es ist doch dauernd und bindend.« Diesesmal aber war es ihr, als fühle sie das Gebäude wanken und den Kies unter ihren Füßen weichen. Und sie empfand etwas wie einen kalten Hauch aus einem Abgrund, in den sie fallen müßte, oder wie das Schäumen von Wogen, die sie verschlingen müßten.

Schwere, kalte Wogen, die so gut alles zu verhüllen und auszulöschen vermochten, die so gut Vergessen und traumlosen Schlummer bringen konnten; eine gute Wiege zum Ruhen für ein unglückliches Menschenkind, das größeres Unrecht erlitten hat, als es zu tragen vermag. Ob ich es sein werde? flüsterten ihre Gedanken oder etwas, das noch besser flüstern kann als die Gedanken. Ob ich es sein werde?

Zehntes Kapitel

Propst Fibiger wird im Ernst erzürnt

 

Holmers Person gehörte der Öffentlichkeit an; seine Eroberung der jungen Schönheit vom Pfarrhof, die Flitterwochen in einer verborgnen Zufluchtsstätte irgendwo, schließlich das Aufgeben aller Scham und die Übersiedlung des jungen Paares nach Kopenhagen, wo sie förmlich ein Haus machten und große Gesellschaften gaben, all dies und noch vieles andre war seit langer Zeit das allgemeine Gesprächsthema innerhalb und auch außerhalb der Hauptstadt gewesen, zur Entrüstung oder Bewundrung der Öffentlichkeit, ganz wie gerade die jeweilige Öffentlichkeit gesinnt war. – Draußen in Lundbyvester hatten diese Geschichten dem Propst Fibiger Anlaß zu mehr als einer moralischen Abschweifung von der Kanzel herab gegeben, und manches entrüstete: Ach Gott! war von den armen Verwandten erklungen, die an dem großen Tisch in der Eßstube des Propstes die genauern diesbezüglichen Nachrichten besprachen, jedoch nur wenn Gine nicht zugegen war. Denn der gutmütige Mann nahm auf ihre wohlbekannte Anhänglichkeit an die Lemvigsche Familie Rücksicht. Und so konnte man sich erklären, daß Gine noch im Mai über den Aufenthaltsort des Paares in Unwissenheit war, obgleich es schon über fünf Monate in der Holmerschen Villa im Lichte der Öffentlichkeit wohnte.

Der Propst saß mit seinen Sonntagsgästen beim Mittagstisch. Es war an einem Sonnabend im Mai – dies enthält keinen Widerspruch, denn die Sonntagsgäste pflegten sich, zu Hauf oder in einzelnen Abteilungen, schon am Sonnabend einzufinden, denn sie sagten, es sei häßlich, wenn man so abgehetzt in den Gottesdienst komme, und um ordentlich Zeit zu haben, sich für die Feierlichkeit zu sammeln, erschienen sie schon am Sonnabend so früh, daß sie auch noch das Mittagessen mitnehmen konnten. – Es war also am Sonnabend, und die Abteilung der eben speisenden Gäste war etwas zahlreicher, als man erwartet hatte – zwei Mütter, einige Töchter, ein paar Söhne, drei Vettern oder etwas ähnliches, ein paar andre Bekannte –, und Gine hatte sich ziemlich unverfroren darüber dem Propst gegenüber geäußert, denn der Kalbsbraten, den sie zum Sonntag bestimmt hatte, mußte jetzt schon herhalten. Dies hatte zu einem kleinen Wortwechsel geführt; der Propst war ernstlich böse geworden – was selten geschah – und hatte beschlossen, Gine nun nicht länger zu schonen.

Die gute Suppe dämpfte wohl für einige Zeit die Flammen seines Zorns, aber als der umstrittne Kalbsbraten auf den Tisch kam, wurde er zum Handeln erweckt, und vor Eifer errötend, sagte er:

Ja, meine Freunde, es ist nur allzuwahr, der Radikalismus … er hielt ein wenig inne und sah Gine an. Aber da deren Haltung nur unveränderten Trotz ausdrückte, wurde er noch röter und fuhr mit einer gewissen Heftigkeit fort:

Der Radikalismus breitet sich über dieses Land und Volk aus wie ein giftiger Schwamm mit seinem ganzen – ganzen … Daß er gegen seine Gewohnheit nach Worten suchen mußte, vermehrte seinen Ärger.

Ich sage, fuhr er, Gine beständig anstarrend, fort, daß der Radikalismus auf eine greuliche Weise die Menschheit verpestet, daß der Rra–di–kalismus wie der giftige Upasbaum – ja Upasbaum ist – er war mit dem Ausdruck zufrieden und wurde deshalb etwas milder –, unter dessen Schatten nicht gut zu wohnen ist.

Der Herr Pastor Fibiger hat nicht nötig, mich so anzusehen, sagte die unüberwundne Gine. Ich bin weder ein Radikaler noch ein Europäer.

Sie gehören zur Linken, meine gute Lemvig, und die Linke – er erhob den Zeigefinger, daß sie ihn nicht unterbrechen sollte –, die Linke hat ohne Widerrede jenem Geist der Zügellosigkeit, jenem Geist der Finsternis, von dem wir so schreckliche Zeugnisse sehen, den Weg gebahnt.

Der Herr Pastor Fibiger hat nicht nötig zu sagen, daß ich dem Geist der Finsternis den Weg bahne. Das, was die Linke will, das ist Freiheit und Recht und Erleuchtung für das Volk. Die Rechte ist es, die das Recht an sich reißt.

Er wandte den Blick von ihr ab und sprach wie an die andern gerichtet weiter:

So, meine Freunde, haben wir gehört, wie jetzt – gerade in dieser Zeit – ein junges Mädchen, eine Pfarrerstochter aus diesem Hause hier stammend – warum es verbergen? –, aus diesen Stuben, ja von diesem Tisch – sich mit der Sünde befleckt hat, verführt oder selbst der verführende Teil, was weiß ich? …

Gine fuhr zusammen, sagte aber nichts.

… und nachdem sie eine Zeit lang wenigstens ihre Schande verborgen gehalten hatten, haben sie sich schließlich – schon seit fünf Monaten – ein Haus der Sünde in der Hauptstadt selbst eingerichtet, wo sie ihren Lebenswandel offen vor aller Augen führen und dem Urteil aller moralischen Menschen Trotz bieten – ihr wißt, auf wen ich anspiele – auf die Tochter meines würdigen Vorgängers im Amt hier …

Als der Propst jetzt einen Blick auf Gine warf, sah er sofort, daß er ihr ein Unrecht angethan hatte; ihr Gesicht war ganz weiß, und sie schnappte nach Luft. Kurz darauf ging sie hinaus.

Der Gegenstand wurde bei Tisch nicht mehr berührt.

*

Nach der Mahlzeit trat sie in des Propstes Zimmer.

Ist es wahr, daß sie nach Kopenhagen gezogen sind, und wo wohnen sie jetzt?

Der Propst sagte ihr freundlich, was das Gerücht darüber berichtete.

Der Herr Pfarrer wird mir wohl erlauben, daß ich morgen früh hineinreise.

Beste, gute Lemvig, was denken Sie denn, daß Sie ausrichten könnten?

Sie stand neben seinem Tisch und schwieg; bald schaute sie auf, bald nieder und schlug dabei leicht mit der Hand auf die Tischplatte, einmal nach dem andern.

Gottes Macht ist groß, Pastor Fibiger, sagte sie endlich. Er wird mir schon die rechten Worte eingeben. Und dann bringe ich sie mit Gottes Beistand mit heim.

Heim?

Ja, hierher in ihre alte Heimat; wohin denn sonst?

Der Propst war gerührt. Liebe, gute Lemvig – ja – so gehn Sie denn mit Gott, wenn auch …

Ich danke Ihnen, Herr Pastor Fibiger.

Und der Geist des Herrn möge Ihnen die rechten Worte eingeben.

Ich danke Ihnen, Herr Pastor Fibiger.

Sie können, fügte er mit einem Schimmer neuerwachter Hoffnung hinzu, Sie können meine seelsorgerliche Ermahnung mitnehmen, hören Sie, meine ernste seelsorgerliche Vermahnung.

Ich sage Ihnen vielen Dank, aber ich glaube nicht, daß es das kleinste bischen helfen wird, antwortete Gine.

Hm.

Elftes Kapitel

Im Park

 

Zwischen Friederike und Tante Gine hatte eigentlich nie ein andres Verhältnis bestanden, als offne Fehde oder bewaffneter Waffenstillstand. So war es gewesen von dem Tage an, wo Tante Gine vor ungefähr dreiundzwanzig Jahren über Pastor Lemvigs Schwelle getreten war; denn Friederike war schon im Alter von zwei Jahren ein schwieriges Kind gewesen. Ihr Zusammenleben hatte kaum jemals eine andre Form gehabt, als von der einen Seite Befehl und Zurechtweisung und von der andern Trotz und Weigerung.

Auch jetzt, auf ihrer Reise nach Kopenhagen, dachte Tante Gine an sie nur als an das unartige Kind; das Kind, dessen Unart nun alle Grenzen überschritten hatte, aber doch Mathias Lemvigs Kind, für das sie verantwortlich war.

Sie ging durch die Gänge des Söndermarks-Parks; man hatte ihr diesen Weg als einen Zugang zu dem Orte, den sie suchte, gezeigt – Zorn und Kummer erfüllten ihr Herz, und sie hatte nur wenig Sinn für die Frische des herrlichen Maimorgens hier unter dem ganz neu entsprossenen Buchenlaub.

Sie begegnete einem Haufen Schuljungen, die Soldaten spielten und Räubern auf der Spur waren. Sonntag! und freier Tag! stand auf ihren roten Wangen geschrieben und flammte aus ihren eifrigen Augen.

– Ach du lieber Gott, ist es wirklich so lange her, daß ich ein Schuljunge war und in Söndermark Räuber spielte, wenn es mir doch so vorkommt, als sähe ich den Hügel dort noch von meinen damaligen Kameraden besetzt? – Wo sind sie nun alle miteinander? – Noch meine ich, ihr gellendes Kriegsgeschrei zu vernehmen, noch höre ich die Blätter unter meinen Füßen rascheln, während ich den Hügel hinanstürme, noch fühle ich den Hauch des Windes auf meiner feuchten Stirn, während ich die Mütze abnehme und Hurra rufe! –

Einer der kleinen eifrigen Jungen blieb atemlos vor Tante Gine stehn und fragte: Haben Sie etwas von den Räubern gesehen? Welchen Weg sind sie gegangen? – Aber sie hat genug mit ihren eignen Gedanken zu schaffen und schiebt ihn mit dem Griff ihres Regenschirmes weg.

Sie begegnete auch ältern Leuten. Eine alte Dame wurde in einem Rollstuhl gefahren: das war nun deren tägliche Morgenwandrung. Die Zeit, wenn nicht etwas andres, hat ihr Leben verheert; sie schüttelt unfreundlich den Kopf und schilt ein wenig mit dem Jungen, der ihren Stuhl schiebt. Die Zeiten sind längst vorüber, wo sie als blühende Maid hier unter eben diesen Bäumen am Arm ihres Herzensfreundes wandelte und vom Glück träumte. Noch länger vorüber aber ist die Zeit, wo sie als kleines Mädchen hier herumlief und Blumen im Gras suchte, während die Sonne auf ihre flatternden Locken schien. Das hat sie jetzt alles vergessen. Da blüht eine Anemone im Gras neben dem Wagen, die Alte schaut zufälligerweise darauf hin; kann diese Blüte ihr nicht eine flüchtige Erinnerung wecken?

Mehrere ältere Herren kamen des Wegs daher, meist zu zweit, in einem ehrbaren Paßgang und mit gebeugtem Rücken, alle mit etwas Gleichartigem an sich – etwa so wie pensionierte Beamte aussehen. Sie machten hier ihren gewohnheitsmäßigen Spaziergang; das morgenfrische Grün des Hains schien ihren Gestalten etwas Junges, etwas Romantisches zu verleihn; einzelne sahen förmlich aus, als ob sie »schwärmten« – wahrscheinlich träumten sie – ja, wovon träumt wohl der alte Herr dort, der mit dem guten, freundlichen Lächeln und dem feinen Gesicht? – der Ausdruck ist etwas schwach. – Ist es ein Regierungsbeamter aus den Tagen Friedrichs VI.? Ein Pastor emeritus? Oder vielleicht eine alte Dichterseele aus der goldnen Zeit, ein Schatten aus der Zeit Öhlenschlägers, eine Reminiscenz aus der romantischen Zeit? – Er setzt sich auf die Bank; sieh, er zieht ein Papier heraus, schaut hinauf in die herrliche Baumkrone, atmet die Luft ein, wie man sie nur an einem so schönen Frühlingsmorgen unter einer eben ausschlagenden Buche atmen kann; er führt den Bleistift zum Munde, er schreibt – wohl ein Gedicht? Etwas im Geschmack von: So hold dem heiligen Buchenwald? – Ach nein, ach nein; die Rechnung des gestrigen Tages schreibt er auf, die Abrechnung vom Sonnabend; Wäsche, Stiefel, Käse, Butter und Brot schreibt er auf – und doch! liegt nicht ein Schimmer auf seinen Zügen, ein Widerschein der Jugend in seinen Augen, ein Frühlingszug um seine Lippen? Sicherlich hat sich der Genius der Poesie zwischen seinen Sonnabendrechnungen niedergelassen, sonst könnte der Alte nicht so aussehen, wie er dasitzt in dem leise spielenden Sonnenschein, da auf der Bank in dem erinnerungsreichen Garten von Söndermark.

Aber Tante Gine streifte ihn nur mit dem Blick. Böse, zornige Gedanken beschäftigten ihre Seele und formten sich zu scharfen Worten; sie wußte, was sie sagen wollte, wenn sie nur bald das Ziel ihres Weges erreicht haben würde.

Schon war sie in der Nähe von »Korups-Garten,« als sie eine Dame gewahrte, die auf einer Bank am Ausgang des Parks saß, durch den Gine mußte.

Sie fuhr zusammen – die Dame ebenso, eine schlanke, elegant gekleidete, junge Dame –

Da war es, daß Tante Gine all die bösen zornigen Gedanken vergaß; die scharfen Worte erstarrten ihr auf der Zunge.

Frie, Frie, mein liebes Kind; Frie, kleine Frie!

Aber die Dame schüttelte den Kopf und sah nicht auf.

Aber Frie, Frie! Ich habe dich auf meinen Armen getragen, als du noch klein warst und die Masern hattest …

Was willst du von mir?

Denk an deinen unglücklichen Vater, der nun selig im Himmel droben ist bei Gottes Engelein …

Ich habe an ihn gedacht – ach, ich habe an ihn gedacht –

Ich bitte dich von Herzen, komm heim mit mir, dann wirst du sehen … Ach, du lieber Heiland, wie elend du aussiehst, du armes Kind!

Leb wohl, Tante Gine, leb wohl, und denke nicht mehr an mich; du mußt mich vergessen, ihr müßt mich alle vergessen – (verändert, mit Leidenschaft) ich will, daß man mich in Ruhe läßt; ich habe das Recht, meinem eignen Kopf zu folgen (sie stampfte auf den Boden) –

Aber gleich nachher hatte Tante Gine diesen müden Kopf gefaßt und an ihren alten, treuen Busen gelegt; Friederike weinte und weinte, wie sie noch nie geweint hatte; ihr ganzer Körper bebte.

Kind, Kind, es ist nicht zu spät, komm mit mir heim; wir zwei werden …

Nein nein nein nein! Es ist zu spät. Sie hob den Kopf, trocknete hurtig ihre Augen, die einen bestimmten Ausdruck annahmen.

Du mußt wissen, Tante Gine, ob es nun zum Guten oder zum »Bösen,« wie ihr das nennt, ausschlägt, so gehöre ich ihm nun an, bis ich sterbe – es wird nicht mehr anders. Zugleich riß sie sich los und entfernte sich eilig.

Tante Gine wollte ihr nach, aber die alten Beine trugen sie nicht so hurtig. Sie gab die Verfolgung auf. Gab auch auf, sie noch ferner zu suchen; sie sah ein, daß es vergebens gewesen wäre.

Ach du lieber Heiland, ach du lieber Heiland, murmelte sie, während sie sich langsam und sich oft umwendend auf den Heimweg machte.

Der Ton der Frederiksberger Kirchenglocken klang nun durch die Luft. Der Park war stiller und einsamer als vorher. Die Bank, wo der alte Herr gesessen hatte, war leer. Die jungen Buchenblätter darüber dehnten sich im Sonnenschein, in stillem Glück; aber das dürre Laub vom vorigen Jahre lag am Fuße des Baumes in düsterm und hoffnungslosem Grübeln zusammengehäuft.

Zwölftes Kapitel

Zwischenfälle

 

Und wie heißt denn der große Hof dort? fragt der kontrollierende Leutnant und deutet auf einen ansehnlichen Komplex weißer Wirtschaftsgebäude, die eine halbe Viertelstunde draußen im Gesichtskreis unter der brennenden Mittagsonne einen solchen Schein von sich geben, daß dem Fragesteller und dem Gefragten das Wasser in die Augen tritt, während sie darauf hinsehen.

Der Gefragte ist ein gemeiner Infanterist, der hier die Schildwache vorstellt. Es ist während der Lager- und Kantonnementsübungen auf Fünen.

Der Hof dort? sagt die Schildwache mit einem leichten Lächeln und zieht, um darauf hinzudeuten, den Arm etwas reglementswidrig von dem angezognen Gewehr zurück.

Ruhe! nicht fragen, nur antworten – recht!

Der heißt Rosgaard.

Richtig. – Hm. Welche Nummer haben Sie?

519.

Name?

Lemvig.

Es heißt: Lemvig, Herr Leutnant. Zum Teufel, wo haben Sie Ihr Benehmen her? Was ist Ihre bürgerliche Stellung? (All das weiß der Leutnant recht gut, da er bei derselben Kompagnie steht.)

Student, Herr Leutnant. – Cand. phil., fügt Lemvig hurtig hinzu, denn jetzt im Sommer hat er endlich sein Examen gemacht.

Der Leutnant sagt Hm! und geht weiter zum nächsten Posten.

Aber Tymme schaut hinüber zu dem weißen Hof. Sollte er Rosgaard nicht kennen?

Seit acht Tagen ist er nun mit den andern Wehrpflichtigen in dieser Gegend, dem heiligen Gebiet seiner Kindheit herumgetrottet, er heißt das herumtrotten, aber das ist nur Soldatenjargon, denn in Wirklichkeit liebt er dieses Leben leidenschaftlich. Der große, starke Körper hat es nötig, daß ihm die Schläfrigkeit, der faule Schweiß, ausgetrieben wird, und seine Seele und sein Wille sehnen sich nach Zucht und Kommando. Ach, es ist herrlich zu Zeiten, dieses: Du sollst! Da vergißt man für eine Weile alles, was einen quält: das von der Schwester, das von Holmer, und besonders das von einem selbst, das ewige Schamgefühl, das sich nicht mit Vernunftgründen wegdisputieren läßt. Solche moralische Selbstquälereien verschwinden bei dem Staub und dem Schweiß der Landstraßen, bei dem täglichen Kampf um Essen und Bier, wenn der Menagewagen von der halben Kompagnie zugleich gestürmt wird; beim Gewehrputzen und bei dem Schrecken vor dem Büchsenmacher, bei den Löchern im Lederzeug, bei Putzpomade und Schmirgelpapier, bei den Blasen an den Füßen und bei der Stiefelwichse. Gott sei Dank für die Kameraden mit ihren Liedern und ihrem Spektakel; denn wenn man nie allein ist, kommt man nie zum denken.

Nun ist Tymme aber doch allein, als Schildwache auf der sonnigen Wiese. Und während er die weißen Gebäude von Rosgaard anstarrt, muß er denken. Nein, eigentlich doch nicht denken, aber fühlen und träumen, stark, eindringlich, dichterisch; das war ihm von klein auf eigen gewesen. Jetzt fühlt er es, tief und schmerzlich, daß er aus der Welt, in die er eigentlich gehört, hinausgetreten ist, und das Gefühl, daß Tante Eline und Kusine Ingeborg dort drüben besser, reiner, glücklicher sind als er, das wogt durch sein Inneres wie wehmütige Rhythmen. Er fühlt sich durch den Umgang mit Bramsen und den Leuten vom »Lucifer« erniedrigt, und zugleich fühlt er auch, daß er sich durch seinen Aufsatz über die »Sittlichkeit nach modernem Begriff,« der niemals seine eignen Ansichten dargelegt hatte und überdies gewiß schlecht geschrieben war, sowohl blamiert wie gebunden hat. Er verachtet sich selbst und haßt Holmer; er hat gar keine eigne Ansicht, hat keinen Glauben, ist ein schlechter und unnützer Mensch, sein Leben ist unrein. Alle diese Gefühle wogen durch seine Seele wie schmerzliche Rhythmen einer Dichtung über Reue, Haß, Wehmut und Sehnsucht.

Aber er ist noch jung. Und zugleich mit diesen Gefühlen, die wie ein Weinen der Seele sind, spürt er doch auch ein glückseliges Behagen am Sonnenschein, an der Luft, am Sommer, an der Gesundheit und Kraft seiner Glieder – ja sogar an der Mittagsschläfrigkeit, die jetzt über ihn kommt. Auch dies fühlt er wie Rhythmen in seiner stimmungsvollen Seele.

Die Sonne brennt noch stärker auf das nackte Feld. Die Gebäude von Rosgaard glänzen noch heller; der Horizont scheint zu flimmern. Die Mittagsschläfrigkeit legt sich über die ganze Natur. Sogar die Seelenstimmungen legen sich allmählich, die unruhigen Wogen werden zu sanft plätschernden Wellen, süß wiegenden Taktschlägen –

Was? Kann man stehend schlafen mit dem Gewehr in der Hand? Es war nur einen Augenblick, ein paar Sekunden vielleicht gewesen.

O du liebes altes Rosgaard mit deiner Rosenhecke, deinem Wald und deinem See und deinen liebenswürdigen Menschen! – O du verlorne Kindheit, o du verlorne Zeit, verloren, verloren für ewig –

Nun war sie da, die Angst, die sonst der Nacht angehört; sie, die kommt, wenn man manchmal daliegt und nicht einschlafen kann; das, woran man bei Tag nicht denkt, das war nun da, im Augenblick. Ist vielleicht eine Ähnlichkeit zwischen der Mittagstunde und der Mitternacht? – Weg damit, weg damit, laß uns doch wenigstens bei Tag in Frieden, diese Angst gehört der Nacht an, wenn die Stille noch größer ist als jetzt, wenn man den Schlag seines eignen Herzens hört. Dann ist es da, worüber man schaudert – der Tod oder das, was möglicherweise nach ihm folgt. Denn es könnte ja wahr sein, all das Alte, all das, was man einmal geglaubt hat – die Sünde und der Sünden Sold – Nein, jetzt nicht, jetzt nicht! – Auch diese Stimmung verschwindet wie eine Woge, wie ein letzter schwerer Wogenschlag.

Jetzt fühlt er nicht viel andres, als daß er sehr durstig ist. Ach, wer eine Flasche Bier hätte!

Der Nachbarposten steht ein paar hundert Schritte von ihm. Hallo, Murer, hallo 523, hast du was in der Flasche?

Nein, bei Gott, ich habe nichts, antwortet 523.

Da taucht die Ablösung am Hügel auf. –

Aber in der stillen Nachtstunde, wenn die Zeltgenossen schlafen, oder wenn wenigstens deren Plaudern verstummt ist, da geschieht es manchmal, daß diese Angst kommt, die nicht dem Tage angehört, da ist es, daß er den Schlag seines eignen Herzens hört.

Als ich noch klein war, da glaubte ich noch an Gott; diesen Glauben haben sie mir genommen. Alles haben sie mir genommen. Das Beste in mir haben sie getötet. Als ich noch klein war, da war ich noch unschuldig; ach, könnte ich als ein kleines Kind erwachen, und das Ganze wäre ein häßlicher Traum. Mutter, Mutter, du neigtest dein Haupt über mich und küßtest mich, das ist so lange, lange her. Kannst du mich hören? bist du da? Und die Angst wächst, eine Angst, wie die eines kleinen Kindes, das an einem dunkeln Ort allein gelassen worden ist.

O Gott! Ob du nun wirklich bist oder nicht – wenn du bist, so vergieb mir, daß ich so rede –, ich will beten –

Unter der dünnen Lagerdecke faltet Tymme die Hände und versucht zu beten:

Vater unser – der du bist im Himmel – geheiliget … aber viel weiter kommt er nicht, seine Seele flieht gleichsam vor Gott. Oder hat er die Worte vergessen?

Wie kommt es denn, daß er jetzt so liegt und sich mit diesen Dingen quält? – Es begann – laß mich sehen – ja, eigentlich begann es, als Friederike davonging, und er Holmer hassen lernte. Aber im Anfang konnte er es von sich wegschieben; eigentlich erst hier in der Lagerzeit ist es so oft über ihn gekommen.

Macht es vielleicht die Nähe von Rosgaard? Die Macht der Kindheitserinnerung?

Ich bin gewiß ein komischer Kauz und nicht wie andre Menschen, denkt er.

Es flimmert ihm vor den geschlossenen Augen; das sind die sonnenbeschienenen Gebäude von Rosgaard. Die Wogen in seiner stimmungsvollen Seele legen sich, auch diese letzte schwere Woge; sie werden zu leise plätschernden Wellen, die in rhythmischem Takt wie der Klang eines Liedes an sein Bewußtsein schlagen.

Tymme ist jung. Und bald schläft er gesund und fest.

*

Er hat sie gesehen! Und sie haben ihn gesehen! Sowohl Onkel Johannes als Tante Eline und Kusine Ingeborg und der Kutscher Jens haben ihn gesehen und erkannt.

Es war bei dem großen Manöver. Eine Feldschlacht wurde geschlagen; Tymme war den ganzen Tag unterwegs gewesen, bald mit seinem Zug, bald mit seiner Kompagnie, bald mit dem ganzen Bataillon, bald nur mit seinen Rottenkameraden.

Man hatte eine ganze Menge Positionen genommen und war von einer ganzen Menge andrer vertrieben worden, war aufgesprungen und hatte verfolgt – meist, wenn alles schon auf Flucht hindeutete –, aufgesprungen und geflohen – meist, wenn er dachte, daß die Verfolgung beginnen sollte –; war Kiesgruben hinab und hinauf geklettert, war durch Moore gewatet, durch Dorngestrüpp gebrochen, mit Tornister und Gewehr über Gräben gesprungen, hatte platt auf den Feldern im Schmutz gelegen und eine ganze Stunde lang Schießen markiert. Nun stand er mit seiner Kompagnie auf einer Wiese und grub – in der größten Eile mußte eine Schanze aufgeworfen werden, denn dort drüben, dort zogen schon die feindlichen Scharen auf, Massen von Fußvolk. Sieh doch die Husaren in ihrem flotten Carriere – hör den Zug der Artillerie über die Brücke donnern – schnaufend wurde gearbeitet, – »Eilt euch, Tod und Teufel!« – puh, puh – »Zum Donner! – tiefer, tiefer, er Faulpelz! – herauf mit der Erde, wieder frisch eingestrichen« – puh!

Tymme schaute einen Augenblick auf; ein Fahrweg führte neben ihm vorbei; darauf waren Zuschauer, und nicht wenige. Ein Landauer hielt; die Insassen standen auf, bald sahen sie der dicht neben ihnen arbeitenden Schar zu, ohne den einzelnen zu beachten, bald ließen sie ihre mit Ferngläsern bewaffneten Augen auf dem weiten Terrain umherschweifen: der Anblick war malerisch und fesselnd genug.

Tymme erkannte sie augenblicklich. Aber er beeilte sich, den Kopf wieder zu ducken und weiter zu graben, sodaß Sand und Erde um ihn herum flogen.

Tymmes Nebenmann sagt: Beim Satan, 519, du bist es, den sie rufen – hol mich der Teufel, die Damen im Wagen winken dir – hast du so feine Bekannte?

Ein schrilles Pfeifen tönt über das ganze Terrain. Der Hauptmann zeigt sich auf dem Hügelkamm hinter ihnen und winkt mit der Hand.

Zu–rück!

Zurück, zurück! rufen die Unteroffiziere die Linie hinunter. Die halb aufgeworfne Brustwehr wird verlassen; man »flieht.«

Und Tymme hatte diesesmal keine Zeit, seine feinen Bekannten zu begrüßen, denn er entfloh mit den andern.

*

Wieder gellt die Pfeife. Dieses Pfeifen ist angenehm. Danach hat man sich gesehnt. Endlich. Ruh–e!

Von morgens fünf Uhr bis nachmittags um vier hat Tymmes Kompagnie keine Ruhe gehabt, ausgenommen ein gelegentliches »Nieder« zum Schießen in irgend einem Graben, und man hat nichts genossen seit dem Morgenkaffee, außer wenn man während des Laufens oder Schießens hatte in seiner Tasche herumwühlen und einen Bissen erhaschen können.

Aber nun, zwei Stunden Ruhepause, so hieß es, und dann – heim!

Die langen Reihen Gewehrpyramiden glänzen in der Sonne, so weit man sehen kann. In Bataillonen kampieren die Soldaten ringsum auf der weiten Ebne. Unter jedem Baum, jedem Busch, wo nur eine Andeutung von Schatten ist, liegen die Leute, essend, trinkend oder schlafend. Alle Gräben sind voll von Menschen.

An einem herrlichen Platz unter einer einzelnstehenden staubbedeckten Ulme hat Tymme und eine kleine Gruppe von Kameraden ihre Mahlzeit ausgebreitet: kleine Türme von dickgeschnittnen Schwarzbrot-Butterschnitten – die Butter ist zerflossen, aber um so trockner ist das Brot –, Appetitkäse, der zerbröckelt, Schinkenscheiben, die sich zusammenrollen, Schnäpse aus dem Fläschchen, die ganz warm beim Trinken sind, aus der Feldflasche »etwas, das einmal da war« – nun, einerlei, dort ist der Marketenderwagen – und nach einem männlichen Kampf hat sich Tymme zwei eiskalte Flaschen Bayrisch erobert; die eine hat er sofort an den Mund gesetzt, die andre aber in dem tiefsten Schatten, der zu finden war, untergebracht, nämlich unter dem zurückgeschlagnen Deckel des Tornisters. Wie schön doch das Leben ist!

Nicht weit von Tymmes Gruppe liegen unter einer andern Ulme vier bis fünf Leutnants; drei davon ganz junge Menschen, eigentlich noch Knaben, aber – Leutnants. Ihre Aufwartung hat einen etwas feinem Zuschnitt, das Butterbrot ist besser erhalten; sie haben auch Gläser und wahrhaftig eine Flasche Rotwein – eine –, die sie mit gekünstelter Überlegenheit behandeln; sie schenken ein und nippen wie nebenher; es soll aussehen, als löschten sie ihren Durst niemals mit etwas anderm, und dann sind sie so lächerlich würdig und ernsthaft dabei – ihr Benehmen ist darauf berechnet, den umliegenden Gruppen der Gemeinen zu imponieren. Nur der Oberleutnant ist ganz natürlich, aber er ist auch über fünfundzwanzig Jahre alt.

Der jüngste und grünste der Unterleutnants – er war es, der Tymme neulich examiniert hatte – sieht zu dessen Gruppe hinüber und scheint rufen zu wollen. Dann besinnt er sich eines bessern, erhebt sich und schlendert zu Tymme hin. Hören Sie, sagt er. Tymme erhebt sich.

Ihr Name ist doch Lemvig, nicht wahr?

Sind Sie nicht ein Verwandter des Gutsbesitzers dort, des Jägermeisters Güllich? Er deutet in der Richtung von Rosgaard. Die Stimme ist viel freundlicher, als wo er ihn examinierte.

Jawohl, Herr Leutnant, antwortet Tymme etwas verwundert. Es ist mein Onkel.

Hm. – Nehmen Sie nur die Hand herunter, nehmen Sie nur die Hand herunter. – Hm. – Der Jägermeister ist kürzlich beim Herrn Oberst gewesen –

Man konnte Tymmes freudiges Erröten sogar durch den elfstündigen Staub und Schweiß hindurch sehen.

– und der Hauptmann hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, Lemvig – nicht wahr, Lemvig heißen Sie doch? –

Jawohl, Herr Leutnant.

Sie brauchen nicht »Herr Leutnant« zu sagen – stehn Sie nur in Rührstellung; wir legen für den Augenblick das Militärische ab, zum Teufel, ich rede nun als Gentleman zum Gentleman – er stocherte in seinen Zähnen, um Nummer 519 ein wenig Zeit zu geben, sich von dieser Ehre zu erholen –, kurz gesagt, morgen am Sonntag haben Sie Urlaub, den ganzen Tag nach der Reinlichkeitsmusterung; Sie sind nach Rosgaard eingeladen.

Ich danke –

O bitte. Ach, hören Sie – er nahm ihn ein wenig aus die Seite –, ich habe übrigens schon oft gedacht, Herr Lemvig, daß es für einen Mann wie Sie mit akademischer Bildung und so weiter, daß es doch etwas traurig sein muß, immer – nun keine Förmlichkeiten, wollen Sie mir das Vergnügen machen und heute abend in mein Zelt kommen, zu einem schwedischen Punsch mit ein paar andern gebildeten Herren zusammen … Er machte mit der Hand eine Bewegung nach seinen Kollegen unter der Ulme.

Ich danke – aber –

Kein Aber, Herr Lemvig – darf ich Sie vorstellen – er zog Tymme zu den Offizieren hin –, Student Lemvig, Neffe des Jägermeisters Güllich auf Rosgaard –

Die Offiziere gaben ihren Gesichtern einen Ausdruck, der zwischen Höflichkeit und Barschheit lag, mit Ausnahme des Oberleutnants, der natürlich und gutmütig lächelte. Tymmes Beschützer schenkte aus der Weinflasche ein – es war nicht mehr viel darin, und die andern runzelten die Stirn ein wenig. Tymme war Soldat genug, daß er keinen Schluck an sich vorbeigehn ließ, und nachdem er das Glas ausgetrunken hatte, grüßte er und zog sich zurück.

Was wollte er denn? fragte 523.

Weiß es wahrhaftig nicht, und dann lud er mich auch noch mit den Offizieren auf heute abend zum schwedischen Punsch ein.

Mehrere von den Nachbargruppen waren herbeigekommen, um Neues zu hören. Einer von ihnen, der Waffenmeister der Kompagnie, ein pfiffiger alter Unteroffizier, blinzelte verschmitzt und sagte:

Seht ihr, er rechnet sich das so aus: Flotter Herrenhof, hm; besseres Mittagessen, hm; reizende Tochter, hm hm. Er stand ja daneben und guckte in den Wagen hinein, ja, so rechnet er sich das immer aus.

Der ist nicht dumm! rief 523.

Will der etwa mit nach –? sagte Tymme ärgerlich.

Ja, das gerade, das will er, sagte der Waffenschmied und nickte.

*

Sie saßen vor dem Zelt des Leutnants und tranken schwedischen Punsch; schon lange war zur Retraite geblasen worden, die Nacht war still, hell und warm. Doch fühlte sich Tymme nicht behaglich, denn sein Wirt, der Leutnant, hatte sich so offen ausgesprochen, daß Tymme nun nicht wußte, wie er sich seiner Gesellschaft morgen entziehn sollte – und einen Wildfremden mit nach Rosgaard nehmen? – Und außerdem fühlte er sich als Gemeiner in der Offiziergesellschaft ein wenig unbehaglich. Die andern waren übrigens auch ein wenig gezwungen ihm gegenüber – der Wirt zugleich forciert kameradschaftlich, mit Ausnahme des ruhigen Oberleutnants. Tymme meinte zu bemerken, daß dieser das aufdringliche Benehmen des Leutnants mißbilligte.

Dann ist es also abgemacht, Herr Lemvig – ein schöner Spaziergang zusammen – meinethalb bei Rosgaard vorbei, da Sie doch dorthin müssen –

Hm! unterbrach ihn der Oberleutnant und machte zugleich Tymme eine Grimasse, die dieser aber nicht verstand. – Da wir eben von Rosgaard sprechen, man ißt dort erbärmlich schlecht, nicht wahr, Sie?

Schlecht? Auf Rosgaard? sagte Tymme aufs äußerste erstaunt.

Ja, es ist doch ganz bekannt, sagte der Oberleutnant und wiederholte seine Grimasse gegen Tymme auf energische Weise. Man ißt dort mit dem Gesinde zusammen; Milchsuppe mit Grieben, das ist alles.

Ja, aber wenn Gäste da sind? … warf der Leutnant ein.

Gäste? Gott segne Sie, Leutnant Hoff, am letzten Sonntag hat der Stiftsamtmann dort zu Mittag gegessen mit einer ganzen Anzahl Honoratioren aus Odense, und wissen Sie, was es gab – gewärmten Kalbsbraten, mein guter Mann. Ist das nicht wahr, Sie dort?

Hoff schauderte leicht zusammen, sagte aber doch mutig: Ach, wenn nur der Wein gut ist, dann …

Man kann es merken, daß die Herren – sagte der Oberleutnant, indem er sich heimlich blinzelnd nach den andern umsah, ja, man kann es merken, daß Hoff hier in der Gegend nicht bekannt ist. Wissen Sie nicht einmal, Hoff, was sogar der Bischof über den Wein von Rosgaard sagt?

Nein, was sagt er denn?

Ja, sehen Sie, antwortete der Oberleutnant, der sich nicht schnell genug auf etwas besinnen konnte, ja sehen Sie – ach reichen Sie mir den Punsch, Sie dort – das ist nun so ein – ach! wo haben Sie denn den Punsch her? – das ist nun ein – ja, Sie wissen es natürlich auch, Sie, Lemvig?

Jawohl: Non possumus, sagte Tymme lächelnd.

Da sehen Sie, Hoff, sagte der Oberleutnant; Nompostumus, so lautet das Urteil des Bischofs über diesen Wein; wie beliebt?

Das klingt allerdings niederträchtig, antwortete Hoff etwas verwirrt. Aber – eh – die Tochter ist hübsch, sehr hübsch. Und er lächelte selbstgefällig.

Der Oberleutnant schielte nicht ohne Spott nach Hoffs unbedeutender Person hinüber, nahm dann einen Schluck Punsch und sagte:

Hören Sie, Hoff, wenn Sie etwa morgen eingeladen würden, dann nehmen Sie sich doch vor den großen Hunden in acht, die auf dem Hofe umherlaufen.

Hunde?

Ja sehen Sie, die sind alle auf den Mann dressiert – Sie wissen ja, daß der Jägermeister gegen das Militär ist.

So?

Ja, ein roter Radikaler, haßt alles Militär wie die Pest – wie war es doch, Lemvig, mit dem Dünnbeinigen, dem Wichtigthuer, der im vergangnen Jahr –

Der?

Ja der. – Nun ja. Aufs Wohl, Hoff! Das war auch so ein kleiner Unterleutnant, und der war noch dazu in seinem guten Recht, er kam mit einem Quartierzettel, nicht wahr, Lemvig?

Jawohl.

Quartierzettel. Na, er mußte nachher vier Wochen im Lazarett liegen. Man konnte ihn schreien hören. Tag und Nacht. Ich wurde in meiner Arbeit so gestört, daß ich umziehn mußte. Das war vor Ihrer Zeit, Hoff.

Aber was fehlte ihm denn?

Was ihm fehlte? Er hatte den Leutnant in beide Beine gebissen.

Er? – der Jägermeister?

Sind Sie verrückt? Der Bluthund, versteht sich – o, Sie hätten den jämmerlichen Kerl sehen sollen, als er damals ins Lager zurückkam und beide Beine schleppte.

Das ist eine schreckliche Übertreibung.

Das kann wohl sein, aber die Hunde sind doch da. Wie viele hält er jetzt, Lemvig?

Vier, Herr Oberleutnant, und sie sind alle auf den Mann dressiert, wie Sie sagen.

Der Leutnant faßte heimlich an seine Waden; es war nicht viel davon da, aber um so mehr mußte er das, was da war, in acht nehmen.

*

Am nächsten Morgen steht Tymme – und zwar allein – an der Pforte, der alten Pforte, die von dem Feld in den Garten führt. Der Tau liegt auf dem Kleeacker und träuft von den schwankenden Zweigen der Rosenhecke; da sitzt nun eine Hagebutte neben der andern, die Blütezeit ist vorbei. Tymme sieht in den Garten. Da stehn sie, Baum an Baum und Busch an Busch, die alten Zeugen des schönsten Glückes seiner Kindheit. Die Wege verschlingen sich gerade so wie früher, er erkennt die Bänke, das Gartenhaus dort, sogar die Beete. Auf der Veranda – mit der Klematis am Gitterwerk hinauf, glänzend in der Morgensonne – steht ein Dienstmädchen und klopft Teppiche aus. Tymme erinnert sich an diesen Laut, der in den alten Tagen ertönte, wenn er recht zeitig auf war. Die Tauben kommen geflogen und lassen sich auf der breiten, hohen Steintreppe vor dem Dienstmädchen nieder; auch dieser Flügelschlag weckt alte Erinnerungen.

Da schwillt ihm die Brust, er neigt den Kopf auf den Thürpfosten, und der oberste seiner schöngeputzten Knöpfe – bekommt einen Flecken. Und während Tymme einen Augenblick so dasteht, wird er mit dem größten Erstaunen von Diana, einem hübschen feinen Hühnerhund, der unbemerkt herbeigekommen ist, beobachtet. Vom Garten her, wo er mit Ingeborg einen Spaziergang machte, hatte er den Fremden gewittert. Er bellt nicht, knurrt nicht, wedelt auch nicht mit dem Schwanze, sein einziges Gefühl ist Erstaunen, und es ist ja auch ein seltner Anblick, daß ein großer kräftiger Soldat dasteht und an einem Thürpfosten Thränen vergießt, wenn doch nichts passiert ist – in dem herrlichsten Sommerwetter, in dem frischen Morgen, während die Lerchen ringsum jubeln. Aber Diana kann ja nicht wissen, daß dieser Soldat ein sehr komischer Kauz ist.

Diana, Diana, wo bist du denn? ertönt eine süße Stimme vom Gartenweg her.

Tymme führt mit wunderbarer Schnelligkeit Hand und Taschentuch an die Augen. Er erinnert sich jetzt auch daran, daß es auf diesem selben Fleck gewesen ist, daß sie ihn einmal, als er noch ein Knabe war, in Thränen überrascht hatte – und wird vollständig verwirrt vor Scham. Dann entdeckt er zugleich den befleckten Knopf und reibt eifrig daran.

So erblickt sie ihn.

Vater! hört er die süße Stimme rufen. Sieh dorthin! Nun ist Tymme da!

Dreizehntes Kapitel

Drei Personen, die demselben Ort zusteuern

 

An einem Dienstag Vormittag, ein wenig vor zehn – es war im Herbst nach Tymmes Ausmarsch – konnte man den braven Oberst Güllich langsam und mit gesenktem Haupt die Straße, die zu des Prokurators A. B. Borrig Wohnung führte, dahinwandeln sehen, und zwar infolge eines Billets seines Freundes, worin der Oberst gebeten worden war, sich am Dienstag zehn Uhr auf des Prokurators Kontor einzufinden, weil er ihm etwas von Wichtigkeit mitzuteilen habe.

Der Oberst dachte an die Zeiten – deren Aufhören lag etwa zehn Jahre zurück –, wo Borrig ihn ziemlich regelmäßig auf seinem Kontor zu empfangen pflegte, und zwar immer aus derselben unangenehmen Veranlassung, nämlich der Rudolphine in Viborg und seiner verzweifelten Geldverpflichtungen ihr gegenüber. Diese Zusammenkünfte waren überdies meist von Streitereien begleitet gewesen, veranlaßt durch den – gegen seine Freunde – recht heftigen Prokurator, der dem Obersten immer und immer wieder vorgeworfen hatte, daß die Summe zu groß sei, daß er etwas davon abknappen könne und müsse – worauf der Oberst sich dann selbst ebenso erbittert über Ehre und Honneur und den Namen Güllich verbreitet hatte – ach, auch nicht einen einzigen frohen Augenblick hatte er je auf diesem Kontor gehabt. –

Aber das ist ja nun vorbei, dachte der Oberst. Was kann es jetzt wohl sein? Hätte er nicht mit seiner verdammten »Mitteilung« bis zum Abend warten können? Es war ja Dienstag, und am Dienstag abend kamen der Prokurator und der Oberst seit undenklichen Zeiten regelmäßig beim General Mygind zum L'hombre zusammen. Ja vorbei, Gott sei Dank. Aber der Oberst hielt das Haupt fortgesetzt gesenkt und sah ärgerlich aus. Es war auch schlechtes Wetter mit rauher Luft und Schneegestöber.

Er dachte an die Zeit – vor einem Vierteljahrhundert –, als er in Viborg in Garnison gestanden hatte: er war damals fünfunddreißig Jahre alt gewesen, sie vierundzwanzig. Ach ja, keins von beiden war jung genug, daß die Sache hätte entschuldigt werden können, er am wenigsten. Und er dachte daran, wie er in dem Wohnzimmer hinter dem Laden gestanden hatte; es war ihm, als höre er das Schluchzen der niedergebeugten Mutter und die zitternde Stimme des Vaters, des alten Nadlers. Wir sind arme Leute, Herr Hauptmann, und Sie haben nun auch noch Schande über uns gebracht. Da hatte er seinen gesenkten Kopf erhoben und gesagt: Gott weiß, daß ich sie liebe und heiraten will, wenn Sie Ihre Einwilligung dazu geben – und nach diesen Worten hatte er sich so frei und froh gefühlt, und er hatte sich und dem armen Mädchen, das sich an ihn anklammerte, feierlich gelobt, mit Gottes Hilfe für sie beide den Weg durchs Leben zu bahnen – aber schon am nächsten Tage fand die häßliche Szene in der Offiziersmesse statt, wo die Kameraden Rudolphinens Ruf antasteten, und er sie alle herausgefordert hatte und zu allererst Borrig, seinen besten Freund – aber am nächsten Tage, da kam Borrig und wies die Verzichtleistung des Mädchens vor – gegen Geld! Geld! – Mein Freund, sagte Borrig, dies ist die Summe, mit der ich sie dazu habe bringen können, bezahle sie und sei froh. Aber Güllich wollte kein Wort davon glauben, er eilte zu der Familie – Phine war fort. Die zwei Alten betrachteten die Verzichtleistungsurkunde, betrachteten Güllich, betrachteten sich gegenseitig, und dann sagte der Vater: Dieses Dokument hier ist ihr von Ihrem Freund, dem Herrn Auditeur, abgeschwindelt worden. – Will sie mich denn heiraten? hatte Güllich gerufen. – Sie sagt, hatte der Alte nach einiger Überlegung geantwortet, daß sie in diesem Fall nur seine Stellung ruinieren würde; aber nun könne er sie ja selbst hören – worauf er der Mutter zuwinkte, die gleich darauf mit Phine hereinkam. – Liebst du mich nicht? rief der Oberst außer sich. – Doch, mein Freund, antwortete sie sehr ruhig, Gott weiß es, aber gerade darum will ich dich nicht heiraten; es ist, wie der Vater sagt, daß wir uns nur unglücklich machen würden. Und dann ging sie eben so ruhig, wie sie gekommen war, wieder hinaus. – Güllich wollte ihr nacheilen, aber der Alte versicherte ihm, daß es nichts nützen würde. Wie kann ich sie dann entschädigen? rief er voll Reue und Rührung. – Gehn Sie nur, Herr Hauptmann, und lassen Sie uns allein in unsrer Armut und Schande, sagte der Vater, während die Mutter dazu schluchzte. Die erbärmliche Summe, womit Ihr Freund, der Herr Auditeur, das arme Mädchen hat narren wollen, die anzunehmen, dazu sind wir zu stolz. – Was verlangen Sie denn dann? fragte Güllich erschüttert und zu allem bereit. – Vor Gottes Angesicht, Herr Hauptmann, und im Namen der Ehre, von der Sie so viel reden, ist sie Ihre Frau, Herr Hauptmann, und hat das Recht, all Ihr irdisches Gut mit Ihnen zu teilen.

Ja – und dann – dann – war es so gegangen, wie es ging.

Und all den Hohn, den er später von Borrig, von seiner Mutter und von andern hatte ertragen müssen – der war unverdient, denn der Alte hatte Recht; sie war seine Gattin vor Gott! Er hätte am heutigen Tage genau ebenso gehandelt.

Aber nun war es ja vorbei.

Es begann zu tröpfeln, und die Gedanken des Obersten suchten alle Unannehmlichkeiten hervor, deren er sich in seinem Leben entsinnen konnte. Schließlich nicht nur die vorübergegangnen, sondern auch die gegenwärtigen und die zukünftigen, worüber er in so schlechte Laune geriet, daß er zuerst bei Myginds vorüber ging, um dort für den Abend abzusagen, etwas, das seit Jahren kaum einmal vorgekommen war.

*

Zu derselben Zeit saß sein Freund und Altersgenosse Obergerichtsprokurator A. B. Borrig, ein kleiner Mann, sorgfältig gekleidet und mit lebhaften Manieren in seinem Eßzimmer und vollendete sein Frühstück in großer Eile; er liebte es nicht, zu spät aufs Kontor zu kommen. Die Haushälterin saß ihm gegenüber, aß aber nichts, sie war nervös, weil Borrig es auch war, und betrachtete verstohlen den kahlen glänzenden Schädel, die dichten, kohlschwarzen, beweglichen Augenbrauen und die Brille, die fest und drohend auf der gebognen Nase saß.

Von Borrigs Augenbrauen sagte man, daß sie den Grund zu seinem Vermögen und seinem Ansehen gelegt hätten. Es war eine ausgemachte Sache, daß kein Zeuge und nur sehr wenig Widersacher auf die Dauer einem Manne stand halten konnten, dessen Augenbrauen gerade oben am Scheitel gesessen hatten, und die man doch gleich nachher – wenn man sich von dieser Merkwürdigkeit erholt hatte und einen zweiten Blick wagte – auf der Nasenwurzel ruhen sah. Andre meinten wieder, es sei mehr die Brille, der er seine Stellung zu verdanken habe, das heißt die Art, wie er damit umzugehn wisse; eine Bewegung war besonders berühmt: wenn er die Brille plötzlich von der Nase herunterriß und sie dann ebenso plötzlich wieder aufsetzte, nachdem er seine Augen gleichsam demaskiert und abgefeuert hatte – scharf waren diese Augen, klug und glänzend braun.

All dies betrachtete die Haushälterin verstohlnerweise, und sie dachte dabei wie alle andern Leute, nämlich daß Prokurator Borrig ein tüchtiger, ein gewandter Mann sei, und ein Mann überdies, mit dem in Streit zu geraten nicht gut war; aber sie dachte auch – und so dachten besonders die, die ihm näher standen –, daß er ein guter, warmherziger Mann sei.

Prokurator Borrig war nun fertig mit seinem Frühstück und stand zum Ausgehn bereit am Fenster, Überzieher und Galoschen an und den Regenschirm in der Hand. Es war merkwürdig, daß er, anstatt zu gehn, stehn blieb, denn er hatte sich mit seinem Frühstück und seinem Anzug so viel als möglich beeilt und die Haushälterin angeschnaubt, weil es schon zehn geschlagen hatte. Und doch ging er jetzt nicht, er stand da und schaute zum Fenster hinaus wie in Gedanken verloren.

Das war er auch. Er dachte an die Zeit – vor einem Vierteljahrhundert –, wo er sich als junger Mann seine juristischen Sporen verdient hatte, als Auditeur in der Garnison zu Viborg. In ganz Viborg gab es damals kaum ein schöneres, aber auch kaum ein gefährlicheres Mädchen als Rudolphine Petersen, und sicherlich keinen warmherzigem und leichtgläubigem Offizier als den damaligen Hauptmann Güllich. Lieber Gott, was hatte ich für Mühe mit diesem Frauenzimmer und besonders mit dem alten pfiffigen Nadler, ihrem Vater. Und wenn ich es einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, rannte dieser Don Quixote geradeswegs wieder ins Garn hinein. Lieber Gott! Ein schriftliches Versprechen zu geben, über die Hälfte seiner jährlichen Besoldung, so lange sie lebte. Nehmen Sie es zurück, Sie sind überlistet! sagte ich. – Nein, schrie er, meine Ehre! – Diese verdammte Ehre! – Sie werden ruiniert werden. – Mein Vater wird mir helfen. – Ihr Vater? antwortete ich; dann kennen Sie Ihre Mutter nicht. Keinen roten Pfennig bekommen Sie, ehe diese Dummheit wieder gut gemacht ist – und darin behielt ich Recht –, welchen juristischen Wert hat denn dieser Fetzen Papier? Ich werde die Sache dem Nadler gegenüber in die Hand nehmen und die Urkunde für eine Bagatelle zurückkaufen. – Bitte, antwortete er; aber ich halte mein Versprechen doch. Mit der Zeit erbe ich ja doch ein Vermögen von meinen Eltern. – Sie? sagte ich. Ihre Mutter überlebt Sie sehr wahrscheinlich! Ich kenne ja diese zähen herzlosen alten Damen: sie sterben niemals – aber darin hatte ich Unrecht; glücklicherweise.

Wir waren so hitzig wie zwei Kreisel, alle beide. Später dankte er mir dafür.

Nun, ich ging trotzdem zu Petersens und bekam sie wenigstens so klein, daß ich die Tochter dazu brachte, zu unterschreiben, daß sie niemals, so lange sie lebe, Güllich mit neuen Forderungen beschweren oder überhaupt ihm gegenüber von sich hören lassen werde und so weiter; sonst würde sie die Zuwendungen verlieren. Darauf gingen sie ein, denn ich drohte mit einem Prozeß von seiten der Familie und anderm mehr, wovon gar nicht die Rede sein konnte.

Nun, dann wurde Güllich ja nach Kopenhagen versetzt.

Aber kann ich wohl jemals den Tag vergessen, wo Rudolphine frech zu mir kam und seine Adresse verlangte. Was beliebt? fragte ich. – Ja, es sei ja dies und das geschehen und »Folgen,« und kurz gesagt, sie wolle doch lieber heiraten, jetzt. – Und ich glaube, er hätte es gethan! – Ich zeigte ihr die geltenden Bestimmungen über die Alimentationsbeiträge und fragte, ob sie nicht meine, daß die Hälfte seiner Gage genug sei. Und dann zeigte ich ihr ihre eigne Verzichtleistung, erzählte ihr, was ich außerdem von ihrem Lebenswandel wisse, und machte ihr kurz gesagt Angst, sie könne ihren Zuschuß verlieren – was auch sehr leicht hätte gethan werden können, bis auf die Alimentationsgelder, wenn nicht dieses verteufelte Ehrgefühl den Güllich geritten hätte – sodaß sie sich später ruhig verhielt.

So weit war Borrig in seinen Erinnerungen gekommen. Da war es, als ob seine Gedanken auf etwas andres übergingen, etwas näherliegendes; er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, und die Augenbrauen hoben und senkten sich.

… Wo das Kind geblieben war?

Lieber Gott, als ob das mich etwas angegangen wäre! – Ich hatte wahrhaftig an andres zu denken als an aller Welt Kinder. Sie bekam ihr Geld regelmäßig genug, wo sie sich auch immer herumtrieb, quartaliter; vergaß nie, mir ihre Adresse anzugeben. –

Das Kind? Wo das geblieben war?

Barmherziger Gott, als ob ich, als müßte ich … als ob es keine andern Kinder in der Welt gäbe! – Ich war gerade noch lange genug in Viborg, daß ich hörte, es sei geboren. War froh darüber, daß er nichts davon wußte, sonst hätte er bei Gott die Dirne doch noch geheiratet! Nein, es war meine Pflicht, meine Pflicht, zu schweigen …

Es war nun schon eine ganze Reihe Minuten nach zehn vergangen, und noch immer stand der Prokurator am Fenster, und die Haushälterin wagte nicht, ihn zu mahnen.

Und nun, wo er mir auf eine so merkwürdige Weise in die Hände gefallen ist, nun, wo ich es weiß und es sagen darf – und es ist meine Pflicht, es zu sagen – und so ein Kerl, das ist ja ein Heidenglück für ihn! – Aber trotzdem, wie er es wohl aufnehmen wird – und in welchem Licht werde ich – Bah, einerlei – wenn es doch nur schon überstanden wäre!

Und wenn es wirklich Anspruch auf Wahrheit hatte, was verschiedne behaupteten, nämlich daß der Prokurator ein Herz habe, dann klopfte das Herz des Prokurators Borrig in diesem Augenblick sehr stark.

Wollen Sie mir nun meinen Regenschirm geben, Jungfer Svendsen, und zwar sofort?

Herr Gott, Herr Prokurator, Sie haben ihn ja in der Hand!

Wirklich? – Da seh einer! – Das hätten Sie gleich sagen können, Jungfer Svendsen.

Worauf er mit einer plötzlichen Wendung aus der Stube und auf dem Wege nach seinem Kontor war.

*

Und zu derselben Zeit endlich näherte sich eine dritte Person demselben Kontor.

Ein schöner schlanker Jüngling von ungefähr vierundzwanzig Jahren mit dunkeln Augen und braunem lockigem Haar, einem gescheiten, nachdenklichen und zugleich offnen Gesicht, mit etwas Vorwärtsstrebendem, Willensstarkem in Gang und Haltung, etwas, das auf ein einsames Sichdurchkämpfen hindeutete, aber in einem Kampf, der gewiß glücken würde, auch etwas Freigebornes, etwas facile-princeps-artigem, das auf »Rasse« deutete. Aber der Ausdruck war nicht froh, er war überdies jetzt gespannt und unruhig. Auch er »dachte,« gerade wie der Oberst Güllich und der Prokurator Borrig in demselben Augenblick.

Er dachte, ob es wohl möglich wäre – ob es sich so fügen könnte, daß das Rätsel seines Lebens wirklich in kurzem gelöst würde. Darauf hatte man ihm ja Hoffnung gemacht. Das »Rätsel seines Lebens« – ja, dies war bei ihm kein Theater- oder Romanausdruck, Er war ein unechtes Kind, kannte weder Vater noch Mutter. Die Mutter sei tot, wer der Vater sei, wisse man nicht – so hieß es. Das war es, was seine Lebensfreudigkeit verdüstert hatte, ehe er so groß war, daß er etwas derartiges verstehn konnte.

Dann war er nach seinem juristischen Examen auf Prokurator Borrigs Kontor angestellt worden. Ein gutes vertrauliches Verhältnis hatte sich entwickelt; der Prokurator hatte gefragt, der junge Mann hatte ausweichend geantwortet, aber – ja kurz gesagt, Borrig war daheim bei den Pflegeeltern in der Regnegasse gewesen. –

Dann war ein Tag gekommen, wo Borrig ganz sonderbar gegen ihn gewesen war – einige Fragen an ihn gestellt hatte, ob er sich an dies oder jenes aus seiner frühesten Kindheit noch erinnern könne.

Aus der Zeit, wo ich in die Volksschule ging? O ja, fast alles miteinander.

Nein, vor dieser Zeit, viel früher.

Meinen Sie an meine Mutter?

So heftig war dieser Ausruf gewesen, daß Borrig ganz erschrocken war, seine Hand ergriffen und ihn zu beruhigen versucht hatte.

Ja ja ja, junger Mann, junger Freund, ich werde thun, was in meiner Macht steht, um ein klein wenig Licht – Ob ich glaube, daß ich es könne? Vielleicht, vielleicht – So, sie hatte braunes lockiges Haar wie Sie auch? Da seh einer! – Und an was können Sie sich sonst noch erinnern? …

Und nachdem er dann ein paar Tage drüben in Jütland gewesen und wieder zurückgekehrt war, sagte er: Du lieber Gott, mein lieber junger Freund. Ja. Fragen Sie mich nur nicht. Ja. Es ist so gut, als es sein kann, warten Sie nur noch ein paar Tage. Kein Wort; ich werde es sagen, wenn die Zeit gekommen ist. – Ach Gott ja!

Wie schwer es war, zu warten.

An all dies dachte der junge Mann; und dann war er an der Thür des Hauses, wo Borrig sein Kontor hatte.

Vierzehntes Kapitel

Worin Prokurator Borrig zweimal »Au« sagt

 

Ah – Sie hier, Herr – Herr – Mul – Mul – von – eh – sagte Oberst Güllich, der sich in demselben Augenblick eingefunden hatte.

Mollerup – zuletzt von der Universitätstreppe und früher von Professors Löwes Schule. Aber bitte, gehn Sie voran, Herr Oberst.

Mollerup, ja gewiß, gewiß. Entschuldigen Sie meine Vergeßlichkeit. Man wird alt. Mullerup, ach ja. Sie waren der anständige Junge, der die Prügel haben wollte …

Nein, ich bekam sie nicht. – Und dann boten Sie mir eine Krone an …

Die Sie auch nicht bekamen, ha ha ha! Und das Gesicht des Obersten hatte während dieses kurzen Zwiegesprächs alles Ärgerliche und Müde verloren; er sah den jungen Mann freundlich an.

Wollen der Herr Oberst hier hinein? fragte Mollerup, als sie im zweiten Stock angekommen waren und beide vor Borrigs Kontor stehn blieben. Dann erlauben Sie – er steckte einen Schlüssel in die Thür und schloß auf.

Was ist das, sind Sie hier zu Hause? fragte der Oberst.

Ja, ich bin nach meinem Examen von Obergerichtsprokurator Borrig als Gehilfe angenommen worden. Bitte, treten Sie in das Privatkontor des Herrn Prokurators, er kommt gewiß gleich.

Nein. – Sind Sie nun Referendar? Haben Ihr Examen gemacht? Mon Dieu, das freut mich, ich gratuliere, ich gratuliere. Der Oberst schüttelte ihm warm die Hand, und als er einen eigentümlichen unfreiwillig stolzen Blick in Mollerups Augen gewahrte, fügte er gespannt hinzu:

Die Eins? Mit Glanz?

Mit Auszeichnung, antwortete Mollerup etwas leiser, indem er die Augen niederschlug.

Bei Gott! sagte der Oberst froher, als er selbst begreifen konnte. Bei Gott! Sie sind der prächtigste Junge … um Vergebung, ich bitte tausendmal um … aber – fügte er mit plötzlicher Niedergeschlagenheit hinzu – es ist mir etwas andres dabei eingefallen … nämlich sein früherer Augapfel, Tymme Lemvig.

Da kommt der Prokurator, sagte Mollerup und trat bescheiden ein wenig zurück.

Sobald Borrig die beiden gewahrte, brach er – anstatt zu grüßen – mit einem erstaunten und ärgerlichen Ausruf los:

Sie – zusammen – hier?

Und sich an seinen Gehilfen wendend fügte er ziemlich ärgerlich hinzu:

Habe ich Ihnen nicht gesagt, Mollerup, daß Sie heute bis elf Uhr frei hätten, habe ich es gesagt, oder habe ich es nicht gesagt, was?

Doch, Herr Prokurator, aber da ist eine Abschrift, die durchaus –

Abschrift? Da seh einer! Wollen Sie im Augenblick – doch, ganz richtig, da war ja die Abschrift – nun, dann nehmen Sie das Protokoll mit heim und schreiben Sie es ab, da Sie es durchaus wollen, und kommen Sie um elf Uhr damit, hier können Sie nicht sein, hier ist es ja hundekalt – jawohl, das ist es – und Sie sind krank und erkältet –

Ich, krank und erkältet, Herr Prokurator?

Jawohl, das sind Sie, das kann ja jedermann sehen – wollen Sie jetzt augenblicklich gehn – nun, mein bester Oberst, kommen Sie mit mir, seien Sie so gut, bitte!

Sie waren nun hinter verschlossener Thür in dem innern Kontor, und es verwunderte den Obersten, daß der Prokurator es für notwendig erachtet hatte, jemand wegzuschicken, da sie ja doch niemand hätte hören können.

Der Oberst begann: Ein tüchtiger junger Mann, Ihr neuer Gehilfe, Borrig.

Tüchtig? Jawohl. – Aber nehmen Sie Platz, bitte, nehmen Sie Platz.

Ich muß Ihnen sagen, daß ich ihn ein wenig kenne; er gefällt mir verdammt gut.

Der Prokurator wandte sich plötzlich nach dem Obersten um. Kennen Sie ihn ein wenig? Der Nachdruck auf den beiden Fürwörtern war überraschend. Sie kennen ihn ein wenig, was meinen Sie damit?

Na, Herrgott, ich bin ein paarmal mit ihm zusammengetroffen, zufälligerweise.

Borrig nimmt die Brille ab, beobachtet die Züge des Obersten genau und setzt dann die Brille wieder auf, aber langsam und ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Der Oberst hält das Feuer eine Weile aus, sieht dann zur Zimmerdecke empor, hierauf zum Fenster hinaus, und schließlich betrachtet er wieder den Prokurator.

Mon Dieu, Prokurator, was wollen Sie denn von mir?

Borrig ergreift die Cigarrenkiste und bietet sie an: Diese Seite, nehmen Sie von diesen hier; sie sind vielleicht leichter.

Güllich: Zum Teufel, nein; geben Sie mir die starke! – Um Vergebung, aber Ihr sonderbares Betragen heute, Borrig …

B.: Betragen. Da seh einer!

Pause. Der Oberst dampft seine starke Cigarre, während sich Borrigs Augenbrauen mehreremal auf die merkwürdigste Weise heben und senken.

G.: Hören Sie, Borrig, gerade herausgesagt …

B.: Ruhig, nur ruhig, bester Oberst, wir kommen jetzt gleich dran. Sie sind heute auch so verdammt nervös … Apropos, ich bin in dieser Woche in Jütland gewesen, in Viborg, ja, bei meiner Ehre, ich war dort.

G. schaut auf: So–o?

B.: Besinnen Sie sich nun einmal. Haben Sie sich besonnen? Gut. – Erinnern Sie sich ihrer, der Rudolphine?

Es war dem Obersten, als ginge ein leichter Schlag durch seinen Körper; in diesem Kontor hier sollte also niemals von etwas anderm gesprochen werden als von ihr; dieses Kontor war dazu bestimmt, eine Marterkammer für ihn zu sein – auch jetzt noch, nach einem Zeitraum von zehn Jahren! Erinnern? sagte er, und in seiner Stimme lag etwas Flehendes, etwas Vorwurfsvolles.

B.: Es sind nun zehn Jahre seit ihrem Tode vergangen, und erst jetzt habe ich ihre Hinterlassenschaft vollständig in Ordnung gebracht.

G.: Ach so? – Waren vielleicht noch irgend welche Ansprüche da? – Etwas weiteres – oder irgend – eine Bitte – oder …?

In des Obersten weichem, verzeihendem Ton lag etwas, das den Prokurator außerordentlich aufregte. Ansprüche, sagten Sie – eine Bitte, was? – Nachdem sie fünfzehn lange Jahre Ihr Leben verbittert hatte, Sie um Ihr Geld gebracht hatte, Sie verhindert hatte, zu heiraten, Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter getrübt … Oder wollen Sie vielleicht leugnen – ich spreche als Ihr Freund –, daß Sie einer der thörichtsten jungen Menschen im ganzen Lande gewesen sind – was Sie übrigens noch sind, trotz Ihrer sechzig Jahre –, oder daß die Eltern – Halt!

Er sprang plötzlich auf und schaute in das äußere Kontor hinaus, kam dann beruhigt zurück, nachdem er die Thür hinter sich geschlossen und zur weitern Sicherheit die Portiere vorgezogen hatte.

Eine Bitte, sagten Sie – Du lieber Gott! – Ich werde mir nun erlauben, ganz ruhig zu reden und keine starken Ausdrücke zu gebrauchen: ihre Eltern waren die lumpigsten Kuppler und Gelderpresser in ganz Viborg, was Gott und alle Welt wußte, nur allein Sie nicht, und das Mädchen war mit Ihrer Erlaubnis ein gewissenloses, verschwenderisches, liederliches Frauenzimmer, das sowohl vorher wie nachher alle Arten von schmutzigen Abenteuern hatte –

Seine Brauen lagen drohend über der Nase, der Zeigefinger bewegte sich wie im Takt vor dem rechten Brillenglas hin und her. Aber der Oberst war bleich und erbittert aufgesprungen; er hätte gern etwas dagegen gesagt, konnte aber nicht, er wußte ja, daß alles wahr war. Schließlich setzte er sich wieder und verbarg sein Gesicht in den Händen. Sie ist tot, schonen Sie sie, murmelte er.

Borrig betrachtete ihn mit einer Mischung von Zorn und Teilnahme.

Tot? – Tot? Ja, ich weiß wahrhaftig nicht, wie man das nennen soll – es ist, wie man es nehmen will.

Der arme Oberst kam von einer Gemütsbewegung in die andre.

Ist sie denn nicht tot? stammelte er.

Doch, insofern ist sie tot genug. Jedenfalls ist sie vor zehn Jahren begraben worden.

Nun, was wollen Sie dann von mir, Mensch? Warum haben Sie nach mir geschickt?

Wieder ging Borrig nervös zur Thür und sah hinaus. Hierauf trat er ans Fenster: Schönes Wetter heute, sagte er – es goß in Strömen. Dann wandte er sich plötzlich zu dem Obersten:

Oberst Gütlich, ich fordre Sie auf, ein Gedankenexperiment zu machen. Denken Sie sich irgend eine Person. Einen Mann. Haben Sie sich einen Mann gedacht? – Gut. Weiter. Stellen Sie sich nun vor, daß dieser Mann reich sei, aber einsam, kinderlos, schon bejahrt. Er hat ein weiches, sehnsuchtsvolles Herz, ist stolz, verdreht, altmodisch; wünscht seinen Namen fortgepflanzt zu sehen, hat sich aber aus dem einen oder dem andern Grunde nicht verheiratet, und nun ist er wie gesagt über sechzig – nun wohl, lieber Freund, halten Sie einen solchen Mann für eh – für das, was man – glücklich nennt? Ja oder nein?

G.: In der Hoffnung, daß diese unnötigen Quälereien bald ein Ende nehmen, will ich Ihnen antworten. Zum Teufel nein, er ist nicht glücklich – Borrig, Sie wissen, daß ich nicht glücklich bin …

B. – nachdem er eine Weile geschwiegen hat, leise –: Wenn dieser Mann nun aber doch ein Kind hätte?

G.: Wer, der kinderlose? – Er schwieg plötzlich. Borrig schwieg auch. Sie sahen einander an. Die Züge des Obersten schienen zu erstarren, während er den andern beobachtete.

Es gab eine Zeit, fuhr Borrig fort, wo Sie daran dachten – kurz gesagt, nach dem Tode Ihres Schwagers Lemvig – Ihre Schwester Amalie hatte einen Sohn, den Sie gern adoptiert hätten. Sie haben es nicht gethan, der Grund ist gleichgiltig. Es hat sich übrigens als ein günstiger Umstand herausgestellt, daß Sie es nicht – schweigen Sie jetzt, Oberst. Gesetzt, Rudolphine Petersen hätte Ihnen, wir wollen es annehmen, ein Kind geboren. Einen Sohn. – Nicht ein Wort, ruhig! – Nehmen Sie das an. Können Sie es annehmen? Haben Sie es angenommen? – Weiter. Was hätten Sie dann gethan? – Beim lebendigen Gott, fuhr der Mann mit ungewohntem Feuer fort, beim lebendigen Gott, ich sage kein Wort, ehe Sie mir geantwortet haben, was – hätten – Sie dann gethan?

Nach dieser Anrede legte Borrig den Kopf im Stuhl zurück und betrachtete Güllich noch schärfer als vorher. Die Augenbrauen waren so tief gesenkt, daß sie halb unter der Brille lagen.

Gethan? stöhnte der Oberst. – Gethan?

Ja, mit ihr, mit der Rudolphine Petersen. Phine Petersen, gerade Phine Petersen. Die Worte wurden von wiederholtem kurzem energischem Kopfnicken begleitet. Antworten Sie, Mann! Würden Sie sich etwa mit ihr verheiratet haben?

Ja, bei Gott im Himmel!

Borrig erhob die Arme ein wenig; auch die Augenbrauen hoben sich. Das Gesicht nahm einen Ausdruck der Erleichterung an. Er verriet die Freude, die jemand empfindet, der über die Berechtigung seiner Handlungsweise lange im Zweifel gewesen ist, diesen Zweifel nun aber vollständig gehoben sieht.

Sie hätten sie geheiratet. Da seh einer! Ja, nun habe ich Ihr eignes Wort, obgleich ich eigentlich nie daran gezweifelt hatte. Sich mit Phine Petersen verheiratet, barmherziger Gott! Wie Ihnen das ähnlich sieht! – Und das gerade ist es, was ich vereitelt habe.

Der Oberst war inzwischen aufgesprungen. Wollen Sie mit all diesem sagen, daß Sie mich betrogen haben – all diese Jahre her – ach Gott, sie hat ein Kind geboren! – Ein Kind! Einen Jungen! Meinen Sohn! – Guter Freund, Borrig, Borrig, um Gottes willen – ist er gestorben? – Ist er …? lebt er? – Wo?

Borrig zog seine schwarzen Augenbrauen so hoch hinauf, wie sie wahrscheinlich noch niemals hinaufgekommen waren und wohl auch niemals wieder kommen sollten.

Der Junge? Der ist nun ein junger Mann, tüchtig, rechtschaffen, hübsch – hübsch, glaube ich, so hieß das Wort –, in einer guten Stellung, die er sich aus eigner Kraft errungen hat – und, Güllich, ebenso von Sehnsucht erfüllt, einen Vater zu finden, wie Sie, mein liebster bester Freund, sich nach –

Wo ist er; in des Himmels Namen, wo?

Der Prokurator ging rasch im Zimmer hin und her, während er sich beständig bemühte, sein Gesicht nicht sehen zu lassen. Er nahm die Brille ab, rieb sie klar und setzte sie wieder auf; hierauf legte er die Hände auf den Rücken und bewegte unruhig die Finger hin und her. Dann schnaubte er sich plötzlich die Nase, und zwar mit einem solchen Lärm, daß er sich selbst ebenso wie den Obersten erschreckte.

Borrig, Sie müssen –

Still, Mann! Die Rücksicht auf den andern; nur teilweise vorbereitet; ich mußte doch zuerst wissen, wie Sie – er weiß noch nichts. Morgen. Ich bitte Sie deshalb, jetzt zu gehn. Morgen zu derselben Zeit hier. – Gehn Sie nun, lieber Freund, gehn Sie. Und er drängte den Obersten beinahe auf die Thür zu.

Aber in dem Augenblick, wo er diese öffnete, fuhr er wie von einer Biene gestochen zurück.

Sie wieder hier, Mollerup? Habe ich nicht gesagt, was? Habe ich es gesagt, oder habe ich es nicht gesagt? – Er war wirklich böse, so böse, daß er kaum die Worte hervorbrachte.

Mollerup hatte sich aufgerichtet und sagte nicht ohne eine gewisse bescheidne Würde:

Ich muß Sie also um Entschuldigung bitten, da Sie so viel Gewicht auf meine Abwesenheit legen, obgleich ich nicht verstehe – Sie wissen ja selbst, Herr Prokurator, daß man hier nicht hören kann, was drinnen bei Ihnen gesprochen wird.

Hören? hören? Seh einer! – Sind Sie denn hier auf dem Kontor angewachsen? – Ja, nun können Sie bei meiner Seele meinethalben gern dableiben – kommen Sie nun, Oberst, kommen Sie!

Mollerup war rot geworden. Warum ich wieder hergekommen bin, hat seinen Grund darin, daß diese Abschrift fertig werden mußte, und daheim – nun ja, daheim war es etwas – etwas kalt. Er schaute zu Boden.

Bei den Worten »daheim war es kalt« hatte Borrig dem Obersten einen kurzen unbeschreiblichen Blick zugeworfen, dieser aber schaute nur auf den jungen Mann, und einen hübschern jungen Mann hätte man auch schwerlich finden können, wie er so dastand, ein wenig gekränkt, etwas verwundert und zugleich betrübt und beschämt.

Der Blick des Obersten schien geradezu von dem jungen Mann gefesselt worden zu sein, und er achtete nicht darauf, daß der Prokurator ihn anfaßte, um ihn fortzubringen. Sein Blick weilte auf den Zügen, den Augen, den Haaren. – Der Oberst wandte sich zu dem Prokurator – er war ganz bleich geworden; beide waren bleich – und dann wieder zu Mollerup:

Wie alt sind Sie? fragte er mit undeutlicher Stimme.

Gehn Sie nun, Tod und Teufel, Sie sollen!

Vierundzwanzig Jahre, antwortete Mollerup ganz verdutzt. Au! sagte der Prokurator unmittelbar nachher.

Der Oberst wandte sich wieder an den Prokurator, wie um ihn zum Zeugen aufzurufen. Die Stimme, die Stimme, sagte er.

Es war noch ein Kontorist im Zimmer; dieser lief nach einem Glas Wasser für den Obersten, denn dieser schien einer Ohnmacht nahe zu sein.

Deine – Ihre Mutter hieß? – und ehe die Antwort kam, zum Prokurator: Ist dies …?

Borrig: Setzen Sie sich hier auf den Stuhl, so – Mollerup, nein, Oberst, nein, Mollerup – liebster Gott – warum sind Sie auch heute nicht weggeblieben, wie ich Ihnen gesagt hatte? Nun, fassen Sie sich jetzt, Sie sehen ja, wie ruhig Ihr Vater – Au! – Ja, nun nützt es doch nichts mehr. Oberst Güllich, dies ist Ihr Sohn, so wahr mir Gott helfe – So. Gott sei Dank, daß es gesagt ist! – Zu dem Kontoristen, der mit dem Wasser hereintritt: Was ist das?

Wasser.

Wasser? Seh einer! Schütten Sie es aus und gehn Sie augenblicklich zu Christensen und holen Sie eine Flasche Champagner, aber nicht von dem verdammten Wochenheimer, sondern – Fort mit Ihnen, Johansen! Und Gläser, zwei, nein drei, nein vier!

So. Ach Gott sei Dank.

Aber der Oberst lag ohne Rückhalt weinend vor seinem Sohn auf den Knieen und bat ihn mit flüsternder Stimme demütig und unglücklich um Vergebung. Der Sohn, noch weniger vorbereitet, war ein Bild der größten Verlegenheit, aber auch aufdämmernden Glücks.

Der Prokurator hatte sich in sein inneres Kontor zurückgezogen und erwartete Johansens Rückkehr.

Fünfzehntes Kapitel

Vorbereitung auf das Examen und Träume

 

Tymme saß in seinem Zimmer in der Admiralstraße und arbeitete auf sein Examen los. Das Zimmer war ihm widerwärtig, das Haus, die Bewohner, die Straße, die Stadt, alles war ihm widerwärtig. Auch die Bücher, die staatswissenschaftlichen und besonders die statistischen waren ihm zuwider, er konnte die Zahlen nicht behalten. Dagegen war es angenehm, sich in den Schaukelstuhl am Fenster zu setzen und ein wenig von den Feldern, dem Wald und dem Garten drüben auf Rosgaard zu träumen. Aber das ging ja nicht an, er mußte das dumme Examen machen. So, nun war die unleidliche Frau Winter draußen auf der Treppe. Und die Tochter, wie diese ihn ärgerte!

Es wäre aber Unrecht, wenn man sagen wollte, daß Tymme von vielen gestört worden wäre. Er war einer der einsamsten Menschen in der Hauptstadt. Mit dem »Lucifer« war er vollständig fertig. Von den Nachtkommersen und dergleichen hatte er sich auch zurückgezogen; es fiel ihm nicht besonders schwer, entweder war seine Natur nicht mehr empfänglich dafür, oder es war Bramsens Cynismus und noch mehr der Gedanke an Holmer und die Schwester, die ihm einen tiefen Ekel davor eingeflößt hatten. Zu Schwester Friederike kam er aus Haß gegen Holmer nicht mehr; er fühlte sich auch klein und übrig in ihrem Hause. Ebenso war er dem alten Freundeskreis aus dem »Jugendhort« längst fremd geworden. Die Abwechslungen in der Einförmigkeit des Tages waren die Mahlzeiten außer dem Hause, die Stunden in den Hörsälen der Universität und die Unterrichtsstunden in seiner Schule – diese waren übrigens fast ganz weggefallen; alle die dänischen Stunden waren ihm genommen worden: der Schuldirektor war mit seiner Orthographie nicht zufrieden. Nun das verstand Tymme schon – der Direktor war ja ein Freund von Holmer. Im übrigen bekam er auf diese Weise mehr Zeit zu seinem Studium – Lehrer würde er ja doch nicht werden.

Sehr selten sah er Onkel Leonhard und noch seltner Tante Erika – sie unterstützten ihn mit Geld, und so mußte er wohl – ach, hätte er doch erst das Examen gemacht, dann – ja was eigentlich dann? O je! wie war doch das Leben so grau in grau –

Es gehörte aber nicht viel dazu, seine Stimmung zu verändern. Ein Vogel, der am Fenster vorbeiflog, der Ruf eines Verkäufers drunten auf der Straße, der ihn an den Sommer und an das Land erinnerte, die Aufzählung von Wäldern oder Fruchtfeldern in einem statistischen Buch – das genügte, eine ganze Flut weicher träumerischer Sehnsucht in Bewegung zu setzen.

Bei Tag ist es meist die Sehnsucht nach dem Land und dem Sommer, nach Sonnenschein und Freiheit, nach dem Duft von Heuhaufen und frischer Erde, nach kräftiger, körperlicher Bewegung und Arbeit – ach, nur in die freie Luft und weit aufs Land hinaus. Ewig auf Rosgaard. Kindheit! Sommerferien!

Aber am Abend, da überkommt es ihn schwerer und trauriger. Da stellt sich der letzte verspielte Tag in eine Reihe mit den andern zahllosen verspielten Tagen seines Lebens vor sein inneres Aug; er wägt sein Leben ab, wie diese Art Träumer es zu thun pflegen, die stark sind in der Klage über die Vergangenheit, aber schwach im Willen für die Zukunft; eine schlaffe Resignation, eine thatenlose Reue. Aber sogar in diesem Sinken des Muts, diesem Aufgeben des Willens, diesem Einlullen des Verantwortlichkeitsgefühls findet Tymme eine Art Süßigkeit. Ein rhythmisches Wogen geht in diesen Stimmungen durch seine Seele. Dichten? Ach, er hat seit Jahren keinen Vers mehr geschrieben!

Tymme ist »eine Künstlernatur,« ohne daß er ein Künstler ist. Solchen Leuten pflegt es selten gut in der Welt zu gehn. Warum sollte es auch? Weg mit euch, sagt die Welt, geht wo anders hin! Kommt, ihr Tüchtigen, ihr könnt mir Nutzen bringen! Willkommen, ihr Fröhlichen, ihr könnt mich erfreuen! Und euch, ihr Frechen, seht, euch ist der beste Platz an meinem Tisch aufgehoben! Ihr aber, die ihr mir weder Nutzen bringt noch mich erfreut, ja mir nicht einmal Angst macht – hinaus mit euch, ihr könnt draußen in der Küche bei dem Gesinde betteln gehn! Aber auch das Gesinde jagt sie in den Hof hinaus, wo zum Schluß noch die Hunde nach ihnen schnappen.

Tymme zündet die Lampe an und »studiert aufs Examen los« bis zum Abendbrot; nach Hause zurückgekehrt studiert er wieder, bis es ihm ist, als könne er es nun nicht länger aushalten – und das dauert nicht lange –, da nimmt er ein unterhaltendes Buch zur Hand, das er gerade da hat; es ist Tolstojs »Kreutzersonate.« Es wird zehn Uhr.

Herein!

Rosalie ist es, »die Dicke.« Sie ist übrigens in der letzten Zeit etwas magrer geworden und hat viel von ihrer Schönheit eingebüßt; fast immer ist sie dem Weinen nahe. Bramsen ist fürchterlich treulos, er hat sie nun bald ein halbes Jahr nicht mehr besucht.

Ich soll fragen, ob der Herr Student heute kein warmes Wasser zum Punsch haben möchten?

Wie beliebt? Tymme schaut auf, und sein alter Widerwillen gegen sie ist durch das Lesen der Kreutzersonate noch verstärkt worden.

Ja, denn Mutter sagt, wir könnten nicht die ganze Nacht lang warmes Wasser bereit halten für den Fall, daß es dem Herrn beliebe zu pfeifen.

Ich verstehe Sie nicht, und ich bin sehr beschäftigt.

Das ist doch merkwürdig. Ich frage: Wollen Sie Ihren Punsch jetzt gleich haben? denn sonst bekommen Sie ihn gar nicht.

Danke, ich will gar keinen Punsch, weder heute abend noch sonst jemals wieder. – Dieser Beschluß war erst in diesem Augenblick, unter dem Einfluß des Tolstojschen Buchs entstanden.

Das ist doch merkwürdig. Sie sieht ihn an und setzt sich, ohne dazu aufgefordert zu sein, auf einen Stuhl, indem sie fortfährt:

Sie sind vielleicht auch unglücklich? Ihre Stimme verrät Teilnahme. Hierauf seufzt sie und schickt sich an zu weinen. Ist Ihnen vielleicht auch jemand untreu geworden? Ach, ich kenne das! Ach ja, ach ja, die Falschheit! Ja, ich habe es allerdings schon lange gesehen, wie elend Sie geworden sind, ja ja, das kann den Leuten schon zusetzen. Und ihr Mannsleute, ihr könnt euch wenigstens trösten, aber so jemand wie ich … Nun weint sie wirklich.

Tymme, dessen Herz gleich gerührt ist – übrigens hat er dieses Klagelied schon mehreremal gehört –, sagt:

Hören Sie, wissen Sie was, seien Sie froh, daß Sie aus diesem häßlichen, erniedrigenden Verhältnis herausgekommen sind; fangen Sie nun ein reines, gesundes und ehrbares Leben an, und Sie werden sehen – haben Sie nicht selbst das Erniedrigende …

Sie schweigt eine Weile bei diesem Erguß und weiß offenbar nicht, ob sie böse werden oder sich dankbar oder bloß im allgemeinen kokett zeigen soll.

Ach Gott ja. Ja, das ist allerdings wahr und gewiß. Ach Sie, Sie hätten gewiß mein Rettungsengel sein können – und sie sieht ihn durch ihre Thränen an – die Koketterie gewinnt die Oberhand. Tymme merkt es nicht, sondern fährt fort – es ist immer Tolstojs Geist, der aus ihm spricht:

Das Tierische, das Gemeine, das – nun ja …

Ach Gott ja, das ist leider nur allzuwahr; ein armes Mädchen wie ich …

Und dann mit einem solchen Cyniker wie Bramsen.

Aber nun gewinnt der Zorn die Oberhand. Das sind übrigens recht hübsche Worte, die Sie da anwenden, ja, Sie sind mir der Rechte zum Predigen! Sie sind großartig! Ja, ich kenne Sie! Sie möchten mich natürlich gern haben und ihn ablösen, und deshalb setzen Sie ihn bei mir herunter. Aber das sage ich Ihnen, ich pfeife auf Sie, denn das sage ich Ihnen, wenn man die Geliebte eines wirklich feinen Herrn gewesen ist, dann rümpft man die Nase über so einen – Tropf; jawohl, denn Sie haben mich beschimpft und haben »gemein« und »tierisch« gesagt, dafür habe ich Ihren eignen ungewaschnen Mund zum Zeugen.

Ich habe es doch nicht so gemeint, sagte Tymme, der über ihre plötzliche Schwenkung zu verblüfft war, als daß er Zeit gehabt hätte, ärgerlich zu werden.

Na, nun wollen Sie auch noch den Süßen spielen – nein, ich danke – Adieu mit Ihnen –, und sie segelte stolz zum Zimmer hinaus. Als er eine unfreiwillige Bewegung machte, um sie vorbeizulassen, rief sie:

Rühren Sie mich nicht an, oder ich rufe meine Mutter!

Er schlug vor Zorn auf den Tisch, aber da war die Dame schon draußen.

Nein – hier kann es niemand aus die Dauer aushalten, murmelte er, während er die Lampe neben sein Bett stellte und sich auszukleiden begann. Er freute sich darauf, im Bett weiter zu lesen.

Das that er denn auch, bis er das Buch mitsamt der Nachschrift fertig gelesen hatte. Dann löschte er die Lampe, konnte aber nicht einschlafen. –

Das beste, was ich werden könnte – das einzige, was für mich passen würde – ja, ich will an Onkel Johannes schreiben – dies hier muß ein Ende nehmen – es ist noch nicht zu spät, wenn ich mit ungeheuerm Eifer dran gehe –

Und dann dachte er an das glückliche Los des Landmanns, an die harte gesunde Arbeit im Freien, nicht mehr Nahrung, als was man zur Aufrechterhaltung und Vermehrung der physischen Kräfte nötig hat, zum Segen der Genügsamkeit und der Askese – er machte einen wahren Sport daraus … ach, die gesegneten Felder, der Duft der Erde und des nassen Grases, und der Wald dort drüben, und die in der Sonne glänzenden Gebäude – jetzt ist er wieder auf Rosgaard!

Die Sommerferien sind da; er ist wieder ein Junge, aber doch mit dem Bewußtsein all dessen, was er in den erwachsenen Jahren erlebt hat; es ist etwas da, worüber er sich schämen muß, Ingeborg sieht ihn an. Nein, es ist nicht Ingeborg; wessen Augen sind es denn? Es sind – es ist noch vor dieser Zeit, noch länger zurück – ach Mutter! bist du es? – Der Nußbaum rauscht leise vor der Fensterscheibe, sein Bett ist das kleine, alte daheim in der großen Schlafstube bei Vater und Mutter – ach, wie betrübt sieht sie aus –

Mutter!

Und er wird wach von seiner eignen Stimme, wird wach unter kindlichen Thränen.

In der tiefen Stille der Nacht, während das Herz noch von dem Schluß des Traumes klopft, während die Gefühle mächtig sind, denen man bei Tag keinen Einlaß gewähren kann, oder denen man dann keinen Raum geben will, in der tiefen Einsamkeit der Seele allein mit sich selbst oder – selig oder zerknirscht, wie man es eben ist! – mit dem höchsten Wesen; in der tiefen Stille der Nacht flüstert Tymme leise angstvolle Worte, an das Ungewisse gerichtet: Ach Gott, an dem ich gezweifelt habe, aber der du doch bist, ach könntest du mir doch meine Unschuld zurückgeben, könnte ich doch wieder ein kleines Kind werden, und alles andre wäre nur ein böser Traum – in der tiefen Stille der Nacht sehnt er sich so bitterlich und wehmütig heim, zurück und heim in die alte Zeit, nach Ruhe, nach Schutz; in der tiefen Stille der Nacht fühlt er, daß seine Seele sich vor dem Dunkel fürchtet, vor dem Leben, weil er nicht auf sich allein gestellt darin zu wandeln vermag.

Es ist zu einer andern Stunde der Nacht, gegen Morgen, wo die Träume wie vom Schimmer der Wirklichkeit oder vom dämmernden Tageslicht gefärbt werden; da können sie ein äußerst seltsames und lebendiges Farbenspiel annehmen, so lebenswahr und doch so phantastisch, daß der Träumende – indem er gewissermaßen Glauben und Wissen im dämmernden Bewußtsein vereinigt – weiß, daß es ein Traum sein muß, aber doch fest glaubt, daß es Wirklichkeit sei! Da ist es, wo von dem überraschten – oft froh überraschten – Träumer merkwürdige Dinge gesehen und erlebt werden, daß die Unwahrscheinlichkeiten natürlich werden, daß sich Verstorbne oder Fernweilende zeigen – ohne Grauen und Entsetzen, oft in süßem Wiedererkennen –, daß bedeutungsvolle Worte gehört werden: diese in der Nacht zuletzt geträumten Träume, sie waren es, denen die Alten besonders die Gabe der Wahrsagung beilegten.

Tymme kam es vor, als wandle er in einer wunderschönen, ja himmlisch schönen und doch zugleich wohlbekannten Gegend; er wußte, sie war im wachenden Leben nicht vorhanden, und doch war er schon oft da gewesen; sie mußte also doch vorhanden sein – da ging er nun frohen und bewegten Herzens. Er war ein Landmann und führte einen Pflug; der Pflug schnitt leicht durch die Erdschollen, Tymme brauchte kaum anzufassen, und er schwebte mehr, als er ging. Das war ein glückliches, freies Gefühl – und doch ein gewohntes und wohlbekanntes – so schien es ihm. Ein älterer Mann nähert sich ihm, ein fremdartiger, ansehnlicher, ernster Mann im Arbeitskittel: es ist Leo Tolstoj. – Sie haben dieses Buch geschrieben? fragt Tolstoj, indem er auf einen kleinen Band deutet, den er in der Brusttasche seines Arbeitskittels trägt; es ist die Kreutzersonate. – Ja, antwortet Tymme, denn er selbst ist nun Leo Tolstoj. – Unorthographisch, sagt mit Ernst der andre Tolstoj; geh hin und lerne zuerst richtig schreiben, und dann werde ein Dichter. – Dichter? fragt Tymme; ich will Landmann werden. – Dichter! sagt Leo Tolstoj feierlich, und in demselben Augenblick wird Tymmes Seele von unbeschreiblichen Gefühlen erfüllt, von starken, innigen – von allen Erinnerungen, von deutlich bewußten aus der Kindheit, nein, aus einem noch frühern Dasein – Tymme weiß wohl, daß er in seinem Bett in der Admiralstraße liegt, er sieht sogar das Fenster mit dem heraufdämmernden Tagesschimmer, aber trotzdem geht der Traum weiter, und mit unendlichem Behagen merkt er, daß es aus der Quelle seiner Gefühle wie Worte herausströmt – lautlose Worte – wonnig, wonnig! und in vollständig metrischem Gewande, findet er. Er lächelt selig, will nicht erwachen, denn die Stimmungen finden ganz von selbst, ohne jegliche Anstrengung ihren Ausdruck. Er versucht es, etwas davon laut auszusprechen, aber in demselben Augenblick wird er völlig wach.

Was sagte ich? Er versucht, sich etwas von der schönen Poesie zurückzurufen. Ach – alles ist verschwunden, nur einen hinsterbenden Widerhall der innern Musik vernimmt er noch …

In froher Stimmung kleidet er sich an. Das wäre doch beim Kuckuck; sollte ich wirklich ein Dichter sein?

Nein, ein Landmann, sagt er später, während er seinen Thee trinkt, das andre war der helle Unsinn.

*

Guten Tag, Onkel Leonhard. Ich komme, um dir und Tante Erika und Onkel Johannes für eure Unterstützung zu danken, aber ich möchte sie lieber nicht mehr haben; ich will das Examen und eine Laufbahn, wofür ich mich doch nicht eigne, aufgeben; die Landwirtschaft möchte ich lernen, wenn Onkel Johannes mich als Schüler annehmen will … Siehst du, das habe ich nun beschlossen.

Hallo! sagt Onkel Leonhard; er war eben im Begriff, seinen Morgenkaffee zu trinken, und hielt nun die schon zum Munde erhobne Tasse auf halbem Wege an.

Tymme hatte Schelte, Vorwürfe, Aufforderungen zur Ausdauer erwartet – nichts von alledem kam. Das Gesicht des Onkels drückte nur Überraschung aus, die von einer allgemeinen Zerstreutheit abgelöst wurde.

Hierauf giebt Tymme seine Erklärung noch einmal mit mehr Worten ab.

Ehe wir nun weiter gehn, sagte der Oberst, während er die schwebende Kaffeetasse vollends an die Lippen führte – denn obgleich das, was du sagst, mich interessiert – aber was war es nur, was ich sagen wollte –

Du bist heute so sonderbar, Onkel – ich meine …

Der Oberst trocknete mit der Unterlippe einen Kaffeetropfen von dem herunterhängenden Schnurrbart, dann wollte er etwas sagen, hielt aber inne, erhob sich, trat feierlich und mit dem Ausdruck hoher Freude in seinem Gesicht auf Tymme zu, umarmte ihn und küßte ihn.

Das ist mir lieb, daß du über meinen Entschluß so erfreut bist, sagte Tymme aufs äußerste erstaunt.

Das ist es nicht. Hör, mein Junge, ich werde dich darum doch ebenso lieb haben oder eher noch lieber als vorher, und deine Angelegenheiten sind auch die meinigen, auch die mit der Landwirtschaft, ja ich hoffe, daß es das Richtige ist, wir wollen mit Onkel Johannes darüber reden – aber ich kann beim Henker, ich kann jetzt im Augenblick nur an eins denken – und du bist der erste, der es zu wissen bekommt …

Und noch immer den Arm um seinen Neffen gelegt, erzählte er ihm, was er am vorhergehenden Tage auf dem Kontor des Prokurators Borrig erlebt hatte.

Hallo! sagte nun auch Tymme.

Sechzehntes Kapitel

Briefe

 

Rosgaard, den …

Lieber Onkel Leonhard!

Während Vater und Mutter nicht wissen, ob sie über Deine große Mitteilung erfreut sein sollen oder nicht, sollst Du deshalb doch nicht ohne sofortige Antwort bleiben, wenn sie auch nur von mir ist. Ich sage also, lieber guter Onkel, daß Du natürlich ebenso gut und hochherzig wie immer gehandelt hast. Ich sollte Deinen Brief nicht selbst lesen, Gott mag wissen, warum, aber Vater hält mich immer noch für ein Kind, trotz meiner zweiundzwanzig Jahre. Wo hast Du den jungen Mann kennen gelernt, der bald mein Vetter sein wird? Grüße ihn von mir. Daß er eine Perle ist, sehe ich als selbstverständlich an, da Du ihn ja so liebgewonnen hast. Wie freue ich mich, daß Du nun auf Deine alten Tage eine Stütze und einen Freund bekommst! Ich weiß ja, daß Du mich darum nicht weniger lieb haben wirst, sonst wäre ich nicht so erfreut, wie ich es bin. Es geht wohl Tymme ebenso; was sagt er denn zu der Geschichte? Ich höre, daß er daran denkt, Landwirt zu werden, und daß er vielleicht zu uns hierherkommt. Vater sagt, es sei ein wenig spät, jetzt erst anzufangen, und es fehle ihm an Ausdauer, aber ich habe ihn doch gern. Daß er nun doch finden möchte, wozu er sich eignet! Du und der neue Vetter, Ihr kommt hoffentlich in der allernächsten Zeit hierher, ich sehne mich ungeheuer nach Euch beiden.

So, nun muß ich schließen, denn der Brief soll mit der nächsten Post fort. Noch einmal: Viel Glück, viel Glück!

Deine treue Nichte
Ingeborg.

*

Rosgaard, den …

Mein liebes Brüderchen!

Ja, Du mußt mich und meine Frau wirklich entschuldigen, daß wir uns zuerst ein wenig haben fassen müssen, und offen gestanden, wir sind noch nicht ganz fertig damit. Die Sache hat ja zwei Seiten, und ich will Dir gern gönnen, daß Du selbstverständlich geneigt bist, sie von Deiner Seite anzusehen; das ist ja auch sehr recht, und wir freuen uns für Dich, wenn der Bursche wirklich so ist, wie Du sagst. Streng genommen, wenn nur Du froh und vergnügt darüber bist, so ist es die Pflicht der Familie, auch froh und vergnügt zu sein. Ich werde deshalb nicht näher darauf eingehn, sondern möchte Dir nur in Elinens und meinem Namen sagen: Laß uns den Burschen sehen; er ist auf Rosgaard willkommen. Wenn Du schreibst, daß Erika so außerordentlich froh darüber sei, so habe ich dazu zu bemerken, daß sie selbst an uns darüber geschrieben hat; natürlich sieht sie es als eine gute Schwester auch mit Deinen Augen an, aber sie hat wie Du auch den Fehler von Vater geerbt, daß ihr beide sentimental seid. Ich habe immer, wie Mutter, Deine Aufopferung der Dame in Viborg gegenüber ganz anders betrachtet – milde gesagt. Mittlerweile hat die Sache ja nun für Dich trotzdem noch eine erfreuliche Wendung genommen, und da ist es die Schuldigkeit der Familie, sich mit den Fröhlichen zu freuen. Worauf Du aber in der Nachschrift anspielst, das läßt sich nicht ohne weiteres beantworten; aber das ist ja bekannt, wenn ein unverheirateter Verwandter heiratet oder sonst auf eine Weise einen Erben bekommt – du bist ja fest entschlossen, ihn zu adoptieren –, dann entgeht der Familie das Geld, und dagegen läßt sich nichts einwenden. Margarete, die ja außerdem gut verheiratet ist, wird niemals Not leiden, und Ingeborg mit Gottes Hilfe auch nicht; dagegen ist es für die Kinder der armen Amalie ein böser Streich. Nun, lieber Bruder, so wollen wir Dir denn recht herzlich Glück und Segen wünschen, und wenn Du vielleicht diesen Brief nicht ganz so finden solltest, wie Du es gewünscht hättest, so kommt das, wie gesagt, daher, daß wir uns noch nicht ganz von unsrer Überraschung erholt haben; wir Alten können nicht so mit einem Schlag aus unsrer Haut heraus und in die Deinige hinein kriechen – und das ist es, was Du verlangst –, so wie zum Beispiel Ingeborg; sie ist ganz begeistert Deinetwegen; nun, sie kennt ja natürlich auch die Geschichte nicht ganz von Anfang an.

NS. Dieser Brief ist zwei Tage liegen geblieben, und mittlerweile hatten wir gestern nachmittag das Vergnügen, von dem jungen Menschen selbst einen sehr netten und gutgeschriebnen Brief zu erhalten, der in hohem Grade zu seinem Vorteil spricht. Nach diesem ist der Teufel in Eline gefahren; sie ist über das, was er von seiner Jugend erzählt, und was er von Dir sagt, sehr gerührt gewesen; kurzum sie ist zu den Sentimentalen übergegangen – wie Ingeborg schon die ganze Zeit her – und ist nicht mehr mit meinem Brief zufrieden; er sei so kalt, sagt sie.

Apropos, ich entdecke soeben, daß ich die andre Sache, die auf der Tagesordnung steht, ganz vergessen hatte; nämlich das mit Tymme. Ja, das kann man auch nicht so ohne weiteres gutheißen; ihr seid etwas plötzlich in Euern Entschlüssen da drüben in Kopenhagen, und dann glaubt Ihr, wenn ein junger Mensch zu nichts anderm taugt, so tauge er immer noch zum Landmann. Was Tymme anbelangt, so haben wir ihn hier sehr gern und beklagen nur, daß er nie bei dem bleibt, was er angefangen hat. Im ganzen genommen sind Amaliens Kinder nicht besonders gut geraten, und ich weiß wahrhaftig nicht, wozu sich dieser Junge wirklich eignet, wenn er nicht studieren will. Zu diesem hier ist es zu spät, wenn es aber absolut sein soll, so wäre es meiner Meinung nach besser, er ginge zu Fremden als zu Verwandten. Ich habe übrigens auch von ihm einen Brief bekommen, und, wie gesagt, wir haben ihn recht gern. Er kann also im März antreten. Macht er sich dann, schicken wir ihn später, wenn er das Theoretische kennen lernen muß, auf die landwirtschaftliche Hochschule: ja wir wollen unser bestes thun, aber eine Verantwortung können wir vorerst nicht übernehmen.

Mit den aufrichtigsten Grüßen von uns allen
Dein treuer Bruder
Johannes Güllich.

*

Amalienstraße, den …

Lieber Bruder!

Ja, ich habe ihn schon mehrere male gesehen. Ich pflege am Fenster zu sitzen und aufzupassen, wenn sie kommen, und das ist meist um neun Uhr. Dann haben sie ihren Morgenspaziergang auf der Langen Linie gemacht, wo sie ihren Kaffee zusammen trinken. Er ist sehr hübsch und erinnert mich sehr an Leonhard, obgleich er eigentlich wohl der Mutter ähnlich sieht. Ach Gott, wenn unsre Mutter das erlebt hätte, nein sie hätte, ich weiß nicht was! Bis jetzt hat Leonhard ihn weder hier noch anderswo vorgestellt, was ja sehr taktvoll von ihm ist. Aber ich weiß, er beschleunigt die Adoption, und indessen sucht er eine Wohnung. Gerade wie ein junges Brautpaar! Der liebe Leonhard, das Glück hat ihm früher allerdings nicht gelächelt; es ist so prächtig, ihn froh zu sehen! Wenn sie so ihren täglichen Spaziergang miteinander machen, da mögen sie Gott weiß wovon reden. Wie sie wohl von ihr reden, oder ob sie dieses Thema vermeiden? Es ist ja doch seine Mutter. Wie merkwürdig ist es, daran zu denken!

Ach, lieber Johannes, nun werden wir nachgerade alte Leute, und vieles in der Welt ist jetzt nicht mehr so, wie es in unsrer Jugend gewesen ist. Gott möge alles zum besten lenken! Ich kann es nicht vermeiden, daran zu denken, und Leonhard hat auch schon darauf angespielt, wie es wohl den Kindern der armen Amalie geht? Deshalb ist es sein höchster Wunsch, ja, werde nun nicht böse, aber er meint, er habe auch Deinen Kindern Unrecht gethan, und ich habe es übernommen, diesen Punkt bei Dir zu berühren, ach, möchte doch Gott es so fügen, daß sich die Herzen der jungen Leute einander zuneigten, sodaß mit der Zeit Christian und Eure Ingeborg vereinigt würden. Freilich, niemand kann in die Zukunft schauen! Dann würden Amaliens Kinder nach meinem Tode mein ganzes Vermögen bekommen. Ach, sie ist meine beständige Herzenssorge, sie, die wir nicht mehr nennen! Aber auch Karoline geht es in jeder Beziehung schlecht; ihr Mann ist eine ganz gemeine Personage. Denk Dir, er prügelt sie, und er trinkt. Und an jedem Ersten vom Monat schicke ich Geld hin; mehr und immer mehr, ach, es ist entsetzlich! Nein, das Leben ist nicht so, wie wir es uns gedacht haben.

Ich höre, daß Tym zu Euch kommen soll, um die Landwirtschaft zu lernen. Ach, wenn es doch nur ginge!

Denke, Christian ist derselbe Junge, der Tymmes Schulkamerad war! Doch davon weißt Du wohl nichts, aber Leonhard war immer so entzückt von ihm und erzählte manches von ihm, woran ich mich nicht mehr recht erinnern kann. Aber auf diese Weise bleiben sie ja die alten Schulkameraden; ist das nicht ein merkwürdiges Zusammentreffen? Sie gehn auch öfters miteinander spazieren, aber ich kann leider verstehn, daß Tym, wie sehr er ihn auch bewundert und ihn lieb hat, doch im stillen ein wenig jaloux ist, nicht wegen des Geldes – denn Tym hat im Grunde eine noble Denkungsart –, aber er stellt sich selbst so weit unter Christian, und das quält ihn.

Du weißt doch wohl, daß Christian ein brillantes Examen gemacht hat, und daß Borrig ihn sehr hoch schätzt?

Ach ja, ich betrachte in diesen Zeiten oft das Bild unsrer Mutter; was sie wohl gesagt haben würde?

Grüße Eline und die süße Ingeborg auf das herzlichste von mir, und sei du selbst gegrüßt mit den besten Wünschen von

Deiner
treuen Schwester
Erika Güllich.

Siebzehntes Kapitel

Die Adoption

 

Der Tag näherte sich, wo dem Güllichschen Stamme, der dem Untergang geweiht schien, ein starker und frischer Trieb aufgepfropft werden sollte, der, wenn man alles in allem nahm, doch aus derselben Wurzel stammte. Der Tag war nahe, an dem die alten Sehesteder und Gülliche, die in Tante Erikas Eßzimmer rings an den Wänden hingen, auf den Sohn der Rudolphine Petersen als einen Verwandten niederschauen sollten.

Jungfer Jutta sieht verstohlen zu den Bildern hinauf und schüttelt den Kopf. Wenn die Konferenzrätin das erlebt hätte! seufzt sie.

Diener Anders: Es ist ein großer Fehler von Ihnen, Fräulein Jutta, daß Sie sich immer auf die Frau Konferenzrätin berufen. Die Frau Konferenzrätin war eine vornehme Dame, dagegen habe ich gar nichts, aber die Frau Konferenzrätin respektierte nebst vielem andern auch das nicht, was man die Stimme des Bluts nennt.

Jutta: Ja, aber es giebt doch wahrhaftig Grenzen, Herr Anders. Der Sohn von so einer …

A.: Verzeihen Sie. Unregelmäßigkeiten werden Sie überall finden, sogar in den geordnetsten Familien. Unter diesen alten Bildern hier giebt es einen oder zwei, bei denen der Stammbaum – allerdings nur für das tiefer forschende Auge – vollständig aus dem Leime geht, ja, vollständig. Nehmen Sie zum Beispiel den dort, den alten Kammerherrn. Bei Gott, wer war denn sein Vater, wenn man alles in Betracht zieht? Der Kutscher, Mon Dieu!

J.: Das habe ich ja auch gehört, aber das ist nun schon so lange her …

A.: – wogegen seine Mutter eine ganze Güllich war, darüber herrscht nicht der geringste Zweifel. Was ich aber daraus entnehme, ist folgendes: Das Blut, Fräulein Jutta, das Blut auf der einen Seite genügt vollkommen.

J.: Ich will es gern glauben.

A.: Nun wohl, das ist es, was ich unter anderm unter der Stimme des Bluts verstehe. Aber dafür war die verstorbne Konferenzrätin vollständig blind, wie ich vorhin bemerkt habe.

J.: Haben Sie den jungen Herrn Christian schon in der Nähe gesehen?

A.: Ja, ich bin in dieser Lage, jawohl, und ich will der ganzen Welt gegenüber für ihn einstehn; noch ein wenig Schliff und das, was wir savojer nennen – und er wird mit dem Zahn der Zeit wie einer von uns werden. Und warum? Einfach weil der Vater ein Gentleman ist, von der Mutter vollständig abgesehen. Das Blut, Fräulein Jutta, das Blut dringt jederzeit durch.

*

Der Tag ist sehr nahe – Onkel Leonhard hat die Bekanntschaft der Familie Mollerup gemacht. Diese hat ihm Christian abgetreten; welcher Art mögen wohl ihre Gefühle gewesen sein? Ach, das Ziel für ihn ist ja nun erreicht, ja mehr als das; ihre Arbeit an ihm ist gethan, die Mühe und die Verantwortung vorbei, aber das kleine Zimmer wird doch leer stehn. –

Ach ja, ach ja, das ist der Gang des Lebens. – Leb wohl, Christian, du gelangst nun zu Ehre und Reichtum – bleibe nur auch ferner rechtschaffen.

Christian schaut sich in den kleinen Zimmern um: das Ticken der Uhren draußen im Laden kommt ihm wie die Stimmen unzähliger kleiner Erinnerungen vor – kleiner, kleiner; aber eben doch Erinnerungen!

*

Der Tag ist gekommen. Um Mittag werden ein paar Federstriche den Referendar Mollerup zu dem Referendar Güllich machen.

Aber sonderbar war das Gebaren des Obersten schon vom Morgen an. Pünktlich zur gewohnten Stunde stellte er sich zum gewohnten Morgenspaziergang ein, aber in vollständiger Offiziersgala; er war schweigsam und still und ein wenig feierlich. Als er dann mit Christian beim Kaffee in dem Pavillon der Langen Linie saß, genoß er nichts und gab nur ausweichende Antworten auf Christians Befragen darüber. Auf dem Heimweg gingen sie über den Amagermarkt, hier blieb der Oberst plötzlich stehn, schien verlegen zu werden, drückte Christian die Hand und war offenbar mehreremal im Begriff, etwas zu sagen – endigte aber damit, daß er ihn bat, ihn jetzt hier zu verlassen, indem er sagte: Geh jetzt, ich komme dann später aufs Kontor, geh nun, mein Junge.

Aber Christian wandte sich sogleich wieder nach ihm um, und da sah er, daß sein Vater auf die Schloßkirche zusteuerte. In kleinen Gruppen gingen die Leute die Stufen hinauf, unter ihnen der Oberst, leicht erkennbar an seiner Uniform. – Es war Freitag; Abendmahlsfeier!

Und oft in seinem spätern Leben, als zwischen ihm und dem Vater längst vollständige Vertraulichkeit in dieser Hinsicht eingetreten war, oft erinnerte sich Christian an die eigentümliche Rührung, die ihn bei diesem kleinen Zug ergriffen hatte, als dem Ausdruck einer tiefen und demütigen, aber befangnen und schüchternen Frömmigkeit, wie sie sich manchmal bei Leuten findet, die von der Gewohnheit, in die Kirche zu gehn und über religiöse Dinge zu reden, abgekommen sind.

Kurz vor Mittag kam der Oberst zu seinem Sohn aufs Kontor. Die Galauniform war abgelegt, aber dafür lag sozusagen Gala über dem ganzen freundlichen lieben Gesicht. Christian begrüßte ihn schon auf der Flur mit dem nach dem Abendmahl gebräuchlichen Gruß: Glück und Segen! – Der Vater betrachtete ihn einen Augenblick überrascht, hierauf flüsterte er, indem er ihn umarmte:

Ja, jetzt habe ich die Vergebung des Herrn – die deinige muß ich mir erst verdienen –

Du – meine Vergebung! – Vater, diesen Ton darfst du niemals anschlagen, ich kann mich nicht darein finden – sonst, fügte er hinzu, indem über seine tiefbewegten Züge ein helles Lächeln zog, sonst erkenne ich dich nicht als meinen Vater an.

Junge! – zum Teufel – nein, ich meine, Mon Dieu – nein, das ist ja auch Unrecht, nun einerlei – um Vergebung hätte ich sagen sollen – nun, jetzt wollen wir gehn und es fertig machen.

*

Der Tag ist vorüber. Nach den Federstrichen ist der allerletzte Akt vor sich gegangen: die alten Gülliche in Tante Erikas Eßzimmer haben ihn geschaut, und zwar ohne ihren Ausdruck in merklichem Grade zu verändern. Tante Erika hat ihn umarmt und dann ein wenig geweint. Später hat Anders Jutta gegenüber geäußert, daß eine »Adoption ein heiliger Akt sei, der alle Vergangenheit verschwinden mache,« und sogar Jutta hat eingeräumt, daß Christian seinem Urahnen Ulrich von Güllich gleiche, der in seiner Hoftracht, wie sie zur Zeit Friedrichs V. Mode gewesen war, abgebildet an der Wand hing – und damit war jeglicher Familienanerkennung Genüge geleistet.

Achtzehntes Kapitel

Worin der Oberst eine starke Cigarre raucht

 

In Borrigs Kontor sitzen der Prokurator und der Oberst; dieser mit einem gewichtigen offnen Taschenbuch in der Hand.

Dieses Salär kann ich nicht annehmen, es geht ins Wahnsinnige.

Zum Henker, doch!

Nein, Oberst, es ist mein letztes Wort.

Sehr wohl. Dieses Geld habe ich zu einer Art Sühnopfer für mein langes – kurzum, ich habe es zu etwas Juristischem bestimmt.

Aber was ist denn das für eine kuriose Vorstellung, die Sie mir wiederholt zu verstehn gegeben haben, mit Ihrem – Sühnopfer?

Umgehung des Gesetzes in langen Jahren; das wissen Sie am besten.

Liebster Gott, das hat ja keinen Sinn …

Umgehung juristischer Verpflichtungen. Ich fühle mich kurz gesagt dem Juristischen gegenüber in tiefer Schuld.

Borrig starrt ihn an.

Und wenn Sie, der Sie im Juristischen der nächste dazu sind, es nicht haben wollen, dann gehe ich jetzt gleich damit aufs Erbschaftsgericht oder – aufs Marine- und Handelsgericht – ja, lachen Sie nur, aber ich gehe, so wahr mir Gott helfe, aufs Hof- und Staats …

Bitte, bitte, wenn Sie nur herausfinden können, wo es wohnt.

Sehr gut, Herr Prokurator Borrig. Mein Entschluß ist gefaßt. Wo wohnt der nächste Rechtsanwalt hier in dieser Straße? Gott strafe mich, wenn ich nicht … Und der Oberst sah wirklich ganz entschlossen aus.

Ums Himmels willen! fuhr der kleine Prokurator nervös auf, thun Sie doch nichts so Thörichtes. Hören Sie, warten Sie ein wenig, geben Sie das Geld doch Ihrem Neffen Lemvig, der kann es gewiß brauchen.

Ich habe meinen Neffen und seine armen Schwestern schon bedacht, sagt der Oberst, während sich sein Gesicht verfinstert.

So fügen Sie dies Geld noch hinzu.

Gut, sagt der Oberst nach einiger Überlegung, ich werde es thun.

Da thun Sie recht daran. – Aber halt, noch ein Wort, ehe Sie gehn. Ich habe nicht unterlassen können, zu bemerken, daß Ihre Stimmung mir gegenüber in der letzten Zeit im ganzen genommen nicht so – freundschaftlich, will ich es nennen, gewesen ist, wie ich es wünschen könnte. Kurzum, Sie können mir nicht verzeihen, daß ich Sie damals gewissermaßen – gewissermaßen –

Ja, finden Sie nur selbst das Wort.

Aber bedenken Sie, daß Sie sie sonst geheiratet hätten – Sie – ein Güllich –

Trotzdem: vollkommne Ehrlichkeit, vollkommne, ist doch das beste, Herr Prokurator Borrig.

Keineswegs, keineswegs! ruft dieser mit einer Lebhaftigkeit und Unbefangenheit, die wahrhaft verblüffend sind.

Sie haben, sagt der Oberst, nachdem er sich wieder ein wenig gefaßt hat, Sie haben, das will ich einräumen, mir große Freundschaft bewiesen, und –

Ja, das habe ich, ganz richtig. Mit andern Worten, ich habe Sie besser beraten, als Sie es selbst gethan hätten. Ja, das habe ich gethan, Herr Oberst Güllich.

Und dann haben Sie sie durch Drohungen dazu gebracht, mir zu verschweigen, erstens daß sie … und dann, kurz gesagt, die Geburt meines Sohnes, das ist soviel wie –

Das ist soviel wie – seh einer! Ja, Sie sind angeführt, betrogen, überlistet worden, weil Sie ein Thor waren. Im übrigen war Ihr sogenanntes »Versprechen« ganz unjuristisch und ungiltig. – Ja, das war es. – Der Prokurator begann drohend seine Augenbrauen zu senken.

Daß ich hätte daran denken sollen, es zu brechen, ich, ein Güllich?

Um so notwendiger war es ja, daß ich es an Ihrer Statt brach.

All dies stimmt nicht mit meinen moralischen Begriffen überein, das sage ich Ihnen, Herr Obergerichtsprokurator Borrig.

Moralische Begriffe? Na, dem Himmel sei Dank, daß ich nichts mit moralischen Begriffen zu thun habe. Gäbe es hier in Kopenhagen auch nur zehn Männer von Ihren moralischen Begriffen, so würden wir in einer Räuberhöhle leben. Ich kann Ihnen mitteilen, daß von solchen Leuten wie Sie jeder einzelne wenigstens hundert Spitzbuben auf dem Gewissen hat, das kann statistisch nachgewiesen werden! – Hier in diesem Buch – er schlug heftig auf das Protokoll, das auf dem Schreibtisch lag, welcher Schlag die Einwendung, die der Oberst eben vorbringen wollte, übertäubte –, hier in diesem Buch stehn, wenn Sie es erlauben, mit den unwiderlegbarsten Zahlen alle Geldsummen ausgeschrieben, die sie Ihnen allmählich abgeschwindelt hat – wieder schlug er auf das Protokoll, als der Oberst wieder etwas einwenden zu wollen schien –; in einem Augenblick kann ich Ihnen die Summe mit allen Zinsen und Zinseszinsen zusammen rechnen – eine fabelhafte Summe; und was hat sie davon an den Jungen gewandt? Wie hat sie ihn behandelt? Hat sie ihn nicht verkauft, ihn für Geld gewöhnlichen Leuten hingeworfen, die aber zufälligerweise und durch Gottes Fügung rechtschaffne Leute waren, was?

Liebster Gott, und dann kommen Sie zu mir mit moralischen Begriffen? Wissen Sie, mein guter Mann, warum ich damals, warum ich kurz gesagt die abscheuliche Heirat verhindert habe, wissen Sie es, oder wissen Sie es nicht?

Der Oberst suchte nach Worten.

Darum, weil ich den Verstand hatte, den unser Herrgott in seiner Weisheit Ihnen vorenthalten hat, ja darum. – »Moralische Begriffe!« Ich werde Ihnen einen Kursus in gesunder Moral geben, und das jetzt auf der Stelle: es ist mehr moralischer Begriff in einer kleinen Lüge – und in einer großen dazu, manchmal –, als in Ihrer ganzen Person, Oberst Güllich, und in der ganzen Güllichschen Familie mit. Und vielleicht werden Sie mir nun in Zukunft mit Ihren moralischen Begriffen vom Leibe bleiben, sonst, bei meiner Seele, werfe ich Ihnen das ganze Salär, das Sie mir schuldig sind, ins Gesicht – haben Sie darüber etwas zu bemerken?

Ich wollte nur sagen … stammelte der Oberst ganz überwältigt.

Na seh einer! Nun, was wollten Sie nur sagen? rief der Prokurator mit unverminderter Kraft. Er riß seine Brille herunter und starrte dem Oberst gerade ins Gesicht. Nun, was?

Nun denn, sagte der Oberst, indem er tief aufatmete, dies, daß ich vielleicht nicht – jedenfalls schulde ich Ihnen ewige Dankbarkeit, das weiß ich sehr wohl.

Borrig setzte rasch die Brille wieder auf, nämlich um das Lächeln zu verbergen, das die ganze Zeit in seinen braunen Augen gelauert hatte und nun hervorzubrechen drohte. Ja, sehen Sie, das ist etwas ganz andres. – Eine Cigarre?

Mon Dieu, ja, aber eine starke nach diesem Donnerwetter.

Die Brauen des Prokurators schoben sich plötzlich in eine wahrhaft schwindlige Höhe empor, und zugleich brach er in ein so überraschendes und lautes Lachen aus, wie man es wohl selten in dem Zimmer eines Rechtsanwalts zu hören bekommt. Nach einer kurzen Weile stimmte der Oberst ein, und sie schüttelten einander die Hände. –

Der Oberst war die Treppe erst ein paar Stufen hinuntergegangen, als er wieder umdrehte und in Borrigs inneres Kontor zurückging.

Borrig, sagte er ernst und weich, während er den Arm um die Schulter seines alten, erprobten Freundes legte.

Was nun? fragte dieser etwas verwundert.

Borrig – die Worte wurden fast flüsternd herausgebracht –, Sie haben aber doch ihm gegenüber unrichtig gehandelt. Denken Sie an die Jugend, die er gehabt hat.

Der Prokurator war auch sehr ernst geworden.

Gütlich, nun kam es. Das andre war lauter Unsinn. – Ja. Ich habe es um Ihretwillen gethan. Vielleicht war es falsch. Gott aber hat es zum Guten gewandt.


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