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Legende von den Schuhen

Crispin

Crispin zieht den Hanfdraht und wichst ihn fein,
klopft mit dem Hammer die nackten Sohlen
und brummt: »Der Teufel mag Schuster sein
und dieses verdammte Handwerk holen!
Kein Krümelchen Leder in Land und Stadt!
Alles läuft in zerrissenen Schuhen,
weil der Krieg unsere Ochsen gefressen hat,
und Wucher die letzte Haut versteckt in den Truhen.
Wüßt ich nur, wo sie zu finden wär!
Ich wollt mich wahrlich nicht lange quälen.
Gibt der Gerber die Haut nicht freiwillig her,
nun gut: So muß ich sie eben stehlen!«

Den Dreisitz, daß es pumpert und kracht,
stößt er fort, wohl eine gute Elle.
Leis wird die Türe aufgemacht,
ein armes Weib steht auf der Schwelle,
in ihren Armen schläft das Kind.

»Lieber Crispinus, hörst du den Wind?
Es schneit, und die Schuhe sind ganz zerschlissen,
die Füße von Schnee und Frost zerbissen.
So brennt die Haut,
daß mir vor jedem Schritte graut ...«

Crispinus nimmt die Schuhe zur Hand,
scheuert sich heftig hinter den Ohren,
schaut von der einen zur andern Wand
und läßt die Finger in den Löchern bohren.
Dann stülpt er rasch die Jacke zurück,
zieht die Ahle über den Riemen
und schneidet sich rechts und links ein Stück
Haut heraus in breiten Striemen.

Hurtig hüpfen Pfriemen, Nadel und alles Gerät.
In einer Viertelstunde hat Crispin die Löcher mit seiner Haut vernäht.

Steht auf, bückt sich ungelenk und brummt:
»Liebe Frau, da sind eure Schuh!
Gern nähte ich sie mit Leder zu,
doch es gibt kein Leder. Nehmt denn an seiner Statt
meine Haut. Sie ist dick wie ein Ochsenblatt.«

Aufscheint ein Glanz, daß Crispinus verstummt.

Und Mutter Maria, die Schuhe an ihrem Fuß,
schwebt zur Decke, lächelt und läßt als Abschiedsgruß
von ihrer Schulter den Umhang sinken.
Das Tüchlein sinkt mit Wehen und Winken
leicht auf den Boden wie eine Feder.
Doch herunten wird es zur schönsten Platte Leder.

Crispinus schneidet daraus Sohlen, Spitzen, Flecke,
hämmert, sticht und pfeift selig in seiner Schusterecke.

Illustration: Rudolf Schiestl

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