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Die Hirtenlegende

Wendelin

Sankt Wendelin sitzt am Ackerrain,
gelassen den Hirtenstab zwischen den Knieen,
schaut still von der Höhe hinunter zum Main,
sieht die Flöße im Fluß, die Vögel im Winde ziehen
und ist ganz in Himmel und Land
wie in einen weiten Mantel gehüllt,
daran glänzt die Sonne als goldner Knopf.
Wenn aus der Herde ein Öchslein brüllt,
hebt der Heilige ruhig den Kopf
und schaut nach dem Tier.

Die Straße von Bamberg her trabt ein Zug
Ritter und Fräuleins in seidener Zier.

Der Bischof zügelt das Roß und hebt sich im Bug.
»Bruder Wendelin, komm mit mir!
In meinem Hause ist Platz genug.
Viel zu lange bist du ein Hirte für Ochsen gewesen.
Hüte die Seelen in meinem Bistum so gut
und du kannst morgen die erste Messe lesen.«

Erhebt sich Wendelin und lüpft den zerbeulten Hut.
»Viel Gunst, Euer Gnaden, für einen geringen Mann!
Ich dank und bitt, wollt es nicht übel anschreiben,
daß ich dem Ruf nicht folgen kann.
Will lieber bei meinen Ochsen bleiben.«

Dem Bischof fährt der Zorn ins Gesicht.
»So gilt dir Kuhweide mehr als Priestergnade?«

Sankt Wendelin lächelt fein und spricht:
»Ganz offen, Herr, es wäre zu schade!
Ich bin nun einmal kein Schleicher und Späher,
gehöre zu Wiesen, Kühen und Bauern
und fühle mich Gott bei meinen Ochsen näher
als ihr in euren glänzenden Mauern.
Laßt mich, Herr Bischof, weiter in meiner Stille!
Es ist Gottes und meiner Ochsen Wille.«

Fortsprengt der Zug. Die Straße stiebt Funken.
Sankt Wendelin ist wieder ganz in Sonne, in Wolken,
                              in rauschende Felder versunken.

Illustration: Rudolf Schiestl

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