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Entstehungsbericht

Die »Schuldlosen« sind auf etwas abenteuerliche Art entstanden. Eine Reihe von Novellen des Verfassers sind vor zwanzig und mehr Jahren in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen erschienen, sind inzwischen verschollen, ja sogar seinem eigenen Gedächtnis entfallen gewesen, und der Verlag hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese alten Stücke aufzuspüren, um sie als eigenes Bändchen wieder erscheinen zu lassen. Die Aufspürung gelang. Es handelte sich um die Kurzgeschichten »Mit schwacher Brise segeln«, »Methodisch konstruiert«, »Verlorener Sohn«, »Eine leichte Enttäuschung« und »Vorüberziehende Wolke« ,– die Entstehungsdaten finden sich im Inhaltsverzeichnis des Bandes ,–, doch als diese fünf Stücke in Gestalt von Korrekturbögen dem Verfasser nach Amerika geschickt wurden, war es für ihn kein erfreuliches Wiedersehen: außer ihrer Zeitgebundenheit, ihrer Verhaftung an die Atmosphäre der deutschen Zwischenkriegsepoche, außer diesem traumhaften, fast geisterhaften Element, das als ein Gemeinsames aus den Erzählungen aufschimmerte, gewissermaßen als eine Andeutung des Zeitgeistes, dem sie entstammten, schien nichts deren Neupublikation zu rechtfertigen. Und war das eine genügende Rechtfertigung? Es bestand eine Möglichkeit hiefür, nämlich durch Herausarbeitung des Zeitgeist-Phänomens, und nach kurzem Zögern wurde der Versuch gewagt: zur Hebung des gemeinsamen Stimmungs- und Sinnzusammenhanges wurden sechs neue Erzählungen hinzukomponiert und das ganze einem lyrischen Rahmen eingefügt. Durch diese Methode konnten die bereits gedruckten alten Texte (bis auf wenige technische Änderungen wie Namensgleichstellungen usw.) weitgehend intakt erhalten bleiben. Bloß das Anfangs- und Endstück, also die Novellen »Mit schwacher Brise segeln« und »Vorüberziehende Wolke« wurden mit größeren Zusätzen ausgestattet. Bei alldem stellte sich heraus, daß die Motivenstruktur der alten Stücke eine auch für die neuen ausreichende Tragfähigkeit besaß; die Einheitlichkeit des Ganzen war damit gesichert.

Ob man das auf diese Weise entstandene Gesamtgebilde einen Roman nennen darf, nennen soll, ist eine ziemlich gleichgültige terminologische Überlegung. Die Romanform ,– sogar die jener erzählerischen Amüsierinstrumente, die ohne besondere Kunstambition angefertigt werden ,– hat sich in den letzten Jahren einschneidend gewandelt: wie jede Kunst hat auch der Roman eine Welttotalität darzustellen, er im besondern die Lebenstotalität der von ihm vorgeführten Personen, und das ist eine Forderung, die mit zunehmend zerrissener und komplizierter werdender Welt zunehmend schwieriger zu erfüllen ist; der Roman braucht heute eine viel größere Materialbreite als ehedem, zugleich aber auch zu ihrer Bewältigung eine viel schärfere Abstraktion und Organisierung. Der alte Roman deckte Partialgebiete; er war Bildungs-, war Sozial-, war Seelenroman und zu seinen großen Leistungen ist zu zählen, daß er in diesen Partialgebieten vielfach Vorläufer der Wissenschaft, besonders der psychologischen gewesen ist. Heute, in einer Zeit ausgesprochener Radikalität, gibt es keine belletristische Pseudowissenschaftlichkeit mehr, und die vom Roman vermittelten Erkenntnisse dieser Art sind bestenfalls popularisierende Platitüden. Dagegen vermag die Wissenschaft keine Totalitäten zu liefern, vielmehr muß sie eben das der Kunst, also auch dem Roman überlassen. Die Totalitätsforderung an die Kunst hat hiedurch eine früher ungeahnte Radikalität gewonnen, und um ihr zu genügen, benötigt der Roman eine Vielschichtigkeit, zu deren Etablierung die alte naturalistische Technik sicherlich nicht ausreicht: der Mensch in seiner Ganzheit soll dargestellt werden, die ganze Skala seiner Erlebnismöglichkeiten, angefangen von den physischen und gefühlsmäßigen bis hinauf zu den moralischen und metaphysischen, und damit wird unmittelbar ans Lyrische appelliert, da nur dieses die hiefür nötige Prägnanz aufzubringen imstande ist. Und dies ist auch einer der Gründe, die hier zur Einschaltung der lyrischen »Stimmen« geführt haben, um so mehr als Novellen an sich keine Lebenstotalitäten, sondern Situationstotalitäten geben, sich auch nicht durch Addition darin ändern, wohl aber ihren weiteren Sinn zu enthüllen vermögen, wenn sie in ein rein lyrisches Medium, dem solche Sinngebung aufgetragen wird, eingebettet werden, wie dies eben hier geschehen ist. Soferne das geglückt ist, darf die damit erzielte Totalitätsdarstellung wohl als Roman bezeichnet werden.

Schließlich ,– eben im Zusammenhang mit jener »Vielschichtigkeit« ,– noch ein Wort zum inhaltlichen Problem dieses Romans:

Der Roman schildert deutsche Zustände und Typen der Vor-Hitlerperiode. Die hiefür gewählten Gestalten sind durchaus »unpolitisch«; soweit sie überhaupt politische Ideen haben, schweben sie damit im Vagen und Nebelhaften. Keiner von ihnen ist an der Hitler-Katastrophe unmittelbar »schuldig«. Deswegen heißt das Buch »Die Schuldlosen«. Trotzdem ist gerade das der Geistes- und Seelenzustand, aus dem ,– und so geschah es ja ,– das Nazitum seine eigentlichen Kräfte gewonnen hat. Politische Gleichgültigkeit nämlich ist ethischer Gleichgültigkeit und damit im letzten ethischer Perversion recht nahe verwandt. Kurzum, die politisch Schuldlosen befinden sich zumeist bereits ziemlich tief im Bereich ethischer Schuld. Dies darzustellen und innerlich zu begründen, war eine der Aufgaben des vorliegenden Buches, und hiezu bedurfte es der vielschichtigen Methode. Denn jene schuldhafte Schuldlosigkeit reicht einerseits hinauf bis in magische und metaphysische Vorstellungssphären, andererseits hinunter bis zu dunkelster Triebhaftigkeit.

Nirgends ist diese Art von Schuldlosigkeit so sichtbar wie beim Spießer; selbst als Verbrecher handelt er unentwegt aus edelsten Motiven. Der Spießergeist, dessen Rein-Inkarnation Hitler gewesen ist ,– in Ansehung einer der Hauptgestalten des Buches ließe sich auch vom Geist der Zacharias-Rasse sprechen ,–, entpuppt sich immer wieder als der des prüden Raubtiers, das jegliche Grausamkeit, also nicht zuletzt auch die Scheußlichkeiten der Konzentrationslager und Gaskammern ohne weiteres hinnimmt, dagegen von jeglicher Erwähnung sexueller Tatsachen, und gar wenn sie abwegig sind, sich persönlich getroffen und schwer beleidigt fühlt, allerdings damit sich auch selber verrät. Vielerlei Gründe lassen sich für das böse Phänomen anführen, beispielsweise das Abreißen der abendländischen Werttradition sowie die hiedurch bewirkte seelische Unsicherheit und Haltlosigkeit, von der eine so traditionsschwache Zwischenschicht wie das Spießertum sicherlich am intensivsten erfaßt worden ist. Stimmt das, so bedünkt es fast natürlich, daß in Deutschland es just dieser Zwischenschicht bestimmt war ans Ruder zu gelangen, denn hier war, infolge der Niederlage von 1918, der Prozeß des Wertzerfalls am weitesten gediehen, man darf wohl sagen bis zum kompletten Wertvakuum, und da in einem solchen keiner keinen mehr hört, hat sich die Verständigung zwischen Mensch und Mensch, auf die nackteste, mitleidloseste, ja abstrakteste Gewalt reduzieren müssen. Welch fürchterlicher Fortschritt, an dessen Spitze der Spießer marschiert! Und anscheinend marschiert er unaufhaltsam weiter. Allenthalben in der Welt vermehren sich die Konzentrationslager, allenthalben steigt der Terror, schier als ob des Spießers Nazigeist paradigmatisch für eine ganze Menschheit werden sollte, die im abstrakten Morden zwar nicht ihren Lebens- wohl aber ihren Sterbensinhalt zu suchen sich anschickt.

Wozu aber dann diesem Spießergeschlecht einen Spiegel in Romanform vorhalten? nur um des artistischen Vergnügens willen? nur um zu zeigen, daß in einer Welt des Terrors und abstrakten Mordes nichts Herkömmliches mehr Bestand hat, und daß auch der Roman nicht mehr mit den herkömmlichen Mitteln das Auslangen findet? daß das naturalistische Konterfei (an das der Roman sich länger als alle andern Künste geklammert hat) nun trotz all seiner Konkretheit und Ehrlichkeit eine ,– wenn man will abstrakte ,– Ergänzung benötigt? kurzum, daß die künstlerische Ehrlichkeit sich nicht mehr mit der unmittelbar gegebenen Sicht- und Hörbarkeit begnügen darf, sondern ins Unzugängliche hinabzutauchen hat, um hier die unsichtbare Gestalt, die unhörbare Rede des Menschen aufzuspüren? All das ist von Joyce bereits mit monumentaler Gültigkeit beantwortet worden; in seinem Werk hat er dargetan, daß eine überkomplex gewordene Welt nur durch Anwendung vieldimensionaler Mittel, nur durch besondere Symbolkonstruktionen und Symbolabkürzungen zu annähernder Totalitätsdarstellung gebracht werden kann. Doch würde der Spießer (vorausgesetzt, daß er Romane läse) sich in einem nach solchen Prinzipien gebauten künstlerischen Spiegel wiedererkennen? Erkennt er, wer mit Bloom gemeint ist? Er erkennt sich ja nicht einmal in der simpelsten Karikatur, denn da er streng darauf hält nichts von dem zu sehen, was unter der äußersten Oberfläche liegt, sieht er es auch nicht. Was also soll ein solcher Roman?

Die Frage rührt an ein wesentlichstes Problem der Kunst, an ihr Sozialproblem. Wem will sie einen Spiegel vorhalten? Was erhofft sie sich davon? Erweckung? Erhebung? Noch niemals hat ein Kunstwerk irgend jemanden zu irgend etwas »bekehrt«. Das bürgerliche Publikum war von den »Webern«, war von den Brechtschen Stücken begeistert, ist aber darum nicht sozialistisch geworden, und weder hat der Katholizismus durch Claudel, noch die Hochkirche durch Eliot neue Gläubige gewonnen. Es ist immer nur der Autor, der seine Überzeugung ausspricht, doch die Erschütterung, die er damit auslöst, bleibt im ästhetischen Bereich; bloß der bereits Überzeugte wird überzeugt. Ob auf der Bühne ein Religionsheld sich für den oder jenen Glauben opfert, ist dem Publikum völlig gleichgültig; wichtig allein ist das dramatische Ereignis des Opfertodes als solches. Denn wie immer die ethische Absicht eines Kunstwerkes geartet ist, ob es sich gegen religiöse Verfolgung oder gegen moralische Schuldhaftigkeit oder gar gegen ausgesprochene Verbrechen richtet, immer sucht es im letzten den ästhetischen Effekt und ihm ordnet sich alles Ethische unter. Ebendeswegen gibt es von hier aus keinen Zugang zu einem Menschen, dessen Schuldhaftigkeit lediglich in radikaler Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen und dem fremden Schicksal, gegenüber eigenem und fremdem Leid besteht; wird er als strafwürdiger Verbrecher gebrandmarkt, so rebelliert er mit vollem Fug, und Sühne oder Läuterung, nach denen (im Gegensatz zum juristisch faßbaren Verbrechen und seiner Strafabbüßung) die ethische Schuld verlangt, sagen ihm erst recht nichts, da er sich vom Schuldvorwurf nicht getroffen fühlt. Indes: so wenig das Kunstwerk zu bekehren oder in irgend einem konkreten Fall Schuldeinsicht zu erwecken vermag, der Läuterungsprozeß selber gehört trotzdem dem kunstwerklichen Bereich an; ihn zu exemplifizieren ist dem Kunstwerk möglich ,– der »Faust« ist hiefür das klassische Beispiel ,–, und durch diese Fähigkeit zur Darstellung und (was noch mehr ist) zur Vermittlung von Läuterung gelangt die Kunst zu ihrer bis ins Metaphysische reichenden sozialen Bedeutung.

Wohlgemerkt: hiebei funktioniert das Kunstwerk ,– und gerade der »Faust« zeigt dies ,– nicht als Instrument der Religiosität oder gar der moralischen Predigt, sondern sozusagen als Instrument seiner selbst. Denn in der Seins-Totalität, die das Kunstwerk ist (indem es sie darstellt) ist wesenhaft sowohl das Unendliche wie das Nichts miteingeschlossen; beides ist Voraussetzung des begrifflichen Erkennens, ist die (dem Tier verwehrte) Voraussetzung für die menschenhafteste aller menschlichen Fähigkeiten, nämlich Ich sagen zu können, und beides ist daher dem Menschen unverbrüchlich absolut, dennoch seinem Wissen entrückt, um so entrückter, als sich zwar sowohl zum Unendlichen wie zum Nichts stets hin-denken und sogar hin-zählen läßt, aber keine noch so große Menge von Denk- oder Zählschritten je dorthin gelangt, weil letzte Voraussetzungen des Da-Seins (sonst wären sie keine letzten) in einer diesem entrückten zweiten logischen Sphäre wohnen, also mit den Mitteln der ersten nicht habhaft zu machen sind: das ist das Absolute, in seiner Entrücktheit unerreichbar und doch urplötzlich im Kunstwerk vorhanden, unmittelbar habhaft, das Wunder der Menschhaftigkeit an sich, das Schöne, der erste Ansatz zur Läuterung der Menschenseele. Unverbrüchlich ist das Absolute dem Ich eingesenkt, und mag der Mensch noch so sehr in Unsicherheit und Haltlosigkeit, in Vereinsamung und Verlassenheit und Nacktheit geworfen sein, mag er noch so tief in Gleichgültigkeit versinken, gleichgültig gegen sich wie gegen den Nebenmenschen und infolgedessen schuldig, es bleibt ,– solange er imstande ist Ich zu sagen ,– das in ihm wesende Absolutheits-Fünklein flammbereit und wiederanfachbar, auf daß er, und sei's auf einer Robinson-Insel, mit seinem Ich auch das Neben-Ich wiederfinde: solcherart, von Anfachung und Wieder-Anfachung bewegt, geschieht die Läuterung, und das Kunstwerk ,– nicht jedes, wohl aber jedes totalitäts-angenäherte, ohne darum just ein »Faust« sein zu müssen ,– besitzt diese Anfachungskraft, manchmal nur mit der ganzen Fülle seines Atems, manchmal aber auch schon mit einem einzigen Hauch, mit einem sanftesten Wink, ja will es das Glück, mit einem einzigen ganz leichten Hindeuten zur Katze Arouette.

Hermann Broch

Die nicht eigens datierten Stücke wurden alle in den Monaten Juni-August 1949 geschrieben.

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