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Die Geschichten

Stimmen

1923

Neunzehnhundertdreiundzwanzig ,–, warum mußt du's dichten?
Um unser aller Versäumnis zu berichten.

*

In der Heiligkeit aber und nur in ihr
reicht der Mensch über sich hinaus,
und wenn er, gebetsversenkt, an ein
Größeres sich hingibt, dann wird die
Vorderseite seines Schädels, wird sein
Gesicht menschlich, wird das Dasein ihm
menschlich und erfüllt, wird sinnvoll
ihm die Welt.
Denn in der Heiligkeit und nur in ihr
findet der Mensch die Überzeugtheit,
ohne die es keinen Sinn für ihn gibt,
die Überzeugung der Ehrfurcht,
hingewandt zum Größeren und ebendarum
reine Schlichtheit auf Erden:
Nächstenhilfe ist gut, Mord ist schlecht,
die einfachste Absolutheit,
und für sie kämpfend ist das Heilige
stets dem Märtyrertum nahe, emporhebend
zu sich den schlichten Anstand des
sinnerfüllten Lebens, es emporhebend
zur einzig duldbaren Überzeugung, zur
schlichten Reinheit, zur Heiligkeitsnähe.
Wo jedoch
diese eine Überzeugung und eine Heiligkeit,
diese eine schlichte Anständigkeit schwindet,
wo sie entthront wird, ersetzt durch eine Vielfalt
allesamt heiligster Überzeugungen, kurzum durch
eine Vielfalt schierer Meinungen, welche frech
Heiligkeit spielen, da tritt Götzendienst ein,
Vielgötterei,
die den Menschen nimmer das ihm Größere
anbeten läßt, nein, ihn niederwirft vor
dem ihm Kleineren, so daß er, verlustig
seiner Menschhaftigkeit, in Selbstverkleinerung
verfällt und schließlich mit falscher Ehrfurcht
sich selber anbetet, ehrfurchtslos aber vor
wahrem Menschsein: hier webt das Unheilige,
das Weltenvakuum, in dem unterscheidungslos
alles das gleiche Gewicht hat, alles die
gleiche unheilige Heiligkeit.
Solcherart
unterscheidungslos, ehrfurchtslos, heillos
befeinden einander die Überzeugungen,
jede die heiligste, jede die absoluteste,
jede gewillt, die anderen auszurotten und
zu jeglichem Mord bereit: solcherart
aus der Fülle der Überzeugungen und der
falschen Heiligkeiten entsteht furchtbar
der Terror
in der heisern Wildheit des Vakuums,
dennoch selbst er noch heiligkeitsnachahmend,
auf daß sogar für ihn freudig märtyrerhaft
gestorben werde.
Und
als die Männer zurückkehrten aus dem Krieg,
dessen Schlachtfelder brüllende Leerheit
gewesen waren, da fanden sie daheim genau
dasselbige, kanonengleich brüllend die Leere
der Technik, und wie auf den Schlachtfeldern
hatte das Menschenleid sich in die Winkel der
Vakuumräume zu verkriechen, umwittert von deren
Schreckensheiserkeit, mitleidlos umwittert vom
rohen Nichts.
Da war es den Männern, als hätten sie nicht
zu sterben aufgehört,
und sie fragten, was alle Sterbenden
fragen: wohin, ach, wohin haben wir
unser Leben vertan? Was hat uns in
solche Leerheit hineingestellt und
dem Nichts anheimgegeben? Ist das
wirklich des Menschen Bestimmung und
sein Los? Soll unser Leben wirklich
keinen andern Sinn als diesen Nicht-Sinn
gehabt haben?
Indes, die Antworten auf die Fragen waren
selbsterteilte, und demzufolge waren sie
wieder nur leere Meinungen, wieder nur das
leere Nichts,
eingebettet im Nichts, geformt vom Nichts
und daher vorbestimmt, wiederum abzugleiten
zur Wirrnis der Überzeugungen, die den
Menschen zwingen, aufs neue sich aufzuopfern,
aufs neue wie im Kriege,
aufs neue in unheilig-hohler Heldischkeit,
aufs neue in einem Tod ohne Märtyrertum,
aufs neue im leeren Opfer, das nimmermehr
über sich hinauswächst.
Wehe über eine Zeit der hohlen Überzeugungen
und hohlen Opfer! Wehe über den Menschen der
leeren Selbstlosigkeit! Freilich, die Engel
beweinen auch ihn noch, aber ihre Tränen gelten
bloß seiner Vergeblichkeit.
Hinweg mit den Überzeugungen! Hinweg mit dem
Überzeugungschaos! Hinweg mit der unheiligen
Heiligkeit! Oh Anstand des schlichten Lebens,
oh seine Absolutheit! Oh gebt ihr endlich
wieder ihr ewig gutes Recht!
Oh fromme Wünsche! Keiner kann sie erfüllen,
denn schuldlos schuldig
an der Unerfüllbarkeit ist ein jeder: doch wer
für eigenen Vorteil die Menschenschuld ausnützt,
dessen Schuld wird geahndet werden; es trifft ihn
der Fluch der Verworfenheit.

 

III. Verlorener Sohn

Vor der Reihe der Hoteldiener im Bahnhofsvestibül wurde er unschlüssig. Er ging an ihnen vorbei und gab seine Koffer in der Gepäckaufbewahrung ab. Draußen regnete es. Ein dünner, beinahe zarter Sommerregen, und hauchdünn schien die Wolkendecke, die den Himmel unterwölbte. Drei Hotelomnibusse, zwei blaue und ein brauner, standen vor dem Bahnhof. Etwas weiter rechts endeten die Schienen der zum Bahnhof führenden Straßenbahnlinie.

A., von der Fahrt ein wenig benommen, überquerte den körnig glänzenden Asphalt und befand sich am Rande einer Gartenanlage; ohne viel nachzudenken, wandte er sich nach links, dem Gehsteig folgend, der die Anlage säumte. Erst sah er bloß das feuchte Gras und die Sträucher zu seiner Rechten, oder besser, er roch sie, leicht hingegeben der plötzlichen Gelöstheit, die in der feuchten Luft flutete, und da die Äste eines Strauches über den eisernen Zaun ragten, griff er ins feuchte Gelaub und ließ es durch die Finger gleiten. Es dauerte eine Weile, bis er sich soweit gesammelt hatte, daß er sich orientieren konnte.

Hinter ihm lag also der Bahnhof und bildete die Basis eines Platzes, der, ein langgezogenes gleichschenkeliges Dreieck, mit seiner Spitze zur eigentlichen Stadt hinwies, um wie ein Trichter den freilich jetzt nicht vorhandenen, zu anderen Tageszeiten aber vielleicht stattfindenden Verkehr in eine der Hauptstraßen dort einzugießen. Das stand mit dem feuchten Wetter in einem angenehmen und ruhigen Einklang, und der Ankömmling hätte sich ohne weiteres in einem stillen englischen Badeort wähnen können. Denn dieser Platz, den man zweifellos zur Zeit des Bahnbaues, so etwa zwischen 1850 und 1860, angelegt hatte, trug ,– trotz aller unverkennbaren städtebaulichen Voraussicht ,– die Spuren jener strengen Grazie, die als ein letzter Nachklang des Empire es zuwege brachte, das neue technische Zeitalter mit den alten höfischen Aspekten spielerisch zu vermengen, weil die Herrschaft des einen noch nicht verklungen, die des anderen noch nicht völlig in Kraft getreten war. Und so erweckte dieser Platz den Eindruck eines zwar kühlen, dennoch festlichen Vorraums, der Prächtigeres erwarten ließ. Beinahe gleichförmig und ausnahmslos zweistöckig gebaut, zeigten die beiden Häuserreihen an den Schenkeln des Dreiecks den unaufdringlichen, zurückhaltenden Stil jener Zeit, und da man die Rasenflächen der Gartenanlage wohlweislich in sanfter Mulde vertieft hatte, erhoben sich die Häuser wie am Ufer eines grünen Teiches, von diesem bloß durch die beiden Zufahrtsstraßen getrennt, deren stillaristokratisches Gepräge ,– nun waren auch die mit dem Zuge angekommenen Leute verschwunden ,– jetzt erst richtig in Erscheinung trat: ganz selten fuhr ein Auto vorüber, und schließlich kam gar eine Droschke einhergezackelt.

Zwei symmetrische S-förmige Fußwege durchschnitten das Dreieck der Gartenanlage. An ihrer Kreuzung stand ein Kiosk, überhöht von einer großen Uhr, die ihre drei Zifferblätter den drei Straßenseiten des Platzes zukehrte. Die Zeiger bewegten sich in Minutensprüngen; 17.11 konstatierte A. und verglich es mit seiner Armbanduhr, Fünf vorbei, Grenzscheide zwischen Nachmittag und Abend. Und plötzlich hatte er jede Lust verloren, mehr von dieser Stadt zu sehen. Was hinter diesem Bahnhofsplatz noch liegen mochte, das war gleichgültig geworden. Es war, als sei der Bahnhof bloß für diese dreieckige Siedlung gebaut, als würden die Züge bloß für deren Einwohner hier halten. Alles andere mußte mit Omnibussen weiterbefördert werden. Und A. hatte mit einem Male den starken Wunsch, zu jenen Einwohnern zu zählen.

Er betrachtete die Häuser. Es fand sich kein Hotel darunter, ja, nicht einmal Geschäftsläden gab es hier. Auch dies war in Ordnung. Wenn er nicht irrte, hatte er einen Gasthof gleich bei der Bahn bemerkt, aber der gehörte schon nicht mehr zum Platz; Fenster und Eingang waren der Bahn zugekehrt gewesen. Wollte man hier auf dem Platze wohnen, wollte man Fenster haben, die hinausschauen auf die grüne feuchtglänzende Fläche des Rasens, wollte man an diesen Ufern weilen, so hieß es auf jene Bequemlichkeit verzichten, mit der einem bei der Ankunft im Hotel die Sorge um das eigene Schicksal abgenommen wird. Vor allem mußte man wohl die beiden Häuserzeilen abgehen und suchen, ob nicht irgendwo ein Vermietungszettel heraushänge; das war sicherlich nicht bequem, doch A. hatte nun einmal, da er von der Reihe der Hoteldiener abgeschreckt worden war, auf Bequemlichkeiten verzichtet, und er mußte nun wohl oder übel die Konsequenzen daraus ziehen.

A. begab sich also auf die systematische Suche. Er ging bis zur Spitze der Anlage, warf einen schnellen Blick in die dort beginnende Hauptstraße und schritt dann langsam die linke Häuserzeile entlang dem Bahnhof zu, wobei er jedes Tor genau nach Vermietungsanzeigen musterte. An der Dreiecksbasis angelangt, benutzte er den dort ansetzenden S-förmigen Weg durch die Anlagen, kam wieder zur Spitze und nahm von hier aus die rechte Häuserzeile in Angriff, um sodann durch die Anlage hindurch neuerlich zur Spitze zurückzukehren. Dieses Spiel wiederholte er zweimal, konnte aber trotz solch doppelter Musterung keinen einzigen Zettel entdecken. Sollte er nochmals beginnen, ein drittes Mal sich vergewissern? Durfte er es bei zwei Malen bewenden lassen? Und irgendwie war es ihm recht, daß er nichts gefunden hatte, denn der Ekel vor fremden Wohnungen und berufsmäßigen Vermieterinnen war in ihm aufgestiegen, je mehr er sich mit diesen Häusern befaßt hatte; er sah sie mit Hausrat angefüllt, mit Betten und Waschgeschirr, das von fremden Ahnen ererbt worden war, er sah das Konglomerat von Lebensmechanismen ,– ja, Konglomerat war der richtige Ausdruck hierfür ,–, das Konglomerat, das, in all den Zimmern aufgeteilt, dennoch eine Ganzheit, diese beiden Häuserzeilen ausfüllte und um das grüne Dreieck sich staute.

Indessen waren die Uhrzeiger auf dem Kiosk beinahe bis sechs vorgerückt, und auf der rechten Seite des Platzes begannen die Fenster golden zu schimmern. Denn der Regen war versiegt, der Wolkenschleier zerrissen, und metallisch hell glänzte das Grün der Bäume und des Gesträuchs. Nun belebte sich auch der Platz, offenbar weil jetzt die Angestellten aus den Büros strömten und weil um diese Zeit wohl auch ein Zug vom Bahnhof abging: zumindest sah man eine Anzahl von Leuten bahnhofwärts dahineilen. Aber schon gab es auch einige, die, von der Frische des Grüns angelockt, sich auf den Bänken niederließen, obwohl diese noch ein wenig feucht waren.

Ohne daß ihm die plötzliche Veränderung, die der Platz durch die Überschwemmung mit menschlichen Lebewesen erfahren hatte, recht zu Bewußtsein kam, fühlte A. sich nun selber verändert. Denn so isoliert die Seele des Menschen auch sein mag und so wenig es sie eigentlich angeht, daß sie in einem Leib wohnt, der mit Magen und Gedärm ausgestattet ist, und so gleichgültig es ihr auch zu sein hätte, daß andere derartige Geschöpfe gleichfalls auf der Erde sich befinden und einen abgeschlossenen Platz bevölkern, sie wird doch ,– sobald sie eines solchen Lebewesens ansichtig wird ,– in eine unbezwingliche, gleichsam unterirdische Verbindung mit ihm gesetzt, sie verliert ihre Einheitlichkeit, wird gleichsam zerdehnt und deformiert, aufgespalten zwischen Trauer und Glück im Bewußtsein des Irdischen und des Todes. Und A., der auf diesem zwar von Menschenhand und in nicht allzu ferner Vergangenheit gebauten Platz eine Stunde so tiefer Verwirrung verbracht hatte, daß er, entrückt seinem sonstigen Sein, schier hatte vermeinen wollen, es werde niemals mehr ein Bett zu finden sein, darin seinen Leib auszustrecken, er, der schier vermeint hatte, eines solchen Bettes auch niemals mehr zu bedürfen, er ging stracks auf den Kiosk unter der dreigeteilten Uhr zu, betrachtete die dort ausgehängten und vom Regen ein wenig weich gewordenen illustrierten Zeitschriften und kaufte ein Exemplar des in dieser Stadt erscheinenden Kreisblattes. Und beim Wechseln des Geldes fragte er die Verkäuferin, ob hier in der Nähe ,– denn sicherlich besorgten die Leute aus der Nachbarschaft ihre Zeitungen in diesem Kiosk ,– nicht ein passendes Zimmer zu vermieten wäre.

Das Mädchen im Innern des Kiosks dachte eine Weile nach und meinte dann, daß er wohl bei der Baronin W. nachfragen könne, die (sie streckte dabei den Arm über den Verkaufstisch und wies auf ein Haus an der Ostseite) dort ihre Wohnung habe und von dieser ein oder zwei überflüssig gewordene Zimmer abgeben wolle, vorausgesetzt natürlich, daß dies noch nicht geschehen sei.

A., den Blick auf das Haus und die funkelnden Fensterscheiben geheftet, wunderte sich, daß er nicht von allem Anfang an dort nachgefragt hatte. Das Haus gehörte zu jenen, die in der wohlausgewogenen Reihe durch einen Balkon oberhalb der Haustüre ausgezeichnet waren, und gleichsam in einem zweiten Grade der Auszeichnung war eben dieser Balkon durch Blumenschmuck am Fuße des Eisengeländers auffällig gemacht worden: die roten Pelargonien leuchteten im Einklang mit dem funkelnden Glas, als sei die Seele zu lauterer Freude geboren, ja mehr noch, ewig vorhanden seit jeher und für immerdar. Das war natürlich nur Fassade, das wußte auch A., und er wußte nicht minder, daß hinter der hellsten, man möchte wohl sagen zeitlosesten Fassade sich dunkle Gelasse befinden; er wußte wohl, daß es keine Farbe gibt ohne Substanz, die sie trägt, aber in all dem Wissen strömte ,– es lockernd und auflösend ,– die Bläue der Luft und die beglückende Abwandlung des Regenbogens, der bruchstückweise nun über den Platz sich spannte, von der Transparenz vieladrig durchströmt, die Dunkelheit und Unermeßlichkeit des Weltenraumes dahinter ahnen lassend: Skala, die das Dunkle und Irdische, das Substantielle und Geschlossene verbindet mit dem geöffneten Licht des Himmels und trotzdem wieder zur Dunkelheit des Unermeßlichen zurückleitet. Vielleicht wußte dies auch das Mädchen im Kiosk, und wenn sie es nicht selber wußte, so wußte es doch ihre Hand, denn die viel gelenkige, vieladrige, vielknochige Fingerhand, sie wies noch immer auf das Haus hin, unsichtbar zum Hause hin verlängert, unsichtbar die Einheit zwischen der toten Architektonik dort und der lebendigen Hand, ein Hinüber- und Herüberstrahlen, in dem die leuchtenden Pelargonien gleich sanften Vermittlern schwammen. So war also A. von mancherlei verborgenen Strömen getragen, da er zu dem Hause hinüberschritt, sein Ziel im Auge, und so wie ein jeder der hier wandelnden Menschen sein eigenes Ziel im Auge hatte und ein jeder auf seinem eigenen Strom dahingetragen wird, so schritt er dahin in dem Gewebe der Ströme, er, ein nackter, vielknochiger, vieladriger, vielgelenkiger Mensch unter den mehrteiligen Kleidern, die auf ihm saßen.

Was zwischen den Stationen des Lebens liegt, wird zumeist vergessen. Doch während A. jetzt über die Straße schritt und den schüttern Strom der zur Bahn eilenden Leute durchquerte, da fiel ihm ein, daß er diesen Augenblick nie mehr vergessen und ihn zu jenen gesellen wolle, die er in der Stunde des Todes sich ins Gedächtnis rufen werde, ihn mit hin überzunehmen in die Ewigkeit. Warum er eben diesen Augenblick auswählte, diesen fluktuierenden, kaum zu erhaschenden, anstatt eines erhabenen und festgefügten, das hätte er wohl nicht angeben können, denn die Leichtigkeit, mit der er die Straße überschritt, ein göttliches Überwandeln des erhabenen Regenbogens, diese Gelöstheit der Glieder, sie war zwar in sein Wissen gedrungen, drang aber nicht in die Überlegungen seines Bewußtseins, und hätte man ihn gefragt, woran er jetzt denke, er hätte wahrscheinlich von dem zu erwartenden Zimmerpreis gesprochen oder er hätte versucht, sich des praktischen Zweckes zu entsinnen, um dessentwillen er in diese Stadt gekommen war. Aber das wäre ihm nicht gelungen, und nun schon gar nicht, denn es trat ihm aus dem Haustor eine Dame entgegen. Gleichsam wählend, welcher Strömung sie sich hingeben sollte, sah sie die Straßen hinauf und hinab. Oder war es etwa gar, weil sie den Gast erwartete, ihn einzuholen, ihn zu begrüßen?

Und A. fand es natürlich, daß er sie nach Baronin W. und dem vermietbaren Zimmer fragte.

Sie stutzte betroffen:

»Ja, meine Mutter ,…«, und dann fügte sie schroff hinzu: »aber wir vermieten jetzt nicht.«

Und ohne sich auf weiteres einzulassen, ja ohne A. überhaupt zu bemerken, nahm sie von seiner Enttäuschung keine Notiz und verschwand wieder im Hause, als müßte sie zurückkehren, um die Wohnung vor dem Eindringling zu schützen.

Wäre dies vor einer Stunde geschehen, da noch der Regen herabgerieselt war, es wäre verständlich gewesen, jetzt aber fiel das Verhalten des Fräuleins ,– denn um ein Fräulein handelte es sich offenbar ,– in so aufdringlicher Weise aus dem gesamten Naturgeschehen, daß A. nicht daran glauben konnte. Entweder gab es noch verborgene Zusammenhänge innerhalb des Sichtbaren und Erfüllbaren, oder es mußte hier irgendein Irrtum, ein Beobachtungsfehler vorliegen. A. wagte sich in den Hausflur. Der war am andern Ende durch ein weißgestrichenes, verglastes Tor gegen einen Garten abgeschlossen, welcher in Hausbreite sich weit nach hinten erstreckte, weit genug, daß die weißen Bänke in seinem Hintergrund noch außerhalb der Schattengrenze sich befanden, von der Abendsonne berührt und feuchtglänzend.

Ein angenehmer Küchenduft, Zeichen der baldigen Abendmahlzeit, vermischte sich mit dem Geruch der weißgekalkten Wände im Stiegenhaus, und A. wußte auch, daß man bloß die Tür zum Garten öffnen mußte, damit der Geruch der abendfeuchten Erde und der Pflanzen gleichfalls hereinfließe. Das war alles so sehr in Ordnung, daß A. wieder voller Zuversicht wurde und kurzerhand die Treppe hinaufstieg.

Im ersten Stockwerk stand er vor einer ebenfalls weißgestrichenen Glastüre, und die trug den Namen des Freiherrn v. W. auf einer kleinen, sehr blanken Messingtafel. Die Messingbeschläge der Tür glänzten golden im Widerschein des Stiegenhausfensters, das auf den Garten führte, doch unter dem altmodischen messingnen Klingelzug war ein moderner elektrischer Druckknopf angebracht, und das störte die Einheitlichkeit. A. wartete ein wenig, und dann drückte er kurz entschlossen auf den Knopf.

Es dauerte ziemlich lange, bis geöffnet wurde. Eine alte Frau mit weißem Stubenmädchenhäubchen steckte den Kopf heraus.

»Ich komme wegen der Wohnung«, sagte A.

Das alte Stubenmädchen zog sich zurück. Nach ein paar Minuten erschien sie wieder und ließ ihn eintreten. A. fand sich in einem Vorraum, der mangels einer direkten Belichtung ,– es gab hierfür bloß die Eingangstüre und eine gegenüber befindliche, deren Glasscheiben mit Spitzenvorhängen dicht verhängt waren ,–, aber auch infolge der Überfüllung mit Möbeln einen unfreundlichen und düsteren Eindruck erweckte. Und daran änderte auch nichts, daß es nicht die üblichen Einrichtungsstücke eines Vorzimmers, sondern gute Stilmöbel waren, die man hier angehäuft hatte. Das bejahrte Stubenmädchen machte sich in einem Winkel zu schaffen, um den Wartenden zu bewachen. Dann wurde sie der Diskretion müde; sie blieb einfach stehen, und gesenkten Kopfes ließ sie den matten Blick an dem Fremden haften.

Hier roch es dumpfig; der gute abendliche Küchengeruch hatte also in einer andern Wohnung seinen Ursprung gehabt. A., der den Plan der Wohnung sich zurechtgelegt hatte, folgerte, daß die Glastüre zu dem großen Mittelraum des Hauses führen und daß zu diesem der große, mit Pelargonien geschmückte Balkon gehören müsse, und er war voller Ungeduld, eintreten zu dürfen.

Hinter der Glastüre wurde gesprochen; zwei gedämpfte höfliche Frauenstimmen:

»Bei den gedrückten Zimmerpreisen ,… ich begreife nicht, daß du noch immer an die Vermietung denkst. Und was wir heute einnehmen, ist morgen nichts mehr wert; die Geldentwertung ist gespenstisch, und sie wird täglich gespenstischer.«

»Es ist immerhin ein Beitrag.«

»Wir werden es in Reparaturen wieder dransetzen.«

»Oh, wir sollen doch nicht so pessimistisch sein.«

»Und ein Fremder in der Wohnung ,… wenn es wenigstens eine Dame wäre. Man wird sich ständig geniert fühlen.«

»Vielleicht ist es gut, männlichen Schutz zu haben.«

Nun wurde ein Stuhl gerückt.

»Ja, wenn du nicht zur Kenntnis nehmen willst, daß wir 1923 leben und wir einen Krieg verloren haben ,… kurzum, wenn ich dich nicht überzeugen kann ,…«

»Mein Gott, ein Versuch, ich verstehe nicht, daß du dich so wehrst.«

»Bitte, ich werde ihn hereinrufen ,… aber ich gehe; ich will nichts damit zu schaffen haben. Du mußt mich entschuldigen.«

Das war in aller Höflichkeit und Ruhe gesagt, obwohl vielleicht eine Unterschwingung von Zorn darin klang. Dann wurden Schritte hörbar, es ging eine Tür, und durch den schmalen Korridor kommend, der wahrscheinlich auch die Verbindung zu den andern Vorderräumen herstellte, erschien das Fräulein im Vorzimmer. Die Dunkelheit des Raumes verhinderte sie, den Fremden sogleich zu erkennen. Mit einem kurzen, gleichmütigen »Bitte« gab sie dem alten Stubenmädchen die Weisung, ihn eintreten zu lassen, doch bei der Ausgangstüre bemerkte sie, wen sie vor sich hatte. Sichtlich überrascht und empört, fand sie nichts zu sagen als:

»Ich begreife nicht.«

A. verneigte sich:

»Ich meinte, daß ein Mißverständnis vorläge.«

Das Fräulein überlegte einige Sekunden:

»Meine Mutter würde sich aufregen, wenn Sie jetzt weggingen, aber ich empfehle Ihnen dringend ,…« Sie wollte weiterreden, indes das alte Stubenmädchen war vorgestreckten, aufmerksamen Gesichtes nähergeschlichen, und so schwieg das Fräulein; bloß mit einer kleinen, beinahe bittenden und heimlichen Geste deutete sie an, A. möge sein Quartier doch anderwärts aufschlagen. Allein gerade diese heimliche Verbundenheit erweckte in A. neue Zuversicht, Zuversicht, daß eine verborgene Gesetzlichkeit die kleinen Störungen des Weltgeschehens, von denen er in der letzten Viertelstunde betroffen worden war, bereinigen werde. Und obgleich er doch gehört hatte, daß das Fräulein mit der Vermietungsangelegenheit nichts zu tun haben wollte, ja, vielleicht eben deshalb brachte er den Mut zu der Frage auf, ob sie an der Unterredung nicht teilzunehmen wünsche.

Sie überlegte auch tatsächlich ein wenig; dann sagte sie kalt: »Ich hoffe, daß dies nicht notwendig sein wird«, und ging hinaus, während die Alte die Glastüre zum Mittelraum öffnete.

A. hatte sich nicht getäuscht; es war ein großer dreifenstriger Raum, der sich nach dem Balkon hin öffnete, durchleuchtet von der untergehenden Sonne. Am Fuße der Eisenbalustrade draußen glühte das Rot der Pelargonien zwischen den starken Blättern; schwarz war die Erde in den grüngestrichenen Blumenkisten. Hierher hatte die Hand des Mädchens gezeigt, und es war wundersam, daß er, der damals neben dem Kiosk gestanden und die unsichtbare Linie hier herauf verfolgt hatte, nunmehr ans andere Ende der Linie geraten war, herübergetragen von etwas, das mit dem Leib und den Beinen des Leibes, die das besorgt hatten, eigentlich kaum mehr eine Verbindung hielt. Und daß die alte Dame, die in einem Lehnstuhl beim Fenster saß und deren Profil sich dunkel gegen das blendende Licht abzeichnete, nun ihrerseits die Hand ausstreckte, sie ihm ,– fast überraschenderweise ,– zur Begrüßung zu reichen, das war eine jener Übereinstimmungen, die ihn immer mehr verstricken wollten und die doch beglückend waren.

»Sie haben also die freundliche Absicht, bei uns zu mieten«, sagte die Baronin W., als er ihr gegenüber Platz genommen hatte.

Ja, dies beabsichtige er. Im Grunde war er von ihrer Anwesenheit gestört; er war gezwungen, sich ihr zuzuwenden, während seine Blicke lieber von dem Raum Besitz ergriffen hätten, der ordentlich mit blankem Parkettboden und vielerlei Möbeln und vielerlei Gegenständen um ihn herum sich aufbaute. Durch die geöffnete Balkontüre wehte das gemäßigte Geräusch des Platzes; das Zwitschern der Vögel in den Baumkronen war vernehmlicher als alles andere.

»Wurden Sie an uns empfohlen? ,… meine Tochter ist einer Vermietung überhaupt abhold ,… wenn Sie aber an uns empfohlen wären ,…«

»Ich bin dem gnädigen Fräulein bereits begegnet«, wich A. aus.

»So?«, es klang etwas beunruhigt, »haben Sie mit ihr gesprochen? ,… wir leben sehr zurückgezogen, ich möchte beinahe sagen einsam.«

»Ich hatte den Eindruck«, sagte A., »und will selbstverständlich nicht störend in Ihre Gewohnheiten eindringen.«

»Meine Tochter fürchtet für meine Ruhe ,… sie nimmt allzuviel Rücksicht auf mich; ich bin noch nicht so alt.«

Kein Mensch ist alt. Die Jahre waren über das Gesicht und den Körper der Baronin dahingegangen; zeitlos jedoch sprach ihr Ich: ich bin nicht alt. Und zeitlos bewahrt das Gedächtnis das Gewesene. Es senkte der Abend sich rasch herab, doch wie zeitlos stehen die Möbel und die Wände der Räume, es blühen und verwelken die Pelargonien, sie werden im Winter vom Balkon hereingetragen, Schlaf senkt sich auf den Menschen, der Mensch geht durch die Räume seiner Behausung, er tritt zu seinem Bette, er geht durch die Behausung seines Schlafes, doch unabänderlich lebt sein Ich von Schlaf zu Schlaf, getragen von den Strömen und Linien, die herüberreichen über den Platz und über die Anlage, im Seienden gebundene Linien, trotzdem hinausführend in das Firmament des Regenbogens.

Die Baronin sagte:

»Seit dem Tode meines Mannes leben wir einsam.«

Er erwiderte:

»Ihr Heim ist überaus friedlich, Frau Baronin.«

Sonderbarerweise schien die Baronin den Kopf zu schütteln. Aber vielleicht war es bloß das Wackeln eines Greisenkopfes. Denn ohne näher zu antworten, erhob sie sich mühselig, so daß A. schon glaubte, es sei die Unterredung damit beendet; doch da er sich anschickte, seinen Abschiedsgruß anzubringen, sagte sie:

»Sie könnten auf jeden Fall die Zimmer besichtigen.«

Und gestützt auf ihren schwachen Stock, schritt sie zur Türe, betätigte die neben dem Türstock befindliche Klingel, schritt voran ins Vorzimmer, wo sich das alte Stubenmädchen zu ihr gesellte, und durch den verhältnismäßig recht lang gestreckten dunklen Raum geleiteten die beiden Frauen den Gast in ein dämmeriges Gemach, dessen dunkle Möbel schwarz von der weißen Wand sich abhoben. Und als hätte man den Gast erwartet, stand auf dem geblümten Kretonnedeckchen des runden Mitteltisches eine Vase, gefüllt mit frischen Korn- und Mohnblumen.

»Meine Tochter sorgt stets für Blumen«, sagte die Baronin, und dann befahl sie: »Zerlin, öffne das Fenster.«

Die alte Zerline tat es, und alle Milde des Hausgartens schlug mit einem Male herein.

»Es ist stets unser Gastzimmer gewesen«, sagte die Baronin, »und daneben ist der Schlafraum.«

Nicht anders, als führte sie einen Bräutigam in die Kammer der Braut, so huschte die alte Zerline jetzt in den Schlafraum, und mit einer beinahe listigen Bewegung der gichtischen Hand lud sie ein, doch einzudringen und das Bett zu begutachten, auf das sie jetzt hindeutete.

Die Baronin war im ersten Zimmer stehengeblieben und rief nun herein:

»Zerlin, ist der Schrank leer? und hast du ihn gründlich gereinigt?«

»Ja, Frau Baronin, der Schrank ist leer, und auch das Bett ist bereits frisch bezogen.« Und dabei öffnete sie den einen der beiden Schränke, strich mit der Hand über ein Fach, um sich selbst und A. zu überzeugen, daß alles spiegelblank sei. »Kein Stäubchen«, sagte sie, indem sie ihre Finger betrachtete.

»Du sollst auch das Schlafzimmer lüften.«

»Ich bin ohnehin schon dabei, Frau Baronin«, und Zerline setzte das Gespräch fort: »Ich habe beide Krüge mit frischem Wasser gefüllt.«

»Ja«, sagte die Baronin, der es offenbar schwerfiel, ein Lob zu äußern, »das ist schon recht, aber du kannst es abends nochmals wechseln.«

»Abends bringe ich einen Krug warmen Wassers«, übertrumpfte sie die Dienerin.

A. war inzwischen an das Fenster getreten und atmete den Duft des Gartens. Noch dämmerte es, aber im Erdgeschoß hatte man bereits ein Zimmer erleuchtet und der Lichtstreif fiel auf die Beete; er gab den Rosen und ihren vielfältigen Farben ein unwirkliches Aussehen, verwandelte die Blätter zu lackiertem Blech. Doch weiter hinten, dort wo die weißen Bänke standen, da waren die Farben noch die natürlichen des Tages, bloß stumpf geworden in der Dämmerung, und die zwei dichtgesetzten Nelkenreihen neigten sich auf matten, blaugrünen Stengeln über den Mittelweg des Gartens.

Indes bei aller Geborgenheit, die dem Garten entströmte, mit Sanftheit wurde A. von seinem ursprünglichen Vorhaben abgezogen, das fühlte er, und er machte einen schwachen Versuch zur Richtigstellung:

»Eigentlich habe ich auf ein Straßenzimmer reflektiert.«

»Die schöne Morgensonne hier«, sagte die alte Zerline als Antwort, und als er zustimmend dazu lächelte, sagte sie leise, so daß die Baronin im Nebenzimmer es nicht hören konnte, »jetzt haben wir einen Sohn.«

A. hätte gern darüber gelacht, aber er vermochte es nicht. Er ging ins erste Zimmer zurück, wo die Baronin, auf ihren Stock gestützt, noch immer stand. Und als wäre eine unterirdische Gedankenverbindung zwischen den beiden Frauen vorhanden, selbst da noch, wo sie voreinander etwas verbargen, fragte die Baronin:

»Wie alt sind Sie eigentlich, Herr A.?

»Schon über dreißig, Frau Baronin.«

Er schämte sich immer ein wenig, wenn er nach seinem Alter gefragt wurde. Blond, zarthäutig, zierlich fast, Kinn und Mund etwas zu schwächlich, dafür aber mit aufgewecktem Blick in den blauen Augen, machte er einen jungen, seinem Geschmack nach allzujungen Eindruck, und um sich mehr Würde zu geben, hatte er sich ,– allerdings mit wenig Erfolg ,– ein schmales, kurzgeschorenes, biedermeierisches Backenbärtchen wachsen lassen.

»Über dreißig«, wiederholte sie, »über dreißig, meine Tochter ,…« Sie sprach nicht weiter, sie war offenbar daran gewesen, das Alter der Tochter preiszugeben. Hingegen fuhr sie nach einer Weile fort: »Und welchen Beruf üben Sie aus?«

In einer Art verbissenen Übermuts, aber auch, um auszuprobieren, was alles einem Sohn im Elternhause erlaubt sei, was alles ihm verziehen werde, hätte A. gerne gelogen und sich als politischen Agenten ausgegeben. Doch warum den bereits errungenen Sieg wieder aufs Spiel setzen? Also sagte er, daß er Edelsteinhändler sei. Allerdings war auch dies noch gewagt genug. Denn wie leicht konnte die Baronin mutmaßen, daß er unter der Decke des Edelsteinhandels gefährliche Schiebergeschäfte betreibe oder gar, daß er sich mit Absichten auf ihren Familienschmuck hier eingeschlichen hätte.

Fürs erste freilich schien die Baronin nicht so weit zu denken, Sie verband mit dem Worte wohl überhaupt keinen Begriff, sie hatte die Miene des Menschen, der nicht recht gehört hat, und sah hilflos drein: »Edelsteinhändler?«

Zerline, die nachgekommen war, bestätigte sogleich die Richtigkeit: »Ja, ja, Edelsteinhändler.« Aber ganz im Gegensatz zu ihrer Herrin sagte sie dies in einem ermunternden Ton, als sei da ein sehr ehrenvoller Beruf zum Vorschein gekommen, mit dem man sich ganz gut abfinden könne.

»Wir wollen das weitere drüben besprechen«, entschied schließlich die Baronin, der der Aufenthalt in dem Zimmer eines Edelsteinhändlers sichtlich unbehaglich wurde, und so begab sie sich mit A. in den großen Mittelraum zurück, während Zerline in der Küche verschwand.

Als sie wieder einander gegenübersaßen, fragte die Baronin mit zögernder Stimme:

»Sie betätigen sich also als Juwelier, Herr A.?«

»Nein, Frau Baronin, als Edelsteinhändler; das ist etwas anderes.«

Vielleicht war es das Wort »Händler«, das die Baronin störte, vielleicht war sie an Gemüsehändler, an Kohlenhändler und an sonstige kleine Leute gemahnt, wahrscheinlich war für sie ein Händler überhaupt nicht gesellschaftsfähig. Und nicht einmal mit einem Juwelier hätte sie gerne das Badezimmer geteilt. Und so sagte sie:

»Über die geschäftlichen Dinge weiß meine Tochter besser Bescheid als ich. Sie ist leider außer Haus ,…«

A., welcher den wahren Sachverhalt spürte, erläuterte weiter:

»Der Diamantenhandel ist ein sehr schöner Beruf. Ich habe mich jahrelang in den Diamantenfeldern Südafrikas aufgehalten.«

»Oh«, sagte die Baronin und hatte wieder Vertrauen.

»Und wenn meine Geschäfte in Europa erledigt sein werden, kehre ich auch wieder nach Afrika zurück.«

»Oh«, sagte die Baronin in wachsendem Vertrauen und vergaß, nach der Art der Geschäfte zu fragen, die ihn gerade in diese Stadt führten, »man würde Sie nicht für einen Engländer halten.«

»Ich bin holländischer Staatsbürger.«

Das war ausschlaggebend. Die Baronin atmete auf. Einem Fremden, der aus großer Ferne kommt, gewährt man leichteres, selbstverständlicheres, willigeres Obdach als dem Einheimischen, und was sonst zu einem Geschäft unter armen Leuten wird, das gewinnt bei dem Fremden aus weiter Ferne den Nimbus großmütiger Gastfreundschaft. Und so war, ohne daß es eigentlich hätte ausgesprochen werden müssen, in dem nun völlig dämmerig gewordenen Zimmer ein Einverständnis zwischen den beiden Menschen hergestellt worden. Die Architekturkupfer an den Wänden in ihren Kirschholzrahmen reduzierten sich auf dunkle Schattenflecke, und nur die beiden, römische Landschaften darstellenden Ölbilder an den Schmalseiten neben den Fenstern zeigten noch die Linien und die grauer gewordene Farbe. Erinnerung fernen Leuchtens. Wie Mutter und Sohn des Abends manchmal miteinander schweigen, so saßen sie da, und durch die Fenster hellgrün, seidengleich leuchtete der wolkenlos gewordene Himmel, rötlich irisierend über den westlichen Dächern. Und in der so entstandenen Vertrautheit erbat sich A. die Erlaubnis, auf den Balkon hinaustreten zu dürfen, und tat es.

Da lag nun der dreieckige Platz vor ihm, nicht ganz, aber doch beinahe so, wie er ihn sich ersehnt hatte. Dunkel bereits standen die Bäume der Anlage, gesäumt von dem lichtgrau sich dagegen abhebenden und bereits völlig trocken gewordenen Asphalt des breiten Uferwegs. Im Innern des Bahnhofgebäudes brannten schon die Lichter; dort war die Vorhalle mit den Hoteldienern, aber A. dachte ihrer nicht mehr. Er sah hinab auf die wenigen Menschen, die langsamen Schrittes die Häuser entlang gingen, er hörte das Knirschen des Sandes unter den Schuhen der auf dem S-förmigen Weg in der Anlage Wandelnden, und er freute sich der Hunde, die spazieren geführt wurden. Dann und wann zirpte noch ein Vogel, milde war die Luft, von Feuchtigkeit geschwängert, und manchmal bellte ein Hund. Geboren werden von einer Mutter, leiblich geboren werden von einem Leib, selber Leib sein, Körper, dessen Rippen sich dehnen, wenn man atmet, Körper, dessen Finger sich um eine Eisenbalustrade legen können, das Tote mit Lebendigem zu umfangen, ewiger Wechsel des Belebten und Unbelebten, eines das andere bergend in unendlicher Transparenz: ja, geboren werden und dann über die Welt und ihre sanften Straßen hin spazierengehen, unverlierbar die Mutterhand, in der die Kinderhand geborgen liegt, dieses natürlichste Glück menschlichen Daseins wurde ihm sehr offenbar, da er hier stand auf einem Balkon an der Hauswand, Geborgenheit des Hauses im Rücken, hinabschauend auf den dunklen Rasen und die dunklen Bäume, aber wissend von den Rosenhecken des Gartens hinter dem Hause, Streifen der Häuser zwischen dem Lebendigen und Lebendigen, zwischen Wachstum und Wachstum, Streifen aus Stein und Holz, totes Menschenwerk, dennoch Heimat. Und A. wußte, daß es ihm gestattet war, wann immer zurückzukehren, und daß die Wartende im Zimmer geduldig warten werde, so geduldig, wie eine Mutter ihr Kind erwartet.

Er kehrte heim in den tiefverdämmernden Raum und an seinen alten Platz der Baronin gegenüber. Und diese lächelte ihm zu, und dann, sich vorbeugend, sagte sie: »Da draußen ist es schön, nicht wahr?«

»Ein unvergeßlich herrlicher Abend. Doch wir bekommen nochmals Regen.«

»Hildegard« (sie bezeichnete sie zum ersten Male mit Namen), »Hildegard ist spazierengegangen ,…«, und als sei er ein Familienmitglied, das man korrekterweise in die Verhältnisse des Hauses einweihen müsse, fuhr sie fort: »… mich natürlich hält sie hier gefangen.«

Er war durchaus nicht verwundert, er zweifelte nicht an ihren Worten, wollte ihnen jedoch eine scherzhafte Wendung abgewinnen: »Ach, Baronin sind eine Gefangene.«

»Ja, das bin ich wirklich«, antwortete sie ernsthaft, »es wird Ihnen nicht entgehen, sobald Sie hier sein werden, ich bin eine Gefangene.«

A. nickte. Denn ein jeder hält den anderen gefangen, und jeder glaubt, der einzige Gefangene zu sein. War doch auch sein eigener Lebensraum nun schon eingeschränkt auf diesen dreieckigen Platz und auf dieses Haus, war eingeschränkt worden, ohne daß er anzugeben vermocht hätte, wer dies bewirkt hatte, wer ihn gefangen hielt.

Die Baronin fuhr in ihren Erklärungen fort:

»Ich lasse den beiden ihren Willen ,… ich sage, ›den beiden‹, weil Zerlin, meine alte Zofe, die Sie ja gesehen haben, mit Hildegard gemeinsame Sache macht ,… ja, ich lasse ihnen die Freude, denn ich habe meinen Teil vom Leben gehabt, und das Verzichten fällt mir jetzt leicht.«

»Sie haben jetzt andere Freuden, Frau Baronin«, sagte A.

Doch die Baronin fuhr fort:

»Die Zerlin war schon Zofe bei meiner Mutter und immer im Hause ,… verstehen Sie das? sie ist eine alte Jungfer ,…«

Wem gilt die Liebe der alten Magd? den Möbeln, die sie tagtäglich berührt? dem Fußboden, den sie seit vierzig Jahren immer wieder scheuert und von dem sie jede Ritze kennt? sie schläft allein, und wenn sie einstens, vielleicht noch in ihrem Heimatdorf, mit einem Burschen unterm Tor gestanden hat, es ist längst vergessen, obwohl nichts vergessen wird in der Zeitlosigkeit des Ichs, nichts vergessen und nichts vergeben.

A. sagte: »Zerlinens Liebe gilt Ihnen, Frau Baronin.«

»Sie verzeiht es mir nicht«, sagte die Baronin, »sie und das Kind, sie verzeihen es mir nicht ,…«, und sie öffnete ihre Hände, als wollte sie die Liebkosungen zeigen, die diese Hände gegeben und empfangen hatten. »Es kostete alle Mühe, Zerlin zu bewegen, daß sie in mein Haus einträte; sie mochte ja nicht einmal das Kind leiden.«

Überwölbt von der hauchdünnen Durchsichtigkeit des Firmaments, eingebettet in der von Straßen und Schienensträngen durchzogenen Landschaft liegt die Stadt, verdichtete Landschaft; doch eingebettet zwischen dem Rasen des Platzes und dem Grün des Gartens liegt das Haus, gefügt mit den Nachbarhäusern zur Einheit des Platzes, und zwischen den toten, den unbeweglichen Wänden des Hauses spannt sich Beziehung von Mensch zu Mensch, unabänderlich auch diese, spannt sich die Rede von Mund zu Ohr, Hauch, durchschwebend den alles durchdringenden ewigen Äther, in dem der Regenbogen steht.

»Die ersten Sterne«, sagte A. und wies zum Fenster hin. Der Himmel hatte die milde Härte des Seidenglanzes verloren und wurde tief, seine Farbe war vom Grün in ein mattes Violett gewechselt, aufatmete der Himmel, denn es nahte die Zeit seiner Gewalt, es nahte die Nacht.

»Nun wird Hildegard bald hier sein«, sagte die Baronin und erhob sich, »wir wollen Licht machen.« Sie stand ein wenig schwankend da, trug auf den sicherlich dünn gewordenen Beinen den alten Rumpf, in dem die Tochter einstens geworden, und die einstens liebende Hand hielt die Krücke des Stockes umklammert. Dunkel war der Raum, die drei Fensteröffnungen allein waren hell, doch sie gaben kein Licht, und die Türe, die hinüberführte zu den Schlafzimmern, hing geschlossen in den Angeln.

Und da nun das Außen wieder Gewalt ergriffen hatte, da mit der Nacht eine Umlagerung aller Beziehungen zu erwarten und zu befürchten war, galt es, die Reste, die noch draußen waren, einzuknüpfen in die Unlöslichkeit des Bestehenden, ehe dieses zerriß, und A., fürchtend, es könnte schon das Aufflammen des Lichtes die Zerstörung bringen, beeilte sich zu fragen: »Darf ich jetzt mein Gepäck von der Bahn herschaffen lassen?«

Die Baronin zögerte einen Augenblick, dann sagte sie:

»Hildegard muß gleich hier sein ,… bitte machen Sie inzwischen Licht, der Schalter ist neben der Türe ,…«, es war so, als wollte sie nicht im Dunkeln mit ihm überrascht werden, »… und klingeln Sie bitte auch gleich nach dem Mädchen.«

Er gehorchte; das Licht, eine Glühbirne innerhalb des Kristallgehänges eines Biedermeierlüsters, war von unsicherer Schärfe, und die vordem in Dunkelheit getauchten Ecken des Zimmers wurden nun den anderen Einrichtungsgegenständen gleichwertig; das gab dem Raum einen geheimnislos strengen Aspekt, und man begriff mit einem Male, daß das Andenken an einen männlich strengen, geheimnis-abholden Geist hier wohnte, ja, daß die Frauen, die hier zurückgeblieben waren, noch immer ihm dienten. Und es waren auch prüfende Augen, die A. auf sich gerichtet fühlte, freilich unsichtbar, denn sowohl die Baronin als auch Zerline, die eingetreten war und die Fenster zu schließen begann, schienen mit anderem und Längstvergangenem beschäftigt. Doch in dieser Sekunde hauchdünner Stille und Spannung hörte man die Flurtüre öffnen.

»Das ist Hildegard«, sagte die Baronin.

»Ich möchte Ihre Unterredung nicht stören«, sagte A. und wollte sich entfernen.

»Bitte, bleiben Sie«, sagte die Baronin, »und entschuldigen Sie uns bloß für eine kurze Weile.«

Sie ging hinaus. Zerline zog die Vorhänge vor, legte sie in ordentliche Falten. Sie schien verdrossen und erloschen, und wenn er ihren Blick suchte, schaute sie weg. Aber bevor auch sie ihn verließ, nahm sie vom Arbeitstische der Baronin eine dort liegende Zeitung und brachte sie A. Dann schaltete sie die Stehlampe ein, die neben der Sitzgruppe beim Ofen stand, löschte das Mittellicht und bewerkstelligte solcherart, daß A., fast wie ein Hausherr, der seine Zeitung liest, in dem großen Lehnstuhl Platz nahm.

Er las nicht. Die Zeitung, ein letzter Gruß des Mädchens aus dem Kiosk, war Außenwelt, aber der Raum hatte sich auf den von der Stehlampe beleuchteten Kreis verengt. A. saß vornübergebeugt, und die Zeitung in der lässigen Hand hing zwischen den geöffneten Knien. Und das Ich in dem vornübergebeugten Kopf sah hinab auf den Rumpf, der in die Beine sich spaltete, beleuchtet bloß er, der doch nicht zum Ich gehörte, herausgehoben aus der Umwelt, und so sehr es eingebettet war in die Dunkelheit nächtlicher Umwelt, das Ich war allein.

Auf der Kommode tickte eine Uhr. Mögen auch alle Fäden zur Umwelt gelöst sein, durch die Zeitlosigkeit des Ichs läuft der Faden der Zeit, und das unendliche Gewebe unendlich vieler Fäden, selbstgeschaffenes, dennoch unentrinnbares Netz, es dient bloß dazu, den Faden der Zeit zum Verschwinden zu bringen, auf daß in unendlicher Breite, in unendlicher Größe des Raumes alles Sein wieder zur Zeitlosigkeit werde.

Aber nun schlug es acht Uhr.

Und A. hörte Schritte, in ihrer Raschheit beinahe unmutige Schritte, und gleich darauf erschien Hildegard mit einer Miene, die tatsächlich allen Unmut ausdrückte.

»Sie haben also Ihren Zweck erreicht, Herr A.«, begann sie ohne weitere Umschweife, »ich gratuliere Ihnen.«

»Die letzte Entscheidung liegt in Ihrer Hand, meine Gnädige.«

»Es war nicht sehr schwierig, sich in das Vertrauen zweier alter Frauen einzuschleichen! Würde ich jetzt Nein sagen, es würde meine Mutter zu sehr aufregen« ,– das hat sie heute schon einmal gesagt, dachte A. ,–, »so bleibt mir nichts mehr zu tun übrig, als das Geschäftliche mit Ihnen zu regeln.«

»Leider waren Sie bei unserer Besprechung nicht zugegen; Sie würden mein Verhalten sonst anders beurteilen.«

»Ich habe Sie gebeten, von Ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen.«

Nichts ließ sich vorbringen gegen die Empörung, die sie gehemmt und vielleicht etwas gouvernantenhaft ,– das stimmte mit ihrem sonstigen gemessenen, ein bißchen eckigen Gehaben überein ,– in Blicken und Tonfall äußerte. Hier stieß Schicksal gegen Schicksal, und der Bruch im Naturgeschehen hatte also noch immer keine Aufklärung gefunden. Warum war es ihm verwehrt, eine andere Unterkunft zu suchen? Warum war er gleichsam gebannt an diesen Platz, gefesselt an ein Geschehen, das sich unaufhaltsam und unabweislich bis zu diesem Punkte entwickelt hatte: floß nicht alles Geschehen gleich Straßenzügen im Punkte seines Ichs zusammen? Seines Ichs, das nun einsam im Lichtkegel der Stehlampe sich befand? Mußten sich in diesem Punkte nicht alle Gegensätze klären und auflösen? Und darum sagte er zu dem Fräulein, das steif und eckig am Lichtrande saß:

»Sie kennen mich nicht und sind dennoch voller Aversion gegen mich. Ob ich es bin oder ein anderer Mieter gekommen wäre, ist doch gleichgültig.«

»Es handelt sich nicht um Ihre Person ,… ich würde höchstens eine Dame in mein Haus aufnehmen.«

»Ich hatte den Eindruck, daß der Frau Baronin gerade der männliche Schutz ,– soweit ich wagen kann, mich als solchen zu betrachten und anzubieten ,– genehm sei.«

»Wir bedürfen keines Schutzes«, sagte das Fräulein streng.

War es das Vermächtnis des alten Barons und seiner Strenge, daß die Frauen allein blieben? Behütete die Tochter im Vereine mit der Magd dieses Vermächtnis? Dann wurde der Bruch im Naturgeschehen verständlich: denn das Schicksalhafte, das Unabänderliche ist immer der Tod, ist immer das Tote, das ins Leben eingreift; es ist die Zeitlosigkeit des Todes, die sich an die Stelle der Zeitlosigkeit des Ichs setzt, Seele, die erstarrt ist, in der Architektonik des Todes, Glück der Erstarrung.

Das Fräulein sagte langsam und starr:

»Ich habe das Geschäftliche mit Ihnen zu regeln.«

»Darüber werden wir bald einig sein«, sagte A., »ich möchte bloß noch bemerken, daß ich sicherlich viel weniger Ungelegenheiten machen werde als eine Dame, im Gegenteil, daß Sie stets auf meine Dienste rechnen können.«

»Damit haben Sie wohl die alte Zerlin geködert«, sagte das Fräulein, »mich kann das wenig locken ,…, ich hoffe, daß Sie als Ausländer einen anständigen Preis für Unterkunft und Pension werden bewilligen können.«

»In Holland würden zwei solche Zimmer etwa vierzig Gulden monatlich kosten, und das biete ich Ihnen an, jeweilig immer drei Monate vorausbezahlt, und zwar in holländischer Währung, damit Sie gegen die Inflation geschützt sind.«

Im allgemeinen läßt sich vom Materiellen her kaum etwas wirklich lösen; hier aber gab es zumindest einen Ansatz hiezu: »Hundertzwanzig Hollandgulden im voraus?« fragte das Fräulein beinahe ungläubig.

»Gewiß«, bestätigte A.

Ihr strenges geradliniges und in seiner Geradlinigkeit schönes Gesicht unter dem dunklen mahagonibraunen Haar hellte sich zu einem fast begehrlichen und darum begehrenswerten Lächeln auf, das starke weiße, zubeißbereite, sehr ebenmäßige Zähne entblößte: »Für hundertfünfzig Gulden will ich alle meine Proteste zurückziehen ,… Sie sehen, auch ich bin käuflich.«

Was meint sie damit? fragte sich A.; aber er akzeptierte die Hundertfünfzig, war auch mit den Nebenbedingungen einverstanden, und als die Baronin eintrat und mit zuversichtlicher Fröhlichkeit fragte, ob alles in Ordnung sei, mußte die Tochter die Frage bejahen.

»Das freut mich«, sagte die Baronin, »da kann Herr A. gleich mit uns zu Abend essen.«

»Soweit Herr A. überhaupt daheim zu bleiben gedenkt, hat er den Wunsch geäußert, immer auf seinem Zimmer zu speisen«, erwiderte Hildegard, »so haben wir es gerade vereinbart.«

»Nun, für heute sollen Sie aber unser Gast sein«, bestand die Baronin, und sie wandte sich an Zerline, die inzwischen das Abendbrot melden gekommen war:

»Lege ein Gedeck für Herrn A. auf, Zerline.«

»Ja«, sagte Zerline, »das habe ich bereits getan.«

Wohlerzogen nahmen sie es ohne Erstaunen zur Kenntnis und taten, als wäre Zerlinens Handlungsweise etwas durchaus Selbstverständliches, etwas ebenso Selbstverständliches wie die Blumen, die in A.s Zimmer schon vorbereitet gewesen waren. Aber was damals selbstverständlich geschienen hatte, in der Anwesenheit des Fräuleins war es dies nicht mehr, und aufgehoben war die beglückende Übereinstimmung der Dinge, denn noch war die Lösung nicht gefunden. Immerhin zeigte sich dafür jetzt eine andere Übereinstimmung, freilich eine viel äußerlichere: da sie jetzt unter dem geblümten Schirm der Hängelampe saßen und das Licht vom weißgedeckten Tisch grell auf ihre Gesichter zurückgestrahlt wurde, und Zerline mit den Speisen um den Tisch herumging und dieselben mit weißbehandschuhter Hand servierte, da wurde es offenbar, daß die Gesichter der drei Frauen einander ähnelten, teils infolge natürlicher Verwandtschaft, wie bei denen der Baronin und ihrer Tochter, teils infolge des langen Zusammenlebens, wie dies bei Zerline der Fall war. Drei Formabwandlungen ein und desselben Gesichtes in verschiedenen Personen! Gewiß gab es noch viele andere Möglichkeiten der Abwandlung, aber es waren gewissermaßen drei Grundtypen, die sich hier zeigten, nicht unvergleichbar den drei Grundfarben, die in ihrer Dreizahl alle übrigen Schattierungen des Regenbogens enthalten, und wenn die Baronin das eigentlich Mütterliche in diesem Dreieck war, so waren die kinderlosen Gesichter Zerlinens und Hildegards, seltsam in Nonnenhaftigkeit vereint, zwar das eine bäurisch und alt, das andere verfeinert und jung, dennoch beide, ob jung oder alt, von nonnenhafter Zeitlosigkeit. Die Vorhänge des Raumes waren zugezogen; man wußte nichts von den Bäumen draußen, man wußte nichts vom Garten hinter dem Hause, unlebend und einsam stand das Haus, man war in einer Zelle: man wußte nicht, woher das Leben in diese Welt der toten Dinge geraten war, und man wußte noch viel weniger, warum das Lebendige, aus dem Staube kommend, zum Staube zurückkehrend, bloß Staub zu formen vermag, und doch damit das Leben schafft. Aber so sehr man auch vom Außen abgeschlossen war, oder eben weil man es war, abgeschlossen von dem Platze, über dem der Himmel sich wölbte, abgeschlossen von der Welt, abgeschlossen von dem Wissen und jeder Möglichkeit des Wissens, es wurde der Teil zum Spiegel des Ganzen, es wurde der Raum und seine von den Wänden umschlossene Luft zum Teil des unermeßlichen Äthers, begreifbar die vieladrige Unendlichkeit in den Beziehungen des Endlichen, und die äußere Ähnlichkeit der drei Frauen wandelte sich zum Spiegelbild, wurde zur Hoffnung auf eine Lösung, die man nur hier und niemals draußen finden konnte.

Flutende Skala, die das Dunkle und Irdische, das Substantielle und Geschlossene dem geöffneten Licht des Himmels verbindet und trotzdem wieder in die Dunkelheit des Unermeßlichen zurückleitet, so umspült die Luft alles Seiende, umspült ätherhaft das Konglomerat der Dinge. Die Augen A.s wanderten in dem mit dunkler Luft erfüllten Raum, versuchten, die Dinge außerhalb des Lichtkreises zu erkennen. Luft stößt an die Wände, stößt an die Möbel. Zerline bewegte sich in diesem Raum, sie trat in den Lichtkreis und huschte wieder ins Dunkle zurück, dorthin, wo der breite Anrichtetisch sich befand. Durchflutet von Luft ist das Innere der Schränke, aber sie umspült auch die Menschen, sie ist in ihrem Innern, ist in allen Hohlräumen ihrer Körper, wird ein- und ausgeatmet, schlägt von einem zum anderen. Zwischending zwischen Lebendigem und Lebendigem, die Seele in sich tragend, sie bergend und verbergend, Rechtfertigung und Leben, durchflutet vom Licht und von der Transparenz des Blickes. Dort in der Mitte der Wand über der Anrichte hing ein großes Bild, ein Porträt, und jetzt erkannte A., daß es einen Herrn in richterlichem Ornat darstellte.

Hildegard, die unwohlwollend und unverwandt den mißliebigen Gast beobachtete, sagte zu ihm:

»Sie wundern sich, daß wir ein Porträt im Eßzimmer hängen haben ,… es ist das Bild meines Vaters.«

»Wir haben es hierher placiert, damit er an unseren Mahlzeiten teilnehme«, sagte die Baronin.

Zerline, die aufmerksam zugehört hatte, schaltete stillschweigend die links und rechts neben dem Bilde befindlichen Wandleuchter an, und während sie selbst andächtig auf die Züge des Entschlafenen schaute, schwante ihr wohl, daß ihr das irdische Dasein dieses Mannes immer bloß eine Störung gewesen war. Denn bei aller Andacht machte sie ein zufriedenes Gesicht und wartete offenbar darauf, belobt zu werden. Der Mann dagegen in der gemalten Luft des Bildes besaß die gleichen Augen wie seine Tochter, unverwandt und unwohlwollend beobachtete er mit ihnen die Tafelrunde.

Nun hatte auch Hildegard ihre Blicke zu dem Bild erhoben; gleich zwei zusammenlaufenden Straßen mündeten ihr Blick und der Zerlinens in dem Auge des Vaters, während die Baronin, die doch dem Manne dort droben am nächsten gestanden hatte, beinahe schuldbewußt auf ihren Teller schaute. Und A., der mit dem Gerichtswesen vertraut war und an den Samtstreifen auf dem Talar den Rang des konterfeiten Richters erkannte, sagte:

»Herr Baron W. war Gerichtspräsident.«

»Ja«, sagte die Baronin.

Gleich dem Soldaten, der stets auf den Krieg vorbereitet sein muß, dort zu töten und getötet zu werden, gleich dem General, der stets darauf vorbereitet ist, Menschen in die Schlacht zu schicken, muß jeder Richter bereit sein, wenn es nottut, ein Todesurteil zu fällen, und die vielen Alltagsstrafen, die er tagtäglich über die Alltagsverbrecher verhängt, sind immer Vorbereitung, Annäherung, sind Spiegelbild und Ersatz der kapitalen Handlung, die im Leben des Richters den furchtbaren Höhepunkt bildet. Er, der zwischen den vier Wänden des Gerichtssaals noch die gleiche Luft wie der Verbrecher atmet, er, eingebettet in der gleichen Luft, muß bereit sein, jenen auszuschließen und ihm die Seele zu nehmen.

Mit dem Mund, der auf dem strengen Mund des Richters geruht hatte, mit dem Mund, der den Atem des Richters einst getrunken hatte, mit diesem Mund, in dem sich noch immer der Atem zu Worten formt, aß nun die Baronin kleingeschnittene Bissen Kalbsbraten. Und mit dem gleichen Munde sagte sie dann:

»Zerlin, du kannst die Lichter wieder auslöschen.«

»Ist das Zimmer so nicht freundlicher?« widersprach Hildegard, und Zerline, ohne die Lichter auszulöschen, beeilte sich, in die Küche zu kommen, ehe noch die Antwort der Baronin erfolgte. Warum taten die beiden das? Zweifelsohne war sie mit dem Fräulein darüber einig, daß das Bild beleuchtet bleiben müsse; vielleicht eine Aufforderung an den Neuankömmling, sich den Gesetzen des Hauses unterzuordnen.

Die Baronin sagte:

»Gut, lassen wir heute die Festbeleuchtung zu Ehren des Gastes.«

»Richter«, sagte A., »ein großer Beruf.«

»Ja«, sagte Hildegard, »so wie der Priester, über die Menschheit gestellt. Eigentlich dürfte ein Richter nicht heiraten.«

Die Baronin lächelte:

»Ein Richter muß menschlich sein.«

Hildegard sah auf das Bild, sie hatte zusammengekniffene Lippen:

»Auch Priester müssen menschlich sein, aber es ist eine reinere Menschlichkeit ,… eine strengere.«

»Mein Mann hat oftmals unter der Strenge gelitten, wenn er sie anwenden mußte. Glücklicherweise war er niemals in die Lage gekommen, ein Todesurteil auszusprechen.«

Hildegard sah so aus, als würde sie dies jetzt an seiner Stelle nachholen wollen. Aber da war Zerline mit dem Nachtisch eingetreten, und gewissermaßen als Kompromiß den Befehl der Baronin nachträglich ausführend, verlöschte sie die Lichter neben dem Bild.

»Schluß mit der Festbeleuchtung«, sagte A.

»Man muß sich dem Geschehen fügen«, sagte die Baronin und lachte ein wenig, »es ist immer stärker als der menschliche Wille.«

Doch wahrlich, es hatte nichts gefruchtet, daß die Lichter verlöscht worden waren. Im Gegenteil, es hatte viel eher den Anschein, als sei das Bild an der dunklen Wand nunmehr ein wenig gewachsen, als sei die gemalte Luft nunmehr einbezogen in die Luft des Raumes, und als sei der Gerichtspräsident, umfangen von der Luft, die sie alle umfing, nun auch räumlich in das Dreieck der Frauen eingeschlossen, ein Mittelpunkt, obwohl er der Vergangenheit angehörte und an der Wand hing. Denn in den Beziehungen zwischen Ich und Ich herrscht die Zeitlosigkeit, und der Raum wird unendlich klein und unendlich groß zugleich.

Steif saß Hildegard da und aß einen Pfirsich. Ihr schmaler Mund war ungeküßt, ihr Atem hatte noch niemanden beglückt. An welchem Punkte des Lebens verliert ein Mund die Gabe der Beglückung? Wann sinkt er herab zum Eßwerkzeug, trotzdem noch veredelt durch die Gabe der Rede, die ihm innewohnt bis zur letzten Vergreisung?

Jetzt nahm die Baronin den Stock, der an ihrem Stuhl gelehnt hatte, sie erhob sich, vielleicht um dem übermächtig und zu straff gewordenen Kreis der Beziehungen zu entrinnen. Nichtsdestoweniger streckte sie A. die Hand hin, und gleichsam als Ersatz für den Trinkspruch ,– augenscheinlich war Wein dem Haushalt hier unerschwinglich geworden, doch möglicherweise hatte der Gerichtspräsident ihn überhaupt verpönt ,– sagte sie:

»Und nun seien Sie uns nochmals willkommen, Herr A.«

Zerline stand daneben und lächelte zustimmend; es war, als hätte die Baronin ihre Stellvertretung übernommen und führte ihren Auftrag aus, besonders da sie sich jetzt ihrer Tochter zuwandte und, sei es aus Gerechtigkeit und um sie zu versöhnen, sei es, um durch solch beidseitige gleichmäßige Behandlung einen Gleichklang und eine Verbindung zwischen Hildegard und A. herzustellen, sie auf die Stirne küßte. Zerline aber beteiligte sich an der Zeremonie, indem sie die Türe zum Mittelzimmer weit öffnete und dort das Licht andrehte.

Da nun die Luftmassen ungehindert zwischen den Räumen zirkulierten, wurde durch diese plötzliche Veränderung ihrer Gleichgewichtsverteilung nicht nur das Gewicht des Luftraumes im Bilde des Gerichtspräsidenten verkleinert, es wurde dadurch nicht nur seine eigene Gewichtigkeit und die beherrschende Stellung, die er im geschlossenen Speisezimmer innehatte, herabgemindert, sondern es war nun auch, da die Luft sich nur wenig regte, zweifelsohne eine gewisse Lockerung aller Straffheit und eine gewisse Labilität der Beziehungen eingetreten, und aller Haß und alle Liebe zwischen den drei Frauen ,– ihres sichtbaren Mittelpunktes und eigentlichen Urgrundes entkleidet ,– war in die Unbemerktheit des Alltags zurückgesunken, eines Alltags ohne Festbeleuchtung, mochte auch das Mittelzimmer nun hell erleuchtet sein und das Licht sich in den Glasscheiben der Bilder so stark spiegeln, daß viele der Architekturstücke unkenntlich wurden. A. hätte gerne geraucht, aber niemand forderte ihn auf. Hatte der Gerichtspräsident auch dies verboten? Ein wenig unschlüssig standen sie in der Mitte des Zimmers, bloß in weiter Ferne und Dunkelheit das Bild des Gerichtspräsidenten noch ahnend. Und angesichts dieses Sachverhalts war es nur folgerichtig, daß A. sagte:

»Gestatten Sie, daß ich jetzt auch wirklich einziehe und mein Gepäck hole.«

»Oh, das ist noch nicht hier?« entsetzte sich die Baronin, »was fangen wir da an!« und sie schaute hilfesuchend nach Zerline.

»Herr A. wird eben sein Gepäck holen«, sagte Hildegard trocken.

»Sehr richtig«, sagte A. und verabschiedete sich rasch von den Damen; er hatte hier vorderhand nichts mehr zu hoffen, viel eher etwas zu befürchten, und überdies war es ratsam, je eher auf den Bahnhof zu kommen, da möglicherweise zu einer späteren Stunde kein Dienstmann zur Stelle sein würde.

Doch im Vorzimmer war sein Hut nicht zu finden, und auch in dem als Kleiderablage benützten Korridor, der zur Küche hinführte, konnte A. nichts entdecken. Er wurde ungeduldig, denn während er noch suchend umherspähte, spürte er, wie durch die offene Küchentüre leichte Fäden frischer Gartenluft hereingeweht wurden, und da merkte er erst, daß er sich darauf freute, vom Flur aus einen Blick in den Garten werfen zu können, sodann auf die Straße hinauszutreten, zum Bahnhof hinzuschlendern, vielleicht den Weg durch die Anlage einzuschlagen, den knirschenden Kies unter den Füßen, ein Mann, der ein Heim hat, in das er zurückkehren kann, eingewoben in feste Beziehungen und von keinem Altern bedrückt, und daß all dies, damit es wirklichen Sinn gewinne, die logische Fortsetzung jenes Augenblickes sein sollte, in welchem Zerline die Türen des Speisezimmers geöffnet und die Verbindung des Abgeschlossenen und Begrenzten mit der Unendlichkeit wiederhergestellt hatte. Und in seiner Ungeduld, diese Einheit verwirklicht zu sehen, war er schon daran, sich ohne Hut auf den Weg zu machen, als Zerline einhergehuscht kam:

»Sie suchen Ihren Hut, Herr A., ich habe ihn in Ihren Schrank gelegt.«

Das entsprach der Selbstverständlichkeit seines Hierseins, und mochte es sogar auf den Befehl Hildegards geschehen sein, die keine Männerhüte im Vorraum dulden wollte, so zeigte es dennoch, daß sogar sie sich mit seinem Bleiben abgefunden hatte. Und ehe er selber den Hut aus dem Zimmer holen konnte, hatte Zerline, krummrückig und lautlos, es besorgt, und nicht viel hätte gefehlt, daß sie ihm den Hut auch aufgesetzt hätte.

Auf dem Kopfe den Hut, eine merkwürdige Verlängerung der Wirbelsäule, den Hut über die Haare gestülpt, so stieg A. langsam die Stiege hinab, und nachdem er durch die Glastüre im Hausflur den Garten begrüßt hatte, der freilich bloß soweit sichtbar war, als die Wohnungslichter in ihn hineintauchten, trat er auf die Straße, überquerte sie rasch und sah sich erst um, als er drüben am Rande der Anlage stand, in der er noch vor wenigen Stunden beinahe hilflos umhergeirrt war. Da stand er nun und musterte neuerdings das Haus und den von Bogenlampen bestrahlten Balkon mit den Pelargonien. Es fügte sich richtig, daß die Balkontür oben inzwischen geöffnet worden war, und er sah den gelblich erleuchteten Kristallüster im Mittelzimmer, er sah die oberen Rahmenkanten der italienischen Veduten und der Architekturstücke, er sah die weißgemalte Decke, deren Nachdunkelung über dem Ofen er nun schon so gut kannte, und aufmerksam musterte er die beiden toten Fenster des Speisezimmers, genau die Stelle wissend und sie bestimmend, an der das Bild des Gerichtspräsidenten hing. Doch oberhalb der Bogenlampen war der dunkle Himmel gespannt, zwiefach dunkel gegen solche Helligkeit, so daß man kaum die Ränder der Wolken und dazwischen einige Sterne erkennen konnte, und satanisch rot glühte eine Lichtreklame über den Dächern beim Stadteingang; aber durch den Raum der Finsternis wehte kühl und nächtlich der Wind.

Und wie es das vorgefaßte Programm verlangte, betrat A. die Anlage, verfolgte den S-förmigen Weg, auf dessen Bänken jetzt Liebespaare saßen, Schatten ineinandergeflossen in gemeinsamem Atmen, und A. horchte auf den Kies unter seinen Füßen. In gewissen Abständen traf man auf eine Straßenlaterne, die Teile von Sträuchern und blaugrünen Rasen aus der Dunkelheit herausschnitt, hölzern gerade standen Baumstämme, überkrönt von sonderbar unduldsam rauschendem schwarzen Laub, das manchmal sich öffnete und einen Stern durchblicken ließ. Dies alles befand und vollzog sich innerhalb des steinernen Dreiecks, und A. kam nun zu dem Kiosk. Die Fensteröffnung war mit einem braunen eisernen Rollbalken verschlossen, aber die Uhr, die auf eisernem Ständer das Häuschen überhöhte, war in ihrem Inneren beleuchtet und beherrschte mit ihren drei hellen Zifferblättern all die unbeleuchtete Natur ringsum, hielt sie im Zaum, Licht vom Menschen geschaffen, Licht, unlebendig wie die Gestirne selber, unlebendig wie die Luft und der weithin sich dehnende Äther, trotzdem das Bett des Lebens. Mücken tanzten hoch droben um die Uhr, ihr schütterer Schwarm zerfloß im Unermeßlichen; hier schwebten die Seelen empor aus den Augen der Toten, aus dem Hauch der Liebenden.

Hier, wo die beiden Hauptwege sich schräge verkreuzten, war der Mittelpunkt der Anlage, der Mittelpunkt des eingeschriebenen Kreises; A., die Hände in den Hosentaschen, umwandelte im Kreise den Kiosk, und während sein Blick in den Himmelsrichtungen schweifte, sah er den helleren Schein einerseits über dem Bahnhof, andererseits über der eigentlichen Stadt, um schließlich auch die erwarteten Wolken zu entdecken, die wieder heraufrückten und sich zusammenschoben, dunkler am dunklen Himmel. Bald mußte der Regen da sein, und A., der weder Mantel noch Schirm mitgenommen hatte, nur einen Hut, A. beschleunigte seinen Schritt, um zum Bahnhof zu gelangen.

Er verließ die Anlage, er überquerte den Platz, auf dem vordem die Hotelomnibusse gewartet hatten, er betrat das Bahnhofsvestibül, das geschwängert war vom Geruch der Reise, Geruch des Rußes, vom Geruch der Speisen und des Bieres aus dem Restaurant und vom Geruch der Aborte und des Staubes, aufsteigend von der Kühle des Fliesenbodens, dunstig herab sich senkend, Geruch der Müdigkeit und des eilenden Aufbruchs. Welch ein Unterschied! Hier an der Basis des Dreiecks das Brodeln und der Schmutz der Friedlosigkeit, doch draußen die Kühle und die Gemessenheit des Platzes. Und drohend an der Spitze der Pyramide schon der, dessen gemessene Strenge hinausragt über das Gewirr des Menschlichen und des Schmutzes, über den Menschen schwebend, Hüter der Gerechtigkeit! War es da nicht besser, eine Fahrkarte zu lösen, die Einheit, die niemals erreichbare, niemals zu verwirklichende, aufzugeben, wieder zurückzukehren in die Vieldeutigkeit und Beziehungslosigkeit unendlicher Welt, in der alle Straßen und alle Gleise sich verkreuzen? Hier war der Punkt der Entscheidung, es galt nochmals den Versuch zu wagen oder zu fliehen.

Die Guckfenster der Fahrkartenschalter waren mit Messingblech gerahmt, das Blech war matt und schmutzig, es schimmerte schäbig im Lichte der nackten Glühlampen; ein Schalter war geöffnet, hinter den Fenstern der übrigen hingen grüne, staubige Vorhänge. A. ging an ihnen vorbei. Die Gepäckkarren, braun gestrichen, abgefasert das Holz an den Kanten, standen in einem Rudel beisammen wie in einem Stall. Die Träger, Mützen im rötlichen Genick, Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die behaarten Hände gefaltet, saßen weit vornübergebeugt auf einer Bank. A. fragte sie, ob einer von ihnen sein Gepäck über den Bahnhofsplatz tragen wolle: nein, das durften sie nicht, sie durften den Bahnhof nicht verlassen, aber sie wollten ihm einen Mann besorgen.

Durch einen offenen Durchgang sah man die langgestreckten Dächer der spärlich beleuchteten Bahnsteige, und man sah die Bahnhofssperre, in deren Verschlag ein Bediensteter stand und gelangweilt seine Zange in der Hand hielt.

Ja, meinte A., es sei doch nicht nötig, daß die Herren ihm einen Dienstmann suchten, sie möchten ihm bloß sagen, wo vermutlich einer anzutreffen wäre. Die Träger dachten eine Weile nach und sagten dann, daß im Ausschank drüben einer ,– sie nannten ihn sogar beim Namen ,– säße und sein Bier trinke. So verhielt es sich auch. Der Dienstmann saß dort, trank sein Bier, rauchte seine Pfeife und verhehlte A. durchaus nicht, daß er sich gestört fühlte. A. fiel es auf, daß sein sonst stets bereiter Nikotinhunger sich nicht einstellte, und bloß weil er sich auf dem Bahnhof befand, zündete er eine Zigarette an, während er den mürrischen, auf die Geldentwertung und die Nutzlosigkeit jeglicher Arbeit schimpfenden Dienstmann zur Gepäckaufbewahrung begleitete. Die Entscheidung war gefallen, ohne daß er es eigentlich gemerkt, ohne daß er sie überlegt hätte. Erst als sie aus dem Bahnhof traten, wurde es ihm bewußt.

In der spezifischen Haltung eines jeden, der einen Karren schiebt, ging der Mann neben ihm her, rundgebeugten Knies, rundgebeugten Rückens und mit gebeugten, auf die Stangen des Karrens gestützten Armen. Die Räder des Karrens drehten sich langsam und knarrend, ihre Eisenreifen rollten hohl über den Asphalt. Die Straße war jetzt ganz leer und still, selbst von der Stadt her drang kaum mehr Lärm herüber. Das Feuer der Lichtreklame, die vordem den Stadteingang so höllisch erleuchtet hatte, der Höllenrachen, in den der Platz gemündet, schien zu erlöschen; der Pfeil wies ins Friedliche, ja es schien, als stiege die Straße in sanfter Hebung nach aufwärts, weniger sanft für den Mann neben ihm, der sonst nicht so mühselig an dem Karren zu schieben hätte. Hinter dem Einfriedungsgitter der Anlage schwärzlich das Gebüsch, doch von den Bogenlampen zu scharfem Grün erweckt, lag der obere Teil der Baumkronen wie ein Streif über der Schattenmasse. Der Wind war verstummt, aber auch der Himmel war es, denn die Wolkendecke hatte sich nun vollends unter ihm zusammengeschoben, und es war, als senkte sie sich immer tiefer herab, sich mit der emporsteigenden Straße zu vereinigen.

Und A. schämte sich, daß er, von keiner Geldentwertung bekümmert, so aufrecht einherstolzierte, während der Mann neben ihm zur Erde gebückt den Karren schieben mußte, indes er konnte den Blick von dem, was über ihm geschah und gewissermaßen ausschlaggebend war, nicht abwenden. Die beleuchteten Kronen der Bäume drüben, wie der bewölkte Nachthimmel, wie die steilen Fronten der Häuser zu seiner Linken, dies war alles von einer wachsenden Bedeutung, und als sie nun zu dem Hause kamen, in das er heimkehrte, da war es nahezu eine Bestätigung: er sah auf dem Balkon eine helle Gestalt, und es war das Fräulein, das dort stand und mit den beiden Händen sich auf die Balustrade stützte, steif und eckig abgeknickt, über die Pelargonien zur Straße gebeugt, als würde sie ,– wohl wußte er, daß sie es nicht tat ,– ihn erwarten. Doch jetzt, da er mit dem Gepäck halt machte, verschwand sie vom Balkon, und eine kurze Weile danach erschien Zerline in der Haustüre, so daß unter ihrer Leitung und Mithilfe die Hinaufbeförderung der Stücke sich vollzog.

Oben war die Türe zum Mittelzimmer geöffnet, und A. traf hier auf das Fräulein. Sie sagte spöttisch:

»Wir mußten Sie erwarten, denn über all den Empfangsfeierlichkeiten hatte man vergessen, Ihnen Haus- und Wohnungsschlüssel einzuhändigen.«

»So habe ich Ihnen wirklich sofort eine Ungelegenheit verursacht«, sagte A.

»Ich wollte, es gäbe keine ärgeren Ungelegenheiten«, sagte Hildegard, und man wußte nicht, ob dies liebenswürdig oder feindselig gemeint war, »lassen Sie das Gepäck in Ihr Zimmer schaffen, und ich will Ihnen dann gleich die Schlüssel geben.«

So geschah es. A. entlohnte den Mann und kehrte sodann ins Wohnzimmer, dessen Tür noch immer offenstand, zurück, um die Schlüssel in Empfang zu nehmen.

»Und ich dachte, daß Sie bloß den Abend auf dem Balkon zu genießen beabsichtigten«, sagte A.

»Das tat ich vielleicht auch«, sagte Hildegard.

»Ich bitte Sie nochmals um Verzeihung«, sagte A., »ich hoffe bestimmt, daß meine Anwesenheit Sie in keiner Weise mehr stören wird.«

Hildegard machte eine Bewegung, die Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, aber vielleicht auch gewährte Verzeihung ausdrücken mochte, und auf den Balkon hinaustretend, ließ sie A. im Wohnzimmer zurück. Es war alles noch unerledigt, noch war es keine Entscheidung, so nahe sie auch geschienen hatte. Schon wollte er sich leise entfernen, als er bemerkte, daß sie sich umwandte.

»Herr A.!« rief sie.

Er gesellte sich zu ihr auf den Balkon.

»Da Sie nun einmal hier sind, ist es besser, wenn ich Ihnen gleich die notwendigen Erklärungen gebe.« Obwohl sie mit ihrer gewöhnlichen trockenen Stimme und sehr leise sprach, war ihre Erregung vernehmlich.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte A.

»Meine Mutter hat Vertrauen zu Ihnen; sie sagte, Sie kämen aus den Kolonien und wären ein Gentleman. Meine Mutter hat leicht Vertrauen, allzu leicht ,…, ich will es diesmal ebenfalls haben.«

»Sie verschwenden Ihr Vertrauen an keinen Unwürdigen«, sagte A.

»Nun denn«, fuhr sie fort. »Sie sind hier kein gewöhnlicher Mieter.«

»Wenn ich nach mir schließen darf, so bin ich es nicht. Es war gewissermaßen eine Schicksalsfügung, durch die ich hierhergelangte.«

»Oder Ihre etwas unverständliche Beharrlichkeit«, stellte sie fest, »aber nicht darüber will ich reden, sondern über die Position, in der Sie sich dank Ihrer Beharrlichkeit nun befinden.«

»Ja«, sagte A.

»Kurzum, meine Mutter will mich verheiraten; sie glaubt, damit eine Pflicht zu erfüllen. Sie sucht unentwegt nach einem Mieter, aber in Wirklichkeit sucht sie einen Schwiegersohn.«

»Das ist merkwürdig«, sagte A., und war eigentlich uninteressiert.

»Es ist nicht sehr merkwürdig«, entgegnete sie, »es entspricht den Anschauungen ihrer Generation.«

»Aber«, sagte A., »Sie können Ihr Schicksal doch selbständig bestimmen.«

»Nein«, sagte sie, »ich könnte es, aber ich darf es nicht.«

Zwischen das Dreieck der Anlage, dessen Konturen jetzt nicht deutlich zu erkennen waren, und das Dreieck der Häuser hatte sich ein neues eingeschoben: das Dreieck der Bogenlampen, die in der Mitte der drei Straßen hingen. Nur wenige der Lampen auf der gegenüberliegenden Seite waren durch Baumwipfel verdeckt.

Nach einer Weile sagte er:

»Soll ich morgen die Wohnung verlassen?«

Hildegard schüttelte den Kopf:

»Es hat wenig Zweck ,… jetzt sind Sie schon hier, und es ginge der Kampf dann bloß wieder von vorne an.«

»Ein Kampf?«

Hildegard schwieg. Dann ließ sie sich auf den Korbstuhl sinken, der an einem Ende des Balkons sich befand. Sie hatte die Füße parallel nebeneinandergestellt, hielt die gefalteten Hände zwischen die Knie gepreßt und bewegte den leicht vorgeneigten Kopf hin und her. Das war im Gegensatz zu ihrer bisherigen Haltung von eigentümlicher Weichheit und gab ihm den Mut zu fragen:

»Sie lieben jemanden?«

Nun lächelte sie gar, lächelte heute zum zweiten Male, und wieder wurden dabei ihre Lippen voll, beinahe sinnlich, ließen wiederum starke, gleichmäßige Zähne sehen. Es waren nicht die Zähne ihrer Mutter, und A. hätte gerne gewußt, ob der Gerichtspräsident auf dem Bilde auch lächeln könne und hinter den abkonterfeiten schmalen Lippen ebensolche Zähne verberge. Sehnsucht in Härte verwoben, dachte A., Weichheit in Begehrlichkeit eingesprengt, Gelöstheit in Strenge.

Hildegard bewegte noch immer den Kopf hin und her, und dann sagte sie leise: »Meine Mutter will mich aus dem Haus haben; deswegen will sie mich verheiraten. Vor sich selber verbirgt sie es unter Pflichtgefühl.«

»Die Welt ist schön«, sagte A., »Sie müssen nicht hier bleiben.«

»Und was geschähe dann mit meiner Mutter? Wer soll über sie wachen?«

Das klang fast leidenschaftlich.

»Die Baronin ist doch anscheinend durchaus rüstig. Und außerdem ist sie, meine ich, in guter Hut.«

Unten ging eine einsame Frau vorüber. Wie sie Bein vor Bein in dem pendelnden Rocke vorwärtsbewegte und den Kopf über etwas schrägem Körper wendete, machte sie einen entweiblichten, einen geradezu männlichen Eindruck.

Hildegard kreuzte die schlanken Beine und sagte:

»Meine Mutter ist willenlos. Und Zerline ist ihren Wünschen gegenüber zu schwach. Das haben Sie selber gesehen.«

An der Schmalseite des Balkons sitzend, hatte sie ihre Blicke der Stadt zugekehrt, sie heftete sie an den Stadteingang, als suchte sie dort etwas.

»Zerline hat kein Kind«, sagte sie, »sie weiß nicht, wen sie als Kind behandeln soll, mich oder meine Mutter.« Und es war nun, als suchte sie ein Kind dort oben, wo die beiden Straßenschenkel des Dreiecks spitz zusammenliefen, vielleicht Zerlinens ungeborenes Kind, eher jedoch wohl ihr eigenes. Und A. dachte: Auf diese Weise wird sie's nicht finden.

»Es wird bald regnen«, sagte A.

»Ja«, sagte sie.

Die Luft war so still, daß man den Regen, der bereits eingesetzt hatte, nicht bemerkte. Sie selber waren durch das Gesims des Hauses geschützt, sahen aber die schwarzen Punkte auf dem Asphalt dichter und dichter werden. Menschenleer war die Straße; die Frau, die unten gegangen war, war um die Bahnhofsecke verschwunden. Hinter den Häusern des westlichen Ufers zuckte manchmal der Widerschein eines Wetterleuchtens auf.

A. sagte:

»Die Wünsche Ihrer Frau Mutter können doch nicht so maßlos sein, daß sie derart bewacht werden müßte.«

Hildegard zögerte, dann sagte sie:

»Wäre sie nicht schon gebrechlich, sie würde alles im Stiche lassen ,… sie würde sich unter das Volk mischen und dritter Klasse fahren, bloß um in die Welt zu reisen; das beteuerte sie viele Male.«

Es konnte also unmöglich die Angst um den Verlust der Mutter sein, die das Fräulein zu solch abseitigen Erwägungen veranlaßte. Nun mußte die Lösung kommen. A. hatte wieder das Eisen der Balustrade umfaßt; nackt und atmend unter seinen Kleidern beugte er sich hinaus in den stärker und dichter werdenden Regen, und leise surrte das Laub in den Baumkronen drüben. Erde atmete drüben, Erde atmete hinter dem Haus, und der Atem des Lebendigen stieg auf und schlug zusammen über dem Dach des Hauses, in dem das Lebendige und Menschliche geborgen war. Vielgliedrig, vielknochig, vieladrig schwebten sie hier im Atem des Lebens, emporgetragen über die Erde. Von einer Mutter geboren werden, eingehen in die Geborgenheit, ausgehen aus der Geborgenheit des Hauses und wieder in sie zurückfinden: Angst des Leibes, nicht mehr Kind sein zu dürfen, zu erstarren im Unleben, nur mehr bergend, nicht mehr geborgen, Angst aller Frauen im nackten Körper unter ihren Kleidern.

Und sie, von der alle Gelöstheit und Weichheit wieder geschwunden war, sie, die wieder mit schmalen Lippen nonnenhaft dasaß und starr zur Spitze des Straßenpfeiles hinblickte, sagte:

»Mein Vater hat den Frieden hier gestiftet ,… ich muß dafür sorgen, daß er gehalten werde.«

A. strich über sein blondes biedermeierisches Backenbärtchen und antwortete:

»Eine wundersame und schwere Aufgabe, die Sie sich gestellt haben.«

»Ja«, war ihre Gegenantwort.

Vom Bahnhof her drang der Pfiff einer Lokomotive; das Rollen eines Zuges mischte sich in das Geräusch des Regens, mischte sich in das vieladrig tönende Leben des Laubes. A. blickte nun gleichfalls zum Stadteingang hinauf, als erwartete er von dort die Stimme, die den Stimmen der Ferne die letzte Antwort geben würde. Wird es die Stimme des Kindes sein oder die des Gerichts, wird der Blick des Kindes dort aufscheinen oder der des Vaters? Es war beides zugleich, denn der verhallende leise Donner, der jetzt über den Himmel hinzog und die Stadt einhüllte, er nahm das Rollen des Zuges in sich so sanft auf, er verklang so leise in dem Rauschen der Bäume, daß das Gewesene und das Kommende zur Einheit wurde, aufgenommen in unhörbarem Nachklang, in Zeitlosigkeit versinkend und in einer Ewigkeit, die das Lächeln des Lebens und das des Todes zugleich ist.

 

IV. Ballade vom Imker

Er war Reißzeugmechaniker gewesen, und jede Reißfeder, die aus seiner feilenden, probenden Hand gekommen war, stahlsilbern blinkend im blausamtigen Bett des Etuis, war ein Kunstwerk, war vollkommen in ihrem weich-elastischen und dabei doch festen Strich, war vollkommen in der Verläßlichkeit, mit der sie die Tusche bis zum letzten Tropfen hielt, ohne daß man je einen Fleck zu befürchten brauchte. Wo immer technisches Zeichnen noch als Kunst betrieben wurde, kannte man seinen Namen und seine Produkte, und an den zweitausend Studenten des Großherzoglichen Technikums, in dessen Nähe er Werkstatt und Laden aufgeschlagen hatte, besaß er einen fixen Kundenstock; sein Auskommen schien gesichert, und ebenso schienen die wachsenden Ersparnisse ausreichenden Schutz für ein geruhsames Alter zu versprechen. Freilich, in jenen Tagen hatte es bis dahin noch gute Weile. Damals lebte noch seine Frau, und solange sie noch lebte ,– oh Erinnerung, die ihn nie mehr verlassen sollte ,– fuhr er täglich nach Arbeitsschluß aufs Dorf hinaus, wo sie von ihrem Vater, einem ländlichen Baumeister, ein kleines Haus geerbt hatte; die Abende und Sonntage dort widmete er der Imkerei, die ihrer beider Freude war. Sie waren einander froh, und oft sangen sie zweistimmig während der gemeinsamen Arbeit. Und um das Glück vollständig zu machen, war ein Kind auf dem Wege. Da aber trat das Schreckliche ein. Nach einer durchaus leichten Schwangerschaft wurde es eine Totgeburt, und auch die junge Mutter wurde dahingerafft. Von diesem Schlag getroffen, wollte er Haus und Bienenstöcke nicht mehr sehen; er verkaufte das Anwesen und zog in die Residenzstadt. Eine Wiederholung der glücklichen Gemeinsamkeit von einst war ihm unvorstellbar, ja wurde ihm immer unvorstellbarer, und so blieb er unbeweibter Witwer, vergangenheitsstark und gegenwartsstark in einem. Nichtsdestoweniger, obwohl es selbstgewählte, selbstgewollte Einsamkeit war, sie wurde, je mehr die Jahre verflogen, dem Alternden zu schwer; eines Tages begab er sich ins städtische Findelhaus und nahm ein neugeborenes Mädchen an Kindes Statt an. Treu seinem vergangenen Glück und eingedenk des Imkertums, das ein Teil dieses Glückes gewesen war, ließ er das Kleine auf den Namen Melitta taufen, und weißbärtig, wie er nun wurde, lehrte er es, ihn Großvater zu nennen. Und dem Kinde zuliebe begann er nun wieder zu singen. Hätte er für einen Sohn ebenso gerne gesungen? Wohl kaum. Und so entpuppte sich das als einer der Gründe, um derentwillen er sich für ein Mädchen entschieden hatte, ungeachtet des Wunsches nach einem Nachfolger, den er in einem Sohn sich hätte erziehen können. Doch wer hätte verbürgt, daß dieser auch wirklich für die Kunst der Reißzeugmechanik getaugt hätte?

Nun, das waren überflüssige Gedanken, um so überflüssigere, als sich bald herausstellte ,– noch war der unheilvolle Krieg Deutschlands gegen die Entente in weiter Ferne ,–, daß eine neue Zeit angebrochen war, eine handwerksfeindliche Zeit, eine qualitätsfeindliche Zeit, die auch für das handgearbeitete Qualitätsreißzeug keinen Gebrauch mehr hatte. Reißzeuge wurden nunmehr in allen Papiergeschäften verkauft, lieblose Fabrikware, messerscharf unelastische, hart ritzende Federn, gleichgewichtslose Zirkel, denen kein noch so geübter Daumen den kunstgerechten Kreisschwung zu verleihen vermag, Stücke mit teils zu schweren, teils zu leichten Gelenken, zusammengehalten durch ein teils zu dickes, teils zu dünnes Geschräube. Wer mochte da noch mittun! Er gab es auf und schloß Werkstatt und Laden. Dabei war das Zeugs nicht einmal billiger als seine Ware; er hätte die Preise ohne weiteres halten können, aber es freute ihn nicht mehr. Die neue Generation war nimmer fähig, zwischen Feder und Feder zu unterscheiden; keiner war mehr imstande, eine richtige Schraffenfläche anzulegen, keiner gab sich die Mühe hiezu, vielmehr begnügte man sich mit einem billigen Wasserfarbengeschmier, das man, als wäre man ein Zimmermaler, grobpinselig auf die Zeichenfläche auftrug. Hiefür Feinwerkzeuge liefern zu wollen, hieß sich selber erniedrigen; dann schon lieber irgendwo einfacher Handlanger sein! Und in der Tat, so führte er es aus. Trotz seinen vorgerückten Jahren nahm er sofort nach Kriegsausbruch einen Posten als Maschinenarbeiter in einem feinmechanischen Großbetrieb an. Gewiß, das war anfangs als Erfüllung vaterländischer Pflicht gedacht, erwies sich aber später als bittere Notwendigkeit, denn ohne Zuhilfenahme des mit jedem Tag offener auftretenden, schamloser und teuerer werdenden Schleichhandels ließ sich ein Kind ,– Melitta war zu Kriegsbeginn neun Jahre alt ,– nicht mehr anständig ernähren. Indes, das Kind machte ihm Freude, es zu ernähren machte ihm Freude, die Arbeit machte ihm infolgedessen erst recht Freude, nicht zuletzt auch, weil er, ein Hüne ungeachtet seines weißen Schopfes, sie ohne weiteres zu leisten vermochte und dementsprechend entlohnt wurde, so daß die Ersparnisse nach bedenklicher Ebbe nun ,– und da die Mark noch als Mark galt, kamen bloß die Ziffern in Betracht ,– augenscheinlich wieder sich aufzufüllen begannen. Nach Friedensschluß wollte er sich zur Ruhe setzen.

Freilich kam es nicht dazu. Die Teuerung hielt auch nach Friedensschluß an, mehr noch, sie wurde schrittweise schärfer, und als sie zu guter Letzt in unverhüllte Inflation umschlug, da waren die Scheinersparnisse aufgezehrt. Der alte Mann blieb also bei seiner Fabrikarbeit und wäre wohl noch weiter dabei geblieben, wäre er nicht als zu betagt schließlich entlassen worden; die Jüngeren, sie selber von Entlassung bedroht, forderten ihr Recht und wollten ihn nicht mehr dulden. Glücklicherweise war nun Melitta der Schule entwachsen und daher in der Lage, gleichfalls zum Verdienst beizutragen; sie begann als Hilfskraft in einer Wäscherei. Das war immerhin eine Erleichterung, und der Alte hatte nun eine gewisse Muße, um sich nach einem neuen Erwerb umzusehen. Während seiner Ehezeit hatte er mit der staatlichen Imkerschule in der nahegelegenen Kreisstadt Verbindung unterhalten; einer plötzlichen Eingebung folgend, begab er sich dorthin und erhielt, da der ihm wohlbekannte Direktor noch im Amte war, die Stelle eines Wanderlehrers. Obzwar an sich schlecht bezahlt, gab das Aussicht auf mancherlei Zubuße von den Bauern; vor allem aber gab es Gelegenheit, die Landschaft kreuz und quer zu durchstreifen, und das war nach des Alten Sinn.

Die Inflation schien ihm nun rein ein Gottesgeschenk. Die Bindung an das Geld, die Bindung an eine Lebenssicherheit, um derentwillen der Mensch eng und unsicher in der Seele wird, wurde ihm mehr und mehr zum Bild der Unnatürlichkeit. Und wenn er auch die Bienen nach wie vor liebte, nach wie vor die blinkend ausgeschliffene Präzision ihrer technischen und sozialen Feinmechanik stets aufs neue erstaunt bewunderte, und wenn es ihm auch nach wie vor ein geradezu lustvolles Gefühl war, sich mit sorgender Imkerhand in das Präzisionsgefüge einzuschmiegen, so daß die Tierchen sich nicht erschreckten, vielmehr sein Tun unbekümmert zu dem ihren fügten, es mischte sich nun doch in diese Liebe eine Art verachtungsvolles Bedauern für den Bien, für dieses Wahrzeichen bürgerlicher Vorsorge, bürgerlichen Sicherheitsstrebens, bürgerlicher Disziplin, bürgerlichen Sparkassentums, und es war ihm, wie übrigens bei allem Haustierhaften, als sei da das Unnatürliche ins Natürliche eingebrochen. Und ähnlich empfand er den Bauern gegenüber, mit denen er zu tun hatte, und deren habgierige Besitzbeharrung ihn, unbeschadet seiner Schätzung für das bäuerliche Leben, mit Abneigung erfüllte. Oft dachte er, daß bloß der Handwerker, als welcher er sich noch immer fühlte, wahrhaft besitzbefreit sei, daß bloß der Handwerker, also nicht einmal der an der Erde haftende Bauer, geschweige denn der dem Kommerz zugetane Städter oder gar der in die Fabriken verbannte Arbeiter sich zur Ungebundenheit natürlichen Tuns aufschwingen könne, da er allein, gleichsam das Gotteswerk fortsetzend, mit seinen Händen das Neue schafft, um es am sechsten Tag als gut befinden zu dürfen, und daß daher auch allein der Handwerker wahrhaft fähig sei, Gottes Natur aufzunehmen und zu lobpreisen.

Und manchmal dachte er, daß Gott die Inflation zur Vertilgung der Fabriken und des Kommerz geschickt habe, zu ihrer Austilgung vom Erdboden, auf daß eine geldbefreite Welt von Handwerkern und gierlos gewordenen Bauern dem Schöpferwillen wieder gerecht werde, von nun ab und für immerdar. Gewiß glaubte er nicht daran, aber er liebte es, sich's so auszudenken.

Solcherart wurde er mit seinem zunehmenden Greisenalter zwar nicht gläubiger, zumindest nicht kirchengläubiger, wohl aber gottzugetaner. Und sein Auge wurde immer offener und sehender für die gewaltige Schöpferwelt. Wenn er durch die Felder dahinwanderte, sang er. Er sang nicht mehr die Volkslieder, die er einstens mit seiner Frau gesungen hatte, und noch viel weniger sang er wohlbekannte Arien oder etwa die Gassenhauer und hohlschneidigen Jazzstücke, die jetzt in aller Munde und sogar in dem der Bauernmädchen waren. Nur der Blinde singt eingelernte Lieder. Aber der Sehende (mag er auch vor lauter Sehen schließlich blind werden, ja dann erst recht) singt die Sichtbarkeit, singt die stets sich erneuernde Sichtbarkeit des Lebens, singt das Neue, und darum singt er sich selber. Nur der wirklich Sehende singt wirklich. Und was immer im Lied des Wanderers mitklingt, das Summen der Bienen bis herab zum Brummen der Hummeln und hinauf bis zum weichklirrenden Jauchzen der Lerche, es ist niemals Nachahmung der Töne, sondern es ist das gesehene Bienengeschwärme, ist die gesehene Lerchenhöhe und mehr noch: es ist das Unsichtbare im Gesehenen, übergetreten in den Ton. Das war das Singen des Alten; das Singen war er selber, denn er sang alles, was er sah und je gesehen hatte.

Nämlich, es vollzieht sich im Unsichtbaren das letzterreichbare Sehen des Menschen: da ist es ihm gegeben, das Lebende im Unlebendigen, das Lebende in der angeblich toten Materie zu erspüren, ein spürendes Sehen. Vom spürenden Erspähen ist die Hand des Handwerkers gelenkt, wenn sie den Werkstoff zu lebendiger Form bringt, auf daß deren Leben dem Auge wirklich sichtbar werde. Das ist die Gottesnachahmung des Handwerkers, nicht minder aber, ja sogar noch deutlicher die des Künstlers, deutlicher, weil sich bei ihm das Erspüren des im Unbelebten verborgen wirkenden Lebens noch weiter erstreckt und ,– in fast unmerklicher Steigerung ,– sein ganzes Sein, seine ganze Person erfaßt hat. Und ebendarum darf das Lied, darf die Musik noch darüber hinaus gehen, darf, kann und muß das bereits Sichtbare, das bereits Sichtbargemachte und Vorgeformte nochmals aufnehmen, um ihm die letzten Schlacken der Todheit abzustreifen und es zum lautersten Leben zu vertonen, sichtbar das Lied über jede Hörbarkeit hinaus. Oh Auge des Menschen, Leben an sich, Schöpfungsfrucht, reifstes Leben! Im Auge ist das Geschöpfliche am weitesten von dem unbelebten, dennoch lebensbereiten Staub entfernt, aus dem es geschöpft worden ist, im Auge ist es am nächsten zu der Schöpfungstat, der es sein Sein verdankt, gut befunden am sechsten Tag und selber mit der Schöpfungsgabe ausgezeichnet, das Getane für gut zu befinden, das Auge berufen zum Richteramt über alles menschliche Erkennen, berufen zur Entscheidung über die eigene Schöpfungstat, sei es die der Zahl, sei es die der Kunst, Prüfstein für beides; im Auge ist das Menschliche des Menschen versammelt, hier beruht seine Wesenheit, und hier ist seine Ruhe, da er in des Auges Erkenntniskraft zum Schöpfer geworden ist. Heiligkeit des Auges, trotzdem bloß Echo-Heiligkeit! Denn echogleich wirkt die menschliche Schöpfungstat, nur im Bilde vermittelt sie das erspürte Leben, und der Mensch, im Auge sich erkennend, durch das Auge sich und sein Getanes für gut befindend, maßt sich eine Unmittelbarkeit an, die er nicht besitzt; er wird eitel im Auge und kehrt zur Todheit zurück, verliert die Gabe der Lebenserspürung, und sein Tun wird zu einem bloßen Wühlen im toten Stoff, wird zur falschen Nachahmung, zur leeren Bösheit. Die falsche Gottesnachahmung, ihre Leerheit und Bösheit, das ist die Gefahr des Künstlers, nicht so sehr, lange nicht so sehr die des Handwerkers, dessen Lebens-Erspürung auf das Geschehen seiner Hände beschränkt bleibt, und fast ist es, als ob der Künstler, je mehr er zum Schöpfer wird, heimkehren müßte in das bescheidenere Gebiet des Handwerks, um zu seinen größten Werken zu gelangen.

Und eben dies erfuhr auch er, der hünengleich und singend durch die Landschaft wanderte und sich des Windes freute. Früher ja, früher war er oft in eine Kirche getreten, wenn aus ihrer geöffneten Türe das Orgelspiel drang, und er sang kräftig mit, wenn ihm der Choral gefiel; sonst schwieg er. Auch die Altarbilder betrachtete er, und wenn ihm ein von Meisterhand gemaltes gefiel, so konnte er lange davor stehen; den schlechten schenkte er keine Beachtung. Und hätte er Konzerte oder Museen oder Theater besucht, es wäre nicht anders gewesen. Gleichwie er von jeder Reißfeder wußte, ob sie richtige Arbeit oder für den Verkaufstisch hergerichteter Fabriksbofel war, so wußte er auch hier auf den ersten Blick das Gute und Echte auszusondern und den unechten Schund zu verwerfen; dem Bauern, obwohl er Kunst hervorzubringen vermag, fehlt dieses untrügliche Unterscheidungsvermögen, ja, er zeigt sogar eine gewisse Vorliebe für Süßlichkeit und Kitsch, und der Kommerzstädter braucht den Fachmann, der ihm, zumeist mehr oder minder erfolglos, den Blick für das Wohlgeratene beibringt, während jener, dem der natürliche Spürsinn des Handwerks in Geist und Hand sitzt, fast der einzige ist, der den sofortigen Zugang zu des Kunstwerks Lebendigkeit findet und ohne Überlegung sich daran zu erfreuen vermag. So war es auch bei ihm gewesen, doch das war vorbei; es war ihm gleichgültig geworden, und es wurde ihm immer gleichgültiger. Kein Orgelspiel war mehr imstande, ihn in eine Kirche zu locken, nichts dergleichen verlockte ihn mehr zum Hinhören oder Hinschauen, ja, er vermied es sogar, hinzuschauen und hinzuhören, denn die Echohaftigkeit der Kunst war ihm aufgegangen, und er verwarf ihre Mittlerrolle; er bedurfte keines Mittlers mehr. All das aus seinem Leben ausscheidend, verarmte er, um reicher zu werden. Und mit jedem Tag der Lebensunmittelbarkeit näherkommend, kam er auch dem Wissen um den Tod näher, der bloß im Unmittelbarsten sich erahnen läßt. Darum sang er, sang nur für sich in Einsamkeit, nie vor anderen, nie für andere: jeder andere hätte den Gesang des Lebens herausgehört, das lediglich Mittelbare also und noch nicht die letzte Wirklichkeit, während er selber tief in sich das Mitsingen des Todes hörte, das Geheimnis, das preiszugeben ihm verwehrt war. Hätte er die Fähigkeit besessen, sein Singen in Noten zu setzen, er hätte es in früheren, in jungen Jahren vielleicht getan, jetzt sicherlich nicht mehr. Im Handwerkstum hatte er gelebt und stets ,– für ihn fast unmerklich ,– an der Schwelle des Künstlertums; jetzt war er ,– und dieses Wachsen fühlte er ,– über beides hinausgewachsen.

Und damit war er auch über Handwerksstolz und Künstlereitelkeit hinausgewachsen. Auf seine Reißfedern, auf seine haargenauen Nullenzirkel, auf seine Winkelmesser, auf seine vieltabelligen Rechenstäbe war er stolz gewesen; sein neues Sein jedoch, sein neues Wissen war jenseits hievon, war nur noch Natürlichkeit. Er war ein Wanderlehrer, der den Leuten das Imkern beibrachte, die Stockkonstruktionen und die Stockpflege, die Verwendung künstlicher und naturgewachsener Waben, das Übertragen von Völkern, das Einsetzen von Königinnen, das Ausheben eines verlorenen Schwarms, den Einfluß der Garten- und Felderbepflanzungen auf die verschiedenen Sorten und die Güte des Honigs, um so mehr als durch richtige Bepflanzungen das Aussterben der Stöcke wenn schon nicht vermeidbar, so doch einschränkbar wird. Dies zu lehren ging er von Hof zu Hof, saß mit den Bauern zu Tisch, saß mit ihnen nach Feierabend unter der Linde hinterm Haus und erzählte ihnen Geschichten von Bienenabenteuern: er erzählte von Völkerteilungen und Völkerkämpfen, er erzählte von der Verteidigung des Schlupfloches, vom Hochzeitsflug und von der Drohnenhinrichtung, er erzählte von der geheimnisvollen Bienensprache, in der dem Schwarm das Kommando zur Aufsuchung der günstigen Futterplätze erteilt wird, so daß diese stets in genauester Richtung bei kürzester Flugstrecke erreicht werden, und er erzählte vom Opfermut und von der Todesbereitschaft des Biens. Die Kinder nannten ihn Großvater, Bienengroßvater. Und er ließ vor ihnen eine Biene über den Handrücken kriechen, die ihn nicht stach. Das war sein Beruf, und den übte er aus, das war sein Alltag, das war er selber, ohne mehr als das sein zu wollen. Aber den Kindern, die sich an ihn hingen und ihm entgegenliefen, wenn er, sein Handwerkszeug und seine Habseligkeiten rucksackgepackt auf den Schultern, sich im Dorfe zeigte, den Kindern war er mehr als das, mehr als bloß ein Bienengaukler. Staunten sie, daß die Bienen ihm nichts zuleide taten, so wußten sie zugleich, daß es überhaupt nichts mehr gab, das ihm etwas anhaben konnte. Er war bienengefeit und weltgefeit und vielleicht sogar schon todesgefeit; das ahnten, das wußten sie. Ja, selbst die Erwachsenen begannen darum zu wissen, wenn auch später als die Kinder und wohl von diesen angesteckt. Hätte der Alte, der in keinen Konflikt mit Doktor und Veterinär zu geraten wünschte, nicht wohlweislich abgelehnt, er wäre zu jedem Stück krankem Vieh, zu jedem Stück krankem Menschen in den Dörfern gerufen worden, und vermutlich hätte er die einen wie die andern geheilt. Denn die Kraft der Krankheit, stammend aus dem Machtbereich des Todes, wird von jenem gebrochen, der mit der Stärke seines Gesanges die Todesvertrautheit sich errungen hat und des Todes guter Nachbar geworden ist, so daß sein Schatten, der Schatten seiner Todesbezähmung von dorther bis herüber reicht, herüber ins Land der Menschen, der Kinder und des Viehs. Als einen, der von dort drüben kommt, sahen sie ihn, als einen Teil der Wälder, der Flüsse, der Hügel, als einen Teil der Natur, als einen Teil des Todes, er selber schon heilende Natur, er selber schon heilender Tod. Bald fragte man ihn nicht mehr, woher er kam; man scheute sich zu fragen, die übergroße Ferne scheuend, die um ihn war. Und er scheute sie selber; er erzählte von seinem gestrigen, seinem vorgestrigen Nachtlager, erzählte vom Nachbardorf, und von dorther kam er.

Trotzdem konnte er sich seine Ferne nicht verhehlen; sie drängte sich ihm auf, nicht zuletzt in dem Unbehagen, das ihn überfiel, so oft er ans Heimkehren dachte. Immer länger wurden die Zeitspannen des Wegbleibens, immer kürzer die Rastpausen, die er in der fremd gewordenen städtischen Behausung verbrachte. Mag sein, daß er Beunruhigung von Melitta befürchtete; er liebte sie als sein Kind, aber sie war nicht sein Fleisch und Blut und wurde nun eine heranreifende junge Frau. Doch viel eher fürchtete er wohl, daß seine Fremdartigkeit die Lebenslinie eines so jungen und noch ungesicherten Wesens gleichfalls ins Fremdartige abbiegen könnte, eine Gefahr, die er jedenfalls zu verhüten hatte. Machte er sich nach knappem Aufenthalt wieder auf den Weg, und bat sie ihn, doch nicht immer so davonzueilen, lachte er: »Alter Ochs und junges Kalb taugen nicht zueinander«, und ehe sie sich's versah, hatte sie zwei kräftige Küsse auf den Wangen, und er war aus der Tür draußen. Später ließ er es nicht einmal zu solchem Abschied kommen, sondern verschwand einfach, einen Abschiedsgruß durch die Post schickend. War er aber dann außerhalb der Stadt, so atmete er auf; er gehörte nicht mehr dahin, er gehörte überhaupt in keine Wohnung, unter kein Dach mehr: bei schlechter Witterung ging es nicht anders, da mußte er in diesem oder jenem Dorf, bei diesem oder jenem Bauern übernachten; indes, wenn es nur halbwegs sich als tunlich erwies, schlief er im Freien, eingebettet in die Verwobenheit von Leben und Tod, die in seinen Schlummer eindrang. Und öffnete er inmitten des Nachtdunkels oder im ersten Vormorgen das wiedererwachende Staunen seiner Seele, hinaufspähend zum schwebenden Firmament, hinablauschend zur ruhenden Erde, so wurde er selber zum schwebenden und ruhenden Erspüren der Ganzheit, er selber Ganzheit, welche die Ganzheit der Welt erfüllt und von ihr erfüllt wird: das Gestein unter ihm und das Gebein in ihm wurden eins mit dem kühlen Leuchten der Sterne, einvermählt in dieses, einvermählt in die Lebensbereitschaft des toten Stoffes, während die Vielfalt des Lebenden ringsum, nicht minder aber auch die seiner eigenen lebenden Person, seines eigenen lebenden Fleisches, seines eigenen lebenden Herzens mitsamt seinem Pulsschlag die Bereitschaft zur Rückkehr ins Unbelebte offenbarte, und dieser unendlich gespannte Austausch zwischen den Polen des Belebten und Unbelebten enthüllte sich als das Unmittelbare schlechthin, als das innerste Gezeite der Ganzheit, als die unmittelbare Heiligkeit der Dauer, die aus dem unendlichen Wechsel von Tod und Leben hervorgeht, als die Heiligkeit der unmittelbaren Ferne, die den Menschen aufnimmt, soferne er sich ihr rückhaltlos unterwirft. Er aber hatte sich unterworfen, und sein Erwachen war Wissen um die heilige Ferne, in der er sich befand.

Er war ein Handwerker gewesen, und jetzt war er ein Wanderlehrer. Doch wenn er singend durch die Landschaft dahinschritt, ein weißbärtiger, weißmähniger Hüne, da hing die Ferne als ein heiliger Mantel um ihn, und er war bienengefeit, lebensgefeit, todesgefeit.

 

V. Die Erzählung der Magd Zerline

Die Kirchenuhren der Stadt hatten soeben in unordentlichem Durcheinanderhallen ,– bloß die barockal glockenspielartigen Klänge, welche die Schloßkirche droben auf der sanftgehügelten Stadthöhe ausschickte, hoben sich klarliniger heraus ,– die zweite Stunde angezeigt. Der sommerliche Sonntag wandte sich seinem Abstieg zu, langweiliger und wohl auch langsamer als jeder Wochentag, und A., auf dem Kanapee seines Wohnzimmers liegend, nahm es zur Kenntnis: die Langeweile des Sonntags ist eine atmosphärische; der Stillstand der Massenbetriebsamkeit hat sich der Luft mitgeteilt, und wer davon nicht ergriffen werden will, müßte den Sonntag mit doppelter und verdreifachter Arbeit ausfüllen. Wochentags hört man, selbst bei völliger Untätigkeit, keine Kirchenuhren.

Arbeit? A. dachte an die Kanzlei, die er sich im Geschäftsviertel der Stadt eingerichtet hatte; manchmal entfaltete er dort eine geradezu hurtige Betriebsamkeit, öfters jedoch brachte er die Tage einfach in Untätigkeit dahin, freilich ohne daß seine Gedanken abließen, ums Geld und um Geldmöglichkeiten zu kreisen. Das ärgerte ihn. Der in ihm sitzende Spürsinn fürs Geldmachen hatte etwas Unheimliches an sich. Gewiß, er aß gern, er trank gern, und er liebte ein einigermaßen komfortables Leben. Aber er liebte nicht das Geld als solches; im Gegenteil, das Wegschenken war ihm eine Freude. Warum also diese unheimliche Leichtigkeit, mit der er, weit über seine Bedürfnisse hinaus, das Geld an sich heranzog? Das Problem der richtigen, soliden Geldanlage war für ihn stets schwieriger gewesen als das des Geldverdienens. Jetzt kaufte er Grundstücke und Häuser auf; mit entwerteter Mark bezahlt, kosteten sie ihn so viel wie nichts. Und doch hatte er keine Freude dran; es war wie lästige Pflichterfüllung.

Der Morgensonne wegen waren die Jalousien herabgelassen, und er war, trotz des Nachmittagsschattens, zu träge gewesen, sie wieder aufzuziehen. Freilich schadete das nichts; abgedämmert mochte der Raum kühler bleiben, und abends sollten die Fenster geöffnet werden. Immer wieder kehrte sich die Faulheit ihm zum Guten aus. Dabei war er nicht einmal richtig träge; er war bloß entscheidungs-schüchtern. Er vermochte dem Schicksal nichts abzutrotzen, nein, das Schicksal sollte für ihn entscheiden, und er unterwarf sich, freilich nicht ohne eine gewisse Wachsamkeit, ja Listigkeit, die um so notwendiger war, als diese Entscheidungsinstanz sich ein merkwürdiges System zu seiner Lenkung zurechtgelegt hatte: sie setzte ihm Gefahren auf den Hals, die er zu fliehen hatte, und die Flucht trug dann Geld ein. Seine rasende Angst vor dem Abitur, seine Angst vor den ertappenden Prüfern, denen das Schicksal das Furchteinflößende in die Hände gelegt hat, da sie um die letzten Geheimnisse des Prüflings wissen und ihn daher, als hätte er nie etwas gelernt, selber wissens-entleert machen, diese rasende Prüfungsangst hatte ihn vor fünfzehn Jahren zur Flucht nach Afrika getrieben; ohne einen Cent ,– der über das Gehaben des Sohnes erzürnte Vater hatte die Überfahrt und nichts darüber hinaus bezahlt ,– war er an der Kongoküste gelandet, entscheidungsschüchtern und geldlos, dennoch glücklich, weil es im Unvorhergesehenen keinen Prüfer gibt, wohl aber Schicksalsgläubigkeit: schicksalsgläubig war er damals geworden; es geschah in der Form eines wachsamen Dahindämmerns, und ebendarum, vielleicht infolge der Wachsamkeit, vielleicht infolge des Dahindämmerns, hatte es ihm fortab nie mehr an Geld gefehlt. Ob als Gärtnerbursche, als Kellner oder Clerk, er füllte solche Anstellungen, von denen er anfangs eine ganze Reihe innehatte, bloß so lange zufriedenstellend aus, als ihn niemand nach seiner Eignung und seinen Vorkenntnissen fragte; wurde er gefragt, so verließ er sofort den Posten, freilich jedesmal mit einer etwas größeren Summe in der Tasche, weil es jedesmal, wie das in den Kolonien eben ist, Gelegenheit zu vielerlei Nebengeschäften gegeben hat, und bald wurden die Nebengeschäfte zum Hauptgeschäft. Es verschlug ihn nach Kapstadt, es verschlug ihn nach Kimberley, es verschlug ihn in ein Diamantensyndikat, dessen Teilhaber er wurde, und immer war es sein Schicksal, das ihn dahin und dorthin verschlug, sein Ausweichen vor Unannehmlichkeiten, sein Ausweichen vor der Rede und Antwort, die er anderswo hätte stehen müssen; er konnte sich nicht erinnern, je wirklich mit seinem Willen eingegriffen zu haben, vielmehr war es stets die an Trägheit gemahnende Entscheidungslosigkeit gewesen, jene betriebsame Trägheit, die seine Schicksalsgläubigkeit war und mit der er es geschafft hatte. »Träge Lebensverdauung, träge Schicksalsverdauung«, sagte etwas in ihm und brachte ihn wohlzufrieden ins Heute zurück: mochte der Sonntag verrinnen und versickern, mochten die Jalousien geschlossen bleiben, es wird zum Guten ausschlagen.

Da wurde ,– vielleicht nach einem schüchternen Anklopfen die Tür zu einem Spalt geöffnet, und vogelgleich vorgestreckt erschien in diesem der Altweiberkopf der Dienstmagd Zerline: »Schlafen Sie?«

»Nein, nein ,… kommen Sie nur.«

»Sie schläft.«

»Wer?« Das war eine dumme Gegenfrage. Natürlich konnte bloß die alte Baronin gemeint sein.

Über die Runzeln huschte es verschmitzt, gleichsam wie eine Verächtlichkeitsbrise: »Die drin ,… fest schläft sie.« Und unmittelbar anschließend, einerseits als Beweis für die Ungestörtheit des Nachmittags, andererseits als sein erster Programmpunkt: »Die Hildegard ist ausgegangen ,… der Bastard.«

»Was?«

Sie war nun vollends ins Zimmer getreten, hielt sich in respektvoller Entfernung, aber der gichtischen Kniee wegen stützte sie sich mit der einen Hand am Kommodenrand auf: »Sie hat sie sich von einem andern machen lassen«, enthüllte sie, »die Hildegard ist ein Bastard.«

So gerne er mehr darüber gehört hätte, er durfte darauf nicht eingehen: »Hören Sie, Zerline, ich bin ein Mieter hier, und solche Dinge sind nicht meine Angelegenheit ,… ich kann da nicht einmal zuhören.«

Sie schaute kopfschüttelnd auf ihn herab: »Sie denken doch daran ,… woran denken Sie?«

Ihr prüfender Blick ärgerte und beunruhigte ihn. War seine Hose nicht richtig geschlossen? Er fühlte sich unangenehm ertappt, und am liebsten hätte er ihr gesagt, daß er an seine Geldgeschäfte gedacht hatte. Doch was fiel ihr ein, daß er ihr Rede und Antwort zu stehen hätte? Er schwieg.

Sie spürte seine Betretenheit und gab nicht nach: »Es wird schon noch Ihre Angelegenheit, wenn sie zu Ihnen ins Bett kommen wird.«

»Sagen Sie, Zerline, was fällt Ihnen eigentlich ein?«

Unbeirrt fuhr sie fort: »Immer läuft sie davon, und wenn sie einen richtigen Geliebten hätt, mit dem sie schläft, wär's schon in Ordnung; dann war sie eben eine richtige Frau ,… aber sie ist eine Verkappte, wie kaum eine zweite ,… sie spielt die richtige Frau, eine, die im geheimen zum Geliebten läuft und das, weil sie's nicht besser kann, unter ungeschickten Lügen versteckt ,… also spielt sie auch die Ungeschicklichkeit und nimmt das Gebetbuch zum scheinbaren Kirchenbesuch mit, gerade weil jedermann die wirklichen Gottesdienststunden kennt und jedermann die Durchsichtigkeit durchschauen muß, durchschauen soll ,… Scheinlügen führt sie im Mund und dabei Doppellügen, hinter denen ganz Scheußliches steckt ,… was sie mit dem Gebetbuch in dem Bett, zu dem sie hinläuft, aufführen mag, das will ich gar nicht wissen, und trotzdem werde ich's noch herauskriegen ,… alles krieg ich heraus.«

Sie wartete einen Augenblick, und als A., der wie zum Zeichen der Abwehr die Augen geschlossen hatte, nichts erwiderte, kam sie, mit der einen Hand am Kommodenrand weitergleitend, die andere ein wenig steif hängen lassend, ein paar Schritte näher: »Alles krieg ich heraus, und ich hab auch herausgekriegt wie die Al ,…, wie die Frau Baronin sich damals das Kind hat machen lassen ,… und sehr rasch sogar hab ich's herausgekriegt. Ganz so jung, ganz so dumm war ich ja damals nicht mehr, obwohl's lang genug her ist, über dreißig Jahre. Damals, ja damals war ich noch bei der Frau Generalin ,… das war der Frau Baronin ihre gottselige Mutter. Dort war's ein feines Haus. Ich war Erste Zofe, und die Zweite war sozusagen mein Adjutant, und dann haben wir noch eine Köchin und ein Küchenmädchen gehabt. Und solange der Exzellenzherr, der Herr General noch gelebt hat, war für die gröbere Arbeit im Haus sein Bursche da, und überdies hat der beim Servieren mitgeholfen. Doch um jene Zeit war der Exzellenzherr schon gestorben, und eines schönen Tags, es war im Februar, und ich entsinn mich, als wär's gestern gewesen, wie der feuchte Schnee an den Fensterscheiben geklebt hat, da klingelt mir die Exzellenzfrau, und wie ich hinaufkomm sagt sie ›Zerlin‹ hat sie gesagt, ›Zerlin, du weißt, wir müssen hier das Haus einschränken, indes ich will dich nicht ganz verlieren‹ … ja, ja, so hat sie das ausgedrückt ,… ›möchtest du nicht zu meiner Tochter gehen? die erwartet ein Kind, und mir wäre es lieber, du wärest im Hause bei meinem Enkel als ein fremdes Kindermädchen.‹ Ja, so hat sie zu mir gesprochen, und ich bin folgsam gegangen. Wenn auch schweren Herzens. Ich war ja nicht mehr die Jüngste, und da hätte ich weiß Gott lieber meine eigenen Kinder bekommen und betreut. Aber wenn ein Mädel in den Dienst geht, muß sie sich solche Gedanken aus dem Kopf schlagen; für das Mädel, das in Dienst gegangen ist, heißt's verzichten, und ein Kind ist ihr ein Unglücksfall, vor dem sie sich zu fürchten hat. Schad war's um mich; für ein Dutzend Kinder war ich gut gewesen. Wie ich bei der Exzellenzfrau eingetreten bin, blutjung war ich ,…« ,– sie vollführte mit dem Arm eine kecke Bewegung, die wohl einen Juchzer andeuten sollte, hier jedoch beinahe goyahaft wirkte ,–, »… da hätten Sie mich sehen müssen; alles war prall an mir, und die Brüste sind gestanden, daß jeder danach greifen wollte. Sogar der Herr Baron, der damals noch nicht Gerichtspräsident, sondern erst Amtsgerichtsrat war, hat sich nicht zurückhalten können. Sie meinen, daß er's nicht hätte tun dürfen, weil er ein junger Ehemann war und für so einen sich's nicht schickt? I wo, das war's nicht. Aber er hat zu denen gehört, die weit über der Lust stehen, und die um ihrer Seele willen überhaupt kein Weib begehren dürften. Wahrscheinlich hat er die« ,– der Daumen wies rückwärts zur Tür hin ,– »auch niemals begehrt. Na, sie war auch nicht danach, ihm viel Spaß zu geben. Ich, ja, ich hätt ihm den Spaß geben können und hab's trotzdem nicht gewollt, obschon er ein schöner Mann war; es hätt ihm in der Seele geschadet. Statt dessen hab ich mit den Burschen vom Exzellenzherrn poussiert, und, hab ich auch fast immer meine Freud dran gehabt, es war auch das nicht gut. Schier niemals richtig im Bett, alleweil nur so mit den Kleidern und husch-rasch im dunkeln Zimmer, im Salon, wenn die Herrschaft im Theater war. Für ein Mädchen, das zum Dienst in die Stadt kommt, ist das so. Die Burschen haben ihre Mädel zu Hause im Dorf, und ihnen verschlägt's nicht, daß sie vielleicht mit mir bessern Spaß gehabt haben, und daß ich vielleicht schöner war als die dort; es hat der, der wartet, das bessere Recht. So war's. Die Jahre der Jugendblüte« ,– offenbar war das ein Zitat ,– »sie gingen dahin. Mehr als zwölf Jahre war ich bei der Exzellenzfrau, und dann ist die« ,– wieder wies der Daumen nach hinten ,– »und nicht ich schwanger geworden. Dabei war ich immer noch weitaus stattlicher als sie. Sie hat gewonnen. Und ich hab den Posten bei ihr und ihrem Bankert angenommen.«

Sie machte eine Pause, um sich richtig auszuseufzen. Und ohne ihren Zuhörer, der sich aufgesetzt hatte, viel zu beachten, sprach sie weiter:

»Wie dann das Kind, die Hildegard, auf der Welt war, da war der Herr Baron bereits an die Fünfzig und war gerade Gerichtspräsident geworden. Vielleicht war's ihm nicht recht, daß ich ins Haus gekommen bin, denn er mag's so wenig wie ich vergessen haben, daß er mich einstens an den Brüsten gepackt hat; solche Dinge haben keine Zeit, die bleiben. Jetzt freilich, mocht ich mich noch so gut tragen und noch so stattlich anzusehen sein, er hat keinen Blick mehr für mich gehabt. Er war zu dem geworden, wozu er bestimmt gewesen war, einer, der kein Weib mehr begehrt. Und selbst wenn er's nicht mehr gekonnt hätte, es gibt viele, welche nicht können und darum erst recht wollen. Das sind die Häßlichsten. Bei ihm aber ist das Nicht-Können aus dem Nicht-Wollen hervorgegangen, und deswegen ist er immer schöner geworden. War die Hildegard von ihm, sie war eine schöne Frau.«

Nun mußte A. widersprechen: »Sie ist eine schöne Frau, und als ich das Bild des Präsidenten drinnen im Eßzimmer zum ersten Male sah, ist mir ihre Ähnlichkeit mit ihm sofort aufgefallen.«

Zerline kicherte: »Ich, nur ich hab sie ihm ähnlich gemacht. Ich hab das Kind immer wieder vor das Bild hingeführt und hab's gelehrt, so zu blicken, wie er es dort tut ,… alles ist im Blick.«

Das war immerhin überraschend; A. wurde nachdenklich: »Mit dem Blick müßte sie auch seine Seele erworben haben.«

»Genau so wollt ich's haben, und ob, genau so ,… aber sie ist eine Frau, und sie hat das Blut des andern.«

»Wer war der andere?« Das war gegen seinen Willen gesagt, und es war viel zwingender als bloße Neugier gewesen.

»Der andere?« ,– Zerline lächelte ,–, »ja der andere, der ist von Zeit zu Zeit bei der Exzellenzfrau zum Tee gekommen, und erst ist es mir gar nicht aufgefallen, wie oft da auch immer die Frau Baronin hat dabei sein müssen und zudem ohne ihren Mann. Aber daß der andere, der Herr von Juna, gleichfalls sehr schön war, das ist mir gleich aufgefallen; einen rostbraunen Spitzbart hat er gehabt, rostbraune Locken, eine Haut wie angedunkelter Meerschaum, und in der Taille hat er sich getragen, als ging's zum Tanzen. Ja, das muß ihr der Neid lassen, sie hat's verstanden, sie sich auszusuchen. Nur daß bei dem da, wenn man ihn richtig betrachtete, hinter dem schönen Spitzbart, ja sogar hinter dem schönen Mund das Gesichtshäßliche, das Nicht-Können und Immer-Wollen zum Vorschein gekommen ist, die häßliche Lüsternheit, in der die Schwachheit sitzt. So einer ist leicht zu haben, und hätt ich ihn gemocht, ich hätt ihn« ,– sie knipste zwischen den Fingern einen imaginären Floh ,– »vom ersten Tag an gehabt wie nix. Die Exzellenzfrau hat gesagt, daß er einer sei, der stets auf Reisen ist, in diplomatischen Diensten, wie sie's nennen, ein Diplomat. Na schön. Er hat im Alten Jagdhaus dort draußen im Wald« ,– ihr Arm wies in ein fernes Irgendwo ,– »sich niedergelassen, aber nicht wegen der Jagd, sondern wegen der Frauen, die er immer bei sich gehabt hat. Natürlich haben die Leut mehr gemunkelt als gewußt; er hat ja alles dazu getan, um sie neugierig zu machen mit seinem Auftauchen und Verschwinden und mit seinen vielen Weibern. Ich auch war neugierig. Und aus der Förstersfrau, die ihm das Haus betreut hat, war nichts herauszukriegen. Die hat dichtgehalten, und wundern möcht ich mich, wenn er grad die ausgelassen hätt; ganz brauchbar war sie. So hat er gelebt, und das Kind hat ihm von allem Anfang an ähnlich gesehen. Wie aber wird man's ihm jetzt präsentieren, das Kind? Darauf war ich gespannt. Nun, sie hat sich's ganz gut ausgeheckt; das Enkelchen sollte zum Zweimonatsgeburtstag bei der Großmama Aufwartung machen. No, das war's. Wir sind also zur Exzellenzfrau hinausgefahren; das Kind ist im Gastzimmer schlafen gelegt worden, und mich hätten keine zehn Pferd mehr aus der Stube herausgebracht, denn ich hab ja gewußt, daß er nun wie zufällig wird auftauchen müssen. Und daß sie sich dabei verraten wird, hab ich mir auch ganz genau ausgemalt. Gar nicht lang hab ich warten brauchen, und beinah hätt ich gelacht, wie sie ihn so pünktlich hereingeführt hat, und noch mehr hab ich mir's Lachen verbeißen müssen, wie er sich übers Bett beugt, der Papa, und sie ihre Rührung nimmer verbergen kann und nach seiner Hand greift. Es war ehrlich und war doch falsche Rührung. Er freilich war schlauer; er hat's gemerkt, daß ich sie beobachtet hab, und beim Hinausgehen wirft er mir, als könnt er hiedurch seiner Vaterschaft ledig werden, einen Blick zu, mit dem er mir sagt, daß ich und nicht sie die Richtige für ihn sei. Und ich, nicht faul, laß ihn spüren, daß ich's verstanden hab.«

Ihr damaliges Antwort-Lächeln hat sich in ihr Gesicht zurückgezaubert, schimmerte da nun als ein greisenhaft ein gerunzeltes, greisenhaft eingewelktes Echo seiner selbst und war, gerade infolge seiner Vertrocknetheit, etwas Immerwährendes, eine Antwort, die immer währt:

»Ich hab's ihn spüren lassen und hab's selber gespürt, hab gespürt, wie's in ihn hineingefahren ist und ihm die Ruh genommen hat, ja daß er keine Ruh mehr wird finden können, eh er nicht mit mir geschlafen haben wird. Das war mir recht. So sehr hat's auch mich gepackt, obgleich es doch weder von ihm noch von mir so gemeint gewesen war. Billig ist der Mensch. Und nicht nur eine arme Dienstmagd vom Land ist so billig, nein, jeder ist's; nur der Heilige hat die Weisheit und die Stärke, so daß er nicht billig zu sein braucht. Aber auch zur Lust, mag sie noch so billig sein, braucht's Stärke, und am ärgsten sind die, welche aus lauterer Schwachheit, aus lauterer Lustunfähigkeit ihre Billigkeit verleugnen wollen. Sie möchten's teuer haben und sind noch billiger, die Schielenden, die Lügner aus Feinheit, die Lügner aus Schwäche, sie alle, die mit dem großen Seelenlärm die Lust zu übertäuben suchen, weil sie ihnen nicht seelenfein genug ist, und noch öfter, weil sie überhaupt nichts von ihr wissen und meinen, daß sie sich mit dem Lärm herauflocken und halten läßt. Mit der Seele wünschen sie sich die Lust zu erschwindeln, und zugleich soll sie übertäubt werden. Und die Frau Baronin? Kein lautes Wort bei Tag, aber ich wett, nichts als Seelenlärm in der Nacht. Natürlich muß man ihr zugut halten, daß sie nie eine richtige Frau war, und daß sie das von der strengen Heiligkeit, die der Herr Baron gehabt hat, niemals hätt lernen können. Also war's selbstverständlich, daß sie an den andern geraten war, an den Lüsternen. Das Kind hat sie mit ihm auf ihrer letzten Badereise zustandegebracht; das stimmte haarscharf auf den Tag. Doch nun? Warum ist sie nicht mit ihm durchgegangen? Warum ist sie nicht zu ihm ins Jagdhaus hinausgelaufen? I wo. Dazu war ihre Lust zu gering, ihre Angst zu groß, dazu war sie viel zu schwächlich und lügenhaft. Ebensogut hätt man ihr vorschlagen können, sich mit ihm auf offenem Marktplatz hinzulegen. Trotzdem hab ich ihr helfen wollen, sozusagen um den Preis meiner eigenen Lust, ohne Rücksicht auf meine Eifersucht, aber es war ihr nicht beizubringen. Schließlich, wie der Herr Präsident einmal nach Berlin gefahren ist, bin ich stracks aufs Ziel los. ›Frau Baronin‹, hab ich gesagt, ›Frau Baronin sollten sich doch hie und da Gäste einladen.‹ Antwortet sie dumm: ›Gäste? Wen?‹ Daraufhin mein ich so nebenbei: ›No, zum Beispiel, den Herrn von Juna.‹ Da schaut sie mich mißtrauisch von der Seite an und sagt: ›Ach nein, den nicht.‹ Also laß es bleiben, hab ich mir gedacht. Indes, es hat doch gesessen, und nach ein paar Tagen hat sie ihn zum Abendessen eingeladen. Wir haben damals noch die schöne Villa gehabt, und die Gesellschaftsräume samt dem Speisezimmer waren im Erdgeschoß; da war kein solches Möbelgedränge wie hier, wo man sich an allen Ecken stoßt und mit keiner Arbeit fertig wird, und gar, wenn man an der Hildegard keine Hilfe hat. Also, es war ein richtiger Speisesaal, und die Frau Baronin ist mit ihm dort gesessen, hübsch weit voneinander; ich hab aufgetragen, hab auch seine Blicke nicht erwidert, und hinterher hab ich um die Erlaubnis gebeten, mich zurückziehen zu dürfen. Meine Kammer in der Mansarde droben war natürlich auch viel schöner als mein Zimmer hier. Wie ich mich jedoch später runterschleich, um zu sehen, wie die Dinge stehen, war's wieder dasselbe, und sie sind ganz ruhig beieinander gesessen, diesmal im Salon; mit seinen schönen Schmachtaugen hat er gelangweilt dreingeschaut, und nicht einmal wie sie aufgestanden ist, um ihm die Mokkatasse frisch zu füllen, nicht einmal da hat er versucht, ihre Hand zu berühren oder gar zu streicheln. Den also hat sie sich auch verscherzt, hab ich mir da in meinem Sinn gedacht; wenn man im Bett immerzu nur Liebe und niemals Lust mit den Beinen trommelt, ist's eben schlecht. Da war halt Hopfen und Malz verloren, und im Grund haben sie mir beide leid getan, besonders er, da sie ja wegen des Kindes doch aneinander gebunden waren. Freilich, im noch tiefern Grund war ich vergnügt, und darum hab ich bereits zwischen den Büschen im Vorgarten auf ihn gewartet, so daß es uns, kaum daß er aus dem Haus war, ohne Verzug, ohne ein einziges Wort blitzgleich in den Kuß gestürzt hat. So scharf bin ich mit meinen Lippen, mit meinen Zähnen, mit meiner Zunge an seinem Mund gehangen, daß ich schier meiner ohnmächtig geworden bin, und doch hab ich ihm widerstanden. Ich konnt's gar nicht verstehen, warum ich nicht einfach mit ihm ins Gras umgekippt bin, und noch viel weniger, warum ich ihn nicht in meine Kammer hinaufgezogen hab, als er's, ganz heiser, so verlangt hat, sondern ihm ›Im Jagdhaus‹ hab antworten müssen; aber als daraufhin der Entsetzensschrecken in seine Augen kam, der Irrsinnsschrecken wie bei einem Tier, mir zu kund und zu wissen, daß er ein Weib da draußen sitzen hatte, und ich daher Unmögliches verlangt hab, da ist mir aufgegangen, daß es mir mit meinem Widerstand um dieses Unmögliche und um's Brechen des Unmöglichen gegangen ist, daß diese harte und erbarmungslose Neugier nach dem Jagdhaus mich mehr gejuckt hat als meine Lust, und daß sie trotzdem zur Lust gehört als ihre Bitterkeit und ihre Not.«

Die noch immer nachwirkende Erregung zwang sie, sich niederzusetzen, und die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf zwischen ihren Fäusten, schwieg sie eine Weile. Als sie ihre Erzählung wieder aufnahm, geschah es mit völlig veränderter Stimme; es war ein Flüstern, ein flüsterndes Psalmodieren, und es war, als ob ein anderer statt ihrer spräche:

»Der Mensch ist billig, und sein Gedächtnis ist voller Löcher, die er niemals mehr flicken kann. Wie viel von dem, was man für immer vergißt, muß getan werden, damit das Getane imstand wird, das wenige zu tragen, das man für immer behält. Ein jeder vergißt seinen Alltag. Bei mir waren's die vielen Möbel, die ich abgestaubt hab, täglich und täglich, die vielen Teller, die gewischt werden mußten, und wie jeder Mensch hab ich mich täglich zum Essen niedergesetzt, aber wie bei jedem Menschen ist's ein bloßes Wissen ohne wirkliches Erinnern, als wär's ohne Wetter, weder mit gutem noch mit schlechtem geschehen. Selbst die Lust, die ich genossen hab, ist ein Raum ohne Wetter geworden, und obwohl mir die Dankbarkeit für das Lebendige geblieben ist, es schwinden mir die Namen und die Gesichtszüge, die mir einstens Lust und sogar Liebe bedeutet haben, mehr und mehr davon, schwindet in eine Glasdankbarkeit hinein, die keinen Inhalt mehr hat. Leere Gläser, leere Gläser. Und trotzdem war nicht die Leerheit und war nicht das Vergessene, es hätt das Unvergeßbare nicht wachsen können. Das Vergessene leerhändig trägt das Unvergeßbare, und vom Unvergeßbaren werden wir getragen. Mit dem Vergessenen füttern wir die Zeit, füttern wir den Tod, aber das Unvergeßbare ist ein Geschenk des Todes an uns, und in dem Augenblick, da wir es empfangen, da sind wir zwar noch hier, wo wir gerade stehen, und sind doch schon zugleich dort, wo die Welt ins Dunkle stürzt. Denn das Unvergeßbare ist das Zukunftstück, ist das uns im voraus geschenkte Stück Zeitlosigkeit, die uns trägt und unsern Sturz ins Dunkle sanft macht, so daß er wie ein Schweben wird. Und so ein dunkelsanftes und zeitloses Todesgeschenk war alles, was zwischen mir und dem Herrn von Juna vor sich gegangen ist, und einstens wird es helfen, mich leise hinabzutragen, selber getragen von der vollzähligen Erinnerung. Jedermann wird sagen, daß das Liebe gewesen ist, Liebe bis in den Tod. Nein, mit Liebe hat das nichts zu tun, geschweige denn mit Seelenlärm. Vieles kann zum Unvergeßbaren werden, kann begleitend uns tragen, tragend uns begleiten, ohne je Liebe gewesen zu sein, ohne je Liebe werden zu können. Das Unvergeßbare ist ein Augenblick der Reife, hervorgegangen aus unendlich vielen Vor-Augenblicken, Vor-Ähnlichkeiten, und von ihnen getragen, der Augenblick, in dem wir spüren, daß wir formend geformt werden, geformt worden sind. Es ist gefährlich, das mit Liebe zu verwechseln.«

So hatte es A. gehört, und es war nicht ausgemacht, daß Zerline so gesprochen hatte. Viele alte Leute geraten manchmal in ein psalmodierendes Zungenreden, und in so etwas läßt sich leicht etwas hineinphantasieren, besonders an einem heißen Sommersonntag-Nachmittag bei geschlossenen Jalousien. A. wollte sich vergewissern und wartete, ob der Singsang wieder beginnen werde, aber Zerline war in ihre gewöhnliche Altweiber-Sprechweise zurückgekehrt:

»Versteht sich, daß er dort zwischen dem Nachtgebüsch im Garten mein Widerstreben hätt überkommen können. Hätt er's getan, ich hätt ihn hinterher wohl vergessen wie manchen andern. Aber er hat's nicht getan. Die Schwachen sind zumeist auch berechnend, und ist's auch gleichgültig, ob er sich aus Schwäche oder aus Berechnung hat fortschicken lassen, jedenfalls hat er mich damit rasend gemacht. In ein rasendes Warten hat's mich geschleudert, kaum daß er weg war, und daß ich mich bezähmt hab, daß ich ihm nicht geschrieben hab, er mög nur gleich zurückkehren in meine Kammer, in mich, das war ein Wunder. Immerhin ein gutes Wunder. Denn eh noch die Woche um war, ist ein Brief von ihm dagelegen. Da hab ich lachen müssen. Die Adresse hat er mit Blockbuchstaben auf einen Geschäftsumschlag geschrieben, damit die Frau Baronin nicht sieht, daß er auch mit mir korrespondiert, und drin ist gestanden, daß er mich schon am nächsten Abend zum Spazierenfahren mit dem Jagdwagen in der Nähe der Trambahn-Endstation dort draußen erwarten werde. Und wenn auch unten die Frau Baronin desgleichen einen Brief von ihm haben und lesen mochte, es war trotzdem wie ein Sieg über sie, und wenn er auch in dem meinen nichts vom Jagdhaus erwähnt hat, also noch immer das Weibsstück da draußen sitzen hatte, ich war grad deswegen am nächsten Tag zur Stelle, und eh ich noch zu ihm auf den Bock geklettert bin, hab ich ihm auch schon alles gradeheraus ins Gesicht gesagt; er wollt mit keiner Antwort heraus, und weil das wie ein Eingeständnis war, hab ich ihn geküßt und ihm geheißen ›Fahr los, irgendwohin, nur nicht ins Jagdhaus, leider.‹ Da sagt er ›Das nächste Mal im Jagdhaus.‹ Da frag ich, ob das ein Versprechen ist, und er sagt Ja. ›Wirst du sie wirklich wegschicken?‹ frag ich, und wiederum sagt er Ja. Und um's ganz sicher zu machen, frag ich, ob sie manikürte Hände hat. ›Ja‹ sagt er recht erstaunt, ›warum?‹ Da zieh ich meine Handschuh aus, und auf die schöne Drapp-Wagendecke, die über unsere Knie gebreitet ist, leg ich meine zwei roten Händ, und ich sag ›Wäscherinnenhänd‹ . Er schaut auf die Händ herunter und läßt sich's nicht anmerken, ob's ihn getroffen hat, vielmehr sagt er: ›Jeder Mann braucht die gute starke Hand, die ihn von der Schuld reinwäscht.‹ Dann nimmt er meine Hände und küßt sie, aber an der Handwurzel und nicht dort, wo sie rot sind, und da hab ich gewußt, wieviel's geschlagen hat, so daß ich nur noch ›Fahr los‹ sagen hab können; sonst hätt ich zu sehr geweint. Also sind wir über den schmalen Weg durch die Erntefelder gefahren, und ich hab über die hingeschaut und hinunter auf den engen Wasenstreifen zwischen den beiden staubigen Radspuren, in die unsere Pferd neue Huftritt setzten und hie und da auch einen neuen Pferdemist. Nicht anders war's zu Haus bei uns auf dem Dorf gewesen. Nur daß er Rappen eingespannt hat, mocht ich nicht; der Rapp ist kein Bauernpferd, mit dem man pflügt, sondern es fährt der Mensch ins Dunkle mit ihm. Doch wie ich ihm das sag, lacht er, ›Du bist halt mein Feld und meine Dunkelheit‹ und das hat mir so wohlgetan, daß ich mich ganz an ihn herangeschoben hab. Heut noch, so alt ich bin, spür ich die Hitz des Wunsches, der da in mir aufgestiegen ist, spür ich den Wunsch nach dem Kind, das er mir hätt machen müssen, mehr und mehr, viele Kinder. Sag nicht, ich hab ihn geliebt. Aufnehmen hab ich ihn wollen, aber nicht lieben; er war dunkel und fremd und ein Unheiliger. Und auch dann beim kühlen Waldrand, wo man schon die Nacht gespürt hat, wenngleich sie noch in Unsichtbarkeit zwischen den Stämmen gehangen hat, da hab ich meinem Begehren nicht nachgegeben; er hat den Wagen halten lassen, aber ich bin nicht abgestiegen, und um uns beiden weh zu tun, hab ich ihn erinnert, daß sein Kind auf mich wartet, und ich mich nicht weiter verweilen darf. ›Unsinn!‹ hat er geschrien, und weil's kein Unsinn war, hab ich unnachsichtlich weitergebohrt: ›Wenn du mir meine eigenen Kinder machst, brauch ich dieses nicht mehr.‹ Ganz hilflos hat er mich angestarrt, wieder mit dem großen Entsetzensschreck in seinen Augen, diesmal wohl, weil's ihm aufgegangen war, daß er sich eine dritte Frau aufgehalst hat, eine neue Frau mit neuen Ansprüchen, obwohl eine Dienstmagd keine solchen machen dürft, und um den Herrn von Juna und die Dienstmagd wieder auf gleich und gleich zu stellen, und weil sein Begehren so arg im Widerstreit mit seinem Schrecken gelegen hat, hab ich ihn, als wär's ein Abschied, mit allstarker Inbrunst geküßt. Gefügig und ohne Gegenred hat er mich daraufhin zur Straßenbahn zurückgefahren, und wenn auch unsere Vereinbarung galt, nach der sein nächster Brief mich ins Jagdhaus hätt rufen sollen, ich hab, so brennend es mich danach gegiert hat, nimmer daran geglaubt.«

Offenbar war es hier an der Zeit, wieder eine Spannungspause einzuschalten, während welcher die Zunge die müdgewordenen Lippen zu weiterer Rede anfeuchtete:

»Und weil ich auf jenen Brief nimmer gehofft hab, war's mir von doppeltem Ärger, daß die Frau Baronin, der das Jagdhaus eher ein Schrecken als ein Wunsch war, Briefe von ihm bekommen sollt. Und aus eifersüchtigem Ärger wollt ich deren habhaft werden. Klar, es waren Postlagerbriefe, aber es mochte schon sein, daß ich einen Briefumschlag mit der Chiffre finden könnt. Na, da hab ich halt der Frau Baronin ihren Papierkorb täglich durchstöbert, und eins-zwei-drei hab ich die Chiffre gehabt. Furchtsam, ja, aber vorsichtig, nein. Nicht einmal ein Behebungsschein war vonnöten. Und damit's nur ja recht durchsichtig wird, haben sie aus Elvire, was der Vorname von der Frau Baronin ist, einfach Ilvere gemacht; das war die Chiffre. Damit also hab ich fortan, sooft ich zum Einkaufen oder mit dem Kinderwagen ausgegangen bin, die meisten der Briefe vom Schalter geholt, hab sie vorsichtig überm Wasserdampf geöffnet, und nach dem Lesen hab ich sie mit frischer Marke wieder in den Kasten geworfen. Ein paar hab ich gestohlen. Aber bei dem Dreck war's kein Diebstahl. So ein Dreck! so ein Seelenlärm! Abgesehen von der Elfenkönigin, zu der die Elvirenkönigin geworden ist, hat's da von Heiligkeit und von keuscher Mutterschaft und vom Elfenkindlein und Gotteskindlein nur so gewimmelt, und dazu hat das Elfengotteskindlein neben mir gebrüllt, damit ich's trockenleg! Das Ärgste aber war das Klagegegackere über die Frau draußen im Jagdhaus. Das hab ich mir gut gemerkt, und das Wüsteste davon hab ich mir eben gestohlen. Eine ›unabschüttelbare Klette‹ ist diese Frau, eine ›Schicksalslast‹ eine, ›die das Feld nicht räumen will‹ eine ›Erpresserin, die auf meine sträfliche Schwäche baut‹ und dann droht er, daß er ›Mittel finden wird, das Übel mit Stumpf und Stiel zu beseitigen‹ ; ja, das hat er geschrieben, und zu guter Letzt wünscht er, daß ›Du, mein Lieb, mit Deinem tyrannischen Gatten ebenso verfahren könntest‹ . Natürlich war auch Absicht dabei; nur mit Seelenlärm hat er seine Verpflichtung gegen eine Person wie die Frau Baronin erfüllen und sie sich doch zugleich vom Leibe halten können, und daß er die andere, die draußen im Jagdhaus, am liebsten ins Pfefferland gewünscht hätt, besonders seitdem er ihrethalben nicht mit mir hat schlafen dürfen, das hab ich ihm gut und gern geglaubt. Trotzdem hat's mich angekotzt. Dieses dreckige Wasch-mir-den-Pelz-und-mach-mich-nicht-naß. Ja, ich, ein Dorfmädel, das nichts gelernt hat, ich hab mich in die Seel hinein geschämt ob der Falschheit, die der gebildete Herr da von sich gegeben hat, und ich hab mich um so mehr geschämt, als das der Mann war, nach welchem all meine Sinne gebangt haben. Fast war ich froh, daß ich ihm für solche Flunkerbriefe nicht fein genug war, und daß ich keinen gekriegt hab. Und doch ist der Brief gekommen, ist plötzlich dagewesen, zwei Zeilen nur, mit denen er fragt, wann ich im Jagdhaus eintreffen will. Weiß Gott, wie's da in mir gejubelt hat. Er hat sein Wort gehalten. Und gerade nach den Dreckswischen von ihm, die ich während dieser Wochen gelesen hab, war mir das wichtig; es war mir so wichtig, ihn achten zu können und nicht wieder eine Enttäuschung zu haben, daß ich meine wilde Ungeduld, die da ausgebrochen ist, im Zaum gehalten und mir noch drei Tag Warten auferlegt hab. Ich wollt nämlich noch seinen nächsten Brief an die Frau Baronin abfangen. Hätt er sich darin gebrüstet, daß er ihrethalben die Frau aus dem Jagdhaus weggeschickt hat, ich hätt ihn nimmer sehen wollen. Gezittert hab ich, wie ich dann den Brief beim Schalter behoben hab; fast wär er mir beim Öffnen ins Kochwasser gefallen, und wie dann wirklich nichts über das Wegschicken des Frauenzimmers darin gestanden hat ,… ich hab's nicht erfaßt. Schließlich hab ich's mir geglaubt und bin hinaufgerannt zur Frau Baronin, um Urlaub zum Heimfahren zu verlangen. Vier Wochen hab ich verlangt; drei hat sie mir gegeben.«

Plötzlich kam sie aus der Vergangenheit wieder zurück und merkte, wo sie war. Und mit großer Vehemenz begann sie das unter der Blumenvase auf dem Tisch vor ihr liegende Kretondeckchen glattzustreichen, als gäbe es da eine versteckte Falte, die sie hervorzaubern müßte, um das sinnlose Tun sinnvoll zu machen. Aber der Vergangenheitstraum hatte sie nicht gänzlich losgelassen: »Es tragt mich durch die Jahr, und die Jahr vergehen, und es bleibt, auch wenn ich's tausendmal erzähl; ich kann's und kann's nicht loswerden.« Und als A. etwas dazu sagen wollte, winkte sie belustigt ab; »Will ich's denn überhaupt je loswerden?« So hob sie aufs neue an:

»Du wirst mir's nicht glauben, mir hat die Frau Baronin leid getan. Das hat schon seit langem begonnen, schon damals, wie ich immer an der Schlafzimmertür gehorcht hab und nicht ein Knacksen zu hören war, und wenn ich mich auch gefreut hab, daß der Herr Baron in seiner Strengen es nicht anders hat haben wollen, sie ist sich und ihm was schuldig geblieben, so daß ich das Armselige und Unanständige gespürt hab, das mich gedauert hat. Und wie dann das Lügengeschreibsel mir zu Gesicht gekommen ist, da ist, wiewohl mir's wehgetan hat, daß er ihr schreiben muß und just so schreibt, das Leidtun noch schärfer geworden, grad weil sie's nicht besser versteht, und grad weil ihre Antworten, die ich jetzt natürlich auch hab lesen wollen, von noch häßlicherer Lügenhaftigkeit haben sein müssen. War ich da nicht gar reich neben ihr?!«

Sie schaute A. triumphierend an. Und A. verstand, daß sie vom größten Sieg ihres Lebens berichtete. Aber desgleichen verstand er, daß die Briefe des Herrn von Juna nicht ganz so verlogen waren, wie die alte Zerline meinte. Denn die Dämonie der Lust, von der jener besessen war, enthält einerseits als ihren besten Teil den schweren Ernst, in dem die Lust sich vollzieht, ihre untrügbare Ehrlichkeit, andererseits jedoch enthält sie das aller Dämonie anhaftende Schuldbewußtsein der Ich-Verdunkelung, und mag daher der Lustverfallene auch mit vollem ehrlichem Recht vor der Verlogenheit der lustlosen Frau zurückschrecken, es wird ihm, dem Verdunkelten, ihr Lustmangel, und gar wenn diese Unvollkommenheit zur Mutterschaft umgeschlagen ist, gleichsam etwas Lichteres, an das sein Begreifen nicht heranreicht, wird ihm etwas Geheimnisvolleres und Magisches und Elfisches, dem seine eigene Irdischkeit zu dienen hat. In jedem Mann lebt eine Ahnung davon, nicht nur im Lüstling, und das war das Verständnis, ja Einverständnis, das A. für den Herrn von Juna hatte. Ohne daß er Zerlinens Darstellung irgendwo anzweifelte, es webte trotzdem auch für ihn ein Elfenköniginnen-Schimmer um die Gestalt der Baronin. Gleichviel, der Siegesbericht ging weiter:

»Er hat sein Wort gehalten, und ich war im Reichtum, obwohl es nur ein Dienstmädchenköfferchen war, mit dem ich hinausgefahren bin; ich hätt schon am Morgen fahren können, aber ich wollt zur Nacht eintreffen, und so war's schon recht dunkel. Bei der Tram-Endstation ist er wieder mit den Rappen gestanden. Ernst waren wir beide. Reichtum macht ernst. Bei mir war's der Reichtum, und gewünscht hab ich mir, es möcht auch bei ihm so sein. Freilich, wer weiß, was den andern ernst macht. Und in meinem Mißtrauen hab ich auch nur zehn Tage Urlaub angekündigt, wie ich mich zu ihm auf den Bock hinaufgesetzt hab. Wird's schön, hab ich mir gedacht, kann ich noch immer die weitern zehn Tag eingestehen und, wenn der Herrgott mir gnädig ist, die Ewigkeit von einem ganzen Leben. Doch fürs erste war er so stumm und ernst, daß ich rasch meine Enttäuschung geschluckt hab, als er über die Kurzheit der zehn Tag kein Bedauern gezeigt hat. »Mach einen Umweg«, hab ich da gebeten. So sind wir im Schritt in den Wald hineingefahren und den Hügel hinauf; es war ein Holzfällerweg, und schwarz-kühl dunkel ist es geworden, und er hat nicht nach mir gegriffen und ich nicht nach ihm. Droben auf der Kuppe war's grad noch dämmerhell; für ein paar Augenblicke noch hat man die Glockenblumen ausnehmen können, mit denen die Lichtung bestanden war, und dann war nur noch der Himmel hell, und mit ihm waren's die ersten Sterne. Auch die Schlagholz-Stöße am Lichtungsrand sind bald in der Schwärze verschwunden gewesen, haben nur ihren Geruch zurückgelassen, als ob das Grillengezirp ihn gefangen hätt. Denn was immer auch da war, Grillengezirp, Glockenblum und Stern, eins hat das andere getragen, ohne daß eins das andere berührt hätt. Da mittendrin sind wir mit dem Gespann gestanden, und alles was da war, hab ich behalten und werd's für ewiglich behalten, weil's mich getragen hat und nicht abläßt, mich zu tragen. Und alles was da war, hat zu unserm Begehren gehört; das seine hat in dem meinen gehangen, das meine in dem seinen, und seine Hand hat nicht die meine berührt, und die meine nicht seine. Da hab ich ›Fahr heim‹ gesagt. Noch dunkler war's jetzt beim Hinunterfahren. Vorsichtig haben die Rappen die Huf gesetzt, und wenn's auf ein Felsstück war, hat's gefunkt. Die Bremse war scharf angezogen; die Räder haben geschleift; manchmal hat's steinern geknirscht; manchmal hat ein Zweig mit feuchten Blättern mir ins Gesicht geschlagen; nichts davon kann ich je vergessen. Und auf einmal lockert er die Bremsen, und wir sind auf ebenem Boden, stehen vor dem Haus, in dem kein einzig's Licht gebrannt hat; mit seiner eigenen Schwärzen hat's in der Nachtschwärzen gehangen. In mir jedoch hat das schwere Licht des Reichseins gebrannt. Er hat mir heruntergeholfen, und dann hat er das Gespann zum Stall hingelenkt; hätt ich nicht den Hufschlag auf den Stalldielen gehört, ich hätt schier gemeint, er kommt mir nicht mehr zurück, so dunkel war es auch dort. Er ist zurückgekommen, und im Haus haben wir kein Licht gemacht. Auch kein Wort haben wir gesprochen vor lauterer Ernsthaftigkeit.«

Ihre Stimme war erregungsheiser geworden, und jetzt wurde in ihr auch wieder der psalmodierende Singsang hörbar:

»Er war der beste Liebhaber; kein anderer war mit ihm zu vergleichen. Wie einer, der vorsichtig seinen Weg sucht, war er im Suchen nach meiner Lust. Voller Ungeduld war er nach mir; wie ein Schüttelfrost hat ihn die Ungeduld zittern lassen, und trotzdem hat's ihn nicht übermannt, und er hat nicht mich übermannt, sondern hat gewartet, bis es mich hingetragen hat zum Abgrund, wo der Mensch das letzte Hinabstürzen ahnt. Wenn's ein Strömen war, das mich getragen hat, er hat das Strömen gespürt und hat's belauscht. Nackt war ich, und er hat mich noch nackter gemacht, als ließen sich selbst der Nacktheit noch Kleider wegnehmen. Denn das Schamvolle ist noch wie ein Kleid. Und so vorsichtig hat er jedweden Rest von Scham mir abgenommen, daß das Alleinsein in seiner tiefsten Verborgenheit zum Zweisein hat werden können. Wie ein Arzt ist er mit mir umgegangen in Behutsamkeit, aber meiner Lust war er wie ihr Lehrer; meinen Körper hat er angehalten, daß er Wünsche stellt und Befehle gibt, grobe wie zarte, weil die Lust viele kleine Färbungen hat und jede in ihrem Recht ist. Arzt war er und Lehrer und zugleich meiner Lust Diener. Für sich nämlich hat er kaum eine andere Lust als die meine gekannt; hab ich vor Lust geschrieen, so war's das Lob, das er brauchte, das sein Begehren gebraucht hat, um stets aufs neu angestachelt zu werden. Er war stark und gewaltig vor Schwäche. Und mehr und mehr hat's uns gesteigert, auf daß wir ein einziges Wesen sind. Am Abgrundsrand sind wir gemeinsam als einziges Wesen gestanden während jener Nächte und Tage. Und doch hab ich gewußt, daß es schlecht war. Denn das Weib hat der Manneslust zu dienen, nicht umgekehrt, und richtiger waren die Burschen gewesen, die, ohne nach meiner Lust zu fragen, mich hingeschmissen haben, um der ihren zu frönen. Ja, sogar ihr Reden vom Liebhaben war echter; das seinige hat zur Echtheit mein rüd-nacktes Lustverlangen gebraucht, je rüder meine Worte, desto echter seine Lieb. Wohl hab ich daran gelernt, warum die Frauen sich an ihn gehängt haben und ihn nicht haben loslassen wollen, aber ich hab auch gelernt, daß ich nicht eine von ihnen war, und daß ich weg hab müssen, so sehr mein Begehren nach ihm gestanden hat.«

»Gescheit war ich«, nickte sie sich und ihrem Zuhörer zu, allerdings ohne sein Ja abzuwarten; die Erzählung drängte sie vorwärts:

»Die Förstersfrau hab ich nicht zu Gesicht gekriegt. Aber wenn ich will, hab ich einen leichten Schlaf; um fünfe am Morgen ist sie zum Reinemachen ins Haus gekommen, und da hat sie mir auch die Kochvorräte für den Tag auf den Küchentisch gelegt. Mehr hat's mich gestört, daß sie alsogleich im Haus war, sobald wir's zum Spazierengehen verlassen haben; grad weil ich im Schlafzimmer selber geräumt hab, ist mir ihr Nachhelfen aufgefallen. Wie also hat er sie verständigt? Das hat zu gut geklappt, das war an den vielen Frauenbesuchen zu gut gedrillt worden, und in einem solchen Betrieb muß jede Frau zur Spionin werden. Für mich war das nicht schwer. Das Haus war alt, und die Möbel waren alt; ob Schrank oder Schreibtisch, die Wackelschlösser waren ohneweiters aufzudrücken. Zudem hat jeder Mann, der sich so ohne Schonung ausschöpfen läßt, einen tiefen Schlaf. Und jetzt hab ich ihn erst recht nicht geschont. Nur, daß ich ihn dann ungern verlassen hab; im Schlaf war sein Gesicht ohne Lüsternheit, schön und ohne Fehl, und oft bin ich da am Bettrand gesessen und hab das Gesicht lang angeschaut, eh ich mich ans Spioniergeschäft gemacht hab. Das war ein trauriges und zorniges Geschäft. Das Frauenzimmer hat zum Zeichen, daß es ihr Dauerheim ist, all ihre Kleider in den Schränken zurückgelassen, und ich war sicher, daß seine ganze Wut gegen sie ihn nicht hindern, ja, ihn vielleicht sogar anstacheln wird, ihr zum Willen zu sein, wenn sie ihn wieder zu ihrer Lust befehlen wird. Und so sehr ich vorher auf die Briefe von der Frau Baronin neugierig war, jetzt hab ich nur noch Ekel davor gehabt. Kunterbunt mit seinen andern Frauenbriefen sind sie in den Laden gelegen, und weil er sie ohnehin nicht vermißt hätt, hab ich mitgenommen, was mir davon in die Hand gefallen ist. Wart, ich les dir einen vor.«

Aus der Kitteltasche ihre Brille und ein paar zerknüllte Briefe hervorkramend, begab sie sich damit zum Fenster:

»Paß also gut auf, damit du's weißt, mit was für einem nichtsnutzig leeren Seelenlärm die Leut ihr leeres Leben und ihre leere Langeweil ausfüllen; paß auf, wie arm sie ist, die Frau Baronin. Paß auf, wie arme, leere Bösheit ausschaut; paß gut auf!

›Mein süßer Geliebter, unsere Beziehung wird täglich reicher, auch wenn Du ferne bist. In unserem Kindchen bist Du unaufhörlich zugegen, und es ist mir das Pfand für unser ewiges Zusammensein, das nun doch, wie Du schreibst, über kurz oder lang beginnen soll. Sei zuversichtlich. Der Himmel ist den Liebenden wohlgesinnt, und er wird Dir behilflich sein, von jener verruchten Frau loszukommen, die ihre Krallen so schmerzlich in Dich geschlagen hat. Möge, oh möge mir die gleiche Befreiung in meiner Ehe gelingen! Obschon mein Gatte im Grunde ein sehr edler Mensch ist, hat er nie etwas von meinem wunden Herzen geahnt. Meine Aussprache mit ihm wird schmerzlich werden, aber ich werde die Kraft dazu haben; Deine Liebe zu mir, die meine zu Dir, die mich ständig begleitet, gibt mir dieses Zukunftsvertrauen. In solch vertrauensvoller Gewißheit küsse ich Deine geliebten schönen Augen

als Deine
Elviren-Elfe‹

Hast gut aufgepaßt? Schockweis hat sie solchen Stunk von sich gegeben, die leere Wasserpute, und er hat's ertragen, wahrscheinlich mit Zorn und Widerwillen, trotzdem ertragen. Ich hätt ihn darob hassen mögen. Aber warum hat er's ertragen? Doch nur weil er einer war, der die Frauen zu hoch und zugleich zu niedrig einschätzt, und der ihnen deshalb mit seinem Leib dienen muß, indes mit seiner Seel ihnen keine Beachtung geben darf. Er kann nicht lieben, er kann bloß dienen, und in jeder Frau, die er trifft, dient er der einen, die es nicht gibt, und die er lieben könnt, wenn es sie gab, so aber nichts ist als ein böser Geist, der ihn knechtet. Und weil ich gewußt hab, daß ich ihn aus der Höllen, die das ist, zu retten nicht mächtig bin, und daß ich davonlaufen muß, hat das Zärtliche den Haß aufgelöst, und ich bin zurück ins Bett zu ihm, um ihn mit meinen Armen und Beinen zu umschließen, schonungslos aus Haß, schonungslos aus Zärtlichkeit, vielleicht aber auch, damit die Erschöpfung den kommenden Abschied uns beiden leichter machen soll. Dennoch hab ich ihn nach zehn Tagen gefragt, ob ich noch bleiben mag; ich könnt's richten. Und kaum gehört, ist da der jähe Entsetzensschreck wieder in seine Augen getreten wie damals im Garten, und gestammelt hat er: ›Lieber später, in wenigen Wochen, sobald ich von meiner Reise zurück bin.‹ Das war gelogen, und ich hab ihn wüst angeschrien: ›Mich siehst hier nicht eher, bevor nicht die Weiberkleider aus dem Haus sind!‹ Und da war er zum ersten Mal ein Mann, wiewohl auch dies aus Feigheit; er hat mich hingeschmissen, und ohne nach meiner Lust zu fragen, hat er mich genommen, so wild, daß ich ihn geküßt hab wie damals im Garten. Genützt hat's freilich nicht; der Haß war da. Und am Abend sind wir in Schweigen zur Trambahn hinunterkutschiert, mein Dienstmädchenköfferchen rückwärts im Wagen.«

War die Geschichte damit zu Ende? Nein, sie schien nun erst anzuheben, denn Zerlinens Stimme wurde nun ganz fest und klar:

»Mag sein, daß der Haß nur auf meiner Seite war. Mag sein, daß meine Drohung, nimmer zurückzukehren, ihm in die Glieder gefahren ist, weil er eben gespürt hat, daß es kein Seelenlärm war. Mag sein, daß er sich von der Person, die da wohl schon am nächsten Tag zu ihren Kleidern zurückgekommen ist und die für mich bestimmt gewesenen Vorräte in der Küche aufgekocht hat, nun hat wirklich freimachen wollen. Kurzum, wenige Wochen später war die ganze Stadt in Aufregung, weil die geheimnisvolle Geliebte des Herrn von Juna im Jagdhaus plötzlich gestorben ist. Nun, derlei ist schon oft passiert, und trotzdem gab's sofort Gerüchte, daß er sie vergiftet hat. Gewiß hab nicht ich die Gerüchte hervorgerufen; ich war froh, daß ich aus dem Spiel gelassen war und daß ich weder von den Briefen, noch von den vielen Flaschen und Fläschchen, die er da droben gehabt hat, und die mir nicht geheuer waren, hab was erwähnen müssen. Aber wo Geschwätz ist, fügt sich leicht etwas dazu, und Weitertragen war leicht. Natürlich hab ich's mir nicht versagt, der Frau Baronin von dem Lauffeuer zu erzählen. Weiß wie Schnee ist sie geworden und hat bloß ein ›Nicht möglich‹ hervorgebracht; ich hab die Schultern gezuckt und hab ihr ein ›Alles ist möglich‹ versetzt. Daß die Hildegard Mörderblut in sich haben soll, hat etwas Scharfes und Wildes in mir hervorgerufen. Inzwischen haben die Leut mehr und mehr davon geredet, daß man den Herrn von Juna vor die Geschworenen bringen muß, und tatsächlich ist er wenige Tage später in Haft genommen worden. Und je mehr ich über die Sache gebrütet hab, desto sicherer war ich, daß er sie umgebracht hat; ja, heut bin ich darob womöglich noch sicherer als damals. Und da er es meinetwillen getan hat, und ich daher, bei allem Haß, ihn nicht unterm Fallbeil hab wissen wollen, war ich sehr froh, als man zu munkeln begann, daß die Anklage zu schwach für eine Verurteilung sein würde. Es war nämlich bekannt geworden, daß die Person, was eine Münchner Schauspielerin war, eine schwere Morphinistin gewesen ist und sich bloß mit ihrer Spritze und schweren Schlafmitteln am Leben erhalten hat; ein solcher Körper bricht leicht zusammen, und selbst bei einer zu großen Schlafmitteldosis hätte es trotzdem Zufall, hätt es Selbstmord sein können, und der Mord war kaum nachzuweisen. Bloß die Briefe wären ein arges Belastungsmaterial gewesen, und die hab ich gestohlen. Welch ein Glück für ihn! Welch ein Glück für die Frau Baronin! Für eine Weile bin ich mir in meiner Tat ganz großartig vorgekommen, bis mir plötzlich einfällt, daß er mich dazu gar nicht gebraucht hat, daß er doch wahrscheinlich vor seiner Verhaftung noch all seine Korrespondenzen verbrannt hat, und daß ihm das Fehlen dieser gefährlichsten nun das Gehirn zermartern muß. Und ich hab den Entsetzensschreck in seinen Augen so deutlich gesehen, daß derselbige auch mich gepackt hat. Da hab ich das getan, was ich schon vorher hätt tun müssen; ich hab die Briefe genommen und hab sie zu seinen beiden Verteidigern, von denen der eine eigens aus Berlin gekommen ist, eilends hingetragen, damit die beiden ihn aus seiner Qual und Unsicherheit erlösen. Sie haben mir viel Geld dafür angeboten, und ich hab's ausgeschlagen, denn ich hab zu träumen begonnen; ich hab mir vorgestellt, wie er nun aus Dankbarkeit mich nach seinem Freispruch würd heiraten müssen, und weiß Gott, ein Schlag für seine Eitelkeit wär's gewesen und ein noch böserer für die Frau Baronin, die da ihrer Zofe sogar noch hätt Glück wünschen müssen. Und ebendarum hab ich ein paar Briefe, die schwerstverdächtigen, für mich zurückbehalten. Auf ihre Vollzähligkeit hätt sie ohnehin niemand zu prüfen vermocht, am allerwenigsten der Herr von Juna selber. Was ich abgeliefert hab, hat zur Beschwichtigung seiner Angstqualen vollauf genügt. Dagegen hab ich die anderen für die Heiratsträumerei gebraucht; wenn man heiraten will, ist's ganz gut, ein kleines Nachdruckmittel in der Hand zu haben, und auch in der Ehe wär's ganz nützlich gewesen.«

»Schön ist's, daß Sie den Herrn von Juna gerettet haben«, warf da A. ein, »nur mit der armen Frau Baronin sollten Sie nicht immerzu so hart verfahren.« Zerline liebte keine Unterbrechungen: »Die Hauptsache kommt erst«, lehnte sie ab, und sie hatte recht damit. Denn Klage, Anklage, Selbstanklage werdend, wuchs nun ihre Erzählung über sich selbst hinaus:

»Schon's Heiratsträumen war große Schlechtigkeit, aber ich hab's mir bloß vorgemacht, um mich über noch größere Schlechtigkeit hinwegzutäuschen, und für diese hab ich auch die Briefe gebraucht. In der Verlorenheit war ich, und ich hab's nicht gewußt. Wer hat mich in solche Verlorenheit gebracht? der Juna, weil er mir im Blut war, und ich ihn trotzdem nicht geliebt hab? die Frau Baronin mit dem Bankert, was sein Kind gewesen ist? oder gar der Herr Präsident selber, weil ich's nimmer ertragen hab, daß er ein Hahnrei war, der in seiner Heiligkeit dumm und blind und unwissend davor geworden ist? Ich allein hab's ihm aufdecken können, und wie nun zu allem andern ruchbar geworden ist, daß der Herr Präsident selber die Verhandlung Juna übernehmen wird, da war ich ganz verloren. Soll er mit eigenem Mund den freisprechen, der insgeheim in sein Haus gekommen ist, um ihm den Bastard hineinzusetzen? Ich hab's nicht ertragen, und ich hab mein Mitwissen nimmer ertragen; es war ja fast wie Mitschuld, und hinter der Mitschuld da war noch Ärgeres, da war die Schlechtigkeit. Und nicht das Wissen, nicht die Mitschuld, nein, die Schlechtigkeit hab ich herausschreien wollen, damit ich mich wiederfind aus meiner Verlorenheit. Noch tiefer hab ich in die Schlechtigkeit gehen müssen, damit ich wieder ein Ganzes werd im Tageslicht, mitsamt meiner ganzen Schlechtigkeit. Und trotzdem bleibt's unergründlich. Wie ein Befehl war's, daß ich all die verbliebenen Briefe, sowohl die seinen, wie die von der Frau Baronin, wo sie beide mit Mord gedroht haben, plötzlich zusammengebündelt und anonym mit Blockschrift-Adresse dem Herrn Präsidenten geschickt hab. Ich hab's tun müssen, und war mir dabei über alles klar; im Grund waren die Briefe dem Staatsanwalt zugedacht, damit der Herr Präsident, schon wegen der Schand der Frau Baronin, seine Stelle niederzulegen gehabt hätt, während der Juna halt doch geköpft worden war. Und vielleicht hab ich gewünscht, daß der Herr Präsident aus lauter Verzweiflung sich und die Frau Baronin und den Bankert umbringt. Und weil ich hab alles eingestehen wollen, meine Mitschuld und meine Briefdiebstähle im Jagdhaus und im Schlafzimmer von der Frau Baronin, wär's mir recht gewesen, wenn er mich gleichfalls umgebracht hätt. Das war die richtige Gerechtigkeit gewesen, denn für mich, nicht für die Frau Baronin, ist die Frauensperson im Jagdhaus ermordet worden, und für diese höhere Gerechtigkeit hab ich den Herrn Präsidenten bewundern wollen. Furchtbar war die Prüfung, die ich dem Herrn Präsidenten auferlegt hab, und die er für die Gerechtigkeit hätt bestehen sollen, damit ich doppelt an seine Größe und Heiligkeit glauben kann. Dafür mit meinem Leben zu zahlen, war ich willens, und trotzdem war's Schlechtigkeit, die ich immer noch nicht versteh.«

Sie atmete schwer auf. Wahrlich, das war die Hauptsache; es war das große Schuldbekenntnis ihres Lebens, und als Bekenntnis, nicht wegen des Sieges über die Baronin, obwohl auch der noch darin mitschwang und nicht entbehrt werden durfte, war offensichtlich die ganze Geschichte erzählt worden. Und in der Tat, Zerline schien erleichtert. Seitdem sie den Brief vorgelesen hatte, war sie beim Fenster stehengeblieben, und jetzt sollte sich zeigen, daß das mit gutem Grund geschehen war. Umständlich setzte sie wieder die Brille auf die Nase, holte wieder einen Zettel aus der Tasche, und nach einem nochmaligen tiefen Atemschöpfen gewann ihre Stimme aufs neue Stärke und Festigkeit:

»Das Briefpaket war an den Herrn Präsidenten abgeschickt, und ich hab erwartet, gefürchtet, gehofft, daß nun viel Schreckliches geschehen würde. Die Tage sind dahingegangen, ohne daß was geschehen war. Nicht einmal mich nahm er ins Gebet, obwohl doch kaum jemand anderer als ich der anonyme Absender hat sein können. Da kam große Enttäuschung über mich, weil auch der Herr Präsident sich als Feigling zeigte, dem die Gerechtigkeit weniger galt als seine Stellung und sein äußeres Ansehen, ja, der um dessentwillen sogar einen Mörderbankert in seinem Haus zu dulden bereit war. Indes, ich wurde eines Bessern belehrt, und gründlich. Denn er, der sonst so wenig redet, beginnt auf einmal bei Tisch, während ich aufwarten tu, so daß ich alles hören muß, laut über Verbrechen und Strafe zu sprechen. Jedes Wort hab ich mir treu gemerkt und hab's sofort hinterher aufgeschrieben. Jetzt werd ich's lesen, damit auch du dir's merkst. Merk also gut auf!

›Unsere Geschworenengerichte sind eine wichtige und dabei doch gefährliche Institution, gefährlich, weil der Volksrichter sich leicht von Gefühlsmotiven leiten läßt. Und gerade in den so schweren Fällen, für welche die Geschworenen zuständig sind, also vor allem bei Mordanklagen, kann das Gefühl der Rache, das ja letztlich jede Strafverhängung begleitet, sich unbemerkt einschleichen und die Oberhand gewinnen. Ist es aber so weit, dann wird zumeist nicht mehr erwogen, daß auch der Justizirrtum ein Mord sein kann, und es wird nicht mehr das Gräßliche der Todesstrafe erwogen, vielmehr reißt Bedenkenlosigkeit ein, eine Bedenkenlosigkeit, die oft genug schon zugunsten des Rachebedürfnisses Beweisstücke unrichtig eingewertet hat. Doppelt und dreifach hat also da der Richter bei der Beweiszulassung und Beweisbehandlung darauf zu achten, daß derlei nicht einreißt. Sogar die vom Angeklagten persönlich geschriebenen oder unterzeichneten Schriftstücke sind Mißdeutungen ausgesetzt. Wenn beispielsweise einer schreibt, daß er einen Menschen ›beseitigt‹ haben möchte oder sich ›seiner entledigen‹ will, so deutet das noch lange nicht auf unbedingte Mordabsicht hin. Bloß Rachebedürfnis wird da nichts anderes als Mordwillen herauslesen, das Rachebedürfnis, das nach dem Henkersbeil ruft und nach dem Blut des Opfers dürstet.‹

So hat er gesprochen, und ich hab's verstanden, so gut verstanden, daß mir die Hände zu zittern begonnen haben und ich die Bratenschüssel fast hätt fallen lassen. Er war noch größer, noch heiliger als alles, was ich blödes Frauenzimmer mir je vorgestellt hab. Er hat erraten, daß ich ihn zur Rache, zur Henkersrache hab bewegen wollen, und er hat's abgelehnt. Alles hat er gewußt. Aber hat's auch die Frau Baronin begriffen? oder war sie auch hierfür zu leer? Wenn sie sich nur halbwegs der Briefe erinnerte, die sie bekommen hat, es hätten ihr Ausdrücke wie ›beseitigen‹ und ›entledigen‹ auffallen müssen. Auch der Herr Präsident sah sie an, schier gütig sah er sie an, und wenn sie auf die Knie gestürzt war vor ihm, ich hätt mich nicht gewundert. Doch sie hat sich nicht gerührt, und sie rührt sich nicht; höchstens, daß sie ein bißchen blaß in den Lippen geworden ist. ›Oh, das Fallbeil‹, sagt sie, ›die Todesstrafe, eine schreckliche Einrichtung‹. Das war alles, und der Herr Präsident schaut auf seinen Teller, während ich den Nachtisch aufgetragen hab. So war sie eben, so leer. Und was nun noch nachgekommen ist, hat nichts Überraschendes mehr für mich gehabt. Knapp vor Weihnachten hat die Verhandlung stattgefunden, und den Verteidigern ist sie ein leichtes Spiel gewesen, da ihnen der Herr Präsident Hilfe gab und den Staatsanwalt in Zaum hielt; kein Brief ist vorgelegt worden. Der Freispruch durch die Geschworenen war ein beinahe einmütiger, nämlich elf zu eins, und die eine Gegenstimme hätt von mir sein können. Trotzdem war ich froh, wie er freigesprochen worden ist, der Herr von Juna, und noch froher war ich, daß er ohne Dank an mich und ohne Abschied sich sofort davongemacht hat, um sich außer Landes, ich glaub in Spanien, eine Bleibe zu suchen.«

Das war der Erzählung Schluß, und Zerline seufzte auf: »Ja, das ist die Geschichte von mir und dem Herrn von Juna, und ich werd sie nie vergessen. Dem Fallbeil ist er entronnen, und mir ist er entronnen, und das war für ihn ein noch größeres Glück als jenes. Denn war er edel gewesen und hätt er mich geheiratet, ich hätt ihm die Höll auf Erden bereitet, und war er noch am Leben, er hätt immer noch mich gehabt, mich altes Weib; schau mich nur an.« Doch ehe A. sich dazu äußern konnte, hatte nun der Abgesang begonnen:

»Viel Lärm ist nach dem Urteil entstanden. Die Zeitungen haben den Herrn Präsidenten angegriffen, besonders die roten, die ihm Klassenjustiz vorgeworfen haben. Fast selbstverständlich war's, daß er sich immer mehr zur Einsamkeit zurückgezogen hat. Aus seiner Studierstube ist er kaum mehr herausgekommen, und bald hab ich ihm auch das Bett dort richten müssen. Ein Jahr später hat er seinen Abschied eingereicht, aus Gesundheitsrücksichten. Doch in Wahrheit waren's Todesrücksichten; er war noch nicht Sechzig, wie's ihn ereilt hat, und was immer die Ärzte gesagt haben, er ist am gebrochenen Herzen gestorben. Sie jedoch hat mitsamt dem Bastard weiterleben dürfen. Und darum, wegen dieser Ungerechtigkeit, hab ich die Hildegard so erzogen, wie ich sie erzogen hab. Zur wirklichen Tochter vom Herrn Präsidenten hat sie werden sollen, damit es würdig um ihn wird und sein Haus keinen Mörderbankert mehr beherbergt. Von ihrem Mörderblut hab ich sie freilich nicht befreien können, aber ebendarum hat sie lernen müssen, sich ihrer Tochterschaft würdig zu erweisen. Wär sie katholisch gewesen, ich hätt sie ins Kloster getan; so könnt ich bloß die keusche Heiligkeit des Verblichenen ihr vor Augen führen und sie zur Nachahmung anhalten. Je mehr ich sie ihm ähnlich gemacht hab, desto mehr hat sie ihre Schuld gesühnt, desto mehr ist auch die ihrer Mutter gesühnt worden, obgleich deren Schuld ewiglich im Unabbüßbaren bleibt. Die Tochter hat's übernommen. Nämlich, je mehr sie eingegangen ist in den Vatergeist, desto mehr ist der Wille zur Rächung in sie eingegangen, die Rache, die er selber nicht hat ausüben wollen aus heiliger Strenge gegen sich selbst. Auch sie knechtet sich selber in Nachahmung; dazu hab ich sie verknechtet, doch die Heiligkeit hat ihr niemand beizubringen vermocht, und ohne Heiligkeit muß sie die Knechtschaft weitergeben, so daß sie mit der stillen Heuchelrache, die in der Obsorge ist, die Mutter zur Buße verknechtet. Eins geht ins andere über, und so hab ich's gewollt, so hab ich sie erzogen zur Schuldabbüßung. Freilich rebelliert sie dagegen mit ihrem lüsternen Mörderblut, das keine Buße auf sich nehmen will, aber es nutzt ihr nix.«

»Ja um Himmels willen«, rief da A. aus, »wofür muß sie denn büßen? wo ist ihre Schuld? Man kann sie doch nicht für ihre leiblichen Eltern verantwortlich machen, um so weniger, als die Liebe der Frau Baronin zu dem Herrn von Juna doch nicht so ohneweiters sich als Verbrechen nehmen läßt!« Ein strafender Blick traf ihn, vielleicht weniger wegen des Gesagten, wiewohl auch dieses Zerlinen wider den Strich gehen mußte, als wegen der Störung des Abgesanges:

»Bist vielleicht gar schon daran, ihrer Lüsternheit zu verfallen? Ich warn dich. Nimm dir lieber ein richtiges Mädel, mit dem du gern schläfst, und das gern mit dir schläft, und selbst ein bißchen rote Händ sind besser als ein manikürter Seelenlärm. Weißt du, warum sie dich nicht als Mieter hat haben wollen? Nun, es hat noch keinen Mieter hier gegeben, vor dessen Tür« ,– und sie wies hinter sich zu der Zimmertüre hin ,– »sie nicht Nacht für Nacht gestanden hat, und Nacht für Nacht hat der Befehl des Vaters, der nicht ihr Vater ist, sie gelähmt, und sie ist immer nur bis zur Türschwelle gelangt. Und wenn du's nicht glaubst, streu ich, wie ich's oft genug getan hab, heut abend Mehl im Vorzimmer auf, damit du am Morgen ihre zögernden Tritte siehst. Das ist ihre Schuldqual; laß dich nicht hineinverstricken. Denn zusammen mit unserer Schlechtigkeit ist auch unsere Verantwortung immer größer als wir selber, und je tiefer der Mensch in seine Schlechtigkeit zu tauchen hat, um sich selbst zu finden, desto mehr Verantwortungen für Verbrechen, die er nicht begangen hat, muß er übernehmen; das trifft jeden, dich wie mich wie die Hildegard, und ihrer ist die Buß für das Vergehen ihrer Leibeseltern. Sie aber, die Frau Baronin, die unserer beider Gefangene ist, möcht der Verfechtung entfliehen, und jeden Mieter fleht sie an, daß er ihr dazu verhelf. Voller Seelenlärm sind sie, Mutter wie Tochter, und daß er ihnen in die Ohren gell, hab ich ihn angefacht zum Höllenlärm, und eine Höllen ist dieses Haus in seiner feinen Stillheit. Der Heilige und der Teufel, der Herr Präsident und der Herr von Juna, der nun wohl auch schon tot ist, zwei Drohschatten weichen ihnen nicht von der Seiten und zerreißen sie. Vielleicht sogar auch mich. Und es hat mir auch nichts geholfen, daß ich nach dem Herrn von Juna, schon um nicht grad ihm treu zu sein, mir noch andere Liebhaber genommen hab; es hat mir um so weniger geholfen, als mir bald aufgefallen ist, wie's mich gezwungen hat, immer Jüngere mir auszusuchen, am Schluß nur noch Buben, die ich an meiner Brust gewiegt hab, auf daß sie die Furcht vor der Frau verlieren und die Lust lernen mögen, die Menschenruhe. Wie ich das gemerkt hab, da hab ich's endgültig aufgegeben. Nur deshalb? Nein. Längst hätt ich's schon aufgeben sollen, und wenn die Frau Baronin nicht gewesen war, ich hätt mich möglicherweis nicht einmal mehr mit dem Herrn von Juna eingelassen. Das Bild des Herrn Präsidenten war in mir, seit jeher unauslöschlich, und es ist gewachsen und gewachsen ,… wer war da seine Witwe, nachdem er gestorben war? wer war's, wenn ich's nicht war? Mehr als vierzig Jahr sind her, daß er nach meiner Brust gegriffen hat, und ich hab ihn geliebt, mein Leben lang, mit meiner Seele.«

Das war nun wirklich das natürliche Ende der Geschichte, und A. wunderte sich ein wenig, daß er es nicht vorausgewußt hatte. Zerline dagegen, ihrem Alter gemäß ziemlich erschöpft, schaute eine Zeitlang ins Leere, ehe sie mit ihrer gewohnten Zofenhöflichkeit und Zofenstimme sagte: »Jetzt hab ich aber mit meinem Geschwätz Ihnen den ganzen Nachmittagsschlaf geraubt, Herr A., doch ich hoff, daß Sie ihn trotzdem noch nachholen werden.« Und krummrückig humpelte sie aus dem Zimmer hinaus, dessen Tür, als wäre bereits ein Schlafender darin, sie mit leiser Vorsicht schloß.

A. war aufs Kanapee zurückgesunken. Ja, sie hatte recht, er sollte noch ein wenig schlafen. Schließlich wars noch nicht so spät; gerade hatten die Turmuhren vier geschlagen. Also war's ganz richtig, daß sich wieder die schlafbefangenen Gedanken einstellten, die ihm durch Zerlinens Eintritt abgerissen worden waren. Aber wiederum schob sich zu seinem Ärger das Geldthema in den Vordergrund. Und wiederum mußte er sich erzählen, wie es mit dem Geldverdienen begonnen hatte, damals in Kapland, und wie er seitdem vom Geld, ohne daß er viel dazu getan hätte, von Erdteil zu Erdteil, von Börse zu Börse geführt worden war, und wenn man Südamerika als eigenen Erdteil rechnete, so waren das sechs in fünfzehn Jahren; das macht zweieinhalb pro Erdteil. Und alles war purer Zufall. Für seine Markensammlung hatte er sich als Bub die dreieckige »Kap der guten Hoffnung« ersehnt, vergeblich ersehnt, und von daher ist die Sehnsucht nach Südafrika geblieben. Marken wären keine schlechte Kapitalsanlage, aber seine Sammellust ist erloschen. Was wollte er eigentlich? Ein Heim, Frau, Kinder? Wirkliche Freude an Kindern haben im Grunde bloß die Großmütter. Kinder sind Störungen jeglichen komfortablen Lebens, und Liebesgeschichten sind es erst recht, sind unverständlich. Was die Baronin getrieben hat, war einfach dumm; hätte er sie damals schon gekannt ,– aber damals war er ja noch kaum geboren ,–, er hätte sie zu sich nach Kapstadt gerufen und sie vor dem Kerl und seiner schlechten Behandlung gerettet. Freilich, Frauen kommen nicht gern da hinunter, und das hat auch zu dem Frauenmangel und den dazugehörigen Dramen in den Diamantenfeldern geführt. Dort hätte der Herr von Juna sich keine Frauensammlung anlegen können. Ein unkomfortables Leben hat der gehabt. War der Präsident beneidenswerter? Wenn die beiden dem Hahnrei wenigstens einen Sohn gemacht hätten. Doch der wäre ihm wohl gleichfalls nach Afrika entwischt, trotz der Nutzlosigkeit jeglichen Entwischens; denn die Witwe bleibt in der Heimat, bleibt eine Gefangene. Man sollte immer sein eigener Sohn sein. Hatte er nicht nach des Vaters Tod die Mutter zu sich nach Kapstadt nehmen wollen, um ihr ein Haus da zu bauen? Da wäre sie wohl noch am Leben; jedenfalls hätte sie Enkel. Für die Kinder muß man eine Markensammlung anlegen; auch die dreieckige »Kap der guten Hoffnung« wird er erwerben. Mag der Sonntag verrinnen und versickern, das ist ein guter Lebensplan.

Ja, ja, so sollte man das Leben planen, das wußte A. noch mit aller Bestimmtheit. Daß er darüber eingeschlafen war, wußte er nicht mehr.

 

VI. Eine leichte Enttäuschung

Plötzlich fiel es ihm auf, und gleichzeitig erschrak er, weil es ihm nicht früher aufgefallen war: da stand zwischen den modernen Warenhäusern der lärmenden Geschäftsstraße ein schmales Haus, das aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stammen mochte. Täglich war er daran vorbeigegangen, und nie hatte er es noch gesehen, obschon es wie ein abgebrochener Zahn zwischen den beiden Nachbarn steckte, eingeklemmt zwischen zwei riesigen buntbemalten Feuermauern, so daß es eine Luftlücke über sich ließ, durch die ,– mochte auch das Gerippe der Lichtreklame auf dem First des braunen Ziegeldaches dort ragen ,– manchmal der blaue Himmel, manchmal die Wolkenwand in die Straße schauten. Aber die langen Firmentafeln, deren Aufschriften schon an der Front des linken Nachbars begannen und bis zum rechten hinüberliefen, diese langen, steifen Streifen waren es wohl, die jede selbständige Äußerung des Hauses unterbunden hatten, es mit dem Baublock in einer Einheit hielten, die nicht die seine war. Nun plötzlich war es vorhanden, losgelöst aus dem Gefüge, in dem es sich befand: gleichwie unter den Kleidern aller Menschen die tierisch-menschliche Haut liegt, ein Faktum, dessen man nur selten inne wird, so wurde unter den Ankündigungen und Firmentafeln des Hauses die Mauer wieder zu einer richtigen Ziegelmauer mit dem grauen Verputz, den die Kelle des Maurers einst geworfen hatte, und sichtbar wurde das braune Dach, wie es zwischen den Sparren und Trämen des alten Dachstuhles wellig sich einbog. Vielleicht ist es immer erschreckend, wenn Unbekanntes aus der Vergangenheit auftaucht, ,– Angst des Menschen, der etwas zurückgelassen hat, das er nicht kennt, er selbst geworfen in die Angst und in die Zeit, die ihn nicht zurückläßt, und zu solch historischem Gefühl gehörte es wohl auch, daß die Buchhandlung hier in ihrem Schaufenster einen Kupferstich ausstellte, auf dem diese Geschäftsstraße in ihrer gewesenen Gestalt zu sehen war, als eine breite, stille Wohnstraße, Häuserzeile, in welcher Dach an Dach stieß, Einheit gewesener Verbundenheit. Und da der Betrachter sich dieses Kupferstichs entsinnt und auch an den darauf abgebildeten Fahrdamm denkt, der damals ohne Bürgersteig und ohne Pflasterung kreuz und quer von Wagenspuren gefurcht war, betritt er des Fahrdamms neuen Asphalt und überquert die eisernen Trambahngeleise, getrieben von dem Verlangen, in jenes alte Haus einzutreten, gleichsam von der vagen Hoffnung getrieben, darinnen so aufatmen zu können, wie man aufatmet, wenn man die geschlossene ineinandergefügte Stadt verläßt und in eine Dorfstraße gerät. Wäre er gewohnt gewesen, auf seine tieferen Wünsche achtzuhaben, so hätte er in seinem Herzen eine Art Sehnsucht feststellen können, mochte diese auch bloß eine Sehnsucht der Nase nach dem scharfen Geruch von Heu, Dung und gebeiztem Mist sein, Sehnsucht, daß sich in dem Haus irgendwo ein Rest von Heu finden würde, oder etwa gelbe und hellbraune Maiskolben, aufgereiht zum Trocknen an einer Schnur unter der Dachtraufe, wie in einem Bauerngehöft. War doch die Bettlerin, die neben dem Torbogen saß, wie eine der alten Bäuerinnen, die auf der Bank vor der Türe ruhen, weil sie keine Arbeit, nichts mehr zu schaffen haben, und er scheute sich auch, ihr ein Almosen zu geben, ja, es fehlte gar nicht viel und er hätte den Hut gezogen, als er in den dunklen Torweg hineinging, der, zur Hälfte für Geschäftszwecke verbaut, unverhältnismäßig schmal war.

Auch die Wände des Torweges waren voller Firmentafeln und nicht minder der Treppenaufgang, über dem ein altes Schild lackabgeblättert die Aufschrift »I. Stiege« zeigte. Hier war noch Geschäftsstraße, gewissermaßen die bis in das Haus hineingekrochene Geschäftsstraße; und sicherlich kroch sie auch noch die ganze erste Stiege hinauf, bei jedem Treppenabsatz ihre Tafeln anhaftend. Ein Täuschungsmanöver, dachte der Besucher unwillig, ein Täuschungsmanöver, und da er nicht gewillt war, sich täuschen zu lassen, würdigte er den Aufgang keines Blickes und trat aus dem Torweg in den Hof. Der lag dunkel und wie ein tiefer Brunnen innerhalb des Mauergevierts, und aus den geöffneten Fenstern der Stockwerke klapperten geschwätzige Schreibmaschinen. Nein, das war noch nicht das, was er suchte, und fast wäre er umgekehrt, wenn nicht die stille Werkstätte für Schreibmaschinenreparaturen in dem Hofe gewesen wäre. Daß dieser Reparaturmeister mit seinen Gesellen hier seiner gemäßigten Arbeit nachging, daß er sein Schild, unbeweglich und steif eine Schreibmaschine darstellend, heraushängte wie einstmals der Schuster einen Schuh, der Schneider eine Schere, daß daneben die Buchbinderwerkstätte ruhig und dunkel ihre Tür geöffnet hielt, all dies vergrößerte ein wenig die tatsächliche Entfernung von der Geschäftsstraße, gewiß nicht um vieles, etwa bloß um einige Millimeter oder noch um ein Geringeres, dennoch genügend, daß die Tafel »Zur II. Stiege« neben der zweiten Durchfahrt an der Rückseite des Hofes zu einer leisen Verlockung ihm werden konnte. Er überwand die Scheu vor dem Geklapper und durcheilte leichthin den Hof, denn lockender noch als die Tafel schien es, daß jene zweite Durchfahrt schräg in eine dunkle, kellerige und eine gelbe, sonnige Hälfte geteilt war, so daß unzweifelhaft dahinter noch ein Hof liegen mußte, in den die Sonne ungehindert ihre Strahlen sendete. Fast fürchtend, er könne sich irren, war er voll Begier hinausgetreten in die durchsonnte Landschaft und war im vornhinein entschlossen, auch die zweite Stiege nicht zu benützen, überzeugt, daß er dort bloß die stets versperrten, mit Eisen beschlagenen rückwärtigen Ausgänge der Büros rinden würde. Auch hätte er die Glastür kaum bemerkt, die von dem Torweg zur Stiege führte, aber durch ihr zitterndes Klappern zog sie seine Blicke auf sich. Es war eine gewöhnliche Glastür, ihre Scheiben waren durch Gitter aus braun gestrichenen Drahtbögen geschützt, und das Glas klirrte ein wenig. Das Klirren rührte von einem unausgesetzten leichten Klappen der Tür her, und die Schattengrenze, die zwischen dem dunklen und dem durchsonnten Teil der Durchfahrt über die Tür lief, zitterte mit. Das war wie eine Sonnenuhr, aber eine, die ungenau geht, und weil sich dies jeder Ordnung widersetzte, schien es auch wie ein Versprechen, daß das Gefüge steinerner Ordnung, eiserner Starrheit still auseinanderfallen könne, still wie der neue Hof nun war, an dessen Rande er stand und der durchsonnt und warm vor ihm lag. Das Klappern der Schreibmaschinen war verstummt, war zu einem fernen Summen in der stillen Luft verblaßt. Daß die Sonne hier so freien Zutritt hatte, das war nun allerdings merkwürdig und rührte davon her, daß der große Hof an der Längsseite nicht durch einen Gebäudetrakt, sondern bloß durch eine hohe Mauer abgeschlossen war. Natürlich warf auch diese Mauer ihren scharfgrenzigen Schatten, doch da die Mittagsstunde heranrückte, war er nur schmal und außerdem dadurch gemildert, ja gemildert konnte man sagen, daß er nicht auf Pflaster fiel, sondern daß eben dort neben der Mauer wie ein Schlitz in der Steinhaut des Bodens ein ungepflasterter Streifen sich hinzog. Vielleicht hatte man einmal den Versuch gemacht, hier Spalierobst zu ziehen, und es war wegen der Schattenlage nicht gelungen, vielleicht aber hatte man nur Rasen gesät gehabt, und es waren Ruhebänke dazwischen gestanden. Davon war allerdings nichts mehr zu sehen, bloß die graue Erde mit hineingetretenem Kies, kleine mühsam zusammengescharrte Sandhäufchen, wie von Kinderspielen übriggeblieben, und auch Hundeunrat. Theoretisch war ihm dies sozusagen verständlich, denn Hunde lieben zu solchem Geschäft den natürlich gewachsenen Boden und verabscheuen das Pflaster, als könnten sie auf diese Weise ihrer Sehnsucht nach dem Lande und nach der einstigen Freiheit Ausdruck verleihen, aber daß es in diesem kommerziellen Hause überhaupt Kinder und Hunde geben sollte, das war beunruhigend, und es war auch eine Hoffnung dabei, die in einem zwar losen, dennoch deutlichen Zusammenhang mit seiner eigenen Erwartung stand, es werde sich die festgefügte Stadt hier ins Landschaftliche und Dörfliche öffnen. Gerne nahm er's für ein Omen, daß es ihn zur Mittagsstunde hierher verschlagen hatte, denn auch die Dorfstraße liegt so still und leer unter der heißen Sonne wie dieser Hof zu solcher Mittagsstunde, in der die Familien, soweit sie nicht auf dem Felde draußen sind, sich um den Tisch versammelt haben, während die Hunde, den Bissen abwartend, daneben sitzen, schläfrig nach Fliegen schnappen oder mit zuckend gerunzeltem Fell tatsächlich einschlafen; und manche sind räudig. Nicht gerade, weil er sich für noch nicht würdig-hielt, den beschatteten Kiesstreifen längs der Mauer zu betreten, sondern, so wenigstens meinte er, weil er über die Mauer schauen wollte, hielt er sich an der gegenüberliegenden Seite neben der glühenden Hauswand. Die Wand hatte im Erdgeschoß keine Öffnungen, denn wo einst Türen und Fenster gewesen, da waren sie zugemauert worden, und es mußte wohl ein Magazin dahinter liegen, das vielleicht zur Buchbinderei des ersten Hofes gehörte. Einmal blieb er stehen, streckte den Hals und stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, um etwas von dem zu erhaschen, was hinter der Mauer lag. Er konnte nicht viel erspähen, doch war es kaum glaublich, daß solch großer freier Raum sich im Rücken der Geschäftshäuser befinden sollte, wenn es auch wohl so sein mußte, da erst in weiter Ferne Gebäude und auch die bloß mit ihren oberen Stockwerken und Dächern wahrzunehmen waren. Mitten in dem freien, luftigen Raum aber ragte ein roter Fabrikschlot wie ein blutiger Schnitt in der weißblauen Fläche, und horchte man scharf hin, so hörte man auch eine Dampfmaschine arbeiten. Wahrscheinlich haben die großen Geschäftshäuser hier inmitten ehemaliger Gärten ihre Kraft- und Heizzentrale, und er beneidete ein wenig die Maschinisten, die jetzt zur Mittagszeit vor dem Maschinenhaus sitzen, mit ölig riechenden Händen die Zigarette zum Mund führen und ihre Maschine, die kaum einer Wartung bedarf, ruhig laufen lassen. Während er dies noch bedachte, hatte er den Hof durchschritten. Doch nun gab es keinen Torbogen mehr, sondern nur noch eine Glastür gleich jener vor der zweiten Stiege, und da er eintrat, war es keine Durchfahrt mehr, sondern ein verhältnismäßig schmaler Gang, der ,– als hätte der Baumeister die fortgesetzte Verkleinerung aller Maße betonen wollen ,– mit einer noch geringeren, nur mehr einflügeligen Glastür endigte, einer Privattür fast, denn vor ihren blinden Scheiben fehlten sogar die Drahtstäbe.

Es galt sich zu entscheiden. Rechts führte die Stiege hinauf, und sozusagen probeweise, als wollte er ihre Tragfähigkeit prüfen, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Aber er konnte nicht umhin, dabei immer noch zu jener kleinen Tür hinzusehen, die nun zu seiner Linken lag, denn fast schien es, als wäre von dorther entscheidendere Verlockung zu erwarten. Eine weiße Mauer, von der Sonne grell beleuchtet, blendete hinter den schmutzigen Scheiben. Sollte dort wieder ein Hof sein, dann noch immer einer und immer so fort, einer an den andern sich fügend, eine Stadt von Höfen? Jählings wurde das Horizontale ihm widerwärtig; es war, als ob im Horizontalen das Gefüge aller Angst läge wie ein Labyrinth. Man mußte einmal den Entschluß fassen, emporzusteigen, und von der Tür sich abwendend, sagte er: »Ich will sie links liegen lassen.« Dieses sagte er ganz laut vor sich hin, und indem er es wiederholte, freute er sich, daß der abgegriffene Ausdruck plötzlich einen so handgreiflichen und deutlichen Sinn erhalten hatte. Ja, so freut man sich, wenn man unter alten Sachen mit einem Male etwas Brauchbares findet. Er hatte die Tür links liegen lassen und war auf die zweite Stufe getreten. Doch er konnte sich trotzdem nicht so leicht trennen, und weil er vielleicht immer ein wenig zu nachsichtig gegen sich gewesen war, gab er auch diesmal nach, drehte den Kopf, bückte sich sogar, um nochmals das Bild hinter den Scheiben zu erhaschen. Und in dieser schrägen Blickrichtung ließ sich nun feststellen, daß es ein kleiner Hof war, der sich dort befand, eigentlich kein Hof, sondern ein kleiner Garten, zur Hälfte beschattet von etwas, das man nicht wahrnehmen konnte, das aber wohl eine Holzplanke sein mochte, ein Garten, in dem ein Lusthaus stand, dessen Holz durch Wetter und Sonne grau geworden war, so grau wie der Misthaufen, der an die Wand angeschüttet war und vor dem man neben allerlei Grünem auch Fuchsien in den Boden eingesetzt hatte. Neben den Fuchsien staken Holzgitter in dem Boden, unten schmale, oben verbreiterte Gitter aus Holzstäben, an denen sich die Fuchsien ranken sollten, und trog es ihn nicht, so summten Wespen um das Holz des Lusthauses. War es nicht ihr Summen gewesen, das er für das verebbende Klappern der Schreibmaschinen gehalten hatte? Hier hinter der Privattür schwärmten sie wie Wächter, damit niemand in den Privatgarten eindringe. Oder ist das Geklapper über dem Labyrinth der Stadt nicht wie das Summen des Ungeziefers über dem Misthaufen? Klappern des aussätzigen Wächters, der den Wanderer verscheucht und ihn auf Zickzackwege zwingt. Also war es gewissermaßen eine Überlistung, daß er hinaufstieg, daß er die Wächter sozusagen übersprang; und unter solchen Gedanken beschleunigte er seinen Schritt, stieg er die Treppe hinauf, sah in jedem Stockwerk den langen Gang, der beiderseitig der Stiege sich dehnte und in dem sich die hellbraunen Türen und vergitterten Küchenfenster reihten, horchte, ob aus den Räumen, die hinter den Türen lagen, Geräusche kamen. Aber es war kaum etwas zu hören, und wenn es irgendwo leise raschelte, so mochten es auch Mäuse sein oder gar Ratten. Freilich ließ sich die Stille mit dem Mittagsschlaf erklären, in den zu dieser Zeit Mensch und Tier verfällt, umschwärmt von Wespen und Fliegen, aber so weit mußte man gar nicht denken, denn eher war es anzunehmen, daß man diese Wohnungen zu Hinterräumen der großen Büros degradiert hatte, wenig benützte Hinterräume wohl, die man, vorsorgend für eine künftige Ausbreitung des Geschäfts, bloß ihrer Billigkeit wegen mitgemietet hatte, und in die sich nur hie und da ein Diener verirrte. Dazu allerdings mochte es nicht stimmen, daß vor der Wasserleitung im zweiten Stock eine große Lache auf den gelben, zersprungenen Steinfliesen des Ganges glänzte und daß auch der Hahn noch tropfte. Aber dafür würde sich schon noch eine natürliche Erklärung finden lassen, und es wäre lächerlich, deshalb eine verbrecherische Kombination zu mutmaßen. Vielmehr machte ihm der Anblick Durst, und er ging zu dem Wasserhahn, um sich wie ein Bergsteiger, der zu einer Quelle gelangt ist, darüber zu beugen oder aus der hohlen Hand zu trinken. Da jedoch wurde ihm offenbar, daß der Hahn ohne einen zugehörigen Schlüssel sich nicht öffnen ließ, und die Aufschrift »Wasser sparen« belehrte ihn, warum ihm das Wasser verwehrt war. Er mußte sich begnügen, die Hand unter den tropfenden Hahn zu halten; er tat es erst mit der einen Hand, und als er auch die zweite darunterhielt und die Tropfen einen angenehmen feuchten Streifen darauf abzeichneten, war es fast, als würde er sich eine unberechtigte und vielleicht sogar diebische Lust verschaffen, obwohl doch nicht er es gewesen war, der wider die Vorschrift den Hahn so unsorgfältig geschlossen hatte. Unberechtigt aber blieb es, daß er hier so lange verweilte, an die Mauer sich lehnte und müßige Beobachtungen anstellte, zum Beispiel daß die Türen hier keineswegs so zitterten, wie die Türen in den obersten Stockwerken der Großstadthäuser infolge des gewichtigen Straßenverkehrs es sonst zu tun pflegen. Er erinnerte sich, daß die Glastür in der zweiten Durchfahrt, jene, über der die Tafel »II. Stiege« sich befand, leise und unaufhörlich geschlagen hatte, während diese Türen hier wie festgewachsen waren in ihren Mauern, festgekeilt, und man empfand es kaum als störend, daß da Holzbestandteile zwischen Ziegeln saßen. Diese Sicherheit der Erde gab ihm neuen Mut, und wenn es ihn auch sehr gelüstete, einen Blick aus dem Gangfenster zu werfen, so vergönnte er es sich noch nicht, sondern stieg weiter. Er mußte wohl schon ins vierte Stockwerk gelangt sein, als er oben eine Tür gehen hörte. Weniger als über die Anwesenheit von Menschen erschrak er über die nicht endenwollende Höhe dieses Hauses, aber da er es vorzog, selber zu suchen, denn herumirrend und lauschend ertappt zu werden, eilte er nun über die ausgetretene Stiege die letzten Stockwerke hinauf, zwei, ja drei Stufen mit einem Schritt nehmend, so daß er recht atemlos oben anlangte und einer Frau geradezu in die Arme lief, die, einen Eimer Wasser in den Abtritt zu entleeren, eben den Gang überquerte.

Auf diesem obersten Stockwerk war der Gang sehr hell ,– schmerzhaft hell, dachte er; es waren die Fenster des Ganges weit geöffnet und die Luft, die mit der Sonne hereinflutete, so ruhig und doch so bewegt, wie der Mittag über einem ruhenden Meer. Dazu gehörte wohl, daß die Frau bloß mit Rock und Hemd bekleidet war und daß ihre Beine nackt in Holzschuhen staken. Matrosen beim Deckwaschen, dachte er, da er sie mit ihrem Eimer vor sich sah. Sie sagte: »Wen wünschen Sie? ,– mein Großvater ist nicht zu Hause.« Ihre Haare hingen in einem losen Zopf über den Rücken und waren blond. Auch ihre Achselhaare waren sichtbar, waren buschiger als sonst bei Blondinen. Er antwortete: »Ich wußte nicht, daß hier auch Parteien wohnen.« ,– »Ja«, antwortete sie, »wir wohnen hier.« Er schaute auf ihre Achselhaare und auf ihre Beine, die nackt in den Rock hineinragten, und sagte: »Sie wohnen hier sehr schön.« ,– »Es geht an«, antwortete sie, und wie zur Erklärung: »Ich bin Wäscherin«, und da er es offenbar nicht gleich verstand, fügte sie hinzu: »Die Waschküche ist auf dem Dachboden.« Das war gewissermaßen eine Befriedigung, und er begriff es auch, denn er sagte: »So hat man dieses Haus bis in seine letzten Möglichkeiten ausgenützt.« ,– »Das kann ich nicht ermessen«, entgegnete sie, »denn ich kümmere mich nicht um andere Leute.« ,– »Da tun Sie recht daran«, sagte er, »aber es muß doch mühsam sein, die schwere Wäsche auf diese Höhe zu befördern.« Sie lächelte: »O nein, wir haben eine sinnreiche Einrichtung«, und sie zeigte auf eine starke Winde, man könnte fast glauben eine Ankerwinde, die in einem massigen Holzgestell mit dick aufgewickeltem Seil auf dem Gang stand, »eine Einrichtung, die schon von den früheren Wohnungsinhabern, meinen Lehrmeistern im Wäschereifach zubest benützt worden ist: wir winden die Wäschepäcke durch das Fenster herauf und lassen sie auch hier wieder hinab.« Er erkundigte sich: »Werden durch diese Handhabung nicht die Fenster der unteren Stockwerke gefährdet?« ,– »Durchaus nicht«, antwortete sie, »denn an dem Wäschepack hängt ein dünnerer Strick, und der Mann, der unten steht, hält ihn angespannt in der Hand. So können wir selbst bei stärkstem Sturm ungefährdet unsere Last auf- und niederlassen.« ,– »Das ist sehr praktisch«, sagte er. »Ja, sehr praktisch«, erwiderte sie, »und es erspart uns viele Wege. Wir kommen fast niemals in die Stadt.« Sie sagte »in die Stadt«, als ob sie auf dem Lande lebte, und dabei stand das Haus doch in der verkehrsreichsten Geschäftsstraße; aber es war ihm recht, als sie es sagte, und es gab ein sicheres und zielnahes Gefühl in irgendeiner Verbindung mit ihren Achselhaaren, die wie nach Heu aussahen. Um sie mit seinen Blicken nicht zu belästigen, wandte er sich der Winde und dem Fenster zu, durch welches die Transporte geleitet wurden. Da weitete sich gleichsam in Selbstverständlichkeit ein großräumiger Fernblick; das Haus war in diesem Teil offensichtlich am höchsten gebaut. So unscheinbar und niedrig es an der Straßenfront war, so sicher und allmählich stieg es an, je weiter es sich in seine Höfe hineinerstreckte, und da diese Höfe eben sehr weitgedehnt waren, so mußte das Haus bei der beträchtlichen Länge des Grundstücks sogar bei mäßiger Steigung zu außerordentlicher Höhe anwachsen. Es ruhte solcherart wie ein richtiger langgestreckter Bergrücken, und dies ergab wohl das Gefühl außerordentlich großer Sicherheit und Natürlichkeit, da man nun auf seinem Gipfel stand. Er sagte: »Ich möchte gerne noch höher hinauf, in die Waschküche, auf den Dachboden.« ,– »Davon hätten Sie wenig Gewinn«, sagte sie, »denn wir haben heute die Wäsche gekocht, so daß alles voll Dampf ist.« ,– »Und auch der übrige Dachboden ist nicht betretbar?« ,– »Nein, auch der nicht; soweit er uns nämlich zugänglich ist, ist er mit Wäsche angefüllt, die an den Stricken dort hängt. Die Dachluken auf beiden Seiten sind geöffnet, und der durchziehende Wind leistet die Trocknungsarbeit. Hätten wir ein flaches Dach, wie dies bei den neuen Häusern der Fall ist, sagt mein Großvater, so würden wir an solchen Sonnentagen die Wäsche ausbreiten und sie bleichen lassen.« ,– »Gewiß könnten Sie dies«, entgegnete er, »aber der Rauch des Fabrikschlotes würde den Ruß auf das Linnen niederschlagen, und die ganze Arbeit wäre umsonst.« Sie machte ein erstauntes Gesicht: »Welchen Fabrikschlotes?« ,– »Nun«, sagte er, der schon am Fenster stand, und wollte die Hand ausstrecken, um hinzuweisen, aber da mußte er feststellen, daß weder von diesem Fenster aus, noch von sonst irgend einem der Gangfenster, zu denen er eilte, der große Platz mit dem Maschinenhaus in der Mitte sichtbar war; das war immerhin eine Enttäuschung, da er bestimmt darauf gerechnet hatte, den Platz von der erreichten Höhe aus überblicken zu können. Hier schob sich das Stiegenhaus vor die Aussicht, dort ein anderer Gebäudeteil, und so war es nur verständlich, daß sie von dem Vorhandensein jenes Schlotes nichts wußte. »Sie scheinen wirklich selten in die Stadt zu kommen«, sagte er, und es fiel ihm auf, daß er schon ihre eigenen Worte verwendete, »denn sonst hätten Sie den Schlot doch bemerken müssen.« ,– »Selten genug; Theater und sonstige Vergnügungen kenne ich bloß vom Hörensagen.« Sie sagte dies freilich mit so wenig Bedauern, daß er nicht wagte, sie zu einem Theaterbesuch einzuladen, woran er während ihrer Rede einen Augenblick lang gedacht hatte. Immerhin fragte er: »Und wie verbringen Sie Ihre freie Zeit?« ,– »Leider ist der Großvater viel auf Reisen, doch wenn er hier ist, vergeht die Zeit wie im Nu; wir plaudern, und manchmal singen wir zweistimmig, denn er hat eine überaus schöne Stimme. Am liebsten jedoch und auch am häufigsten wandern wir aufs Land hinaus, in den Wald, in eines der Dörfer, und was es halt sonst dort gibt.« Sie lachte fröhlich, und ihre Fröhlichkeit steckte ihn an: »Das nenne ich vorbildlich gelebt. Doch was tun Sie in den einsamen Stunden?« ,– »Ich bin nie einsam«, korrigierte sie, »ich bin höchstens allein. Und an Beschäftigung ist kein Mangel. Bin ich aber aus irgendeinem Grund untätig oder gar faul, nun, da schaue ich einfach zum Fenster hinaus.« ,– »Das verlohnt sich hier freilich«, stimmte er zu und wies auf die Aussicht, die seine Blicke immer wieder anzog, und die zwar auf der einen Seite vom Stiegenhaus abgeschnitten war, dennoch prächtig genug vor ihnen lag und sehr weit reichte. Und obwohl das Erschaute ihn nicht überraschte, fand er sich nur schwer zurecht, denn die sonst doch so sehr vertraute Stadt ergab von diesem Ausblick bloß in der weiten Ferne das bekannte Bild, dort erst bei den Bergen, die in dem goldenen Mittag verzitterten, den Feldern, die sich hell und glänzend an ihnen hinaufzogen, und den Dörfern draußen, die so still in den Hängen lagen, daß man ihre Stille herüber zu hören vermeinte: je näher aber der Blick zur Stadt fiel, desto unvertrauter wurde die Gegend, und wäre nicht der schwarze Strich der Bahnlinie gewesen, die ,– je nach der Geländeform auftauchend und wieder verschwindend ,– in einem großen Bogen sich der Stadt näherte, um hier, die Lage des Bahnhofs anzeigend, in ein Schienengewirr überzugehen, er hätte sich in die Fremde versetzt geglaubt, ja hätte glauben mögen, die Stadt wäre nicht vorhanden oder zumindest so sehr beschnitten, daß sie nur mehr als Andeutung ihrer selbst da wäre. »Des Abends und am Morgen«, sagte sie, halb entschuldigend, halb vorwurfsvoll, »sieht man bei klarem Wetter auch die Schneeberge, jetzt allerdings zu dieser Mittagsstunde ,…« Er wurde unmutig, weil sie ihm vorwarf, zur unrechten Stunde gekommen zu sein, und da nun auch zwei Wespen sich durchs Fenster hereinverirrten, fiel er ihr ins Wort: »Nun denn, ein andermal«, und mit einem Blick auf den Eimer, der noch immer neben ihr stand, »ich habe Sie ohnehin schon lange genug aufgehalten ,…« Sie merkte, daß er nach einer Anrede suchte, und sagte: »Ich heiße Melitta.« ,– »Ein schöner Name«, sagte er, »denn er bedeutet ›das Bienchen‹ und das paßt vorzüglich auf Sie.« Und obwohl für einen Herrn mit steifem grauen Hut solch plötzliche Vertraulichkeit nicht eben am Platz war, stellte er sich vor: »Und ich heiße Andreas.« Sie wischte sich die Hand an ihrem Rock ab, gab sie ihm und sagte: »Sehr erfreut.« ,– »Darf ich Ihnen noch helfen?« sagte er und griff nach dem Eimer; aber sie kam ihm zuvor: »O nein, das ist meine Arbeit«, und vertraulich ihn anlächelnd, hatte sie den Henkel schon gepackt, schwenkte den schweren Eimer wie übermütig ein wenig hin und her, so daß etwas von der schmutzigen Seifenbrühe auf dem gelben Steinboden verspritzte und trug das Gefäß rasch zu dem Abtritt, dessen Türe sie offenstehen ließ, so daß man das gewichtige Ausgießen hörte und wie das Wasser in immer weitere und dunklere Tiefe verschäumte und verebbte. Andreas aber war indessen zu einem Fenster getreten, unter welchem seiner Ansicht nach das Gärtchen mit den Wespen liegen mußte, und es erschien ihm durchaus richtig, daß gerade auf diesem Fenster ein Blumentopf voll alter verbrauchter Erde stand, in der, wie zur Wiederholung dessen, was er unten zu sehen hoffte, noch einige Stäbchen staken. Nun zeigte sich aber, daß die Lage des Gärtchens keineswegs so eindeutig bestimmt war, wie er geglaubt hatte; denn wenn auch die Mauer des Stiegenhauses die Lage einwandfrei angab, so hatte das Stiegenhaus in den unteren Stockwerken allerlei Anbauten, und er sah auf ein Gewirr verschiedener Dächer, die teils mit Ziegeln, teils mit häßlicher schwarzer Pappe, teils sogar auch noch mit Schindeln gedeckt waren; nun, so sehr er es auch bedauerte, nicht das finden zu können, was er suchte, so war es doch beruhigend, daß die Mauern nicht ungebrochen und steil bis zur Tiefe abfielen und daß der Blumentopf, würde man ihn aus Unachtsamkeit jetzt hinabstoßen, nicht geradlinig wie Wasser, das in einen Schacht gegossen wird, hinabstürzen konnte, jemanden zu erschlagen, sondern daß er erst gefahrlos auf einem der Dächer zerschellen und verstäuben mußte. Und während Andreas noch die schwarzen Regenstreifen auf der Mauer betrachtete, sagte er: »Dies ist wohl eine der Fuchsien aus Ihrem Garten gewesen?« Sie setzte wieder ihr erstauntes Gesicht auf, und obwohl die Frage in ihren Augen schon genügt hätte, setzte sie eilig hinzu, als ob sie den Namen, den er ihr genannt hatte, nicht rasch genug verwenden könnte: »Aus welchem Garten, Herr Andreas?« Ich hätte ihr den Namen nicht gleich nennen dürfen, dachte er, aber da es nun einmal geschehen war und er ihn nicht zurückfordern konnte, sagte er: »Nun, von dem Garten neben der Stiege.« Sie überlegte angestrengt, ja sie schloß sogar dazu ein wenig die Augen, und ihre glatte Stirne faltete sich zu Runzeln über der Nase, dann machte sie eine wegwerfende Bewegung: »Ach, das ist ein neuer Garten.« Das genügte zur Erklärung, aber es tat ihm trotzdem leid: »Ich dachte, es wäre ein Erholungsort für Sie ,… an Sommerabenden.« ,– »Nein«, sagte sie kurz, »es ist ein neuer Garten.« Da es definitiv war, konnte er daran nichts ändern; er erkundigte sich daher bloß noch: »Und dieser Fuchsienstock?« Sie antwortete freundlich: »Er dient uns als Sonnenuhr; wenn der Schatten dieses Stäbchens auf die Steinritze des Bodens fällt, die der Großvater mit einem roten Farbstrich da versehen hat, ist es Mittag, und ebenso sehen Sie dort die Zeichen für die früheren und späteren Stunden. Es ist sehr sinnreich«, und mit etwas zutraulicher Koketterie setzte sie hinzu: »nicht wahr, Herr Andreas?« Dabei bemerkte sie, daß der Eimer einen feuchten Kreis auf den Fliesen zurückgelassen hatte, eilte in die Küche und brachte von dort ein graues Tuch zurück, mit dem sie sich niederkniete und die Flecken aufwischte. Wieder mußte er an Matrosen beim Deckwaschen denken, allerdings nur sehr flüchtig, denn auf allen Vieren, wie ein Tier, das seine Jungen saugen lassen will, so kniete sie; ihre Brüste lagen frei, ein dünnes Medaillonkettchen mit der Emailphotographie eines weißbärtigen Greises baumelte zwischen ihnen, und die helle glatt-zarte Haut der Brüste mit den blauschimmernden Adern war von jener goldenen Weiße, die den blonden Frauen eigentümlich ist. Aber obwohl sie nicht darauf achthatte, tat er, als beschäftigte er sich nicht mit ihr, sondern mit den Zeichen auf dem Fußboden, und sagte: »Wenn ich es richtig lesen kann, ist es jetzt ein Uhr vorbei. Meine Geschäfte rufen mich.« Sie war rasch aufgestanden und schien ein wenig bestürzt: »Sie wollen schon wieder gehen? Ich hätte Ihnen gewiß einen Imbiß anbieten müssen ,… oder vielleicht hätten Sie ruhen wollen. Der Großvater hat's gewiß ungern, wenn ich Sie so gehen lasse.« Er dankte. Bloß um einen Trunk Wasser wolle er bitten, und er wies auf die Wasserleitung, die, ohne Schlüssel nicht zugänglich, gleichfalls mit der Mahnung versehen war, mit dem Wasser zu sparen. »Das Wasser taugt hier in den oberen Stockwerken nicht viel«, sagte sie, »es ist lauwarm.« Das war nun wieder eine Enttäuschung, aber auch diese Enttäuschung war durch die Luft so sehr aufgelockert, war so leicht gemacht durch die Luft, die nun stärker und bewegter von all den geöffneten Fenstern her den Gang durchflutete, war so verfließend in dem Raum, der von den Bergen hereinzog und, in seinem Atem den Atmenden mitnehmend, sich wieder zurück dehnte, daß sogar der Durst vergangen war, als wäre er verfrüht gewesen, als wäre noch kein Recht vorhanden gewesen, zu dürsten. Und da sie eilfertig mit dem Hahnschlüssel kam und mit einem Glase, es war ein Seidelglas mit Henkel, und die Wasserleitung aufdrehte, das Wasser zischend rinnen ließ, damit es möglichst abkühle, hielt Andreas mit dem Hinweis auf die Tafel sie davon ab, das Wasser zu vergeuden, nippte bloß ein wenig von dem Trunke und auch dies nur, um sie nicht zu kränken. Doch wie er dann Abschied nehmen wollte, zögerte er wieder ein wenig, vielleicht weil die Last der Enttäuschungen doch zu groß geworden war, vielleicht weil er doch noch etwas erwartete. Er hätte gerne seine Bitte, noch höher zu steigen, neuerlich vorgebracht, aber da dies so ausgesehen hätte, als hätte er ihren früheren Worten nicht geglaubt, sagte er bloß: »Ich gehe ungern den gleichen Weg zurück.« Sie dachte einige Sekunden nach, und dann sagte sie: »Bis zum ersten Stockwerk, oder wenn Sie es lieber so nennen wollen, bis zum Halbstock, kann es Ihnen, Herr Andreas, nicht erspart werden. Dort aber mögen Sie versuchen, bei der Tür, welche der Stiege gegenüberliegt, zu schellen. Soweit ich unterrichtet bin, ist es die Tür Nummer 9. Öffnet man Ihnen, so gelangen Sie in die Lederhandlung des Herrn Zellhofer, und von dort aus werden Sie leicht auf die Straße finden. Ich weiß dies, weil mein Großvater dort das Leder für unsere Schuhe zu kaufen pflegt und mir oft erzählt hat, wie bequem es für ihn sei, den langweiligen Weg über die Gasse zu sparen.« ,– »Ich danke Ihnen vielmals, Melitta«, sagte er, und daß er ihren Namen aussprach, war sein Dank und war gleichzeitig Flucht, denn da stand er auch schon auf den Stufen der Treppe, kaum daß er sich nochmals zum Abschied umgewandt hatte, und als ob ihn etwas hinunterfegte, eilte er in großen Sprüngen über die Treppe, dennoch bemerkend, daß auf der alten Mauer an manchen Stellen unzüchtige Zeichnungen wie von Kinderhand hingemalt waren. Aber dies beschleunigte die Geschwindigkeit seines Laufes nur noch mehr. Die Schatten rückten vor, und er mußte in sein Büro gelangen.

Fast hätte er bei diesem eiligen Hinabstürzen das erste Stockwerk übersprungen, ja, als er dessen gewahr wurde, mußte er sich an das Stiegengeländer anklammern, um zum Stehen zu kommen und die Reihe der Türen zu betrachten. Ja, die Tür gegenüber der Treppe trug tatsächlich die Nummer 9, und er schellte. Er mußte es mehrmals tun, bis er Schritte hörte. Es war offenbar ein Diener, der den Kopf herausstreckte und fragte: »Warum benützen Sie nicht den regelmäßigen Eingang? Sind Sie vom Hause?« ,– »Ja«, log Andreas, obwohl es doch keine richtige Lüge mehr war; »wir pflegen das Leder für unsere Schuhe bei Ihnen zu kaufen.« Der Mann öffnete ihm daraufhin und ließ ihn eintreten. Nun konnte Andreas sehen, wie die Wohnung gestaltet war, in der Melitta oben wohnte, denn die Wohnungen in dem Haus waren, wie dies so üblich ist, in allen Stockwerken gleich gebaut. Der erste Raum, den er betrat, entsprach der Küche, dann kam er in einen zweiten Raum, der gleich der Küche auf den Gang hinaus ging, und dann rechtwinklig abbiegend gelangte man in zwei weitere, sehr tiefe Räume, deren Fenster auf einen anderen Hof oder vielleicht auf die Straße schauten, unentscheidbar, da alle Läden geschlossen waren und alles dunkel war, voll beizenden widrigen Gerbgeruchs, so daß man sich nur schwer vorstellen konnte, wie licht und luftig die gleichen Räume oben bei Melitta sein mußten. Ja, die Erinnerung daran verwischte sich geradezu, denn all diese Gelasse hier waren mit getrockneten Häuten und Lederfellen dicht behängt, so daß die elektrische Birne, die in jedem Raum mattgelb brannte, schlechte alte Birnen, die man von Rechts wegen schon längst hätte auswechseln sollen, von der vielen Ware fast ganz verdeckt wurde. Nun gelangten sie in einen schmalen Gang, auf dessen Mauer die Worte »Licht ausdrehen« mit ungelenker Hand geschrieben standen, und in einen neuen Raum, der auch wieder mit Leder vollgehängt war. »Wir sind wohl hier in einem der Anbauten«, sagte Andreas, aber der Diener in brauner Leinenjacke und grüner Latzschürze zuckte bloß fremd die Achseln, als verstünde er die Frage nicht, drehte die Schalter ab, sagte »Vorsicht« und führte ihn zu einer Art Notstiege, die sie behutsam hinuntertappten. Damit waren sie aber noch keineswegs in den Verkaufsraum selber gelangt, sondern in ein neues Magazin, das vielleicht jenes war, dessen Fenster man vermauert hatte, denn soweit man in der Dunkelheit feststellen konnte, war es von beträchtlicher Länge, wenigstens schien die nächste Glühlampe hinter den Häuten in sehr großer Entfernung zu sein. Es war nächtlich kühl, und der scharfe Geruch all des Leders verhinderte es sicherlich, daß Wespen sich hier einnisteten, Ruhe der Nacht nach der Angst des Tages; Andreas war ermüdet und wollte sich auf eines der Gestelle setzen, die auf schrägen Beinen zum Zurichten des Leders herumstanden. Aber da sein Führer darauf keine Rücksicht nahm, sondern unbeirrt weiterschritt und die Lichtschalter an den Säulen im Vorbeigehen abdrehte, wäre er in die Gefahr gekommen, allein in dem dunklen Magazin und bei den Mäusen zurückzubleiben, hätte er dem Ruhebedürfnis nachgegeben, und wer weiß, ob er dann je wieder herausgefunden hätte, denn schon die Lichtschalter an den Säulen tastend zu suchen, hätte für einen Ortsunkundigen seine Schwierigkeiten gehabt. So setzte er sich bloß für einen Augenblick auf eines der Gestelle, eigentlich nur, weil er noch nie auf solch einem Gestell gesessen hatte und weil er nichts Unbekanntes hinter sich lassen wollte; dann eilte er dem Führer nach. Der hatte eine schwere Eisentüre zur Seite geschoben, und nun war der Weg, der ohnehin so lang gewesen war, daß es unverständlich blieb, wie der Diener in verhältnismäßig kurzer Zeit auf Andreas' Klingeln hatte öffnen können, wirklich zu Ende: vorbei an einem Glasverschlag, aus dem zögerndes Klappern einer Schreibmaschine klang, traten sie in das eigentliche Verkaufslokal des Herrn Zellhofer. Hier zeigte sich allerdings, daß der Diener in Wahrheit kein Diener, sondern ein Verkäufer war, denn so mürrisch er bisher als Führer gewesen sein mochte, er setzte im Lokal sofort das gewinnende Lächeln des Verkäufers auf, und verbindlich fragte er Andreas: »Womit kann ich dem Herrn dienen? Mit prima Oberleder? Wir haben eine neue Sendung erhalten.« Nun war Andreas mit Schuhen wohlversorgt, und er pflegte auch fertige Schuhe zu kaufen, hätte also nicht gewußt, was mit dem Oberleder beginnen.

Aber er durfte einem Mann, der ihm auf einem so langen Weg Führer gewesen war, nicht die Enttäuschung bereiten, ohne Kauf wegzugehen. Der lockte ihn: »Wir haben ausgezeichnetes Sattelleder; unser Lager wird bald ausverkauft sein.« Andreas hätte ihm gerne gesagt, daß er doch selber die Lager gesehen hätte und daß von einem Ausverkauftsein keine Rede sein könne; aber da jener eine so scharfe Unterscheidung zwischen seiner Rolle als Führer und der als Verkäufer machte, schien es auch Andreas unschicklich, das Vorherige mit dem Jetzigen zu vermischen, und angestrengt suchte er in Gedanken nach einem passenden Ledergegenstand, den er brauchen könnte. Er wollte von Tierhäuten und dem braunen Leder nichts wissen, und wenn es schon sein mußte, so sollte es eine helle Haut sein.

»Ich wünsche ein Chromlederfell zu kaufen, aus dem Spangenschuhe oder ein Handtäschchen für ein junges Mädchen zu erzeugen wären«, erklärte er dem Mann. Der Verkäufer entgegnete warnend: »Also kein Sattelleder? Sie werden es bedauern, mein Herr ,… das Lager wird bald geräumt sein, die Zeit wartet nicht ,… stündlich schmilzt es dahin ,… aber wie Sie wollen, mein Herr«, und brachte Chromleder herbei. Da lagen die weißbläulichen und hellgrauen, mattglänzenden Felle auf dem ungefügen Verkaufstisch, und Andreas konnte mit der Hand über die glatte und körnige Fläche streichen. Der Verkäufer sagte: »Beachten Sie die Geschmeidigkeit«, nahm schwungvoll eine der Randzacken des Leders und zerknitterte sie vor Andreas' Augen; das Leder ließ sich die Manipulation weich und lautlos ohne Knirschen und Knistern gefallen, und der Verkäufer, dem diese Nachgiebigkeit bekannt war, wiederholte den Vorgang, indem er die Ware an Andreas' Ohr hielt. Hernach glättete er die zerknitterte Stelle mit einem flachen Eisen, das er einer schweren Tischlade entnahm, und sagte: »Sie sehen, kein Bruch, keine Falte, keine Runzel ,… eine Ware, die noch niemanden enttäuscht hat. Prüfen Sie selber.« Und mit der Zudringlichkeit, die Verkäufern oft eigen ist, nahm er den Zeigefinger Andreas' und führte ihn über die geglättete Stelle. Nein, es war keine Enttäuschung, es war ein so glattes Gefühl wie jenes, das man verspürt, wenn man nach großem Durst sich mit frischem Wasser gelabt hat, und doch war es eine Enttäuschung, daß das Erwartete niemals in der erwarteten Form, sondern immer nur verwandelt und fremd seine Erfüllung findet: »Wir verkaufen die Chromlederfelle nach Dutzenden«, sagte der Verkäufer. ,– »Ich kann aber höchstens eines brauchen ,… und das kaum«, sagte Andreas. »Das kann man immer brauchen«, sagte der Verkäufer mit befehlender Stimme, »solche Felle finden Sie nie mehr.«

Aber Andreas wurde nun hart; er hatte seinen guten Willen gezeigt, und wenn der andere den Bogen überspannte, so war das seine Sache. Er machte eine unwillige Bewegung und wandte sich zum Gehen.

Mit dem feinen Gefühl, das Verkäufer für geheime Regungen von Kunden besitzen, flehte nun der andere: »Nehmen Sie ein Vierteldutzend, ich mache Ihnen den Dutzendpreis, weil Sie zum Hause gehören.« ,– »Die Zeit rückt vor«, sagte Andreas, »Sie haben in diesem dunklen Gewölbe das Gefühl für Zeit verloren; Sie dürfen mich nicht aufhalten ,… ich nehme ein Stück und damit basta.« ,– »Schön, ein Stück«, sagte der Verkäufer, achselzuckend wiederholte er, als sei es etwas Unerhörtes, »ein Stück ,… ein Stück ,…, Sie verscherzen sich dabei den Rabatt ,…«, er schaute geradezu mitleidig drein und machte sich daran, das oberste Fell in ein Papier einzuschlagen. »Nicht doch«, sagte der Käufer, »ich will es auf mich nehmen, etwas zu verscherzen ,… aber dafür will ich mein Fell auch selber auswählen.« Und er nahm den ganzen Pack vom Verkaufstisch und trug ihn zu dem blinden Fenster. Dort wählte er auf gut Glück eines der Felle, es war milchgrau mit bläulichem Stich, und dann ließ er es in Papier packen. Als es aber zum Zahlen ging, fiel ihm ein, daß er bei den Inflationspreisen ohne weiteres ein paar Dutzend, ja das ganze Lager hätte kaufen können. Warum hatte er das nicht getan? Warum ließ er sich die Gelegenheit entgehen? Er wußte es nicht; er wußte nur, daß er keine Tierhäute haben wollte, und so ging er zur Tür, die ihm der Verkäufer mit einem »Beehren Sie uns bald wieder« öffnete.

Draußen lag die Mittagssonne, und seine Augen schmerzten in dem Lichte. Er konnte sich nicht zurechtfinden. Erst als ein Trambahnwagen vorbeikam, merkte er an der Aufschrift, daß er sich in der W.-Straße befand, und wunderte sich, daß das Haus, das er eben verlassen hatte, bis in diesen immerhin entlegenen Stadtteil reichte. Aber es war nun die höchste Zeit, daß er in seine Kanzlei kam; er lief dem Trambahnwagen nach und erreichte ihn auch noch glücklich bei der Haltestelle.

 

VII. Die vier Reden des Studienrats Zacharias

Nachdem der Mathematiklehrer Zacharias, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse, sich aus der ereignisreichen Langweile des Weltkriegs in die ereignislosere, dafür aber gewohntere des Berufs- und Alltagslebens zurückbegeben hatte, und der Kaiser nach Holland geflohen war, gelang es der zur Macht emporgestiegenen Sozialdemokratie, die Lebensstruktur des kaiserlichen Deutschlands im Guten wie im Schlechten intakt zu erhalten. Das war zum Teil Sinn für lebendig weiterwirkende Tradition, zum noch größeren Teil kleinbürgerliche Liebe zum Verkalkten, eine Liebe, die sich ihrer selbst schämte und daher einen Vorwand brauchte, hier den einer angeblich macchiavellistischen Beflissenheit gegenüber den Siegermächten, und zum allergrößten Teil war es Abneigung gegen die russische Barbarei, war es entsetzenvoller Ekel vor dem bolschewistischen Morden, das mit seiner maschinellen, unheroischen Technik allen romantischen Revolutionserwartungen widersprach, und dem man bloß eine geradezu hyperthrophisch unpolitische Humanitätshaltung entgegenzusetzen wußte, nicht bedenkend, daß Hypertrophien leer werden und ebendarum in ihr Gegenteil umzuschlagen pflegen, die hypertrophische Humanität in eine nicht minder leere, jedoch auch nicht minder hypertrophische Barbarei, welche die russische sogar noch übertreffen sollte. Freilich, so weit konnte man in jenen ersten Nachkriegsjahren die Entwicklung nicht voraussehen.

Zacharias, der gewohnt war, seine Ansichten widerspruchslos von den jeweiligen Machthabern zu beziehen, also ein echt demokratisches Vertrauen zur Weisheit der Volksmajorität besaß, schloß sich der Sozialdemokratischen Partei an und rückte demzufolge in verhältnismäßig jungen Jahren zum Studienrat auf. Und er sah sich bereits als Gymnasialdirektor. Als solcher beabsichtigte er ein strenges Regiment zu führen, politisch Andersdenkende unerbittlich aus dem Lehrkörper auszuscheiden, die Schule vor schädlichen Neuerungsgedanken zu bewahren, und vermöge eiserner Disziplin die Jugend zu strammen Demokraten zu erziehen. Mit seinen eigenen Kindern, einem neunjährigen Mädchen, einem acht- und einem fünfjährigen Knaben ,– letzterer Frucht eines Kriegsurlaubes ,–, hatten seine Erziehungsprinzipien, unterstützt von der Gattin, schöne Erfolge gezeitigt; die Kinder gehorchten aufs Wort. Sie allesamt, er als Vorbild und Führer, trugen im Hause weiche Filzpantoffeln, um den wohlgewachsten Linoleumfußboden zu schonen, und mit Verehrung blickten sie zu den Porträts empor, welche ,– in der Mitte das Öldruck-Triumvirat Wilhelm II., Hindenburg und Ludendorff, flankiert von den Photographievergrößerungen der sozialdemokratischen Führer Bebel und Scheidemann ,– die Wand über dem geschnitzten Anrichteschrank schmückten.

Um jene Zeit begann man in ganz Deutschland Protestversammlungen gegen die Einsteinsche Relativitätstheorie abzuhalten, die man, zumindest in der Ansicht nationalgesinnter Kreise, allzulange stillschweigend geduldet hatte. Zacharias wußte zwar, daß Einstein viele Anhänger innerhalb der Sozialdemokratischen Partei und ihrem Vorstand besaß, ja daß selbiger, hätte eine Abstimmung stattgefunden, sich vermutlich einhellig für die Relativitätstheorie ausgesprochen hätte, und fast fühlte er sich, nicht ohne fachmännischen Stolz, als Rebell, weil er die Protestversammlungen trotzdem besuchte, herausstreichend, daß er als Mathematiker und Schulmann hiezu sowohl berechtigt wie verpflichtet sei. An und für sich freilich war er von der Einsteinschen Lehre, außer daß sie ihn durch Schwerverständlichkeit abstieß, nur wenig berührt, denn sie war ja noch nicht in den Lehrplan der Gymnasien aufgenommen worden; doch gerade das hatte verhütet zu werden, gleichgültig wie es mit ihrer Richtigkeit oder Unrichtigkeit als solcher bestellt sein mochte. Wie konnte man seinen Lehrberuf ausüben, wenn man gezwungen werden sollte, unaufhörlich neuen Stoff zuzulernen? Hieß das nicht dem Schüler freie Hand zur Aufwerfung vorwitziger, verlegenheitsträchtiger Fragen zu geben? Hatte der Lehrer nicht wohlbegründeten Anspruch auf Wissensabgeschlossenheit? Wozu denn sollte die Lehrbefähigungsprüfung dienen? Niemand wird bezweifeln, daß diese ein Meilenstein ist, anzeigend, daß die Periode des Lernens ihr Ende erreicht hat und daß nunmehr die des Lehrens beginnt, und unstatthaft ist es daher, darüber hinaus den Lehrer noch weiter mit neuen Theorien behelligen zu wollen und gar mit solchen, die wie die Einsteinsche selber noch umstritten sind! In diesem Sinne äußerte er sich in der Versammlung, und wenn auch seine gemäßigt scharfe Rede manchem Heißsporn zu gemäßigt und zu wenig scharf war, so daß er einige Male das Wort »Judenknecht« zu hören bekam, seine Ablehnung ungesunder Neuerungssucht im Wissenschaftsbetrieb ,– »Wir wollen fortschrittlich, aber nicht modisch sein!« ,– erntete im allgemeinen doch reichliche Zustimmung, und in der darauffolgenden Debatte, welche recht lebhaft, ja stürmisch wurde, da die Einstein-Anhänger auf sachliche Auseinandersetzung und sachliche Begründung drangen, durfte er nochmals aufstehen und empört fragen, ob seine Ausführungen etwa unsachlich gewesen seien.

Nichtsdestoweniger war er vom Resultat nicht befriedigt. Offenbar hatten die Leute bemerkt, daß ihm seine sozialdemokratische Parteizugehörigkeit eine zwiespältige Einstellung zur Relativitätstheorie auferlegte, und so kümmerte sich nach Schluß der Veranstaltung keine der beiden Gruppen um ihn. Er hatte sich aus seiner Sitzreihe herausgeschoben, und indem er den aus dem Saale strömenden Debattanten nachblickte, stellte er mit einiger Genugtuung fest, daß ihre Zahl nicht ausgereicht hatte, den Saal zu füllen. Eine schäbige Versammlung. Und es reute ihn, gekommen zu sein. Parteidisziplin ist Parteidisziplin, auch wenn man berechtigte Einwände gegen den Einstein hat. Nicht einmal ein so kleiner Saal, ein Kammermusiksaal, hat sich richtig füllen lassen. Gegenüber den mit Damastvorhängen abendlich verhängten sechs Fenstern befanden sich sechs Mauernischen, Ställe für die Büsten der Tonheroen Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Brahms und Wagner, dieser mit schiefem Barett, sie allesamt unbelebt ins noch Unbelebtere schauend, und Zacharias, der noch niemals ein ernsthaftes Konzert besucht hatte, gedachte des glänzenden Publikums, das während der Musiksaison sich hier drängte, und das ,– in den leichten Maßen einer heiter genießenden Welt verbleibend für ihn, den Ausgeschlossenen, den Zufallsgast sicherlich bloß ein Lächeln übrig hatte. Nun, an ihren Kindern wird er es ihnen schon heimzahlen; die werden vor ihm, dem strengen Prüfer, nichts zu lächeln haben. Das erheiterte ihn immerhin; werden einem Befriedigungen auf der einen Seite vorenthalten, so werden sie einem auf der andern ersetzt. Die ausgleichende Ungerechtigkeit.

Seine Heiterkeit stieg, als er in den sommerlich unbenutzten, schatten-nischigen Garderoberaum gelangte und hier ein Mensch mit Hilfe vieler Zündhölzer, von denen er eines nach dem andern anstrich, in den Winkeln und hinter den breiten Garderobetischen emsig nach etwas suchte: den Menschen zu beobachten, blieb er wohlgefällig stehen.

»Ich geb's auf«, sagte der Mensch, der ihn bemerkt hatte.

»Was verloren?«

»Meinen Hut hatte ich hierhergelegt; es muß ihn schier jemand irrtümlich aufgesetzt haben.«

»Nicht aus Irrtum«, meinte Zacharias.

Sie gingen mitsammen die Stiege hinab; Zacharias nahm seinen eigenen Hut vom Kopf, reinigte ihn am Ärmel, blies dann drüber hin: »War es ein guter Hut?« fragte er, nicht gerade aus Mitgefühl.

»Noch ziemlich neu«, antwortete der barhäuptige junge Mann, »das passiert mir wieder und wieder; ich habe Pech mit meinen Hüten.«

»Pech? Sie müssen lernen auf Ihre Dinge achtzuhaben.«

»Werde ich nie lernen.«

Sie standen auf der Straße unter den Bogenlampen. Zacharias betrachtete den jungen Mann, der sich so leicht, man mochte wohl sagen leichtsinnig über den Verlust eines neuen Hutes hinwegsetzte: den Ohren entlang hatte der ein blondes, schmalkurzgeschnittenes Backenbärtchen, wie man es zur Biedermeierzeit trug, und er schien den besseren Ständen anzugehören, offenbar jenen, die sonst die Konzerte hier zu besuchen pflegen. Zacharias gefiel das alles nicht:

»Sind Sie Physiker?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Mathematiker?«

Wiederum gab's nur ein Kopfschütteln, als ob es sich um eine Zumutung handelte.

»Antisemit?«

»Nicht daß ich wüßte ,… hab's noch nicht ausprobiert.«

»So etwas kann man nicht ausprobieren«, korrigierte Zacharias, »Antisemitismus ist eine Gesinnung.«

Ein wenig aus den Augenwinkeln zu ihm aufschauend ,– denn Zacharias war größer als er ,–, lächelte ihn der junge Mann an: »Haben Sie die Absicht, mich auf meine Gesinnungen hin zu prüfen?«

Über Zacharias kam ein unmotiviert wildes Lachen: »Das ist lediglich eine Berufsgewohnheit, allerdings eine löbliche ,… ich bin nämlich Gymnasiallehrer und ein bekannt scharfer Prüfer.«

Ein fast unmerklicher Schimmer angstvollen Trotzes, vermengt mit humorig selbstbewußter Abweisung, huschte über die Züge des jungen Mannes: »Da werden Sie leider bei mir kein Glück haben, denn im strengsten Vertrauen ,… ich lasse mich nicht gerne prüfen.«

»Keiner tut's gerne, keiner ,…« ,– die Prüfungsangst gab dem Lachen des Zacharias neue Nahrung ,–, »wahrhaftig keiner ,… trotzdem oder ebendarum habe ich Sie nach den Gründen zu fragen, durch die Sie zum Besuch der Anti-Einstein-Versammlung veranlaßt worden sind.«

Der junge Mann schien amüsiert: »Das werden Sie bei einem Glas Wein vielleicht aus mir herauskriegen, anders aber sicher nicht ,… ich habe einen Mordsdurst ,… Sie halten doch mit?« Und ohne weiter viel zu fragen, übernahm er die Führung.

In der Nähe gab's eine Weinstube, einesteils für stillen Suff, andernteils für Liebespaare eingerichtet, da das schmale Lokal seiner ganzen Länge nach in eine Reihe enger Logen verwandelt worden war, deren Eingänge, zwecks Ausschaltung der Außenwelt, sich gegen diese vermittels pseudo-orientalischer Vorhänge abschließen ließen, dennoch für die Liebe ungeeignet, da jede dieser Logen außer dem Tisch bloß zwei schmale harte Bänkchen enthielt. In einer solchen Sauf-Kabine nahmen Zacharias und der junge Mann Platz, und letzterer, eine teure Burgundermarke bestellend, benahm sich überhaupt wie ein Gastgeber.

Kellerverstaubt in seiner Korbwiege gebracht, ordnungsgemäß vorgezeigt und sodann entkorkt, war das Getränk, ein wahrhaft edles Getränk ölig in die Gläser geflossen, und mit dem Zögern des Kenners, der noch den letzten Rest durstigen Vorgenusses auskosten will, betrachtete der junge Mann das schwere Rot in dem zur Augenhöhe geführten Glas, während Zacharias das seine sofort ansetzte und »Prost« sagte.

»Prost«, erwiderte der junge Mann und ließ den ersten Schluck im Munde zergehen.

Zacharias schmeckte nun gleichfalls den Wein: »Feiner Stoff; von dem haben wir den Franzleuten, da wir ihnen im Lande standen, eine Menge weggetrunken.«

»So ,… Sie waren also in Frankreich.«

»Zu Befehl, da war ich ,… hab's zum Oberleutnant und zum Eisernen Kreuz gebracht ,… von dem Schuß ins Bein, mit dem ich mir das erworben habe, hinke ich ja noch immer ein bißchen, spür's auch bei Witterungsumschlägen ,… und Sie, waren Sie in Frankreich oder in Rußland?«

»Weder ,– noch; ich war in Afrika.«

»Aha. Lettow-Vorbeck.«

»Nein, ich bin Holländer.«

»Oh, ein Neutraler ,… den Belgiern ist ihre sogenannte Neutralität schlecht bekommen; der Mensch muß wissen wo er hingehört, rechts oder links.«

»Stimmt«, nickte der junge Mann, »zur Strafe dafür haben wir jetzt Ihren Kaiser.«

Auf derlei Neutralitätswitzchen einzugehen war eines deutschen Mannes unwürdig: »Links oder rechts; manche sind für Einstein, manche gegen ihn, und auch da gibt's keine Neutralität ,… warum sind Sie in die Versammlung gekommen?«

»Und Sie sind gegen ihn? Zumindest gaben mir Ihre Ausführungen diesen Eindruck.«

Warum konnte der Mensch nicht auf eine klipp und klare Frage eine ebenso klipp und klare Antwort geben? Zacharias war daran, ihm eine scharfe wohlverdiente Rüge zu erteilen, doch da er lobhungrig war, bezähmte er sich, auf nachträglichen Beifall hoffend: »Meine Ansichten waren einleuchtend genug, und ich nehme an, daß Sie ihnen beipflichten.«

»Nein«, sagte der junge Mann, »keineswegs.«

Mit einer bei groben Verstößen in der Schule ihm gewohnten Bewegung nahm Zacharias die Brille ab und starrte in zwinkender Kurzsichtigkeit sein Gegenüber an: »Wiederholen Sie.«

»Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden, weil dem Schüler neue wissenschaftliche Errungenschaften nicht verheimlicht werden dürfen; das ist alles ,… prost auf die Relativität; sie läßt sich nicht totschweigen, und so möge sie hochleben ,… prost!«

»Habe ich je von Totschweigen gesprochen?« entgegnete Zacharias mit scharfer Strenge, »es mangelt Ihnen an Aufmerksamkeit ,… habe ich nicht ausdrücklich betont, daß ich mich lediglich gegen das Modische, nicht jedoch gegen den Fortschritt wende? Kühnlich darf ich behaupten, daß ich ein Mann des Fortschritts bin. Ich bin Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, und die steht geschlossen hinter der Relativitätstheorie. Aber das unentwickelte Begriffsvermögen des Schülers darf durch den Fortschritt nicht verwirrt werden. Haben Sie jetzt verstanden?«

»Jawohl, politisch sind Sie für Einstein, und wissenschaftlich sind Sie gegen ihn. Und im allgemeinen gefällt er Ihnen überhaupt sehr wenig.«

Ein verstockter Schüler, dachte Zacharias, und mit heimtückischer Milde fragte er: »In Ihren Kreisen ist es wohl üblich, die Segnungen des Fortschritts zu bestreiten?«

»Ich weiß nicht, auf welche Kreise Sie anspielen, lieber Freund; aber ich selber, sagen Sie's nicht weiter, ich denke am liebsten über den Fortschritt nicht nach.«

»Das ist Gedankenfaulheit.«

»Getroffen. Was das Schicksal mir beschert, nehme ich hin, sogar den Fortschritt und seine Segnungen. Und da ich mich gegen das Schicksal nicht wehren kann, trachte ich, mich daran zu erfreuen. Niemand kann den Fortschritt aufhalten. Also müssen wir ihn fördern.«

Mißtrauisch sah Zacharias ihn an: »Hören Sie, ich habe noch jeden erwischt, der sich aus mir einen Narren machen will.«

»Weil ich schicksalsgläubig bin? Weil ich die unabwendbaren Segnungen des Fortschritts ohne Murren auf mich nehme, ja sie sogar zu fördern gewillt bin?«

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Zacharias grob. Er hatte den schweren Wein zu rasch getrunken und befand sich in jenem Stadium, in dem der Alkohol den Menschen streitsüchtig macht.

»Ach«, sagte der junge Mann traurig, »es gelingt uns ja nie, Unsinn zu reden.«

»Also, das ist wiederum ein Unsinn«, belehrte ihn Zacharias, »Sie können offenbar nicht ermessen, was für einen Unsinn Sie da von sich geben.« Und da der solcherart Abgekanzelte nicht widersprach, setzte er fort: »Oder halten Sie für sinnvoll, die Relativitätstheorie ein unabwendbares Übel zu nennen?«

»Einen unabwendbaren Segen.«

»Nun machen Sie gefälligts Schluß mit dem Geschwätz. Was soll das heißen?«

Der junge Mann entgegnete höflich:

»Der Segen der fortschreitenden Erkenntnis wird durch Leiden erkauft.«

»Das sind leere Worte. Sie müssen lernen, sich präziser auszudrücken.«

»Nein«, sagte der junge Mann, »wenn ich trinke, kann ich nicht präzise sein.«

»Schön, daß Sie es selber zugeben«, triumphierte Zacharias. Doch der Triumph hielt nicht lange vor, denn der andere ergänzte:

»Alle Präzision bringt Unglück.«

»Das wird mir zu bunt; ich werde das Gespräch abbrechen ,…«

»Augenblick ,…«, sagte der junge Mann, welcher entdeckt hatte, daß die Flasche geleert war, und er rief nach der Kellnerin, um eine zweite zu bestellen. Dann wandte er sich wieder an Zacharias: »Wie bitte?«

»Erläutern Sie das Gesagte an einem konkreten Beispiel.«

»Daß ich eine zweite Flasche bestellt habe? Das ist ohnehin konkret.«

»Himmelherrgott, das Gefasel von der Präzision und dem Unglück, das sie bringen soll.«

»Ach so. Die Deutschen sind das präziseste Volk Europas, und sie haben infolgedessen über sich selbst wie über Europa alles Unglück gebracht.«

»Da haben wir's«, fuhr Zacharias' aufgespeicherte Streitlust los und ging in Angriff über, »da haben wir die Feindschaft der Neutralen gegen Deutschland, das ihnen als Unglücksbringer erscheint, weil es ihren Krämergeist, ihren Geldgeist bedroht ,… sind Sie wirklich so unbelehrbar?«

»Oh ja, sicherlich«, sagte der junge Mann, »außerdem sehe ich nicht, was ich lernen soll.«

»Ich hab's satt«, fauchte ihm Zacharias ins Gesicht, »aber bevor ich gehe, sollen Sie es wissen, was Sie mitsamt Ihren Neutralen, ja was die ganze Welt, was Sie alle zu lernen haben werden.« Er nahm einen tüchtigen Schluck, und mit einem geringschätzigen Blick auf den jungen Mann legte er los:

»Um, wie es sich gehört, mit einem konkreten Beispiel zu beginnen, habe ich Ihnen in meiner Eigenschaft als Lehrer und Schulmann, doch auch als wohlmeinender Freund den Vorwurf widerlicher Heuchelei zu machen; Sie glauben, weil Sie eine gefüllte Brieftasche haben und einen teuren Wein auffahren lassen, sich aus mir einen Narren machen zu können, und Sie stellen das mit windigen und feigen Ausflüchten in Abrede. Das ist die nämliche, ebenso überhebliche wie moralheuchlerische Haltung, die uns Deutschen seit altersher aufgetischt wird, da ganz Europa sie uns gegenüber eingenommen hat. Nun, wir haben es Europa gezeigt. Ich habe in Laon und Soissons genau den gleichen Wein getrunken, und ich habe ihn aus eigener Tasche bezahlt«, ,– er lachte kurz auf ,–, »allerdings mit Requisitionsfranken. natürlich haben die Franzosen das Requisitionsgeld nicht gemocht und uns selber noch viel weniger. Aber da sie uns den Wein nicht haben schenken wollen, haben sie das Geld wohl oder übel nehmen müssen, und uns haben sie erst recht nehmen müssen. Wir freilich, wir haben sie auch nicht gemocht, obwohl wir sie irgendwie trotzdem gern gehabt haben. Wir haben nur nicht dulden dürfen, daß sie gegen uns aufmucken. Dazu waren sie zu klein und zu schwarz und zu verschnattert; mit leerem Geschwätz darf man uns nicht kommen ,… ich bitte, das zur Notiz zu nehmen. Und seitdem der Amerikaner in seiner Dummheit ihnen zur Hilfe geeilt ist, und sie sich infolgedessen als Sieger aufspielen, sind sie uns doppelt zuwider. Wir dulden keine Heuchelei, und sie heucheln sich etwas vor, was sie eben nicht sind. Ist es ja mit den Juden auch nicht anders; wir hätten sie ganz gerne, wenn sie nicht groß und blond daherstolzierten und sich Gott weiß was dünkten. Wir mögen auch nicht, daß sie in ihrem Großgetue sich mit der Neugestaltung unseres physikalischen Weltbildes befassen und uns mit voreiligen, ungesicherten und darum eitlen Resultaten behelligen; es ist unser Weltbild, und wenn wir es umgestaltet haben wollen, so werden wir uns den Umbau besser und solider als sie besorgen, und ohne viel Aufhebens davon zu machen. Das ist unsere Präzision, die Präzision der deutschen Wissenschaft; wir treffen's allein und, keine Sorge, ohne ihre Hilfe. Dem Schüler steht's nicht zu, den Lehrmeister zu lehren, und wenn's ihn in Großmannssucht, Heuchelei und Anmaßung dennoch dazu treibt, so hat er die Folgen zu tragen. Wir sind ein Volk von Lehrmeistern, von Weltenlehrmeistern, und kein Wunder ist's, daß die anderen, gleich schlechten Schülern, unsere präzise Strenge oft für Ungerechtigkeit halten und dagegen aufmucken. Sind wir uns doch manchmal selber dunkel, so daß wir uns als ungerecht und schlecht empfinden und ins Zögern geraten, zurückschreckend vor unserer Härte und ihrer Anwendung. Aber wir können sie uns nicht ersparen; immer müssen wir durch die Ungerechtigkeit hindurch, um zur Gerechtigkeit, zur Weltgerechtigkeit zu gelangen, immer müssen wir ins Schlechte versinken, um uns wie die anderen in den Stand höherer Vollkommenheit zu bringen, und immer hat sich in unseren Händen, zu unserer eigenen Überraschung, hinterher die Ungerechtigkeit in Gerechtigkeit verwandelt. Denn wir sind das Volk der Unendlichkeit und ebendarum das des Todes, während die anderen im Endlichen verblieben sind, im Krämergeist, im Geldgeist, verhaftet der Meßbarkeit, weil sie bloß das Leben und nicht den Tod kennen wollen und daher, mögen sie scheinbar noch so leicht und so weit über sich hinaus holen, sich außerstande erweisen, das Endliche zu durchbrechen. Wir haben zu ihrem Heil die Strafe der todschwangeren Unendlichkeit an ihnen zu vollziehen. Fürwahr ein gewaltiger, fürwahr ein harter Unterricht! Schwierig ist es, ihm zu folgen, noch schwieriger ist es, ihn zu erteilen, um so schwieriger als uns, den Lehrern, nicht nur die Würde des Richters, sondern auch die Unwürde des Scharfrichters auferlegt worden ist. Im Unendlichen nämlich besteht alles zugleich, Würde und Unwürde, Heiliges und Heilsbedürftiges, Wohlwollen und Übelwollen, und das ist der Gnadenfluch, der uns auferlegt ist, die Doppelrolle, in der wir uns selber wie den anderen unheimlich werden; jeder Schuß, den wir gegen sie zu richten gezwungen sind, trifft auch unser eigenes Herz, jede Züchtigung, die wir jenen zu verabfolgen haben, ist auch unsere eigene Züchtigung. Ein Gnadenfluch ist unser Weltenlehramt, und trotzdem haben wir es auf uns genommen, um der Wahrhaftigkeit willen, die in der Unendlichkeit und eben deshalb in uns ruht: als Deutsche haben wir es auf uns genommen und haben es nicht verworfen, eingedenk dessen, daß wir die einzigen sind, denen Heuchelei fremd ist.«

Er war aufgestanden, und mit unsicherer Hand leerte er den Rest der Flasche in die beiden Gläser, trank das seine mit einem Zug zur Neige und sagte: »Jetzt gehe ich.«

»Warum?« fragte der junge Mann.

»Das könnte das Gesagte Ihnen wohl klargemacht haben.«

»Nein«, sagte der junge Mann, »ich will noch trinken.«

Das schien dem Studienrat Zacharias fast einleuchtender als seine eigene Rede, und er überlegte scharf, ob er sich wieder hinsetzen sollte. Schließlich entschied er:

»Nichtsdestoweniger, ich gehe.«

»Wohin?« fragte der junge Mann nicht ohne Interesse.

Und das gab Anstoß zu einer zweiten bedeutsamen Rede des Studienrates Zacharias:

»An Ihrem Gesicht lese ich lüsterne Vermutungen. Sie meinen, daß ich mich nun stracks zu einer jener Frauenspersonen begeben würde, die als Huren zu bezeichnen ich nicht anstehe. Nein, das werde ich nicht tun. Und mitnichten lasse ich mich hievon lediglich durch die Furcht abhalten, ich könnte auf solchem Wege einem oder mehrere Schüler der oberen Klassen begegnen, die sodann in häßlicher Rachsucht gegen den strengen Prüfer meine Karriere und mein Familienleben für immer ruinieren könnten. Ich sage mitnichten, denn ich habe, von Dunkelheit getrieben, solche Furcht schon etliche Male überwunden. Und fast wäre es klüger, sie auch heute zu überwinden. Wenn ich nämlich, wie es mein Wunsch ist, zu meinem treuen Weib Philippine heimwärts eile, so könnte meine leichte Betrunkenheit unschwer den Anlaß zu einem vierten Kinde geben, woraus Sie ersehen mögen, daß wir bereits deren drei haben. Trotzdem, so offenkundig es ist, daß die Furcht vor diesem für uns unerschwinglichen vierten Kind größer ist als jene, welche mir in einer Begegnung mit den Schülern der oberen Klassen dräut, es ist nicht nur die Unerschwinglichkeit des Kindes, nicht nur unsere trübe Inflationssituation, die ja vielleicht noch überwunden werden mag, die mich davor zurückschrecken läßt. Fern sei es von mir, finanzielle Unsicherheit zu unterschätzen, hier aber liegt die Unsicherheit tiefer, und sie ist, soferne ich recht bin, die des Unendlichen, in dem wir Deutsche leben, so daß uns jegliche Paarung ins Dunkle der Unendlichkeit stürzt. Ich sage absichtlich Paarung, verwende absichtlich nicht das Wort Liebe; andere Völker mögen noch von Liebe reden, wir nicht mehr. Gerade weil wir, mein gutes Weib und ich, einstmals des Unendlichen in unserer Umarmung teilhaftig geworden sind, oder gemeinverständlich ausgedrückt, weil mein Wissen bei dieser Gelegenheit bis zu den fernsten Sonnen drang, so daß unser Kuß im All zu schweben schien, gerade weil dem so war, wage ich aus dem Sachverhalt den Schluß zu ziehen, daß damals weder ich für sie, noch sie für mich vorhanden war, sondern daß wir beide ausgelöscht waren, jedes für sich selber und erst recht füreinander, ausgelöscht in etwas, das größer war als unser eigenes Sein, größer als jedwede Liebe, unendlich größer als die Menschenperson, um die es in der Liebe geht, und ohne die sie nicht bestehen kann. Wußte sie noch um mein Gesicht, ich um das ihre? Nein; nicht einmal unsere Körper hatten, wie ich füglich behaupten darf, da noch ein Wissen voneinander. Ausgelöschtheit ist Dunkelheit, ist unendliche Dunkelheit. Gewiß strebt der Mensch, und besonders wohl der unendlichkeits-verfallene, stets nach solcher Unendlichkeit und nach dem Dunkel, das seine Seele entseelt und seinen Leib entleibt, und nicht nur ist er bereit sich einzureden, daß die Dunkelheitssehnsucht Liebe sei, nein, er ist auch, traue ich meiner eigenen Erfahrung, sogar bereit, mit dem Entseelen und Entleiben wirklich ernst zu machen und Selbstmord zu verüben, um damit die Unendlichkeit seiner Liebe zu besiegeln, doch in Wahrheit besiegelt er damit bloß seine Verzweiflung an ihr; er bringt sich um, auf daß die Heuchelei, mit der er sich Liebe vorgelogen hat, nicht zum Vorschein komme, oder wenn Sie eine etwas paradoxere Fassung vorziehen, auf daß die Dunkelheit die Heuchelei nicht ans Licht bringe, und auf daß er der Scham entgehe, welche die Heuchelei, wie mich schier bedünken will, unausweichlich in ihm zurückläßt. Auch wir, meine Philippine und ich, haben uns dessen, was uns einstens widerfahren ist, so sehr geschämt, daß wir es niemals mehr erwähnt haben, um so weniger als die Frucht unserer verzückten Auslöschung, unsere älteste Tochter, die wir zu Ehren des Monarchen Wilhelmina genannt haben, mit etwas ausgelöschtem Geist dahinlebt und, unwohlwollend betrachtet, zur Blödigkeit hinneigt. Und wäre ich nicht leicht betrunken, nebenbei mit aller Betonung des Epithetons leicht, ich würde mich all dessen auch hier nicht so schamlos genau erinnern, geschweige denn so öffentlich brüsten, vielmehr mich schweigend zu meiner Philippine aufmachen, die treu und geduldig meiner harrt und auch meine leichte Betrunkenheit nicht in Unmut beanstanden wird, da sie ja seit langem gelernt hat, daß ich politische und wissenschaftliche Veranstaltungen zu besuchen habe; ach, sie würde mich aufnehmen gleichwie ein Straßenmädchen ihren Besucher empfängt, und ich würde sie nehmen wie eine, zu der ich hinaufgeh, ach, so würden wir es tun, einfach weil es einstens größer war als wir selber und jetzt kleiner als wir ist, ohne je Liebe gewesen zu sein. Ach, wir Deutsche vermögen nicht zu heucheln, und wenn wir Liebe wollen, wird's Selbstmord und Mord, in allem und jedem wird's Selbstmord und Mord, und wenn wir uns dazu nicht entschließen, so bleibt uns nichts als das Unendlichkeitsdunkel, nichts als die Unendlichkeitsunsicherheit, nichts als die Unendlichkeitsscham. Oh, traurig, so traurig ,…«

Traurigkeitsübermannt, traurigkeitsgreinend und ob der Traurigkeit unentwegt weiter greinend, sank er auf das Bänkchen nieder, und sein Greinen wurde zum hellen Schluchzen, da seine zitternde Hand die Flasche leer fand. Doch da sein Partner, vom Mitgefühl geleitet, das Betrunkene füreinander haben, ihm sanft-tröstend die Schulter streichelte, fuhr er ihn an: »Unaufmerksamkeit hat schon manchen Schüler in ein frühes Grab gebracht. Da ,… das leere Nichts.« Und zum Beweis hob er die Flasche hoch.

Jählings, mit gleichbleibender Vehemenz und ohne jeden Übergang verwandelte sich die Traurigkeit zur Freude: wie hingezaubert standen zwei wiedergefüllte Gläser auf dem Tisch, und ob der Überraschung mußten sie beide von Herzen lachen, denn sie hatten beide nicht bemerkt, daß die Kellnerin raschen Blicks sein Herumfuchteln mit der Leerflasche als Signal für deren Auswechslung benützt hatte, und Zacharias nickte: »Gehorsam auf einen Wink; so soll es sein ,… es wird sich auch in Ihrem Zeugnis günstig auswirken.«

»Halt«, sagte der junge Mann mit trinktechnisch fachlicher Bestimmtheit, »bevor Sie weitersaufen, werden Sie vorerst etwas essen, und zwar kräftig; sonst kommen wir von hier nicht mehr auf eigenen Beinen weg.« Und er bestellte Würste mit Sauerkraut, Schwarzbrot und Schweizer Käse. Zacharias war's zufrieden; er hielt sein Glas mit beiden Händen umfangen, trank aber nicht, sondern wartete folgsam aufs Essen.

Als jedoch das Essen aufgetragen worden war, erhob er sich, und seine zitternden Beine bezwingend, ja sogar um militärische Haltung bemüht, vollführte er, das Glas in seiner linken Hand, eine tunlichst korrekte Verbeugung: »Zacharias, Studienrat«, stellte er sich vor, »auf du und du.« Der junge Mann, nun gleichfalls aufgestanden, ergriff mit kräftigem Schütteln die ihm entgegengestreckte Rechte: »Sehr wohl, auf du und du.« Und nachdem sie miteinander angestoßen hatten, hakten sie Arm in Arm, um in dieser Stellung ihre Gläser ex zu trinken. Dann allerdings, als sie einander wieder gegenübersaßen, bemängelte Zacharias: »Und dein Name?« Der junge Mann legte geheimnisheischend den Finger an die Lippen: »Pst, nicht prüfen, habe ich dir gesagt: nicht einmal meinen Namen lasse ich mir entprüfen.« Zacharias wurde darob aufs neue sehr traurig: »Ich aber habe dir den meinen genannt ,… wo bleibt da die Gerechtigkeit?« ,– »Du bist Z. und ich bin A.; als Brüder, wie wir es sind, haben wir alle Namen, jawohl, alle von A bis Z gemeinsam zu eigen.« Das gefiel dem Zacharias ausnehmend, gefiel auch dem mathematischen Studienrat in ihm, und er lachte vor sich hin: »Alle Namen von A bis Z.« ,– »Na schön«, sagte der junge Mann und hob fröhlich das Glas, »auf unsere Namen und dazu ein Prost auf die Liebe, welche keine Namen kennt!« Zacharias schüttelte den Kopf: »Liebe? nein, die gibt es nicht.« ,– »Also worauf?« Das war eine unverhältnismäßig schwierige Frage, und Zacharias mußte angestrengt nachdenken, ehe er die richtige Antwort fand: »Auf die Brüderlichkeit.« ,– »Die gibt's?« ,– »Die wird es geben.« Also stießen sie auf die Brüderlichkeit an, und daraufhin begann Zacharias seine Würste zu essen, jeden Bissen heugabelartig mit herunterhängendem Kraut bepackt und reichlich mit Wein nachgespült.

»Trink deinen Wein zum Käse«, meinte A., »nicht zum Kraut; dazu ist er zu edel.«

»Richtig«, bestätigte Zacharias, »Wein und Käse, so hatten wir's in Frankreich. Aber jetzt sind wir in Deutschland.«

»Die Regeln für Essen und Trinken sind an keine Landesgrenze gebunden; sie sind international, und mit ihnen fängt die Weltbrüderlichkeit an.«

Zacharias schmunzelte überlegen: »International ist undeutsch; Brüderlichkeit ist deutsch.«

»Ich glaubte, du seist Sozialdemokrat.«

»Bin ich auch, gesinnungstreuer deutscher Sozialdemokrat.«

»Also mußt du international gesinnt sein.«

»Bin ich auch, von gutem Schrot und Korn gesinnungstreu international, das bin ich. Aber wir Deutschen werden die Internationale zu führen haben; nicht die Russen werden's tun und schon gar nicht die Franzosen, von den andern ganz zu schweigen. In der Brüderlichkeit liegt die demokratische Internationalität, nicht in einem windigen Völkerbund, und unsere Aufgabe ist es, dies der Welt, vor allem den angeblich siegreichen Westdemokratien einzubläuen.«

»Fragt sich nur, ob sie sich's gefallen lassen werden.«

Zacharias schnitt eine höhnische Fratze: »Die Sieger sind die Geschlagenen, und die Nicht-Sieger bestimmen den Lauf der Welt, bestimmen ihre Gestalt und die ihrer Demokratie ,… sind's nicht wir, so werden's die Russen besorgen.«

»Als Demokraten?«

»Wie man's nimmt. Ebendarum müssen wir uns beeilen. Bei den Westmächten wird bloß geschwätzt, scheinbar demokratisch geschwätzt, um ihre Geschäfte zu bemänteln. Deswegen machen sie auch so viel Lärm mit dem Einstein. Leeren Lärm. In Wahrheit geht's ihnen nur um ihre Geschäfte, und gerade das werden wir ihnen austreiben.«

»Zu schön, um wahr zu sein.«

Was war das für ein Einwand? Zacharias tat seine Mißbilligung alsofort kund: »Du bist ja auch nur so ein Neutraler, auch nur so ein Krämer, und auch du wirst staunen, wie wir's schaffen werden, wir, die deutschen Sozialdemokraten und mit uns das ganze deutsche Volk. Den General v. Seeckt haben wir an die Spitze unserer Reichswehr berufen.«

»Einverstanden«, sagte A., »wir wollen unter Beiseitelassung jeglicher Relativitätstheorie auf die Weltbrüderlichkeit zusteuern ,… ist's so richtig?«

»Ja.« Zacharias war mit Wurst und Kraut fertig geworden, hatte den Teller säuberlich mit Brot ausgewischt und schnitt sich nun Käsewürfel; befriedigt äußerte er: »Jetzt bin ich nicht mehr betrunken; wir können noch eine Flasche bestellen.«

»Das wollen wir gerne tun. Doch damit das nun wiedererreichte Wohlbefinden anhalte, bitte ich um die Erlaubnis, austreten zu dürfen.«

»Ein wohlüberlegter Vorschlag«, stimmte Zacharias zu, »und wir wollen ihn gemeinsam befolgen; ich komme mit.«

Also begaben sie sich selbzweit zu der im Hintergrund des Lokals befindlichen Herrentoilette. Und hierorts, vor der Urinalmauer stehend, wurde Zacharias mit einem Male in erhabenere Sphären entrückt, in Sphären, die der Mensch, oder präziser gesagt der Mann, sonderbarerweise mit seinem treuen, ihm in Liebe verbundenen vierbeinigen Freund, dem Hund, gemein hat: an der Baum- und Steinverehrung sind des Menschen erste Rituale entstanden, und noch heute fügt er feierliche, runenbedeckte Ecksteine in seine Prunkbauten ein; noch heute kann er nicht umhin, die Runen seiner Liebe in die Rinde der Waldbäume einzuschneiden ,–, gelten nicht auch dem Hund Baum und Stein und gar wenn es sich um Ecksteine handelt, als etwas Heiliges? Ist das Geschäft der Blasenerleichterung, zu dem er, im Gegensatz zu allen anderen Tieren, wahrlich nur er Baum und Eckstein benötigt, nicht immer auch Vorspiel zu einem höheren Ritual, zu einem Besprengungsritual, das mit der Liebe aufs engste verschwistert ist? Da wie dort sind es Erneuerungsrituale, und mögen sie beim Hund noch sehr primitiv sein, so daß hier das unheilige und das heilige Bedürfnis noch ununterscheidbar und sogar wortwörtlich in eins zusammenfließen, es ist deren beider seltsame Verbindung selbst noch beim Menschen vorhanden, da in bemerkenswerter Verwandtschaft zwischen menschlicher und hundlicher Konstitution, zwischen menschlicher und hundlicher Psyche er gleichfalls seit Urzeiten Baum und Mauer sowohl für sein unheiliges wie für sein heiliges Geschäft benötigt, ja von jenem schier unabweislich zu diesem angeregt wird. Das bezeugte auch deutlich das Gemäuer, auf das Zacharias während seines unheiligen leiblichen Tuns die Augen geheftet hielt, die lakonisch erhabene Ausdruckskraft des Menschen bewundernd, und selber Mensch in der Menschengemeinschaft, zog er alsbald einen Bleistift aus der Westentasche und malte, nachdem er einen freien Platz zwischen den andern mehr oder minder imperativen, mehr oder minder unzüchtigen, mehr oder minder symbolischen Runeninschriften und -zeichnungen gewählt hatte, ein schönes Herz an die Wand, in das er die sinnreich verflochtenen Buchstaben A und Z einsetzte. Der junge Mann, der dem Vorgang große Aufmerksamkeit hatte angedeihen lassen, belobte ihn.

Hinterher saßen sie vor ihrer vierten Flasche. Die Kellnerin hatte einige Zigarrenkistchen zur Auswahl hingestellt, und Zacharias, der wegen der stickigen Hitze nunmehr die Weste geöffnet und die Krawatte gelockert hatte, putzte umständlich die Brille, um das richtige Siestakraut herauszusuchen. Es gelang ihm. Er beroch das Stück, ließ zwecks Einverständnis auch seinen Partner daran riechen, und nachdem noch ein zweites ähnlicher Farbe und ähnlichen Geruches gefunden worden war, versteckte er beide Zigarren unter der Serviette und fragte listig: »Also, links oder rechts?« ,– »Links«, sagte A. Und Zacharias erwiderte triumphierend: »Falsch! Ich bin der Mann der Linken, und du bleibst rechts; ich krieg den linken, du den rechten Glimmstengel.« Dem jungen Mann wurde solcherart das Stück rechts eingehändigt, und sie freuten sich des geglückten politischen Witzes. Sprechfaul geworden, nur noch mit dem Aufglimmen der Zigarren beschäftigt, saßen sie ruhig, schlürften den edlen Stoff in sich hinein, taten es mit kleinen, genießerisch zungenschlagenden, ihn nochmals nachkostenden und gewissermaßen von ihm Abschied nehmenden Schlückchen, und sie taten es eher zögernd, da es nun wirklich die letzte Flasche sein sollte.

Und scheinbar ohne hierzu von außen provoziert worden zu sein, jedoch wahrscheinlich in Erinnerung an den stark-scharfen Uringeruch, der seit dem Toilettenbesuch, wenn auch nur spurenweise, in der Nase haften geblieben war, sich sogar gegen das Gebeiz der Tabakschwaden behauptend, als sei er ihnen eine unbedingt notwendige Beimengung, in diesem ekeldurchwürzten Tabaksqualm hob der Studienrat Zacharias zu seiner dritten Rede an, bedächtig-ruhig zuerst, dann mit dem nochmals aufkeimenden Wiedererwachen der Betrunkenheit immer mehr sich steigernd:

»Mit der Brüderlichkeit nämlich verhält es sich so, daß sie der Liebe gleicht und doch nicht gleicht. Sie gleicht der Liebe, da sie wie diese zur Auslöschung des Menschen hinstrebt. Während aber die Liebe sich in der Auslöschung, zu der sie hinstrebt, selber auslöscht, also ihre Nicht-Existenz erweist und beweist, beginnt die Existenz der Brüderlichkeit eigentlich erst in der Auslöschung. Denn in der Liebe wird mit der Auslöschung und mit dem Tod, in dem die Auslöschung gipfeln soll, bloß gespielt, und es kann bloß gespielt werden, weil der schöne Doppelselbstmord, von dem die Liebe träumt, unweigerlich ein Mord an dem soeben gezeugten und empfangenen Kinde wäre. In Wahrheit fürchten die Liebenden den Tod, und ihre Lust ist der Nicht-Tod, ist die Überwindung des Todes, ist die Überwindung des Todesekels. Traun, ich nenne es ein unverantwortliches Todesspiel, das die Liebenden da aufführen, ein Spiel zur Erhöhung der Lust, ein Spiel der Ekel-Überwindung, von der alle Lust herstammt, ein Spiel des Auslöschens in Tierhaftigkeit und Allhaftigkeit, da weder in der Tierheit noch in der Allheit der Ekel Raum hat. Aber der Tod läßt sich durch kein Spiel betrügen, und ihnen das Spiel abbrechend, schleudert er die Liebenden aus der gespielten Erlöschung zurück ins Nüchterne, in die Hölle der erloschenen Lust, in die Hölle des Ekels. Mit doppelter und dreifacher Ekelpein werden die Liebenden, oder korrekter die Liebesgewillten, bestraft, und sie belauern einander nach dem Geruch des Todes, nach dem Geruch ihres todzustrebenden Alterns, nach dem Geruch ihrer Münder und ihrer in ihnen beginnenden Verwesung; es ist die Höllenzüchtigung durch den zu doppelter und dreifacher Stärke wiederhervorgebrochenen Tod, und unter ihrer Fuchtel wird der Mensch unsicher, wird im Diesseitigen wie im Jenseitigen so unsicher, daß er, der Spiel-Enttäuschte, an allem und jedem zu zweifeln beginnt, nicht zuletzt an den Namen der Dinge, also gezwungen ist, sich ihnen mit stets neuen Konstruktionen und Theorien zu nähern, und schließlich auch dies angeekelt aufgeben muß, nicht von der Lust, sondern von Selbsthaß und Selbstekel getötet. Das ist die Nicht-Existenz der Liebe, ist deren spielerischer Zweisamkeitstraum vom Liebestod und vom Selbstmordwunder, ist ihr Spiel von der falschen Ausgelöschtheit! Anders jedoch die Brüderlichkeit! Im Gegensatz zu den zwei armseligen Wesen, die ihren Geschlechtsunterschied zur Über-Lust ausnützen und emporträumen wollen, ist sie der Traum der großen Männergemeinschaft, ist sie der hohe, kraft der Vielheit Wirklichkeitsgroß gewordene Ur-Traum, der Menschentraum, der die Wirklichkeit immer wieder erreicht, da er sich sie Untertan macht. Die Brüderlichkeit will nicht durch eine Schein-Auslöschung den Tod und den Todesekel hinwegschwindeln, nein, um der echten Auslöschung willen nimmt sie Tod und Ekel mutig auf sich. Mögen die Frauen daheim das empfangene Kind austragen, die Männer tragen den Tod aus und werden von ihm getragen, ausgelöscht in der Vielheit, die das Echo des Unendlichen ist, das All-Echo. Wo aber mag solche Brüderlichkeit heute zu finden sein? Nun, antworten Sie mir; ich erwarte Ihre Antwort! Ist keiner zur Antwort imstande? Da muß ich selber die Antwort erteilen und Sie auf die Institution der modernen Armee hinweisen, die heute, wobei ich vor allem die deutsche Armee im Auge habe, der vorzügliche und vielleicht der einzige Ort der wahren Männergemeinschaft und der wahren Brüderlichkeit ist. Können Sie sich aber eine solche Gemeinschaft vorstellen, die nicht von einer strengen Innovation abhinge? Abtötung jeglicher Auflehnung ist die erste Vorbedingung, und dazu gehört neben der Schmerzabtötung auch die der Ekelgefühle. Endet die Liebe im Ekel, so beginnt die Brüderlichkeit im Ekel und mit dem Ekel. Und gerade die der Armee tut dies. Sie beginnt mit dem Gestank, beginnt mit dem Gestank der Kasernen und ihrer Aborte, mit dem Gestank der marschierenden Kolonnen, mit dem Gestank der Spitäler, mit dem Gestank des allgegenwärtigen Todes. Die Lust verzeiht nichts; die Brüderlichkeit verzeiht von vorneherein, und kein noch so stinkender Furz vermag der Kameradschaft etwas anzuhaben. Vom Ekel gezüchtigt, zur Ekelüberwindung angehalten, solcherart wird der Rekrut, ehe er es noch merkt, auf den Weg der Selbstüberwindung und der Selbstauslöschung gebracht, und bald ist er daran, die Angst vor dem Verwesungsgeruch und damit die vor dem Tode von sich abzutun. Er wird zur vollen Selbstaufopferung bereit. Instrument des Todes ist die Armee, und wer in sie eintritt, ist im Augenblick seines Eintritts entseelt, ledig seiner Einzelseele, dennoch beseligt, da sein Leib, eingereiht in die unendliche Reihe der Leiber, furchtlos wird, wenn es ihn entleibt. Hier hebt die wahre Auslöschung an, nicht jene Spiel-Auslöschung in windiger Unendlichkeit, die das Ziel, das Schein-Spiel der Liebe ist, sondern es hebt hier die Auslöschung in der Ganzheit an, die nicht im Jenseitigen, sondern im Diesseitigen ruht und trotzdem in ihrer Größe dem Unendlichen gleichkommt, ja wie dieses zur Ewigkeit bestimmt ist. Hier steht alles fest, und je schwerer die Züchtigung ist, die der Novize anfangs auf sich genommen hat, je tiefer er im Ekel angefangen hat, desto sicherer wird ihm die Ganzheit, in die er, als wäre sie das All, ekelbefreit und furchtbefreit zu verlöschen bestimmt ist. Widerspruchslos empfängt er seine Befehle von der Ganzheit, und der Befehl verbürgt ihm die Sicherheit des Wortes, der Dinge und der Namen, so daß die Wirklichkeit nicht mehr angezweifelt zu werden braucht, ledig aller unnützen Theoreme und alles Schwankens, das todzugekehrte Leben der Ganzheit, rückgestrahlt als Brüderlichkeit in das Leben des einzelnen, seine Auslöschung und sein Glück. Und eben das wollen wir als deutsche Brüderlichkeit definieren.«

Zu den letzten Sätzen hatte Zacharias sich erhoben, und gleichsam vom Katheder herab dozierend, ließ er seine Fingerknöchel die Worte auf der Tischplatte skandieren. Als er fertig war, schien er nicht zu begreifen, daß er bloß seinen Partner und nicht eine ganze Klasse vor sich hatte; er stierte ihn, der glanzlos und betroffen zurückstierte, mit leeren Blicken an, und da ihm nicht ganz klar war, wer von ihnen saß und wer stand, befahl er: »Setzen Sie sich.«

Der junge Mann, vom Wein noch mehr als von der Rede getroffen, untersuchte aufmerksamst seine abgebogenen Knie, befühlte den Zusammenhang zwischen seinen Sitzpartien und der darunter befindlichen hölzernen Sitzfläche und kam solcherart zu dem Ergebnis, daß er selber es war, der saß, ein Ergebnis, dem er sofort Ausdruck verlieh: »Wollen Herr Studienrat nicht gleichfalls Platz nehmen?«

Mißbilligend herrschte Zacharias ihn an: »Keine Widerrede, wenn ich bitten darf!«

Daraufhin wurde der andere doch genügend nüchtern, um zu merken, daß da etwas geschehen müsse: »Ein Kaffee, Herr Studienrat, wird uns beiden recht gut tun.«

Zacharias, verlangsamten Geistes und mit der Weinflasche beschäftigt, murmelte nach einer Weile: »Ein Schüler, der sich bei mir zum Kaffee einlädt ,… welche Anmaßung, welche Anmaßung!« Indes, ohne die Antwort abzuwarten, war A. weichbeinig zur Theke gegangen, um daselbst den Kaffee zu bestellen, und als er zurückkehrte, hatte Zacharias sich eine neue Rüge ausgedacht: »Sie treten mir ein wenig zu häufig während einer Stunde aus; wenn Sie Unfug auf dem Aborte treiben, werden Sie es zu büßen haben«, sagte er noch immer steif aufgerichtet und die Hand auf den Katheder gestützt. A. ordnete seine Beine zur Habtachtpositur: »Ich treibe keinen Unfug, Herr Studienrat.« ,– »Überhaupt haben Sie, wie Sie wohl wissen könnten, das Klassenzimmer nicht ohne vorher eingeholte Erlaubnis zu verlassen.« ,– »Verzeihung, Herr Studienrat, es soll nicht wieder vorkommen.« Im Gegensatz zu dem jungen Mann war es für Zacharias eine durchaus ernste Angelegenheit: »Ich werde den Vorfall ins Klassenbuch eintragen.« ,– »Wollen Herr Studienrat nicht noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen?« ,– »Gnade ist Verweichlichung, Gnade ist Unbrüderlichkeit. Die Züchtigung muß stattfinden.« Doch da stieg ihm der Duft des inzwischen gebrachten Kaffees in die Nase, und er fragte wohlgefällig: »Von wo haben Sie denn den Kaffee her?« ,– »Vom Pedell, Herr Studienrat.« ,– »Na, recht; da wollen wir uns wacker daran machen.« Und sie setzten sich beide.

Und nachdem sie so über ihre Kaffeetassen hin eine Weile geplaudert hatten, entdeckten sie mit einem Male fast gleichzeitig, daß sie wieder Sie zueinander sagten, obwohl sie doch kurz vorher miteinander Bruderschaft getrunken hatten. Und in dem hiedurch ausgelösten Gelächter meinte der Jüngere: »Nun müßten wir wohl eigentlich aufs neue Brüderschaft trinken.« ,– »Ja, ja, bestell noch eine Flasche.« Doch das schien A. nun doch schon zu viel, und er führte daher des langen und breiten aus, daß sich an Kaffee kein Wein mehr anschließen kann, anschließen darf. Also einigte man sich auf einen Kirsch zur Besiegelung der neuen Blutsbrüderschaft, um so mehr, als bloß ein Schnaps zur alkoholisch würdigen Krönung des so wohlgelungenen Festes taugte.

Und so geschah es. Nochmals standen die beiden auf, nochmals hakten sie Ellbogen in Ellbogen, um solcherart den das Du gewährleistenden Alkohol in sich hineinzukippen, und nochmals schüttelten sie einander kräftig die Hände. Und nachdem dies geschehen war und A. die Rechnung beglichen hatte, kommandierte der Studienrat Zacharias: »Zweierreihen bilden, Abmarsch.«

Auf der Straße gab es vor allem eine neue Kontroverse, denn aufs neue zeigte sich jetzt, daß der junge Mann keinen Hut besaß. Zacharias wollte ihm den seinen aufstülpen, und die Abwehr des andern empfand er als bösartiges Ärgernis und häßliche Mißachtung: »Er ist dir wohl nicht fein genug?« ,– »Nein, zu klein.« ,– »Bläh deinen Schädel nicht so auf«, befahl er, nachdem er einige Male mit Gewalt versucht hatte, den Hut in richtigen Sitz zu bringen, und als der Schädel nicht schrumpfen wollte, entschied er salomonisch, daß der Hut geteilt werden müsse. Er zog sein Taschenmesser und stach in die Mitte der Hutkappe, um das Stück der Länge nach aufzuschlitzen. A. vereitelte das Vorhaben: »Unsinn«, sagte er, »dann hat keiner von uns beiden etwas. Wenn du teilen willst, behältst du die Kappe, und ich nehme die Krempe.« Das war einfach. Zacharias stülpte die Kappe auf den Kopf, war aber sehr enttäuscht, da sich nun die abgetrennte Krempe als zu weit erwies und dem jungen Mann über die Nase rutschte: »Idiot«, fauchte er ihn an, »das hast du absichtlich gemacht; jetzt hast du den Schädel schrumpfen lassen.« ,– »Es ist nicht meine Schuld; das Blut war mir zu Kopf gestiegen, und jetzt in der Nachtluft strömt es wieder ab.« Der junge Mann war aufrichtig bekümmert; immer wieder versuchte er die Krempe zu fixieren, immer wieder rutschte sie ihm herunter, fiel über die Nase bis zum Hals, und endlich resignierte er: »Ich trage sie als Kragen; das macht sich auch ganz gut.«

Das gefiel dem Zacharias: »Wenn du grüßen willst, schlüpfst du sie dir über den Kopf. Fein, was?«

Hie und da blickte ein Passant flüchtig belustigt auf das sonderbar adjustierte Paar, doch zumeist liefen die wenigen, die sich noch auf der Straße befanden, achtlos vorbei. Die Nacht war sommerlich müde, ohne für ihre Mattigkeit ein Ausruhen zu finden. Zwar woben sich bereits, von irgendwo hergeweht, Streifen der Morgenkühle in den haftengebliebenen Abend und in seine Stickigkeit, aber diese, gleichsam in Gegenwehr, hing unverscheuchbar wie ein unendlicher Mückenschwarm als zitternder Glast im weißen Licht der Bogenlampen, und ihre nüchterne Unruhe teilte sich der Ausgestorbenheit ringsum mit, die eingesprengte Kühle besiegend. Zwiespältig war die Stunde, war es um so mehr, als ruhelos dengelndes Hämmern, nüchtern auch dieses, die Nachtleere erfüllte: man benützte die Betriebspause der Straßenbahn, um ihre Schienen zu reparieren. Umgeben von solch nüchterner Ausgestorbenheit schritten die beiden ,– Zacharias ein wenig hinkend ,– rüstig fürbaß, ein ineinander eingehaktes Paar, dennoch soldatischer Allüre durchs Nüchterne marschierend, und kraft der Bewegung mit jedem Schritt sogar selber etwas nüchterner werdend. Und als in dem nächtlich baumbesäumten Straßenschacht das rastlose Gehämmer vernehmlicher wurde, sagte A.:

»Das Sensengedengel der Großstadt.«

Und Zacharias entgegnete: »Quatsch.«

Wenige Minuten später waren sie beim Ursprung des Dengelgeräusches angelangt. Die Reparaturstelle war, teils um die Augen der Passanten zu schonen, teils zum Windschutz zeltartig von Leinenwänden umgeben, und wo diese an den vier Eckstangen klafften, da stach, oftmals ins Grünliche schießend, weiß-scharf das Schweißlicht hervor; in seinem Blitzschein verkümmerten die Bogenlampen zu mattleuchtenden, stillen Monden. Etwa ein Dutzend Leute waren da beschäftigt; die eigentlichen Schweißer trugen schwere, maskenartige Schwarzbrillen, und da sie sowohl das Dengeln als auch den Schweißlärm zu übertönen hatten, waren sie zu rauhsprachiger Verständigung genötigt.

Es gab nicht viel zu sehen. Trotzdem wurde Zacharias von dem Anblick der Arbeitsstätte gefesselt und blieb interessiert stehen. Das hätte er als Studienrat nicht tun dürfen. Denn wie er lang und hager, die Brille auf der Nase, die krempenlose Kappe auf dem Haupte, dastand, jeder Zoll ein gebieterisch-schüchterner Schulmeister, mußte er zu seinem Erstaunen entdecken, daß er bei den Männern dort reges Gegeninteresse fand; sie begannen einander seinen Anblick zu empfehlen, wiesen mit klobigem Finger auf ihn, und schließlich vereinigten sie sich zu einem vielstimmigen Gelächterchor, der unter Schenkelschlagen und Bauchhalten zu maßlosem Gegröhle anschwoll, als er ihnen mit schulmeisterlicher Strenge zurief: »Ich verbitte mir derartige Läppischkeiten.«

A. wurde vom Spott der Lachenden verschont, erstens weil er mitgrinste, und zweitens weil die Krempe um seinen Hals weniger auffällig war; immerhin fühlte er sich verpflichtet, Zacharias auf die heiterkeitsauslösende Funktion seiner Kopfbedeckung aufmerksam zu machen, freilich mit etwas überraschendem Resultat, da daraufhin der Zorn des andern, wenn auch leidend und schmerzlich gefärbt, sich gegen ihn wandte: »Et tu Brute, du lieferst mich dem Gespött des Pöbels aus, nachdem ich dir meinen guten Hut geopfert habe; non libet ,… welche Undankbarkeit!« Indes, der junge Mann hatte nun Gelegenheit, seine Treue und Freundschaft und Ergebenheit darzutun: der früheren Anweisung des Zacharias gemäß schlüpfte er sich die Krempe über den Kopf, und mit großausholender Geste grüßte er die Gröhlenden, einen Beifall damit erregend, der nun auch dem Studienrat zugute kam.

Nichtsdestoweniger, Hohn läßt in der von ihm betroffenen Menschenseele immer seinen Stachel zurück und so auch in der des verwundeten Zacharias. Kaum daß sie aus der Gesichtsweite des feindlichen Humors waren, blieb er neuerlich stehen und sagte: »Ich bin empört, zutiefst und schamvoll empört.« ,– »Mein Gott«, meinte der junge Mann begütigend, »wer schwer arbeitet, will auch manchmal sein Gaudium haben.« Daraufhin wurde der Studienrat sehr böse: »Ich will sie lehren, sich zu gaudieren, sich auf anderer Leute Kosten zu gaudieren ,… und das nennt sich dann noch Brüderlichkeit!« ,– »Nein, Freiheit und Gleichheit.« ,– »Aha, von daher weht der Wind ,… Freiheit und Gleichheit; wir wollen es lieber Läppischkeit nennen.« Und böse ging er ein paar Schritte weiter.

Doch das Stichwort war gefallen, und nochmals stehenbleibend, holte er, der Studienrat Zacharias, zu seiner vierten Rede aus, eigentlich zu einer gewissermaßen testamentarischen Zusammenfassung seiner drei vorigen, offenbar weil es ihm wichtig schien, aus diesen die ,– dem unliebsamen Geschehnis entsprechenden ,– sozialen Konsequenzen zu ziehen:

»Läppischkeit bleibt Läppischkeit. Ich, ein Freund der Arbeiterklasse, ich, ein Sozialdemokrat, ich, ein führendes Mitglied der Lehrergewerkschaft, ich stehe nicht an, solches zu behaupten; Läppischkeit bleibt Läppischkeit. Jene Männer, längst dem Jünglingsalter entwachsen, haben sich in der läppischsten Weise benommen. Daß diese unverantwortliche Läppischkeit sich gegen mich gekehrt hat, will ich lediglich als Fußnote erwähnen. Das Wesentliche liegt in der erschreckenden Unverantwortlichkeit, erschreckend, wahrhaft erschreckend für jeden, der die Entwicklung unseres Volkes beobachtet. Wie nämlich, müssen wir fragen, soll dieses Volk zum Lehrmeister der Welt taugen, wenn in seiner ausschlaggebenden Klasse, als welche die der Arbeiterschaft zu gelten hat, solch unverantwortlicher Geist am Werke ist? Und ich will hiezu sogar noch einen Schritt weitergehen und fragen, ob man eine Gewerkschaft noch verantwortlich nennen darf, die als Gegenleistung für die von ihr besorgte Durchsetzung höherer Löhne lediglich die Abgabe eines sozialistischen Stimmzettels verlangt? Panem et circenses! Gewiß, jene Männer wären's zufrieden. Sie wollen lediglich ihr Brot und ihr Gaudium haben und mit ihren Weibern schlafen. Das ist die Freiheit und Gleichheit, die ihnen vorschwebt. Wo aber bleibt das Unendliche, dem sie als Deutsche verpflichtet wären? Wo bleibt die auf der unendlichen Todesgröße aufgebaute echte Demokratie? Sie suchen die Verweichlichung, nicht die Ertüchtigung, suchen das Leben, suchen die Bequemlichkeit der Todesblindheit, um im Diesseitigen verbleiben zu können, und sie sind hiedurch todesängstlich und undeutsch geworden, leichte Beute für die degenerierten Westdemokratien und ihre Lehren, die den Ekel tunlichst in Verweichlichung statt in todesbereiter Zucht zu überwinden trachten. Sollen wir zu ähnlicher Enttüchtigung und damit zum Scheitern verurteilt sein? Nein und tausendmal Nein! Nur die Ganzheit ist wahrhaft frei, nicht der einzelne; er steht, um es mit einem konzisen Wort auszudrücken, unter dem Befehl der Freiheit, einer höheren Freiheit, denn er kann bloß an der Freiheit des Ganzen teilhaben, und nie und nimmermehr ist es ihm möglich oder gar gestattet, eigene Freiheitsansprüche zu stellen. Mit der Krämerfreiheit muß gebrochen werden, und gerade den Gewerkschaften würde es obliegen, die hiefür nötige Erziehungsarbeit zu leisten. Wir brauchen geplante Freiheit, und ebendarum muß die flache und chaotische, ja läppische Freiheit des Westens durch eine geführte und geplante ersetzt werden. Hier stehe ich, und in Selbstzucht trage ich eine ihnen lächerliche krempenlose Hutkappe auf dem Haupte; ich trage sie, um meiner brüderlichen Gesinnung Ausdruck zu verleihen, und ich trotze dem Gelächter des Westens. Eine Gleichheit vor dem Befehl, eine Gleichheit der Zucht und der Selbstzucht wird die unsere sein, geordnet nach Alter, Rang und Leistung der Bürger, eine wohlausgewogene Pyramide, und der Erlesenste wird an ihre Spitze berufen werden, ein strenger und weiser und führender Zuchtmeister, er selber der Zucht unterworfen, auf daß er die Brüderlichkeit verbürge. Wie anders wäre es möglich! Zu jeder Brüderlichkeit gehört der Vater, gehören die Großväter, gehört die ganze Ahnenreihe als Bürgschaft für die Einheit des Ganzen und die zweifelaufhebende Festigkeit der Dinge. Durch Züchtigung zur Liebe heißt unser Weg, hinführend zu jener ewiglich todesbereiten und daher todesüberwindenden Liebe, in der, jenseits des Todesekels, das Tierische und das Unendliche sich zeitlos vereinigen. Das ist der Weg, und es wird die Pflicht der deutschen Demokratie sein, ihn zu begehen, in Selbstzucht voranschreitend, solcherart zur Führung der neuen Internationale bestellt.«

Schon während der Rede war leises Donnern vernehmlich gewesen, und dem fernen Gewitter war wohl auch das in die stehende Luft sich einfiltrierende Kühlheitsgerinnsel zuzuschreiben, dessen Vieladrigkeit nun zunehmend dichter und merklicher wurde. Jetzt hörte Zacharias gleichfalls das ferne Grollen, und er wurde darüber beinahe ekstatisch: »Das All, zornig züchtigungsbereit in seiner Unendlichkeit, das mütterliche All stimmt mir bei ,… kannst du's hören? Oder hast du wiederum nicht begriffen, worum es geht?«

»Doch«, sagte der Jüngere, »doch hab ich's begriffen; die Deutschen werden überaus stark beschäftigt sein.«

»Sie dürfen und werden sich dem nicht entziehen.«

»Ich aber will mich dem Gewitter entziehen ,… komm, laß uns eine Droschke nehmen; ich setze dich bei dir ab und fahre dann heim.«

»Nein, ich will gehen; ich gehe immer aus der Schule zu Fuß heim, zur Entlüftung. Es ist ohnehin nicht mehr weit.«

»Aber ich bin müde.«

»Soldaten müssen marschieren. Sei nicht faul; je besser du ausschreitest, desto sicherer entgehst du dem Gewitter.« Und Zacharias setzte sich in Bewegung.

Sie durchschritten nun eine Parkanlage. Dieselbe bildete den Aufenthaltsort einer größeren Anzahl teils sitzender, teils stehender Denkmalstatuen, eine jede von malerisch angeordneten Gesträuchgruppen umrahmt, und im Lichtschein der Parklampen war ihr Marmor noch weißer, ihre Bronze noch reflexreicher als bei Tage. Die Profession der Dargestellten wurde zumeist durch die üblichen Akzessorien, also durch Buch, Gesetzesrolle, Degen, Pinsel und Palette verdeutlicht, doch jetzt kam ein Bildwerk in Sicht, das statt dessen Keulen und Hanteln zeigte; bronzen schmiegten sie sich an bronzen mächtige Röhrenstiefel, aus denen, auf Spielbein und Stützbein stehend, bronzen ein langbärtiger Mann herauswuchs, federnwallenden Schlapphut in der Hand, lockenwallendes Haupthaar in unbewegter Luft, und als die beiden Marschierenden in seine Nähe kamen, kommandierte Zacharias: »Grüßen, Krempe runter!« Und das war auch ganz in Ordnung, denn da daraufhin A., gezogener Krempe, vor den Steinsockel trat, um die gotisch vertrackte Aufschrift zu entziffern, las er: TURNVATER FRIEDRICH LUDWIG JAHN, 1778 bis 1852, ERTÜCHTIGER DER NATION. Wahrhaftig, da hatte man zu grüßen gehabt, und Zacharias lachte: »Der wird noch dastehen, wenn es längst keinen Einstein mehr gegeben haben wird.«

Sie verließen die Parkanlage. Wiederum rollte der Donner, und wiederum wollte der junge Mann nach einer Droschke Ausschau halten. Und wiederum zerrte ihn der Ältere weiter: »Komm, komm, wir sind gleich zu Hause.« ,– »Eben darum«, entgegnete der Jüngere, »wer weiß, ob sich dann noch ein Wagen finden läßt; außerdem brauchst du mich jetzt wirklich nicht mehr.« ,– »Weit gefehlt und im Gegenteil, jetzt erst brauche ich dich«, sagte Zacharias mit angstvoll lockender List, »jawohl, jetzt brauche ich dich, beschwerlich ist die Treppe für einen Kriegsverletzten, und mein gutes Weib Philippine wird dir dankbar sein, wenn du mir da hinaufhilfst.« ,– »Zu dieser Stunde wird deine Gattin doch wohl schon schlafen.« ,– »Weit gefehlt und im Gegenteil, sie erwartet mich in zärtlicher Angst.« ,– »Nun, um so weniger wird sie erfreut sein, daß du dir einen Besucher mitbringst.« ,– »Weit gefehlt und im Gegenteil«, beharrte Zacharias bei seiner Phrase, »du bist kein Besucher sondern ein Beschützer, ein beschützender und beschützter Gast, einer von jenen, denen die Wilden die eigene Gattin zur Nacht anbieten, und wie könnte da Philippine dich nicht wenigstens freundlich begrüßen!« In diesem Augenblick hob sich leicht, dennoch drohend der Gewitterwind zu einem ersten, gewissermaßen probeweisen Ansatz. »Ist's wirklich so nah?« ,– »Nur noch ein paar Schritte ,… und wenn's wirklich losbrechen sollte, so behalten wir dich einfach über Nacht bei uns.«

Tatsächlich, zwei Ecken weiter, in einer typisch rotziegeligen Mittelstandsstraße, jedes der Miethäuser mit einem Streifen eisen-umgitterten, baumgezierten Rasens längs der Front, standen die beiden vor Zacharias' Türe. Der kramte in der Hosentasche nach dem Hausschlüssel, nicht ohne dabei seine Bauchspannung ,– »Verzeih, verzeih die Luftreinigung, mein Bruder!« ,– kräftig zu entdonnern, und nachdem auch die Auffindung des Schlüssellochs geglückt war, knipste er das Licht im Treppenhaus an.

Ob zum Beweis seiner Hilfsbedürftigkeit gespielt, oder ob in seiner Steigfähigkeit vielleicht wirklich durch den Alkoholgenuß beeinträchtigt, ob so oder so, je höher Zacharias die knarrende, quietschende Holztreppe hinaufkam, desto langsamer ging es, desto mehr mußte er seufzen, desto wehleidiger wurde seine Miene, desto öfter mußte ihm A. unter die Arme greifen. Droben aber fanden sie die Wohnungstür bereits sperrangelweit offen; kein Zweifel, die Frau Studienrat hatte ihr Kommen bemerkt, und tatsächlich stand sie wartend im Türrahmen.

Sie war eine Frau in den Dreißigern, die infolge ihrer Untersetztheit sogar eher älter aussah; ihr Gesicht war trotz der zu starken Fettüberpolsterung und des bös-energisch zusammengekniffenen Mundes keineswegs unhübsch, und ihr Haar, zwar zu spärlich und zu unordentlich, war von kräftig reinem Blond. Die etwas zu dicken, aber wohlgeformten Beine endeten in Filzpantoffeln. Über ihrem rosa Kittel trug sie eine Art weite Hausjacke aus blumenbedrucktem Kattun, und in der Hand hielt sie einen Staubwedel, lustig bunte Hahnenfedern an einem dünnen Röhrchen, Instrument einer Hausarbeit, mit der sie sich ungeachtet der vorgerückten Stunde ,– Mitternacht war längst vorbei ,– das Warten verkürzt haben mochte. Indes, obwohl sie gewartet hatte, der Empfang war durchaus nicht so freundlich wie er von Zacharias prophezeit worden war, vielmehr sagte sie schlicht: »Zwei Saufbrüder.«

Angesichts des Bildes, das ihr die Hinaufklimmenden boten, war das allerdings ein recht begreiflicher Ausspruch. Denn ihr Gatte hatte noch immer die krempenlose Hutkappe auf dem Haupte, und sein Begleiter war nach wie vor mit der Krempe um den Hals geziert. Ohne ein weiteres Wort zu äußern, die Hände zu Fäusten geballt, die eine den Federwisch umspannend, die andere in die Hüfte gestützt, ließ sie die beiden heraufkommen, und schweigend wies sie mit dem Kinn die Eintretenden ins Wohnzimmer, wohin sie ihnen nach resolutem Zuschlagen der Außentür alsogleich folgte.

Hier, unter den Augen Bebels, Scheidemanns und Wilhelms II., maß sie die beiden weiter mit kaltem Blick. Der Studienrat, der gesenkten Kopfes dastand, wagte aufzuschauen: »Philip ,…« Doch darüber hinaus kam er nicht. »Marsch ins Eck!« schnitt sie ihn kurz ab, und offensichtlich einer alten Gepflogenheit folgend, begab er sich unverzüglich in eine der Zimmerecken. Philippine jedoch, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, wandte sich an den jungen Mann: »Sie haben wohl eine etwas sehr flüssige Diskussion gehabt bei Ihrem Wirtschaftsabend? Eh? Und Sie wollen sie hier wohl fortsetzen? Es ist nur schön, daß er allein Sie mitgebracht hat und nicht noch zehn andere Wissenschaftskumpane.« ,– »Philippine«, tönte es jämmerlich von der Ecke her. Die Gattin blieb ungerührt: »Du schweig, Gesicht zur Wand!« Und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Befehl ausgeführt war, nahm sie sich wieder den Besucher vor: »Was also soll ich mit Ihnen anfangen? Soll ich Sie auch in die Ecke stellen? Hat er Sie hiefür hergebracht? Es ist wohl besser, Sie gehen schleunigst heim.« Und aufs neue ließ sich's da aus der Ecke vernehmen: »Philippine, Süße.« ,– »Du schweigst!« ,– »Ich werde brav sein; laß uns zu Bett gehen.« ,– »Du hast wohl nicht gehört, was ich dir gesagt habe!« Philippine hatte sich scharf umgedreht, und indem sie den Flederwisch am Federnende anpackte, ließ sie das Röhrchen sausend durch die Luft fahren und am Gesäß des Gatten landen, ihm auch noch gleich eine zweite überziehend, daß es nur so staubte. Zacharias, das Gesicht zur Wand zugekehrt, seufzte zwar auf, rührte sich aber nicht. Im Gegenteil, ein wenig vorgebeugt, schien er auf eine Fortsetzung der Prozedur zu warten.

»So«, sagte nun Philippine zu dem jungen Mann, »ich glaube kaum, daß Sie gleichfalls Bekanntschaft mit dem da zu machen wünschen«; ,– und sie wies auf das Rohr des Flederwisches in ihrer Hand ,–, »also ist's besser, daß Sie sich trollen.«

»Schicke ihn nicht fort«, flehte es in der Ecke und gegen die Wand hin gesprochen, »lasse ihn mir hier, bitte, bitte.«

Der strenge Ausdruck in Philippinens Gesicht wurde zu einem der nackten Wut, ging in nackte Hemmungslosigkeit über. »Mundhalten, mundhalten«, schrie sie mit überschnappender Stimme, »kein Wort, kein Sterbenswörtchen mehr! Verstanden?!« Und mit dem Schwung eines Golfspielers, ja sogar eines professionellen Henkers, schlug sie zu, daß das Rohr sich bog, kaum mehr achtend, wohin sie traf, Rücken oder Hinterteil, aber wieder und wieder, ohne Unterlaß.

Zacharias, erst stumm und unbeweglich, den Podex zur Exekution ein bißchen vorgestreckt, begann zu ächzen: »Ja, ja ,… noch, ja ,… noch, noch, noch ,… treib mir den Ekel aus dem Leib ,… mach mich stark, du Holde ,… züchtige mir den Ekel aus dem Leib ,… ja, ja ,… oh Philippine, Süße, ich liebe dich ,… noch ,… noch ,…« Doch als er daran ging, seine Hosenträger zu lösen, wurde die Exekution jäh unterbrochen. Er drehte sich verwundert um, und glasigen Blicks, immer noch die Hutkappe auf dem Kopf, torkelte er auf die Frau zu: »Philippine, ich liebe dich.«

Mit dem Staubwedel schlug sie ihm die Kappe herunter und hielt ihn gleichzeitig ab, sich weiter zu nähern. Mit der andern Hand aber nahm sie den jungen Mann an der Schulter: »Sie sind vielleicht aus gutem Herzen mit heraufgekommen; er wird Sie wohl angejammert haben, und Sie haben ihm helfen wollen. Und vielleicht wollen Sie jetzt sogar auch mir helfen. Doch man kann keinem helfen, der in der Hölle sitzt. Wo die Hölle ist, da kann's immer nur ärger und ärger werden. Und, verlassen Sie sich darauf, es wird ärger werden; wir sind noch lange nicht in der letzten Hölle, in die wir hinein müssen. Ja, junger Mann, Sie haben einen Blick in die Hölle getan, und jetzt sollten Sie's aus Ihrem Gedächtnis löschen. Vergessen Sie's!« Das alles war in ruhigem Ton gesagt; allein, da der junge Mann sich nicht rührte, brüllte sie ihm ins Gesicht: »Raus!«

Als er unten die Türe öffnete, klatschten ihm wütend schwere Regentropfen ins Gesicht; mit dem nächsten Schritt schon wäre er gänzlich durchnäßt gewesen. Das Gewitter war in vollem Gange. Blitz folgte auf Blitz, und in großen Tafelwellen schwemmte das Wasser über den schwarzen Asphalt dahin, staute sich bachgleich an den Gehsteigrändern, gurgelte um die Kanalgitter, durch die es hinabstürzte, fast mochte man meinen sich hinabstürzen wollte. Die Straßenlichter sowie die gegenüberliegende Häuserreihe spiegelten sich im Schwarzflutenden, mit ihrem Bilde tief hinabreichend ins Unbewegte, und mit jedem Blitz gab es ein Unterwasserfeuerwerk. A. hielt sich eng an die Haustüre gepreßt, und es dauerte wohl eine gute halbe Stunde, bis mit spärlicheren und matteren Blitzen der Donner verebbte, der Regen langsamer und dünner wurde und endlich versiegte. Friedlich kühl wurde die Luft, und A., der seinen Schutzplatz nun verlassen hatte, schaute zu des Studienrats Wohnung hinauf: die beiden Wohnzimmerfenster waren noch hellerleuchtet, ebenso die beiden anstoßenden, die vermutlich zum Schlafzimmer gehörten; nur daß hier die Vorhänge zugezogen waren.

Dort droben war die Hölle, ja der Höllenkern, zwar nicht der einzige, dennoch einer der vielen, die über die Welt hin verteilt sind, in Deutschland vielleicht ein wenig dichter als anderswo, überall jedoch eingebettet ins Harmlose, eingekapselt und versteckt die Höllenbedrohlichkeit. In kühl harmloser Friedlichkeit lag die nächtliche Stadt, und A. hatte ein leichtes Heimwandern. Man spürte den Hauch der Hügel, den Hauch der um die Stadt gebreiteten Landschaft, das Bewohnte, dennoch Natürliche des großen Landes. Felder dehnen sich dort und der deutsche Wald, in dem Baum und Wild gehegt werden, das Reh noch äst, der Eber noch wühlt und der Brunstschrei des Hirsches durch das Feucht-Schattige hintönt, wenn die Zeit dazu da ist. Das Geläut der Rinder geht durch die Berge, und der Bauer tut sein schweres Tagwerk, gleichgültig welche Regierung über ihn gesetzt ist, gleichgültig jedoch auch welch höllisch gierige Triebe in seiner eigenen Seele toben; das eine wie das andere hält ihn nicht von seiner Arbeit ab. Vernünftiger und bedächtiger als anderswo geht es in Deutschland zu, trotzdem triebverfallener und gieriger und höllischer als anderswo. Weniger scheinheilig als anderswo geht es in Deutschland zu, trotzdem verlogener. Denn es ist, als sei dem Deutschen eine seltsame Sucht nach dem Unbedingten eingeboren, so daß er jene glücklich-humorvolle Bändigung der Triebe verschmähen muß, die dem westlichen Menschen, obwohl dieser vielfach der triebstärkere ist, als anstrebenswerte Lebensgestaltung vorschwebt; dem Deutschen fällt der Humor schwer, und wenn er ihn hat, so ist es ein anderer, ein schrulligerer Schlag von Humor, eben der des bedächtigen Entweder-Oder, das die deutsche Lebensart auszeichnet und deren Plumpheit ausmacht, einerseits zur vollkommenen Askese, andererseits zur äußersten Triebentfesselung spornend: Zwischenlösungen sind dem Deutschen verächtlich; er betrachtet sie als Scheinheiligkeit und Verlogenheit und bemerkt hiebei nicht, daß er sich damit einer noch schwereren Verlogenheit schuldig macht, daß er sich zwar keinen falschen Heiligenschein auftut, den künstlichen Heiligenschein des Westens, daß er aber statt dessen ,– und das ist sicherlich ärger ,– Unrecht zu Recht umlügt, indem er im Namen des Entweder-Oders seine wild-ungebändigte Dumpfheit als angebliche Vernunft gegen das bessere Recht des humanen Seins ausspielt und damit das Recht als solches vergewaltigt. Seine Ehrlichkeit ist die des Gewalttäters, der den gewaltabgeneigten Schwindlern die Verlogenheit austreiben möchte, ja sich ebendarum geradezu als Heilsbringer fühlt, und dennoch verdammt ist, ein Unheilsbringer zu bleiben, weil seine Lehre die des Mordes ist. Unwahrheit hie, Unwahrheit da, und unendlich schmal dazwischen ist der Wahrheitspfad, der Pfad zwischen zwei Welten, dem deutschen Menschen zwar vorgezeichnet, aber ,– wegen unaufhörlichen Strauchelns und Torkelns ,– offenbar nicht begehbar. Der deutsche Tugendpfad? Nein, weit gefehlt und im Gegenteil, würde hier Zacharias sagen, freilich ohne die Wahrheit zu erkennen: nämlich, daß es ein Weg angstvoller Qual ist.

Woran lag das? A. wußte keine Antwort. Was ging's ihn schließlich auch an? Er brauchte sich darum nicht zu kümmern. Er war zu Hause angelangt und ging sofort zu Bett; er hatte sich's verdient.

 

VIII. Ballade von der Kupplerin

Melitta hat von einem jungen Mann ein Geschenk erhalten. Das war in ihrem Leben noch nie geschehen. Ein Geschäftsbote hat es gebracht, hat es bei ihr abgegeben. Es ist ein Handtäschchen aus grauweißem, zart bläulichschimmerndem Chromleder; die Schließe glänzt golden und ebenso der schmale Bügel. Es ist ganz fein gearbeitet und süß. Sie tastet es von allen Seiten ab; die Fingerspitzenfreude ist ebenso groß wie die Augenfreude. Kaum wagt sie die Schließe zu öffnen. Im Innern ist es gefüttert, ganz und gar weiß-seiden. Und neben der kleinen Geldbörse, neben der kleinen Puderdose, auf deren Deckel ein großes M eingraviert ist, neben dem blitzenden Goldcrayon und dem Notizbüchlein (– doch was sind »Dates«? ,–) liegt ein Brief, mit dem der junge Mann anfragt, ob und wann er sie wiedersehen darf. Auch das war etwas, das ihr bisher noch niemals widerfahren war.

Sie will ihm sofort antworten, aber sie muß dazu ein sehr schönes Briefpapier haben. Auf den Postkarten, mit denen sie dem Großvater während seiner oftmaligen, nur allzulangen Abwesenheit berichtet, daß sie gottlob gesund sei, läßt sich nicht danken, läßt sich nichts Richtiges schreiben, und so läuft sie hinunter und ins nächste Papiergeschäft, um etwas Würdiges zu holen. Freilich, jetzt da sie den schönen Bogen vor sich hat, nützt es nichts. Wie soll's angefangen werden? Sie will ihm sagen, daß das Handtäschchen schöner als alles auf der Welt ist; sie will ihm sagen, daß sie ja sogleich ,– oder wäre nicht morgen oder etwa übermorgen besser? ,– ihn sehen möchte; sie will ihm sagen, daß es so gut wäre, ihn hier zu haben, daß es aber dem Großvater, wenn der von seinen weiten Reisen wie so oft unvermutet heimkäme, vielleicht ,– warum aber nur? ,– nicht ganz recht sein könnte, einen Gast in der Wohnung vorzufinden; sie will ihm, der kein Gast sein darf, unbedingt sagen, daß er ja kein gewöhnlicher Gast wäre, daß sie ihn aber trotzdem anderswo treffen muß, irgendwo, ob beim Schloß droben, ob beim Bahnhof drunten, wo immer er nur will. Doch wie läßt sich so viel in eine ordentliche Ordnung bringen? Und wie läßt sich's sagen, damit er auch wirklich spürt, was sie denkt und zu sagen gedenkt? Ach, vom Herz zur Feder ist ein entsetzlich langer Weg, und gar, wenn man eine kleine Wäscherin ist und vor jeglicher Schreibe erschrickt. Wie immer sie ansetzt, es genügt nicht.

Der Vormittag vergeht in arger Verzweiflung. Der angefangene Brief liegt auf dem Handtäschchen auf dem Tisch und bekommt ein immer drohenderes Aussehen. Sie will gar nicht mehr hinschauen. Aber nachmittags hat sie den erlösenden Einfall, ja sie führt ihn schon aus, ehe sie ihn noch hatte. Denn plötzlich war sie darangegangen, sich von Kopf zu Fuß umzukleiden. Und so entdeckt sie, daß sie ihm einfach selber die Antwort bringen will, und daß sie das unverzüglich tun muß.

In ihrem Sonntagskleid, das Haar noch naß und ganz straffgebürstet, das Handtäschchen am Arm, steht sie auf der Straße. Wäre sie, als sie ins Papiergeschäft lief, nicht so briefbesorgt gewesen, sie hätte schon da bemerkt, was sie jetzt bemerkte: es ist der schönste Septembertag, den sie je erlebt hat. Des Jahres Abendwind, die kühle Septemberbrise war gekommen, und unter helldurchsonntem, noch sommerlichem Himmel streicht die Kühle hell durch die Straße, sich an den Häuserfronten anschmiegend, die Menschen umschmiegend. Einen Augenblick lang ist Melitta unschlüssig ,–, soll sie die Straßenbahn zum Bahnhofsplatz nehmen? Dort wohnt er, dort wohnt er, und wenn sie die Straßenbahn nimmt, ist sie früher dort. Doch daneben gibt es die Süße des Hinauszögerns, die kleine Herbheit, die an der Schwelle der Süße bleibt, wenn's nur nicht allzulange hinausgezögert wird, und so entscheidet sie, den Weg zu Fuß zu machen.

Fast in seiner ganzen Ausdehnung führt der Weg durch das Geschäftsviertel, das zwar niemals, außer an Sonntagen, unbelebt ist, heute jedoch von noch gedrängterer und vor allem fröhlicherer Belebtheit als je sonst zu sein scheint. Fast ist es, als ob all die vielen Menschen hier irgendwie mit Handtäschchen, sichtbaren und unsichtbaren Handtäschchen bedacht worden seien und nun daran sind, sich bei den Gebern zu bedanken; Melitta; dahinschlendernd, schwenkt und schlenkert das ihre, nicht nur um zu zeigen, daß sie nun zu all den anderen gehört, sondern auch, und das noch mehr, damit alle sehen mögen, daß sie das weitaus prächtigste besitzt. Manchmal bleibt sie vor einem Schaufenster stehen, besonders wenn dahinter Spiegel sind, in denen sie sich und ihr Handtäschchen betrachten kann, und wenn sie gar zu einem kommt, in dem Handtaschen ausgestellt sind, so müssen sie, die da gruppenweise oder auf einzelnen Glaspostamenten ruhen, Stück um Stück mit der ihren, die sie alle übertrifft, verglichen werden, obwohl das zeitraubend ist und die Herbheit der Erwartung beinahe schon über Gebühr verschärft wird. Und als sie sich endlich auf dem stillen Bahnhofsplatz befindet, möchte sie am liebsten das ganze Spiel wiederholen; so schön war es gewesen. Doch da ist die heiterschwankende Grenze zwischen Erwartungssüße und Erwartungsbitterkeit erreicht; würde sie umkehren, um nochmals das Schaufensterspiel zu beginnen, es würde das Herbe unerträglich werden, und so läßt Melitta es bleiben.

Das Haus mit der angegebenen Adresse ist bald gefunden. Melitta ist ein wenig enttäuscht, daß ein ganz fremder Name und nicht der seine auf dem Türschild steht, und sie ist vollends betroffen, als nicht er öffnet, sondern eine alte grauhaarige Frau, die unter ihrem weiß gestärkten Stubenmädchenhäubchen gar nicht freundlich dreinschaut, vielmehr ganz scharf nach dem Begehr heischt und auf die zaghafte Frage nach Herrn A. auch schon wieder die Türe schließen will: »Herr A. kommt erst abends nach Hause.«

»Oh«, macht Melitta, und die Tränen steigen ihr heiß in die Augen.

»Worum handelt es sich denn?« Das klang milder, und Melitta faßt wieder Mut.

»Ich habe ihm eine Antwort zu bringen.«

»Antwort? von wem?«

»Von mir.«

Der Greisenkopf in der Tür beginnt zahnlückig zu lachen: »Wer schickt da wen? Sind Sie inzwischen daheim geblieben?«

Verständnislos starrte Melitta sie an, und die Tränen sind aufs neue ihr nahe.

Die Heiterkeit der Alten geht in ein Schmunzeln über: »Also wie ist das mit der Antwort? Ich hab's noch nicht begriffen.«

Melitta möchte es erklären, bringt es aber nicht zustande. Dennoch muß es erklärt werden, dennoch muß sie sich rechtfertigen, und weil das so überaus dringlich ist, kommt ihr eine Eingebung: sie öffnet das Handtäschchen, öffnet es sogar sehr augenfällig ,– warum soll sie etwas verbergen, worauf sie doch so stolz ist? ,– und reicht der Alten den Brief hin.

»Augenblick«, sagt diese, und den Brief an sich nehmend, begibt sie sich damit, da man zum Lesen eine Brille braucht, zu der hinter dem Vorzimmer sichtbaren Küche. Melitta, die ihren Brief nicht preisgeben will, folgt ihr nach und hat, einigermaßen erstaunt, vor allem ein etwas ungeduldig-vorwurfsvolles Gejammer anzuhören: »Na, wo ist jetzt diese Brille ,… ich hab sie doch in die Küchen tischlade getan ,… no, sag doch, wo jetzt diese Brille steckt, anstatt so blöd dazustehen ,… nein, mach erst mal die Wohnungstür draußen zu ,… man hat dich wohl nicht gelehrt, Türen zu schließen ,… Himmelherrgott, diese Brille ,… also, ich hab dir doch gesagt, daß sie in der Tischlade ist, und genau da ist sie.«

Dann liest die Alte, beim Fenster stehend, aufmerksam und umständlich den Brief durch, vielleicht sogar zweimal, und als sie damit fertig ist, nickt ihr Kopf zustimmend: »Na so was ,… also so verhält sich die Sache ,… du kannst auch mal die Küchentür schließen.« Hierauf macht sie sich am Herd zu schaffen: »Erst wollen wir miteinander Kaffee trinken. Du hast sicherlich heut noch keinen Bissen gehabt.« Nein, ans Essen hatte Melitta wahrlich nicht gedacht. »Na siehst du ,… die alte Zerlin weiß doch, wie's ist ,… Ich bin nämlich die Zerlin ,… kapiert ,…? nimm da zwei Tassen aus dem Schrank.«

Solcherart saßen sie miteinander zum Kaffee nieder; sie tun tüchtig Milch in den starkduftenden Trank, brocken ihr Weißbrot ein, um es, wie sich's gehört, bräunlich vollgesogen wieder herauszulöffeln, und im Laufe der nächsten Viertelstunde hat Zerline alles erfahren, was sie zu erfahren wünschte und was zu erfahren war.

»Du willst ihn also heute noch sehen?«

Melitta nickte eifrig.

»Ich behalt dich zum Abendbrot hier ,… unserm Fräulein möcht's vielleicht gegen den Strich gehen«, ,– sie kicherte vor sich hin, sogar recht boshaft ,–, »aber die ist heut sowieso auswärts zum Souper eingeladen, und wenn die Frau Baronin in die Küche kommen sollt, so verschlägt's nichts ,… bist halt eine Verwandte von mir ,… verstehst?«

Hernach wuschen und trockneten sie gemeinsam das Kaffeegeschirr ab: »Stellst dich ganz gut an«, lobte Zerline, »möchtest wohl auch für ihn so Kaffee kochen ,…«

Melitta wurde rot. Ja, das möchte sie gern.

»Überhaupt«, ,– Zerline hob leichtfingrig des Mädchens Kinn, um das Gesicht genauer betrachten zu können ,–, »du bist, weiß Gott, gar nicht so arg übel ,… nur mit der Frisur da darfst du mir nicht herumlaufen ,…«

»Warum? bin ich häßlich?«

»Warum, warum ,… warst du noch nie im Kino? da hättest du doch sehen müssen, wie man ausschaut ,…«.

»Der Großvater geht nie ins Kino.«

»Treib mich nicht zur Verzweiflung ,… geht man mit dem Großvater ins Kino, wenn man in deinem Alter ist? ,… no, mach mir keine großen Schreckaugen; ich hab ja nichts Böses gesagt. Komm lieber in meine Kammer; ich werd dich einmal richtig frisieren, damit du ihm hübsch bist heut abend.«

Im Garten vor dem Küchenfenster spritzt ein Mann die Beete unter abendlich werdender Sonne, und in dem glitzernden Strahl sprühen hie und da Regenbogenfunken. Trifft der Strahl den Rasen, so wird der für einen Augenblick tiefgrün, trifft er die Schollen der Beete, so erzeugt er für einen Augenblick kleine Tümpel, die sofort versickern, und das eine wie das andere riecht feucht und kühl. »Werde ich mit ihm dort unten sitzen dürfen?« fragt Melitta.

»Warum nicht? Aber jetzt wollen wir dein Haar richten.« Und indem sie die Kleine in die an die Küche anstoßende, freundlich-geräumige Magdkammer zieht ,– hier gleichfalls schaute der Garten durch das geöffnete Fenster herein ,–, macht sie sie vor dem kleinen Spiegel niedersitzen, hängt ihr einen altmodischen, offenbar der Baronin gehörenden Frisiermantel um die Schultern und löst ihr die Flechten, die sie prüfend-liebkosend durch die Finger gleiten läßt: »Du hast starkes, gutes Haar ,… du bist eine von denen, die es kurz tragen können.«

»Der Großvater mag das nicht leiden.«

»Immerzu der Großvater ,… was meinen denn deine andern Männer dazu?«

Melitta denkt nach: »Ich glaub, ich kenn keine.«

»Was? Jetzt möcht ich doch wissen, wie alt du bist.«

»Neunzehn.«

»Neunzehn, neunzehn ,…« ,– mit flinkgewohnten Zofengriffen steckt Zerline das Haar auf ,–, »neunzehn ,… und hast wahrhaftig noch mit keinem geschlafen ,…«

Keine Antwort. Melitta, im Spiegel sich betrachtend, merkt selber, wie blaß sie geworden ist. Warum fragt die Alte solche Dinge?

Doch unerbittlich und hartherzig fährt diese fort: »Andere Mädel sind tüchtiger; die fangen früher an, viel früher ,… von der Zerlin und ihrer Jugend ganz zu schweigen ,… aber mit deinem Andreas, mit dem wirst du schlafen? ,… gleich sind wir so weit; jetzt will ich nur noch versuchen, ob ich dir die Locken in die Stirn streichen soll ,… mein Gott, was ist jetzt schon wieder los?«

Aus Melittas Augen war nun wirklich der Tränenstrom gebrochen, ungehemmt und ungehemmt, und sie birgt das Gesicht in den Händen.

Zerline, hinter ihr stehend, küßt sie auf den Scheitel, streichelt ihr Kopf und Wangen: »Ist das gar so bös, Kleines? Hast Angst, daß du's nicht treffen wirst? ,… nein, Kleines, es hat's noch jede getroffen.«

Das Schluchzen wird ärger. Zusammengekauert sitzt Melitta da, und mit der Rechten winkt sie der Alten Schweigen zu.

Die Alte lächelt: »Geh, geh, tu dich nicht ,… du bist eine erwachsene Frau.«

»Solch schöner Tag war's, und jetzt ist's verdorben; jetzt kann's nie mehr schön werden.«

Da sagt Zerline streng, und da sie es sagt, scheint ihre verhutzelte Gestalt sich aufzurichten und groß zu werden:

»Mach's schön, und es wird schön sein; mach's ihm schön, damit's auch dir schön wird ,… dazu bist du geboren, und dazu wirst du gebären.«

Indes, da sie das sagte, klang noch etwas Unausgesprochenes, ja für sie Unaussprechbares mit, und obwohl es unausgesprochen blieb, es war stärker als das Ausgesprochene, und seine Stärke war fühlbar: sie gedachte des Unmittelbaren schlechthin, sie gedachte der unmittelbaren Lebensbereitschaft und Todesbereitschaft im Irdischen, heilig die irdische Unendlichkeit, die allem Weibsein auferlegt und verliehen ist, die Schwere und Erhabenheit des Diesseits in seiner furchtbaren Unentrinnbarkeit, in seiner furchtbaren Schlichtheit. Dessen gedachte Zerline, und Melitta fühlte es mit ihr und durch sie.

»Werde ich Kinder bekommen?«

»Ja, wenn's schön ist, wirst du sie haben ,… aber jetzt hast du die Frisur mir wieder ganz in Unordnung gebracht.«

Das Mädchen schaut durch den Spiegel zu der Alten auf, ernsthaft, dennoch nun gleichfalls lächelnd: »Niemand kann's verstehen ,…«

»Was? Deine Frisur? Das Kinderkriegen?«

»Nein, alles.«

»Richtig«, gibt Zerline zu, »niemand kann's verstehen. Schlaft man mit zu vielen, ist's schlecht; schlaft man mit zu wenigen, ist's auch schlecht, und schlaft man mit keinem, ist's noch schlechter. Und warum man seine Kinder just von dem einen und nicht von dem andern bekommen soll, ist so unergründlich schlecht, daß man darüber schier verrückt werden möcht. Und trotzdem muß man's hinnehmen, trotzdem mußt du's hinnehmen, trotzdem muß man's ihnen schön machen. Denn dazu ist man eine Frau.«

»Ich will nicht dran denken müssen«, sagt Melitta und trocknet ihre letzten Tränen.

»Ja, nichts denken und nur tun, das paßt dir; so machen sie's alle, tun und nicht denken ,… so ,… ruinier die Frisur mir nicht noch einmal ,… geh jetzt in den Garten runter, und ich ruf dich dann herauf sobald unser Fräulein verduftet ist. Dann hilfst du mir beim Zurichten fürs Abendbrot.«

Melitta geht hinunter, aber sie scheut sich, den dämmergrauen Garten zu betreten. Dort im Garten hat sie mit ihm sitzen wollen, Hand in Hand, aber des Wunsches Grenzenlosigkeit, ohne die er nicht Wunsch gewesen wäre, war von den harten Forderungen Zerlinens zerstört worden. Eine andere, eine neue, eine härtere und ehrlichere Grenzenlosigkeit hat sich ,– unentrinnbar ,– statt dessen angemeldet, das grenzenlos Unpersönliche des Menschenlebens. Nichts kann sie davon begreifen, nichts davon kann sie formulieren, aber sie ahnt, daß das schöne Handtäschchen seinen ersten Wert verloren hat, nicht nur weil das inzwischen Geschehene unwiderruflich geworden ist, sondern noch mehr, weil es gar nicht widerrufen werden soll. Den ganzen Tag lang hatte sie sich nach dem Andreas gesehnt und hätte doch die Sehnsucht, als wäre die nichts als ein unverbindliches Spiel, ohne weiteres, ja ohne Verlust weggeschoben und von sich getan, wenn irgend etwas, beispielsweise die Heimkunft des Großvaters, sich dazwischengestellt hätte; jetzt war die Sehnsucht vergangen, freilich auch die Möglichkeit des Verzichtes. Oh, die Sehnsucht, die den Tag erfüllt hatte, war in grenzenlose Heiterkeit getaucht gewesen, tändelnd licht seine Ungeduld; jetzt ist die Ungeduld, sehnsuchts-entblößt, ins Dunkle gerichtet, Ungeduld fast ohne Ziel, Ungeduld an sich, dennoch unbezähmbar. Die Unbezähmbarkeit der Leere! Und Melitta, die zwar gerne zu den Bänken im Gartenhintergrund gelangt wäre, dorthin wo sie mit ihm hatte sitzen wollen, sich aber bloß bis zu der gleich hinter dem Hause befindlichen vorgewagt hat, blickt in das sich einnebelnde Herbstdämmern, das langsam, ganz langsam, oh viel zu langsam sich ins Abenddunkle verschattet, und alles, was sie weiß und denkt, ist Wissen um ihre Ungeduld, ist Denken ihrer leeren Ungeduld. Dann endlich, ach endlich wird das leere Warten abgebrochen: Schritte kommen im Hause hinter ihr die Treppe herab; das kann nur das Fräulein sein, und Melittas leere Spannung löst sich ein wenig, denn nun wird Zerline sie bald rufen.

Richtig kommt nun Zerline gleichfalls herunter. Sie hat eine Blumenschere in der Hand und schimpft, weil das Fräulein nicht und nicht aus dem Haus herauszubringen war. »Aber du hast den Profit davon«, meint sie, »jetzt ist alle Arbeit droben schon getan, und du brauchst dich bloß zum Essen niedersetzen. Dafür hättest du mir inzwischen hier wirklich ein paar Blumen schneiden können.« Aber Melittas Anbot, dies nun nachzutragen, lehnt sie ab. Sie eilt zu den Beeten, und in dem graudämmerigen Nebellicht sieht man, wie sie dort, vom Klicken der Schere begleitet, gebückt von Beet zu Beet trudelt und die Blumen sammelt; mit einer kleinen Garbe im Arm kehrt sie wohlgelaunt zurück. »Gehen wir.«

In der Küche ist für zwei gedeckt; auch Wein steht da, und Zerline, eine große Kristallvase herbeischleppend, stellt diese mit den sorglich eingeordneten Zinnien daneben hin. Doch ehe sie sich noch niedersetzen, schenkt sie ein: »Mach's gut, Kind, und hab Glück«, sagt sie gerührt und stößt mit Melitta an. Und weil der Schürzenzipfel dazu erschaffen worden ist, fährt sie sich mit ihm über die Augen.

Des Weines ungewohnt, vergißt Melitta die Düsterkeit der letztverbrachten Stunde. Und nach einiger Nötigung entschließt sie sich sogar zum Essen, obwohl sie fest überzeugt gewesen war, nie mehr in ihrem Leben einen Bissen zu sich nehmen zu können. Ja sehr bald muß sie selbst zugeben, daß es ihr schmeckt, daß sie niemals noch so herrlich gegessen habe, und die belobte Zerline schmatzt ihr dafür einen Kuß auf: »Das Schönste ist ein Hochzeitsessen ohne Bräutigam ,… darfst auch noch ein Glas trinken, natürlich ,… wann denn, wenn nicht heute ,…« Jetzt ziert sich Melitta nicht mehr; das Trinken macht ihr Spaß, und die heitere Sehnsucht, die Sehnsucht ohne Ungeduld stellt sich wieder ein.

Essensmüde, redemüde bleiben sie noch eine Weile beieinander sitzen, bis Zerline, mit einem Blick auf die Küchenuhr, den nächsten Programmpunkt bestimmt: »Es ist Zeit, daß du dich waschen gehst, aber tu's richtig ,… oder muß ich dich auch das lehren?« Und sie weist dem Mädchen Badezimmer und Toilette. Kein Zweifel, das war bereits recht nötig geworden.

Wie sie dann zur Küche zurückkehren will, wird Melitta vom Vorzimmerende her angerufen: »Hier, Melitta!« Und als sie daraufhin dem Ruf folgt, braucht es nicht viel Nachdenkens, um zu erkennen, daß Zerline in A.s Zimmern beschäftigt ist. Mit Bangen tritt Melitta ein, durchquert den ersten Raum und findet im zweiten Zerline, die daran ist, das Bett mit frischem Linnen zu überziehen. Es ist eher dunkel, da bloß die Nachttischlampe angemacht ist, und die zinniengefüllte Kristallvase steht auf der Kommode. So gewöhnlich das alles ist, es erzeugt Beklommenheit, doch die wird Melitta rasch ausgetrieben, denn ehe sie sich auch nur richtig umgeschaut hat, wird sie von Zerlinens humoriger Harschheit angefahren: »Kannst du noch immer keine Tür hinter dir zumachen ,… nein, nicht diese, die draußere zum Vorzimmer.« Ach ja, sie hatte es vergessen, und eigentlich tut sie es nicht gern. Nichtsdestoweniger, sie tut es.

Mittlerweile ist Zerline mit dem Bett fertig geworden und humpelt auf sie zu: »Zieh dich aus.«

»Ich ,…?«

Zerline lacht: »Wer sonst?«

»Aber ,…«

»Nun ja, du sollst dich ausziehen.« Und als das Mädchen noch immer zögert, knöpft sie ihm die Bluse auf. Damit allerdings war das Eis gebrochen; Melitta setzt sich folgsam auf den Stuhl neben dem Bett und beginnt, als wäre es Schlafenszeit, sich systematisch zu entkleiden. Indes, wie sie das Hemd abstreifen will, stockt sie: »Ich hab ja kein Nachthemd ,…« ,– »Na, mach weiter«, drängt Zerline, »was brauchst du heut ein Nachthemd ,… aber du sollst eins haben, ich bring dir's dann gleich ,… na, wird's, laß doch das dumme Hemd schon fallen!«

Nun steht Melitta nackt da. So nackt war sie noch nie in ihrem ganzen Leben. Zerline betrachtet sie kennerisch und tätschelt sie zärtlich ab. »Alles in schönster Ordnung«, sagt sie und hebt des Mädchens Brüste ein wenig, »ein bißchen weich und schwer sind sie; die meinen waren fester in deinem Alter, aber du bist schon richtig so. Viele Männer wollen es genau so haben, sind ganz verrückt danach, und rosa Busenspitzen wie die deinen sind ihnen wie süße Milch.« Sie betrachtet die etwas zu buschigen Haare in des Mädchens Achselhöhlen, ebenso den Flaum am Schoß und erklärt sich auch damit befriedigt: »Unglaublich, daß so etwas noch Jungfrau ist ,… schau mal in den Spiegel, kannst mit dir und deinem Schöpfer mehr als zufrieden sein.« Ja, Melitta ist zufrieden, und es ist eine völlig neue Zufriedenheit, die ihr da aus ihrem Spiegelbild zugestrahlt wird, so daß sie des Hineinschauens nicht müde wird und davon am liebsten nicht ablassen möchte: sie weiß plötzlich, wie ein Mann begehrt, und was er begehrt, und sie ist ihrer Begehrenswürdigkeit froh. »Wo ist mein Handtäschchen?« fragt sie jählings erschrocken.

»Wart, ich bring's dir. Und ich bring dir auch das Nachthemd, ein schönes von unserm Fräulein.«

Zurückkommend bringt sie nicht nur das Täschchen und das Nachthemd, sondern hat auch eine große Flasche Toilettewasser mit kronenartigem Verschluß mitgebracht und die Krone aufschraubend, damit Melitta daran schnuppere, weidet sie sich an deren parfüm-ungewohntem Entzücken: »Französisch ,… die Frau Baronin hat's von deinem Andreas geschenkt bekommen; Also hast ein Anrecht darauf.«

Mit einem Mal jedoch bemerkt sie, daß das Mädchen noch die dünne Medaillonkette, an der weißbärtig des Großvaters Emailphotographie baumelt, um den Hals hatte, und mit einem Schmunzeln löst sie ihr die Schließe:

»Der Großvater hat heut nichts bei dir zu suchen; das will sich nicht schicken.«

Melitta kann nicht umhin, dies einzusehen; sie läßt den Großvater in das Handtäschchen gleiten, blickt für eine Sekunde ihm in das Dunkle nach, und mit der Miene einer Leidtragenden, die sich von einem frischen Grab wegwendet, klappt sie sodann die Täschchenbügel über ihm zusammen. Es geschah in der schönen Selbstverständlichkeit, die der Notwendigkeit anhaftet, und hatte daher auch deren Härte. Und da es geschah, spüren beide Frauen, daß alles Unmittelbare unerbittlich ist, ja daß das Heilige, in dem die letzte Unmittelbarkeit sich verklärt, niemals ohne Strenge und Härte sein kann. Denn grausam ist die Heiligkeit der unmittelbaren Nähe, ausgestreckt in jedwede Ferne, trotzdem im Irdischen bleibend, als die allem Weibsein verliehene und auferlegte irdische Unendlichkeit, welche in Gestalt der unerbittlich unmittelbaren Heiligkeit der Geschlechterfolge die Menschheitsaufgabe an sich umfaßt, die Aufgabe zur unbedingten Menschlichkeit. Und sowohl Melitta als auch Zerline sind sehr ernst geworden.

Fast wagt Melitta nicht mehr in den Spiegel zu schauen, und sie schließt die Augen, schließt sie nun sogar ganz fest, da Zerline daran gegangen ist, ihr die Haut, beginnend beim Haaransatz hinter den Ohren und, ohne ein Fleckchen auszulassen, bis hinunter zu den Knien, leichtstrichig mit dem Toilettewasser einzureiben, und dies ein noch nie empfundenes dunkelkühles Wohlgefühl hervorrief. Indes, das Nachthemd, das ihr Zerline hernach überstreift, muß sie doch sehen, und wahrlich, man kann sich daran gar nicht satt sehen: es ist unendlich lang, ist unendlich seidig, ist trotz der zarten Spitze über der Brust unendlich tief ausgeschnitten und läßt die Arme mitsamt den Schultern ganz nackt. »Richtige Braut, schöne Braut«, sagt Zerline, während sie gemeinsam mit ihr sie im Spiegel betrachtet, aber bald, für Melitta zu bald, hat sie davon genug, und sie entscheidet. »So, jetzt geh ins Bett.« Und nachdem das geschehen war, küßt sie sie nochmals, knipst das Licht ab und verläßt das Zimmer, die Türe zum Wohnraum daneben offenlassend, jedoch die äußere, die zum Vorzimmer führt, vorsichtig schließend.

Melitta liegt im Bett. Fast ist es wohlig, fast ist es wie Müdigkeit, fast ist es wie Schlummern. Alle Ungeduld ist gewichen, doch die Sehnsucht wuchs, und das dunkle Zimmer wurde Traum. Vielleicht hatte sie wirklich geschlummert. Und sie weiß nicht, wie lange es gedauert hat, da nun plötzlich, die Zeitlosigkeit unterbrechend, draußen ,– wenn auch in sehr großer Entfernung ,– Zerlinens Stimme hörbar wird. »Ja, ja, ein Geheimnis, Herr A., ja, ja, eine richtige Überraschung für Sie; gehen Sie nur hinein ,… no, wollen Sie der alten Zerlin etwa nicht glauben? Also gehen Sie schon, und machen Sie mir nicht zuviel Lärm während der Nacht ,… verstanden?«

Dann ,– mit einem Lichtschein im Nebenzimmer ,– öffnet sich draußen die Tür, und zu Melittas eigener Überraschung werden ihre Arme gleichsam selbständig, heben sich, gleichsam von ihr gelöst, ihm entgegen, oh, strecken sich ihm entgegen, ihm zur Überraschung, ja, ihm zur Überraschung. Weiß, dämmerweiß leuchten die Arme in der weichen Dunkelheit. Das ist das letzte, was in dieser Nacht Melittas Augen noch sehen. Denn es folgt die Überraschung eines ersten Kusses, eines ersten Ich-Begegnens, das nicht enden will, da die Begegnungssüße sich mehr und mehr steigert. Und es folgt (nach einer kleinen ungeschickten Mühe und ein wenig Schmerz, dennoch in ernster Selbstverständlichkeit) die Ur-Überraschung, die Ewigkeits-Überraschung, die ,– selbst wenn es nicht wie hier erstmalig geschieht, sondern zum gewöhnlichen und gewohnten Alltag geworden ist ,– immer vom Schimmer der Erstmaligkeit überglänzt bleibt, immer nur wieder Überraschung sein kann, Überraschung sein muß: das Ineinanderversinken, das Ineinanderpassen zweier menschlicher Körper.

 

IX. Erkaufte Mutter

Obwohl bloß ein Miethaus, es war eines von aristokratischem Gepräge, und darum waren die Mietverträge seiner Bewohner sozial abgestuft. Der Garten z. ,B., der sich hinter dem Haus zu ziemlicher Tiefe erstreckte, zwar schmal, dennoch wie ein Ausschnitt eines größeren Parkgeländes, da all die Nachbarhäuser mit ähnlich gestalteten, ähnlich ausgedehnten Gartenstreifen ausgestattet waren, dieser Garten war beinahe zur Gänze den Mietern des Hauptgeschosses vorbehalten, also der Baronin W. und ihrer Tochter Hildegard, während die Insassen des Oberstockes überhaupt keinen Zutritt dazu hatten und die des Parterres sich mit dem kleinen, unmittelbar an das Haus anstoßenden hofartigen Stück begnügen mußten.

Alljährlich, oder genauer gesagt allherbstlich veranstaltete Hildegard in diesem Garten eine tea party zur Einleitung der Wintersaison; so auch heuer.

Am Tag vorher war in einer ungemein heftigen Szene zwischen Mutter und Tochter die Zuziehung des Untermieters A. zu der Veranstaltung entschieden worden. Denn Hildegard hielt den jungen Mann für einen überaus unmoralischen Menschen, während die Baronin es zwar nicht unbedingt bestritt, aber dagegenstellte, daß man sich darum nicht zu kümmern hätte. Und Hildegard war daraufhin in Ungeduld geraten: »Ach Mutter, deine Libertinagen sind vieux jeu; sie gehören von Rechts wegen ins achtzehnte Jahrhundert, und darüber sind wir denn doch einigermaßen hinaus.« ,– »Ob achtzehntes oder zwanzigstes Jahrhundert, die Gesellschaft richtet sich nicht nach Privatmeinungen, sondern nach Regeln, und sie eliminiert bloß denjenigen, der gegen die Regeln verstößt; du bist jedoch offenbar außerstande, ihm einen solchen Verstoß nachzuweisen.« ,– »Damit müssen wir uns vorderhand nicht beschäftigen; hier sind wir Richter in eigener Sache.« ,– »Keineswegs; verstecken wir nämlich Herrn A., so werden wir in den Geruch kommen, daß wir aus schierer Geldnot und Geldgier eine nicht gesellschaftsfähige Person bei uns beherbergen.« »Genau das tun wir leider.« ,– »Wer in mein Haus aufgenommen ist, das ich nebenbei immer noch als das deines seligen Vaters erachte, der ist gesellschaftsfähig.« Der Hinweis auf den Vater, auf die untadelige Korrektheit des Gerichtspräsidenten, auf seine in diesem Haus für immer weiterwirkende Autorität war unwiderleglich, und Hildegard hat infolgedessen nicht umhin können, den Mieter zu dem Tee einzuladen.

Das Fest, wenn man es so nennen darf, war durch herrliches Septemberwetter begünstigt. Die Nachmittagssonne vergoldete den Garten, vergoldete die matte Buntheit seiner Astern, das müdgewordene Grün seiner Büsche, die zarte Farblosigkeit seiner Spätrosen, vertiefte die biedermeierische Ruhe seiner Anlage, wurde daran gewissermaßen selber biedermeierisch, und sogar die hier versammelten menschlichen Gestalten, wie immer sie angetan waren, die Damen teils in noch bunt-sommerlichen Kleidern, teils schon in helleren oder dunkleren Herbstkostümen, dagegen in vorwiegend schwarzen Anzügen die Herren, darunter manche, die den bereits unüblich gewordenen Cutaway angelegt hatten, ein junger Reichswehroberst in steingrüner Uniform, dies alles war in leuchtende, fast gravitätisch leuchtende Stille eingeschlossen, war es um so mehr, als die Schmalheit der Gartenwege all die Personen zu einer Art gravitätischer Unbeweglichkeit verpflichtete. Auf dem kleinen Rondell im Hintergrund des Gartens, links und rechts neben der dort befindlichen bogenförmigen, weißgestrichenen Bank, hinter der sich die efeubehangene Abschlußmauer erhob, waren zwei Gartentische vermittels Damastbedeckung in Büffets verwandelt worden; auf dem linken stand ein silberblitzender, holzkohlenunterheizter Samovar, umrahmt vom gesamten Tee-Zubehör, also von den Zuckerdosen, den kristallenen Fläschchen mit Zitronenessenz und Rum, den Sahnenkrüglein und den Reihen schön-dünnwandiger alter Porzellantassen, während auf dem Tisch rechts sich neben den großen silberunterlegten Brötchen-Platten die Tellerstöße aufstapelten. Allhier, in schwarzer Stubenmädchentracht, das weiße Häubchen auf dem grauen Scheitel, weiße Handschuhe über den gichtischen Fingern, waltete die betagte Magd Zerline ihres Amtes, freute sich der glänzenden Gesellschaft, der sie zu Diensten war, freute sich des festlichen Anblicks, wenn auch mit Abneigung gegen die allzukurzen Röcke der Damen, und freute sich des Sommer-Nachklanges in der wärmenden Sonne.

Trotzdem, die freundlich warme Erstarrung war nicht haltbar; das spezifisch Konturhafte, zu dem das Nachmittagslicht das Gesamtbild gebracht hatte oder, man darf wohl sagen verbiedermeierte, war irgendwie überaltert, ja überaltert, gleichwie der Garten als solcher mitsamt der in ihm gescharten Menschengruppe überaltert war, gerückt in eine fast falsche Spätsommerlichkeit, in ein falsches Bleiben und Weiterbestehen, kurzum in eine falsche Erstarrung, deren Statik sofort verschwand, wenn man das Bild aus etwas zusammengekniffenen Augen betrachtete: gewiß, an der vom Licht gestifteten Ur-Einheit alles Sichtbaren änderte sich auch dann nichts, konnte sich nichts ändern, doch während vorher, sozusagen auf einer äußersten Oberfläche, das Bewegte zu Unbewegtem wurde, so daß das Animalische ins Pflanzliche, das Blumenhafte ins Steinerne schlüpfte, vollzieht sich nunmehr mit einem Male das Umgekehrte, und war es vorher eine Welt unbewegter Konturen, die sich allenfalls in Farbflecke auflösen ließ, so wird sie nunmehr zu einer Welt der Bewegtheit, in der auch das Dingliche, wie immer es beschaffen sein mag, das Dingliche des Steins, der Blume, des Farbflecks, der Linie allüberall in Bewegung gerät, dynamisch werdend wie der Menschengeist selber, gleichsam einbezogen in ihn, der ruhesuchend die Ruhe unausgesetzt flieht und selbst in seinem aufbewahrenden Gedächtnis nicht statisch wird, sondern bloß in Gestalt ständiger Spannung und Vollzugs das Aufbewahrte behält, gedächtnistreu in erschaffender Untreue, weil allein die Bewegtheit konturschaffend, dingschaffend ,– und sogar die Farbe ist ein Ding ,–, also farbschaffend und weltschaffend ist. Bewegung umgewandelt zu Spannung, Spannung umgewandelt zur Linie, Linie umgewandelt zur Bewegung, kurzum Bewegung umgewandelt zu neuer Bewegung, das war es, was A. mit einem Male sah: das Unverbrüchliche der Bewegungsverwandlung, das Raumlose im Raum, den Raum im Raumlosen. A. sah es, ohne es zu sehen, und etwas fragte in ihm, ohne daß er zu solcher Frage fähig gewesen wäre: ist damit tatsächlich schon eine tiefere Einheit des Seins erfaßt? müßte hiezu nicht die Grenze des nur Sichtbaren überschritten werden?

Ja, so war es an A.s Denken, oder richtiger an seinem Auge vorbeigehuscht, raumerstarrt und raumauflösend, dahinhuschend wie die Zeit selber, ,– wo stand er? Und als könnte ihm die Zeit Aufschluß geben, blickte er auf seine Armbanduhr, welche 17.11 zeigte. Dann freilich mußte er wieder die ihm zugefallenen Obliegenheiten aufnehmen. Denn in seiner Mieter-Eigenschaft war ihm mehr oder weniger die Rolle eines Haussohnes zugefallen; er bewegte sich von Gruppe zu Gruppe, stellte Verbindung zwischen ihnen her, brachte Teetassen und bot Brötchen an, bemühte sich um Sitzgelegenheiten ,– es gab deren nicht genug ,–, auf daß die Damen zu blumenhafter Unbewegtheit Platz nehmen mögen, und während er solcherart beschäftigt war, kamen wie Insektensummen, wie Insektenschwirren von allenthalben Gesprächsbruchstücke an sein Ohr. »… ohne Manieren gibt's kein Regieren«, sagte eine der älteren Damen, die neben der Baronin auf der Rundbank unter der besonnten Efeuwand saßen, »und schon der Berliner Hof war, das darf man heute wohl aussprechen, kaum mehr recht salonfähig ,…« ,– »… was ist dieser Mann dort?« fragte einer der Zivilisten und deutete diskret zu dem jungen Reichswehrobersten hin, »Briefträger?« Der Gefragte lachte: »Seien wir froh, daß es immerhin noch Offiziere gibt und wir einen hier haben; immerhin, denn wenn man bedenkt ,…« ,– »… wir brauchten einen, der den ganzen Staatskrempel übernähme, so daß unsereiner ,…« ,– »… gewiß wird verdient, dicke sogar, soferne man nämlich unverzüglich auf Realwerte übergeht, aber ich kann Ihnen sagen, daß mir dabei unheimlich zumute ist ,…« ,– »… man wirft uns Aggressionslust vor«, sagte der junge Reichswehroberst, »man wirft sie uns vor, weil der kaiserliche Generalstab richtig erkannt hat, daß bei den allgemeinen Kriegsvorbereitungen Europas wir, die Gefährdetsten, nur dann eine Chance zum Überleben haben, wenn wir uns den Vorteil blitzhaften Angriffes sichern, ein fürchterliches Risiko, das wir trotzdem immer wieder auf uns werden nehmen müssen ,…« ,– »… wo in dieser Welt findet der Mensch noch Halt und Sicherheit ,…« ,– »… hat sich in sie verliebt, wie er mit der englischen Besatzung in Wiesbaden war, und sie lebt jetzt mit ihm in Birmingham.« Hildegard nickte der Erzählerin zustimmend zu und betrachtete deren erstklassige, unter dem kniefreien Rock sichtbaren Seidenstrümpfe: »Gewiß, es gibt immer noch welche, die das Große Los in der Heirat ziehen, aber ,…« ,– »… zu Zeiten des alten Großherzogs, nein, nicht des letzten, nein, nein, des alten, da war das Land glücklich und zufrieden, und es gab keinen, der nicht sein bescheidenes Auskommen hatte ,…« ,– »… Pola Negri ,…« ,– »… ich kann das ganze politische Geschwätz nicht mehr hören und lesen; nichts schaut dabei heraus ,…« ,– »… was läßt sich von dieser Jugend schon verlangen, verehrter Herr Hofprediger? Nach Jahren des Milchmangels, des Fleischmangels, des Zuckermangels haben wir ihr bestenfalls schlechtes Geld und schlechte Karrieren, zumeist aber gar kein Geld und gar keine Karrieren zu bieten.« ,– »Und von mir, unserer Kirche, unserem lieben Herrn Jesus wird verlangt, daß wir allein das wieder in Ordnung bringen ,…« ,– »… je gesitteter eine Gesellschaft ist, desto eher kann man sich in ihr durch Schweigen verständlich machen; heutzutage geht's nur mit Geschrei ,…« ,– »… Schweizer Franken konvertiert in Pesos ,…« Ja, dies und noch viel mehr war wie Insektensummen schwarmartig an A.s Ohr vorbeigehuscht, war höchstens spurenweise eingedrungen, war dennoch vernommen, jedes Wort, jeder Satz scharfkonturiert auftauchend, beinahe statisch dem Gedächtnis eingeschrieben, vom Gedächtnis wiedererkannt, jeder Wortsinn, jeder Satzsinn in seiner eigenen Bewegung und Spannung, dennoch aufgelöst in einer zweiten und offeneren Bewegung, aufgelöst in einer Einheitlichkeit, die jeden Einzelsinn wieder aufhob: es war A., als ob dieses einheitliche Insektensummen in jeder seiner anscheinend unabhängigen Einzelstimmen Äußerung eines gemeinsamen Befehls sei, als ob dieses ameisenhafte Stimmgewimmel zu einer unendlich großen Gesamtorganisation gehöre, die ihre geheimnisvollen, unsichtbaren, unerfaßlichen Vorschriften jeglichem Partikel trotz Einzelbeweglichkeit aufzwingt, und als ob daher sie alle, trotz scheinbaren Einzelsinns, sich selbst unverständlich, einander unverständlich durchwegs die gleiche Verborgenheit verkündeten und in ihr sich bewegten, Sinn umgewandelt zur Bewegung, Bewegung umgewandelt zum Sinn, kurzum, Sinn zu neuem Sinn umgewandelt, das Unaussprechbare eingebettet in die Sprache, doch die Sprache eingebettet im Unaussprechbaren. Als sei die Welle des Jetzt von einer unendlich fremden Zeitwelle überschnitten, so lag der Sinn des Einzelausspruches im Gesamtsinn, als gäbe es viele und aberviele Zeitwellen auf einmal, sie alle aneinander vorbeihuschend, unerklärlich im Insektenchor der menschlichen Stimmen und des Gesagten, und A. hörte das Unverbrüchliche der Bewegungsverwandlung: das Zeitlose in der Zeit, die Zeit in der Zeitlosigkeit. War es wirklich das Jahr 1923, das man schrieb? war es wirklich September?

Eingebettet ist die Zeit im Raum wie im Raumlosen, eingebettet der Raum in der Zeit wie im Zeitlosen, ob bestehend oder nichtbestehend Zeit und Raum ineinander verquickt. Jedes Geschehen, das im Sein vor sich geht ,– und nur geschehend ist das Sein jede Bewegung, jede Rede, jede Melodie trägt die Verquickung, wird von der Verquickung getragen; doch in der unauflöslichen Vielfalt der Bewegung, in diesem wahrhaft musikalischen Chor von Spannungen und Linien, den dinglichen wie den gedachten, den gehörten wie den gesehenen, erweitert sich die Verquickung zu dem, was sie ist, zur Vieldimensionalität, und im Chorhaften des Seins wird dem Auge das Vieldimensionale im Dreidimensionalen sichtbar, Realität hinter der Realität, die zweite ,– wenn auch noch lange nicht die letzte ,– unsichtbare Realität, deren Teil der Mensch ist, und in der er lebt, unabhängig von seinem Hier und Jetzt: gleichgültig wie die Personen in diesem Garten hier aussahen, gleichgültig wie sie gekleidet waren, gleichgültig ob düster oder farbig, gleichgültig welche Beschaffenheit sie unter ihren Kleidern verbargen, gleichgültig ob alt oder jung, gleichgültig welchem Geschlecht sie angehörten, gleichgültig die Züge ihrer Gesichter, sie waren allesamt in einen Stand tieferer und realerer Nacktheit versetzt, waren in ihrem Äußeren wie in ihrem Innern nichts als Partikel und Tropfen der großen, vieldimensionalen Welle, die durch sie hindurchging und dennoch sie hochhob, waren ungeachtet ihrer sonstigen Dinglichkeit, Blumenhaftigkeit, Tierhaftigkeit, Landschaftlichkeit ,– und ebenso erging es den Dingen, erging es der Blume, erging es der Landschaft selber ,– ununterscheidbar ins Dynamische unendlich vieler Dimensionen gebracht, dorthin wo das Seiende ins Nichtseiende zurückspielt und gerade hiedurch neue Seinskraft gewinnt, Welt von unendlich vielen Dimensionen.

›Noch nicht und doch schon‹ sagte etwas in A.: er fühlte die Auflösung der Welt ins Vieldimensionale, und er fühlte durchaus, daß er selber, daß sein eigenes Sein davon mitbetroffen war; indes, da dem Vorgang kaum etwas Abnormales oder gar Gespenstisches anhaftete, vielmehr die Menschen ,– erstaunlich genug ,– unverändert in Fleisch und Blut belassen wurden, und auch sein eigenes Lebensgefühl keinerlei unmittelbare Veränderung oder Beeinträchtigung erfuhr, so schien man kaum verpflichtet, der Erscheinung gewahr zu werden, obwohl gerade die ungespenstige Natürlichkeit, mit der sie auftrat, ihre tiefere Gespenstigkeit enthielt. Das Natürliche, dennoch in Gespenstigkeit ,–, war es nicht wie die erhabene Gespenstigkeit der ganz großen Alterskunstwerke, die nach dem natürlichen Wachstum eines langen Künstlerlebens entstanden sind und nun im Selbstverständlichsten die Vieldimensionalität der Seinstotalität offenbaren? Gespenstig, dennoch natürlich ,–, war es nicht einfach die Unvorstellbarkeit des in uns gespenstig, dennoch natürlich wachsenden Todes? Und ist daher die Vieldimensionalität nicht einfach Todesfrucht, allerdings edelste Todesfrucht, nämlich die Leistung des Alternden, dem es gelungen ist, durch todzugekehrte, geduldige Seinshinnahme die Aura des Wissens zu erwerben? A. schob es weg, ehe er es noch gedacht hatte; nichtsdestoweniger, als unwegschiebbarer Rest, ja sogar merkwürdig verstärkt und erneuert blieb ihm die Ehrfurcht vor dem Alter, und von dieser geleitet näherte er sich mit behutsamer Unauffälligkeit der Rundbank im Gartenhintergrund, um mit der Zartheit eines Sohnes, also nicht nur des Haussohnes, den er zu spielen hatte, der Baronin zuzuflüstern, daß sie ihm einen Wink geben möge, falls sie sich, etwa wegen Ermüdung, zurückzuziehen gedenke. »Ach ja, lieber A.«, antwortete sie, »ich glaube, es wäre an der Zeit«, und indem sie mit einem Wort der Entschuldigung sich von ihren beiden Nachbarinnen diskret verabschiedete, erhob sie sich: auf ihren Stock gestützt nahm sie A.s Arm, und eine Promenierende vortäuschend, bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge; hie und da blieb sie stehen, richtete mit dem Stock den Kopf einer Blume auf, redete auch manche von denen, die auf dem schmalen Pfad respektvoll vor ihr zur Seite traten, mit einem freundlichen Scherzwort an, und so gelangte man Schritt für Schritt zu der nunmehr ,– es war fast sechs ,– rasch in den Garten vorrückenden Schatten grenze des Hauses, kam durch die breite weiße Glastüre, deren Flügel wegen des Festes weit aufgeschlagen waren, alsbald in den kühlen Flur und zur Treppe, vor deren Bewältigung sowohl die alte Dame als auch A. sich insgeheim gefürchtet hatten, die jedoch, wenn zwar mit einiger Mühe, sich am Schluß trotzdem bewältigen ließ. »Wahrhaftig«, sagte sie droben angelangt und bemühte sich, ihren Atem wiederzufinden, »wahrhaftig, das ist die Leistung des Alternden; für mich hat so etwas bereits den Charakter einer größeren Bergbesteigung angenommen, und ich bin auch stolz wie einer, der den Matterhorngipfel erklommen hat.« A. lächelte höflich: »Noch nicht das Matterhorn, Baronin, aber doch schon ein erster Ansatz hiezu. Und vielleicht gelingt's dem Menschen einmal eine raum- und zeitlose, also auch schwerelose Welt zu schaffen.« Die Baronin hob beschwörend Stock und Hand: »Hören Sie mir damit auf; da will ich noch lieber atemlos und mit Herzklopfen die Stiege heraufklettern.«

Das Wohnzimmer, in das sie eingetreten waren, lag im vollen Abendsonnenlicht, freilich auch in voller Sonnenwärme, denn infolge des Festes hatte man vergessen, die Gardinen, wie sonst allnachmittäglich, vor die Balkontüre ,– von A. nun sofort aufgestoßen ,– und die beiden Fenster zu ziehen, bei deren rechtem der Baronin gewohnter Lehnstuhl stand; in diesen ließ sie sich jetzt mit leisem Seufzer fallen: »Müdigkeit ist eine unbestechliche Skala ,… an ihr merkt man nur zu genau, wie der Umkreis unseres Lebens sich verkleinert.«

»Der Umkreis mag sich verkleinern, aber die Intensität steigert sich dafür«, meinte A.

Die alte Frau dachte nach: »Ich möchte es nicht Intensität nennen; es ist etwas anderes ,… das Geringste wird unsereinem in so unbeschreiblicher Weise vielschichtig und geheimnisvoll, daß man darüber alles, was gemeiniglich für größer und wichtiger gewertet wird, als schier unbeachtlich empfindet.«

»Ich weiß«, sagte A., denn seit diesem Nachmittag wußte er tatsächlich einiges davon. Sonderbarerweise mußte er dabei an Hildegards geradlinig schönes Gesicht denken. Wie viel Schichten lagen dahinter verborgen? Manchmal, selten genug, öffnete es sich zu einem hellen, fast begehrlichkeitsschimmernden Lächeln, schimmernd die ebenmäßige Reihe der entblößten Zähne, doch selbst das blieb statisch, blieb in verschlossener Undurchdringlichkeit, in kristallener Erstarrung.

Indes die Baronin fuhr fort: »Und ebendeshalb werden uns Alternden und Alten die angeblich wirklichen Lebensinhalte fast langweilig; für uns haben sie nämlich den Reiz des Geheimnisses verloren. Dagegen wird alles, was Form ist, uns immer geheimnisvoller und fesselt mehr und mehr unser Interesse ,… die Form ist das Abenteuer des alten Menschen, auch wenn es bei vielen von uns bloß um gesellschaftliche Formen geht ,…«

»Ja«, stimmte A. zu, »je älter ein Künstler wird, desto formbedachter pflegt er zu werden.«

Und sie fuhr fort: »In unserm Spiel mit dem Geheimnis der Form gleichen wir Alten den Kindern, verspielt wie diese und unmoralisch wie diese ,… im Reich der Formen, nicht zuletzt dem der gesellschaftlichen, gibt es keine Moral, höchstens moralähnliche Regeln; ob man töten darf ist hier gleichgültig, bloß die Art, wie man es tut, gilt und wird bei Verstößen geahndet ,… das Kind ist über die Form noch nicht hinausgelangt, wir aber, die wir das Reich der Inhalte hinter uns gelassen haben, sind zu ihr zurückgekehrt ,… wären wir nicht so verspielt und ansonsten eigentlich interesselos, wir Alten wären letztlich allesamt von verbrecherischer Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit, wären schlechterdings Verbrecher ,…« ,– sie lachte ein wenig ,–, »… das hätte ich meinem guten Mann allerdings nicht erzählen dürfen; nur daß ich das in meiner damaligen Dummheit noch nicht gewußt habe ,… ach, warum setzen Sie sich denn nicht?«

Aus der Sitzgruppe beim Ofen den nächstgelegenen Stuhl heranziehend, setzte sich A. zur Baronin hin: »Kein Mensch ist alt, Frau Baronin ,… in den kurzen Jahren, die ihm vergönnt sind, hat das Ich, hat die Seele keine Zeit, sich zu verändern.«

»Wie man's nimmt, lieber A. Es kommt immer nur auf Nuancen an; die Jugend hat alles Zeug, um moralisch zu sein, und wird durch ihre Triebe, durch ihre unentrinnbare Verhaftung an die Lebensinhalte und durch manches andere immer wieder an der Moralausübung verhindert, während wir Alten, die wir uns endlich zur Amoralität durchgerungen haben, eben an ihr uninteressiert geworden sind, nicht nur wegen unserer Schwäche, nein, noch viel mehr, weil unser Interesse sich vom Inhalt ab- und der Form zugekehrt hat. Was übrigbleibt, sind dann eben bloß Moralnüancen, immerzu ein wenig gut und ein wenig schlecht zugleich, wie man's eben nimmt. Und«, ,– sie lachte wieder ein bißchen vor sich hin ,–, »vielleicht sind's nur Umnüancierungen unserer Dummheit.«

»Sie meinen also, Baronin, daß die einen mit schlechtem Gewissen unmoralisch und die anderen mit nicht minder schlechtem Gewissen moralisch sind?«

»Hm, hm, beiläufig so meine ich's.«

»Mag sein, Baronin. Aber was soll man da tun? Ich, zum Beispiel, wüßte wirklich nicht zu sagen, ob ich mit gutem Gewissen unmoralisch oder mit schlechtem etwa doch moralisch bin.«

Sie schaute ihn aufmerksam an: »Die junge Generation von heute weiß das tatsächlich nicht; sie scheint nämlich schon mit moralischen Alters Symptomen geboren zu sein.«

»Stimmt, Baronin; formalistisch und inhalts-unsicher und unberechenbar, genau das sind wir.«

»Und Hildegard hält Sie für einen unmoralischen Menschen.«

A. stutzte: »Als Lob oder als Beschimpfung?«

»Wahrscheinlich beides ,… und was wissen Sie darüber? Erzählen Sie; hier bin ich ausnahmsweise inhaltsinteressiert.«

»Ich bin sowohl des Lobes als auch der Beschimpfung unwürdig.«

»Ausflüchte, lieber A., wo Rauch ist, da ist auch Feuer ,… womit also haben Sie die Indignation meiner Tochter so sehr erregt?«

Natürlich handelte es sich um Melitta, um dieses süße kleine Mädchen, das nun seit zwei Tagen seine Geliebte war und höchst unmoralischer Weise die beiden Nächte hier in der Wohnung verbracht hatte: es war unter Zerlinens Beihilfe, ja vergnügter Kupplerschaft geschehen, vergnügt, nicht nur wegen der Tatsache als solcher, sondern noch viel mehr, weil sie Melitta, die ja doch nur eine kleine Wäscherin, also für A. etwas durchaus Unstandesgemäßes war, als ihresgleichen betrachtete. Und zweifellos hatte Hildegard davon Wind bekommen. Denn diese hatte in ihrem kalten, neugierigen Mißtrauen ganz bestimmt an seiner Tür gehorcht und wohl auch Zerline ausgeholt, auf deren Diskretion ,– und gar, wenn sie hoffen durfte, damit irgendwem und besonders ihrem Fräulein eins auszuwischen ,– sicherlich nicht zu bauen war. Und natürlich durfte man nichts von alldem der alten Dame erzählen, vielmehr mußte sie, und sei's um den Preis eines kleinen Schocks, auf ein anderes Thema gebracht werden: »Baronin, das ist eine telepathische Indignation des gnädigen Fräuleins.«

»Was soll das heißen? hat sie Ihre Immoralität telepathisch diagnostiziert? Ich glaube, Sie bewegen sich weiter in Ausflüchten.«

»In der Tat ist es eine telepathische Diagnose. Denn meine immoralischen Absichten habe ich bisher noch niemandem verraten.«

»Und die wären?«

»Ich werde nicht umhin können, im Oktober Ihr mir so lieb gewordenes Heim zu verlassen.«

»Nein!« Die Baronin war ehrlich entsetzt. Wirklich, ihre Hände zitterten.

»Doch, Baronin; ich habe das Alte Jagdhaus im Wald draußen gemietet, sogar mit Vorkaufsrecht, denn ich denke daran, mich dort dauernd niederzulassen.«

»Aber das ist ja schrecklich, ganz schrecklich ,… und noch dazu das Alte Jagdhaus!«

»Mein Gott, Baronin, das ist doch nicht so schrecklich. Im Gegenteil, sobald ich draußen installiert sein werde, hoffe ich, Sie als meinen geehrtesten Gast dort begrüßen zu dürfen.«

Die Baronin konnte sich noch keineswegs fassen: »Ich war nie dort draußen ,… aber das ist lange her ,… nein, nein, ich war nie dort ,… und dann müssen wir einen neuen Mieter hier suchen ,… ich habe jemanden, der dort gewohnt hat, damals gekannt ,…«

»Die neue Vermietung hier braucht Ihnen keine Sorge zu sein, Baronin; wenn Sie gestatten, werde ich die Zimmer hier als Absteigquartier für meine Stadtbesuche noch eine Zeitlang behalten.«

»Oh, das ist gut.«

»Und umgekehrt werden Sie Ihr Absteigquartier bei mir draußen im Wald haben. Denken Sie nur, wie viele Jahre Sie nun unterbrechungslos an die Stadt und an diese Wohnung gebunden gewesen sind.«

»Ja, aber ,…« ,– die Baronin versuchte sich einigermaßen zurechtzufinden ,–, »das Jagdhaus ,… weder Hildegard noch die Zerlin werden mich hinausgehen lassen ,… sie fürchten stets, ich könne an meiner Gesundheit Schaden nehmen ,… und schließlich ist das nicht ganz unbegründet; in meinem Alter benötigt man keiner Abwechslung mehr, geschweige denn irgendwelcher Abenteuer ,… nein, die beiden haben recht, wenn sie mich als Gefangene behandeln ,…« Sie machte eine fast bettlerhafte Gebärde ,–, eine Bettlerin neben dem Gefängnistor, mußte A. denken.

»Ich will Sie jedenfalls in die Freiheit entführen; wir wollen sogar Ihre zwei Gefangenenwärter mitnehmen.«

»Nach ein paar Jahrzehnten Gefangenschaft weiß man mit der Freiheit nichts mehr anzufangen ,… man kann und will das Abenteuer nicht mehr bestehen ,… das Jagdhaus wäre ein Abenteuer und wäre doch keines mehr ,… ich habe mir leider Weisheit erworben, Haft-Weisheit ,…«

Es dämmerte bereits beträchtlich, und man hörte viele Schritte drunten im Hausflur, gleich hernach leichtes Stimmengeschwirr auf dem Gehsteig unterhalb des Balkons: »Ihre Gesellschaft ist im Aufbrechen begriffen, Baronin.«

»Immerhin, es ist an der Zeit, und es ist Zeit zum Abendbrot; ich hoffe, daß die Zerlin bald kommt.« Der Schock war, wie das so oft bei alten Leuten der Fall ist, auch hier durch den Gedanken an das Essen überwunden, und A. war beruhigt.

»Ich will zur Beschleunigung ein bißchen beim Wegräumen mithelfen, schon auch damit wir das Geschirr vor Dunkelheitseinbruch hereinbekommen.«

»Ja, ja«, stimmte die Baronin eifrig zu, »und Vorsicht beim Hereintragen, die kostbaren Tassen.«

A. eilte in den Garten; die beiden Gefangenenwärter waren bereits in voller Aufnahmetätigkeit, und Zerline, in sachhafter Selbstverständlichkeit, deutete mit dem Kinn zu einem porzellan- und glasvollgepackten Servierbrett hin, das schon des Abtransportes harrte: »Das können Sie gleich hinaufnehmen ,… aber Vorsicht!« A. tat wie ihm befohlen, und das wiederholte sich einigemale. Als alles hinaufgeschafft war, da war auch des letzten Dämmerlichts Weichheit weggeblaßt, war von dem allerdings härteren Un-Licht der Sterne abgelöst worden, die mit zunehmender Raschheit sich nun zur Vollzähligkeit verdichteten. Und A., in der Tür zwischen Küche und Vorzimmer stehend, schlug vor, mit Hilfe seiner Taschenlaterne nach etwa noch zurückgebliebenen Stücken zu suchen. »Überflüssig«, entschied Zerline, »ich will erst mal nachzählen, und was fehlt, finde ich morgen früh; niemand wird's in der Nacht stehlen.« Doch weil er sich trotzdem weiter nützlich machen wollte, wies er auf die beiden schwerfälligen, das Vorzimmer verstellenden Vitrinen: »Soll es gleich da eingeräumt werden?« Sie maß ihn verachtungsvoll: »So ungewaschen wie es ist? Aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Vorerst muß ich das Abendbrot richten, sonst wird mir die Frau Baronin noch ungeduldig ,… gehen Sie aus?«

Ja, er wollte ausgehen.

Sie dämpfte ihre Stimme: »Mit der Melitta?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum? Ihr habt doch noch nicht etwa schon genug voneinander?«

Die Frage war ihm unangenehm, aber er antwortete der Wahrheit gemäß: »Sie hat es plötzlich mit der Angst gekriegt, daß just heute ihr Großvater heimkehren würde. Ist er bis übermorgen nicht gekommen, so ist er angeblich erst wieder im Oktober fällig. Doch bis übermorgen will sie sich nicht vom Hause wegrühren.«

»Also zwei Nächte nix ,… am Anfang hat's halt jede mit der Angst zu tun; junge Mädeln sind so, und die ist ohnehin brav.«

»Und ob ,… hier kann das übrigens nicht so weiterlaufen. Übermorgen führe ich Sie zum Abendessen aus, und dann werden wir sehen, wie sich die Sache anders einrichten läßt.«

»Recht; inzwischen soll sie sich ausschlafen ,… heut morgens ist sie um Fünfe davon.«

»Sie können einem geradezu unheimlich werden, Zerline ,… Sie haben keine Ruhe, ehe Sie nicht wirklich alles haargenau wissen.«

»Freilich muß ich das; ich hab einen leichten Schlaf ,… wenn ich will.« Wiederum zeigte sich der vergnügte Kupplerinnenblick in ihren Augen.

Er hatte die Hand auf der Türklinke. »So ohne Hut?« bemängelte sie. »Sie wissen doch, Zerline, daß ich Hüte immerzu verliere. Also lasse ich einen neuen lieber zu Hause, sicherheitshalber.« ,– »Ein feiner Mann wie Sie geht nicht ohne Hut aus; nehmen Sie ihn nur.« Indes, ehe er dem Folge zu leisten vermochte, kam Hildegard aus dem Wohnzimmer geschossen. Ihr schmal geschlossener Mund schien womöglich noch zusammengepreßter als sonst zu sein, und blasser als sonst die Elfenbeinfarbe ihres Gesichtes: »Das hat noch gefehlt«, zischte sie im Vorbeigehen A. an und warf die Küchentür hinter sich zu. »Na schön, da haben wir's«, sagte die Magd nicht ohne Zufriedenheit, und ihre Miene unter dem weißen Zofenhäubchen glich der eines Clowns bei einer mißglückten Produktion. A. mußte lachen: »Ja, da haben wir's, und ich mutmaße, daß Sie das Ihrige dazu beigetragen haben.« ,– »Ich? nix hab ich ausgeplaudert!« »Aber überraschend geschwind haben Sie jetzt erraten, was ich gemeint habe.« ,– »Ich errat' alles überraschend geschwind; trotzdem hab ich kein Sterbenswörtchen gesagt.« ,– »Hand aufs Herz, Zerlinchen?« ,– »Hand aufs Herz, Herr A. halt, Herr A., halt, Ihr Hut ,…« Doch da war er schon barhaupt davongeeilt.

Auf der Straße überlegte er, wohin sich wenden. Die Bahnhofwirtschaft war unter den verfügbaren Gaststätten die phantasieloseste, aber die nächstgelegene, hatte nebenbei auch den Vorzug gediegen kräftiger Kost, und A., zu seiner eigenen Beschämung, in einem Anflug kulinarischer Phantasielosigkeit, überquerte den Fahrdamm, um durch die Parkanlage des Bahnhofplatzes zu jenem Speiselokal zu gelangen. Und als er nun jenseits der Straße stand, im Atem der Anlage und ihres nebelfeuchten Septembergrüns, ergriff ihn aufs neue das Unvorstellbare, die Vieldimensionalität des innern und äußern Seins: war es ihm am Nachmittag durch die Menschenmenge herangetragen worden, durch die Gestaltenvielfalt, die er gesehen und gehört hatte, so geschah es jetzt akzentuierter, wenn auch noch lange nicht vollbewußt durch die Leere des ihm so wohlbekannten steinern-dreieckigen Platzes, der nun trotz oder wegen seiner menschenleeren Ruhe das Räumliche abtat und zu Spannung und Geschehen wurde. Der Prozeß der Verwandlung, der Prozeß der Nacktheit, der Prozeß des Ineinander- und Auseinanderströmens aller Kosmospartikel hatte aufs neue angehoben, der Prozeß des Nicht-Seins, in dem das Sein zur Erkenntnis wird und doch immer wieder sich aufhebt, der Prozeß des Mittelpunktes und seiner Strahlung. Hatte dort der Mittelkiosk an der schrägen Verschneidungsstelle der beiden S-geschwungenen Hauptwege des Parkes nicht das Aussehen eines Grabes? zeigte er mit den drei leuchtenden Zifferblättern der ihn bekrönenden Uhr nicht die ewige Stelle des Todes an? Oh, warum die Uhren, warum die Pünktlichkeit der dreidimensional technischen Gewalt? Der antike Mensch brauchte keine Uhren, und der orientalische würde sie, wäre er nicht vom Abendland bedroht, noch immer nicht brauchen, denn er hat sich mit der Vieldimensionalität des Seins und des Todes abgefunden; nur das Abendland ,– vielleicht wegen seiner Todgeweihtheit kann sich damit nicht abfinden: es versteckt den Tod im Lärm, einerseits in dem der seelenlärmenden Phrasen, die zur Lebensvernichtung zugunsten der Dreidimensionalität, so etwa zugunsten des Vaterlandes und ähnlicher irdischer Dinge, auffordern, andererseits in dem erbarmungslos befehlenden Lärm der Technik, die ihm unaufhörlich vortäuscht, daß keine Dimensionslosigkeit die Pünktlichkeit der Zeit, keine Vieldimensionalität die Festigkeit des Raumes jemals aufheben werde, freilich ohne daß die Phrase in ihrer Todesüberhöhung, die Technik in ihrer Todesnichtachtung ,– wie innig gehören sie zusammen! ,– je ihr Versprechen wahr zu machen vermöchten, feigheitsgeschlagen und unendlichkeitsblind und todesunterworfen sie beide. Und ebendarum muß der abendländische Mensch stets seine Uhr zu Rate ziehen, sich vergewissernd, daß er die Zeit und damit die Dreidimensionalität nicht verloren hat, die Zeit messend, die zum Grabe hinführt. A., dem uhrbekrönten Mittelkiosk sich nähernd, war es, als zeige ihm etwas den Weg zum Mittelpunkt seiner selbst, den Weg zu der unendlichkeitsgeöffneten keuschen Stille des innersten Ichs, zur Keuschheit der innersten Erkenntnis und ihrem zarten Mut, der fähig wird, sich des Unvorstellbarsten zu bemächtigen: oh, unvorstellbar ist schon das Wegsterben des Ichs aus der verbleibenden Welt, unvorstellbarer jedoch das Nicht-Sein als solches, das totale Nicht-Sein, das auch das der Vorstellung miteinschließt, das Sein der Nicht-Dimensionalität, in der letztlich das der unendlich vielen Dimensionen aufgeht, und wer bis zu solch äußerstem Vorstellungsrand vordringt, dem ist es für diesen Augenblick, allerdings bloß für diesen einen Augenblick gelungen, nicht-seiend zu werden, für diesen einen Augenblick den Tod zu überwinden. Das ist die Todesüberwindung des Sterbenden, dem die Gnade eines vollbewußten Lebens zuteil geworden war und nun die eines vollbewußten Sterbens zuteil wird, und es ist vielleicht auch die Todesüberwindung des Kunstwerkes, da der Künstler dem Sterbenden am nächsten steht, ja es mag sogar auch die jenes Architekten gewesen sein, der einstens hier den Bahnhofsplatz entworfen hatte, geleitet von der Spannung des Nicht-Seienden, geleitet von der Spannung der unendlich vielen Dimensionen, deren weltschaffendes und weltaufhebendes Geschehen nunmehr ringsum sichtbarer wurde. Von den Stadthäusern an der Dreiecksspitze bis zum Bahnhof an der Dreiecksbasis, von der glimmenden Lichtreklame über den Häusern dort bis zu den technischen Geräuschen des Bahndienstes hier bebte die Leerheit des Platzes, Maß in Maß verströmt, dem Unendlichen entgegen, aber A. war ein schwacher Mensch, und er ertrug es nicht länger. Er blickte auf die Uhr, welche das Herannahen der achten Stunde anzeigte, und hungrigen Magens ,– die Brötchen zum Tee waren nicht ausreichend gewesen ,– schritt er der Bahnhofswirtschaft zu.

Der Hauptsaal der Wirtschaft war ein riesiger, übermäßig hoher Raum, der durch Holztäfelung und Tiergeweihschmuck, sowie durch die Einbeziehung des sparrendurchquerten Daches offenbar den Eindruck einer germanischen Königshalle erwecken wollte, und er war von beträchtlichem Lärm erfüllt, wahrlich nicht einem der Seele, ja nicht einmal dem der Technik die bloß mit dem Ausrufen der Züge sozusagen sekundär hereinreichte ,–, wohl aber einem der Massenabfütterung. Gewiß, es gab daneben noch einen stilleren »Speisesaal I. Klasse« mit weißgedeckten Tischen, doch den städtischen Schiebern war es da nicht fein genug, und den Bauern, neben jenen das einzig zahlungskräftige Publikum, war es da zu fein; solcherart war der Speisesaal eine museale Reminiszenz einer schönern, hierarchisch gefestigteren Epoche geworden, ein Inbegriff der guten alten Zeit, ohne daß darum deren Wiederkehr von irgendjemandem (außer von den abgedankten, verarmten Volksschichten der Aristokratie und des Mittelstandes) wirklich erwünscht oder gar angestrebt wurde. Nicht minder sinnfällig hingegen tat sich die neue Zeit an der germanischen Königshalle kund, die eigentlich erst jetzt ihrer Baubestimmung gerecht zu werden schien, da sie zum Ort einer geradezu konstanten bäuerlichen Prasserei geworden war, nicht zuletzt infolge eines vorzüglichen Sauerbratens mit Kartoffeln und Gurken, seit jeher schon der Bahnhofwirtschaft Ruhm, um so mehr als sie hiezu ein ausgezeichnet gekellertes, starkbräuiges Dunkelbier ausschenkte. Von dieser plebejischen Festlichkeit und Kulinarität war auch A. angelockt: Ellbogen an Ellbogen saß er da mit den rauhsprachigen Ökonomen am hartbohligen, braunglänzenden Tisch, dessen Platte, sooft ein Gast aufstand, feucht überwischt wurde, saß da wie ein städtischer Besucher ländlicher Kirchweih, freilich einer eher nüchternen Kirchweih, denn so sehr auch bei einer richtigen Kirchweih sich die Wirtshausgespräche vornehmlich um Lieferungen und Preise drehen, es fehlte hier die Außerordentlichkeit des Feiertages und der bunt-fröhliche Buden-Klimbim, kurzum der Zauber des Außerordentlichen. Aber es fehlte nicht minder die Nachbarschaft der Kirche, die Nachbarschaft der Ställe mit dem Vieh, die Nachbarschaft der Scheuern und der aufgestapelten Frucht, die Nachbarschaft des nächsten Werktages und seiner Arbeit; hier galt das alles nichts, vielmehr war es mitsamt seiner Ländlichkeit in ein unvorstellbar fernes Irgendwo gerückt, und statt dessen war einzig und allein eine düster-rustikale Börsenstimmung geblieben: allenthalben wurden Käufe und Verkäufe getätigt, und jeden Augenblick wurde eine zum Bersten volle, banknoten-gespickte Brieftasche gezückt, mit deren kaum gezähltem Inhalt etwas Nicht-Existentes gezahlt wurde.

Und nun entdeckte A., daß es nicht nur der Sauerbraten war, der ihn hierhergezogen hatte, sondern daß da auch Melitta und vorwiegend Melitta im Spiele war. Gestern wie heute nämlich war in seinem Gedächtnis etwas Sonderbares vor sich gegangen. Gestern wie heute nämlich war ihm das Mädchen, nachdem es ihn des Morgens, freilich allzu frühen Morgens, verlassen hatte, schier unvermittelt wieder seinem Gedächtnis entschwunden; er wußte um sie, die Entschwundene, er wußte um die Verwirrtheit der ersten und um die Süße der zweiten Nacht, ja er wußte sogar um die Entzückung und Verliebtheit, die aus dem überraschungssüßen Staunen sich entfaltet hatte, indes, das Bild blieb blaß, einesteils wohl, weil man sich von jemandem, den man eigentlich bloß im Bett kennengelernt hat, überhaupt kaum ein scharfes Bild machen kann, andern teils jedoch, und das geht darüber weit hinaus, weil es der Sehnsucht ermangelte, der Sehnsucht nach jenem fremden Ich, dem die ,– wahrlich in sanfter Demut empfangene ,– Wunderaufgabe der Selbstoffenbarung zugefallen war, und dieser Mangel an Sehnsucht machte A. gegen sich selbst mißtrauisch: Melittas Auftauchen hatte ihn an eine kumpanhafte Vertraulichkeit Zerlinens ausgeliefert, gegen die er rebellierte ,– unter ihrem rechenschaftsheischendem Gefrage wurde für sein versagendes Gedächtnis Melitta vollends zum unerinnerbaren Schemen ,–, und fast war es ihm, als wollte er die Degradation, die er, berechtigt oder unberechtigt, in der Kumpanei fühlte, das Mädchen entgelten lassen, indem er, auf dieses die Degradierungsgefühle ausdehnend, sich in der Baronin und Hildegards feinem Haus wenigstens tagsüber solch simpler Liebe nicht zu erinnern wünschte und tatsächlich auch just die feine Teegesellschaft zum Anlaß genommen hatte, um zur Legitimierung der Vergessenswünsche alles innere und äußere Sein so gründlich ins Nicht-Dimensionale und Viel-Dimensionale aufzulösen, daß jegliche Erinnerung daraus verschwinden mußte ,–, war es da nicht notwendig und natürlich, eine einfache und, sei's drum, plebejische Umgebung aufzusuchen, auf daß in deren unerschütterlicher Dreidimensionalität und Erdenschwere die verlorene Erinnerung gesucht und vielleicht wiedergefunden werde? Gerade Zerlinens indiskrete Fragen hatten, wie er jetzt feststellte, solchen Entschluß, solche Erwartung geweckt.

Allein, es war eine Fehlannahme gewesen. Gewiß, nach drei Dimensionen, gemäß ihrer Irdischkeit, erstreckte sich die germanische Königshalle, und an der Dreidimensionalität der Bauerngestalten, selbst der spindeldürrsten, geschweige denn der dickbäuchigen, war nicht zu zweifeln; Kopfkugeln und Bauchkugeln, Leibprismen, Gesäßkuben und Armröhren erfüllten das Prisma des Raumes, der an den Lichtkegeln sich aufbaute, und trotzdem wuchs aus all den dreidimensionalen Gebilden, gerade weil sie so präzis eindeutig als solche zu erkennen waren, ihre Vieldimensionalität, und sie alle, wie sie da saßen, sie wurden mitsamt ihrem Getafele, ihrem Gefeilsche, ihrem Geschrei ebenhiedurch zur kosmos-durchdringenden Spannung transponiert: irdische Bauernleiber waren sie, irdische Bauernleiber blieben sie und waren es trotzdem schon nicht mehr, konnten es nie mehr werden, selbst dann nicht, wenn sie aus ihrer hiesigen gottlosen Unnatur in ihre eigenste Natur zurückkehren werden, hinaus zu ihrer erdzugewandten, erdzugebeugten Arbeit am Pflug und an der Egge, zurückkehrend zu ihren betreuenden Verrichtungen im Stall und zur Bedächtigkeit ihrer gottgefälligen Sonntagsruhe. Denn der Beschauer hat sich gewandelt und kann sie nicht mehr als das sehen, was sie einstens waren, und sie selber haben sich gewandelt und können sich nicht mehr als das empfinden, was sie einstens waren; eins gehört zum andern, und wer sich erinnern will, wird eine neue Art der Erinnerung finden müssen, gewandelt auch diese. A. hatte die Flucht hierher nichts genützt; er konnte Melitta hier nicht finden.

Dagegen blieb die Erinnerung an Hildegard intakt, obwohl diese doch sicherlich nicht zu Sauerbraten und Kartoffeln und dem sonstigen plebejischen Getriebe hier paßte. War also das schon die neue Art der Erinnerung im Vieldimensionalen? Hildegard war mit dem Garten hinter dem Haus, war mit dem Bahnhofsplatz draußen seltsam verquickt, ja identisch, aber sie war schlechterdings unvorstellbar als Bettgenosse, war niemals seine Geliebte gewesen und sollte es niemals werden ,– schon der bloße Gedanke daran flößt ihm Furcht ein ,–, so daß es geradezu absurd wird, sich ihrer statt Melitten erinnern zu können, jawohl, einfach absurd! Und plötzlich wußte er, plötzlich weiß er es: wem sich die Dimensionen des Seins auflösen, dem wird es auch genommen werden, je wieder mit einer Frau zu schlafen. Ist das der künftige Zustand der Menschheit, also ihr Ende? ihr Tod durch Erkenntnis? Begründet sich hierin die zwiespältige Haltung des Menschen, freilich nur des abendländischen und im besondern des deutschen Menschen in Ansehung der Erkenntnis, die ihm Lebensgewinn und Todesgewinn in einem ist, Verlockung und Furcht? Begründet sich hierin die Bösartigkeit des Abendlandes? Nun, irgendwie wird der Mensch sich aus solchem Dilemma schon noch retten; er läßt sich seine Schlaferei nicht so rasch rauben, und er wird sie genau so an die neue Erkenntnis adaptieren, wie er sein Gedächtnis wird adaptieren müssen. Nur für den gegenwärtigen Weltaugenblick ist's ein Dilemma, nur für diesen ist's die Gefahr der Seinsauflösung, nur für diesen wär's angezeigt, mit Melitta zu fliehen. Flucht? Wohin? Etwa gar bis nach Afrika? Langsam trinkt A. den steinernen Maßkrug leer, ernsthaft überlegend, ob er sich noch einen genehmigen soll. Flucht vor der Seinsauflösung? Die Flucht hierher war mißglückt; Melitta blieb verschwunden, während Hildegard sich ohneweiters ins Gedächtnis rufen ließ. Er wird sich als Kompromiß noch eine Halbe bestellen; mit dem Entkommen ist's eine schwierige Sache.

Und wie zur Bestätigung taucht nun hier inmitten des plebejischen Qualms Hildegard wirklich auf. A. ist nicht erstaunt.

Raschen Schrittes war sie zu dem Speisesaal I. Klasse hingesteuert, und als sie diesen leer fand, durchspähte sie die Germanenhalle; A. war aufgestanden, damit sie seiner gewahr werde, und sie hatte ihn bald entdeckt; etwas eckig in ihren Bewegungen, aber in ihrem Gang fast schwerelos, kam sie auf ihn zu; »Hier ist es zu lärmend«, sagte sie, »zahlen Sie und lassen Sie uns in den Warteraum hinübergehen.«

Und als das geschehen war und sie auf den schwarz-ledernen Wartesaalstühlen saßen, hob sie an: »Ich habe vom Balkon aus bemerkt, daß Sie sich dem Bahnhof zuwandten; es bedurfte nicht viel Phantasie, um Sie hier zu finden. Ich will mit Ihnen ohne Lauscher reden.«

A. war überzeugt, daß es Vorwürfe wegen der beiden nächtlichen Besuche Melittas geben würde, und er wappnete sich dagegen. Doch Hildegard sagte bloß: »Sie haben also das Alte Jagdhaus erworben?«

Er konnte das bloß bestätigen.

»Und Sie haben tatsächlich meine Mutter dorthin eingeladen?«

Auch das ließ sich bloß bestätigen.

»Und warum haben Sie mich nicht früher davon verständigt?«

»Ich habe den Abschluß erst heute morgens getätigt.«

»Und da haben Sie gleich damit brühwarm zu meiner Mutter laufen müssen ,… ich halte das für eine richtige Taktlosigkeit. Sie hat sich über die Sache maßlos aufgeregt, und es wäre Ihre Pflicht gewesen, ihr das zu ersparen.«

»Die Frau Baronin war über meinen geplanten Auszug etwas bestürzt, und gerade das habe ich durch meine Einladung gemildert.«

»Ein alter Mensch wird von vielerlei Motiven bewegt, die ihm unter gewissen Umständen sogar gefährlich werden können, wenn man sie mit ungeschickter Hand aufrührt, und mögen Sie nun auch schon lange genug in unsrem Hause gelebt haben, um einiges zu wissen, besonders da unsere gute Zerlin sich keinerlei Hemmungen auferlegt, so wissen Sie doch nicht, was alles bei meiner Mutter gefährdend wirken mag. Kein Außenstehender ist imstande, das zu ermessen, und ebendarum halte ich meine Mutter tunlichst von Außeneinflüssen fern. Sie haben mich umgangen, ja fast möchte ich behaupten, daß Sie mich willentlich hintergangen haben, und Sie haben da einen geradezu unverantwortlichen Eingriff in das Leben meiner Mutter vorgenommen. Und selbst wenn, wie ich zu glauben bereit bin, Sie sich hiebei von nichts anderem haben leiten lassen, Sie hätten sich immerhin überlegen dürfen, daß alte Bäume womöglich nicht versetzt werden sollen ,… Sie spielen mit dem Leben dieser alten Frau.«

»Sie messen einer einfachen, ich möchte nicht sagen gesellschaftlichen, wohl aber freundschaftlichen Einladung allzu schwere Konsequenzen zu.«

»Führen Sie sich bitte nicht allzusehr als den Unwissenden auf. Daß meine Mutter die Einladung als eine dauernde betrachtet, kann Ihnen nicht entgangen sein. Ist sie einmal im Jagdhaus draußen, so wird sie niemand mehr zu einer Rückkehr bewegen.«

»Das ist mir neu, und ich nehme es mit ehrlicher Freude zur Kenntnis.«

»Ich hoffe, daß es Ihnen mit dieser Freude ernst ist. Denn Ihnen würde ja die unmittelbare Obsorge für meine Mutter zufallen. Wir wollen hoffen, daß sie den Veränderungsschock, gelänge es mir nicht, ihn noch zu vermeiden, aushalten wird; ja, das wollen wir hoffen ,… wären Sie dann gewillt und imstande, dem darauffolgenden langen Lebensabend, der unsere Hoffnung ist, allen erforderlichen Beistand zu leihen?«

»Wenn Sie das Finanzielle meinen, so bin ich gerne bereit, Ihnen ausreichende Garantien zu geben.«

Der dünngeschlossene Mund des Fräuleins ließ das Lächeln sehen, das ihn mitunter so sehr verschönte: »Das ist gewiß etwas ,… doch ich meinte das Finanzielle nur in zweiter Linie ,… ich dachte beispielsweise daran, daß Sie eines schönen Tages werden heiraten wollen, und das ergäbe eine unhaltbare Position für meine Mutter; sie wäre Ihrer Frau sowohl materiell als auch seelisch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Und dagegen gibt es keine Garantie.«

A. stimmte belustigt zu: »Nein, gegen schlechte Schwiegertöchter, wenn man das so nennen darf, gibt es keine Garantie.«

»Wann gedenken Sie zu heiraten?«

Also geht es doch um Melitta, dachte A., es geht doch um sie, wenn auch auf Umwegen, und er sagte: »Meine Heiratspläne sind mir zumindest ebenso unbekannt wie Ihnen, meine Gnädige.«

Das Lächeln der Zustimmung blieb in ihrem Gesicht: »Immerhin eine Hoffnung ,… und wenn es trotzdem geschähe?«

»Also ernsthaft gesprochen, die finanziellen Garantien blieben jedenfalls in Kraft, so daß eine Auslieferung auf Gnade und Ungnade, wie Sie es nennen, überhaupt nicht in Frage kommt. Zudem sind Sie selber zur Stelle, und schließlich ist auch noch Ihre alte Zofe da; man könnte wohl meinen, daß das genügt.«

»Ich scheide aus. Ich räume das Feld. Ich mache reinen Tisch.«

A. war in einer ihm seltsam unbekannten, seltsam tiefen Schicht getroffen: »Wie ist das zu verstehen?«

»Sind Sie wirklich blind, Herr A.? Sind Sie noch immer nicht gewahr geworden, daß Sie bei alldem ein Spielball in der Hand Zerlinens sind?«

Das war nun freilich eine überraschende Mitteilung. In welcher Form sollte Zerline ihn zur Erwerbung des Jagdhauses veranlaßt haben? Doch nicht etwa durch die sicherlich etwas kupplerische Begünstigung seiner Zusammenkünfte mit Melitta? Niemand, nicht einmal er selber hatte vorausahnen können, daß seine Liebesnest-Phantasien sich mit der Einrichtung eines Hauses, und just dieses Jagdhauses, beschäftigen würden. Alles was das Fräulein äußerte, bewegte sich an der Kippe des Unwahrscheinlichen, und das dahier war wohl das Unwahrscheinlichste. Nichtsdestoweniger fühlte er sich auf unsicherem Grund: »Meines Erachtens habe ich mich in meinen Entschlüssen nach niemandem, am allerwenigsten nach Zerline gerichtet.«

»Ist der Ankauf des Alten Jagdhauses nicht auf Einflüsterungen Zerlinens zurückzuführen?«

»Nicht daß ich wüßte. Sie mag wohl ein oder das andere Mal von der Existenz dieses Hauses gesprochen haben. Aber das ist auch alles.«

»Sie unterschätzen Zerlinens Klugheit. Daß Sie Grund- und Hausbesitz kaufen, ist allgemein bekannt, und über die Ehrenhaftigkeit eines solchen Berufes will ich mir kein Urteil anmaßen. Doch sicher ist, daß Sie jede Spur, die zu einem günstigen Kaufobjekt führt, verfolgen werden. Nun, Zerline hat Sie auf eine solche Spur gesetzt.«

»Ich sehe nicht das Interesse, das sie zu derlei hätte bewegen können.«

»Und die angebliche Erholungsbedürftigkeit meiner Mutter, von der Ihnen vielleicht diese selber, sicherlich aber Zerline gesprochen hat, ist auch ihre Erfindung.«

»Wie kann ich mich jedes Ausspruchs, den Zerline je gemacht hat, heute noch entsinnen ,… und vor allem, wozu das alles?«

»Ihre Blindheit ist in der Tat erstaunlich ,… also muß ich's Ihnen sagen, damit Sie's endlich merken, nämlich, daß ich Zerlinens Herrschsucht im Wege stehe ,… sie will jedermann beherrschen, auch Sie, auch mich, in erster Linie jedoch meine Mutter, und gerade das wird ihr in der Isolierung des Jagdhauses gelingen, wenigstens besser als hier, wo sie mit mir zu rechnen hat ,… und daß Sie ihr eine geringere Störung sind als ich, das haben Sie ja durch die Fügsamkeit, mit der Sie ihren Jagdhaus-Wünschen nachgekommen sind, ihr bereits aufs schönste bewiesen ,… begreifen Sie's jetzt endlich?«

»Mir ist das alles ein bißchen verblüffend, ein bißchen zu sehr ausgeklügelt ,…«

»Ausgeklügelt ,… ha!« Hildegard lachte höhnisch auf.

»Nun denn, nicht ausgeklügelt ,… aber alldem wäre am einfachsten abgeholfen, wenn Sie mit hinauskämen.«

»Seit meiner Kindheit tue ich hier meine Pflicht ,… doch zu einem Voll-Sieg Zerlinens, also zur Übersiedlung ins Jagdhaus beizutragen, übersteigt meine Kräfte. Dazu bin ich des Kampfes allzu müde. Möge dann dort Ihre Frau meine Rolle übernehmen ,…« Ein Schimmer tastender Koketterie schwang darin mit, allerdings bloß ein Schimmer.

A. schüttelte den Kopf: »Nichts davon ist bewiesen ,… Sie ergehen sich in Vermutungen und nehmen Sie als Wirklichkeits-Wissen.«

»Die sogenannte Wirklichkeit ist nichts als eine Vergröberung unserer Vermutungen.«

»Und was soll in dieser Wirklichkeit nun geschehen? Was eigentlich ist Ihr Wunsch?«

»Machen Sie Ihren Kauf rückgängig.«

Das war klipp und klar. A. war betroffen:

»Und Sie wollen sofortige Zusage haben?«

»Womöglich ja.«

»Trotzdem müssen Sie verstehen und verzeihen, daß ich mir Bedenkzeit ausbitte.«

»Ungern. Denn je länger meine Mutter an die Jagdhaus-Idylle glaubt, desto verlockender wird sie ihr werden, und die letztlich unausweichliche Enttäuschung mag dann geradezu katastrophale Formen annehmen. Seien Sie also gewarnt. Ich kann auch handeln. Geben Sie mir womöglich morgen Ihren Bescheid.« Sie war aufbruchsbereit, und auch A. war aufgestanden. »Nein«, sagte sie, »ich ziehe vor, daß Sie noch eine Weile bleiben und nicht mich begleiten; ich wünsche nicht, mit Ihnen zusammen heimzukommen.« Ihm kurz zunickend verließ sie den Warteraum.

Was sie da vorgebracht hatte, verlief an der Wahrscheinlichkeitskippe, doch ob links oder rechts, ob Richtigkeit oder Närrischkeit, es war in beiden Fällen abschreckend ,–, welche Verstrickungen, in die er da geraten war und in die er noch tiefer geraten sollte! Sollte? Nein, wollte! Denn daß er Hildegards Wunsch gegenüber, den er ohne weiteres hätte erfüllen können ,– um so mehr als es sich ja hier nur um ein Vorkaufsrecht, nicht um einen fixen Kauf handelte ,–, sich Bedenkzeit ausbedungen hatte, das wies auf seinen unerschütterlichen Entschluß hin, ins Jagdhaus zu ziehen. Mit wem? Mit Melitta? Mit der Baronin? Wahrscheinlich mit beiden, und insofern waren Hildegards Vermutungen richtig; irgendwie spukte eine Schwiegertochter-Idee in ihm herum, eine von vornherein unausführbare Einverflechtung Melittas in jene Verstrickung, der er von Rechts wegen zu entgehen hätte, so rasch als möglich fliehend, vielleicht sogar mit Melitta fliehend, doch sicherlich sie nicht ins Jagdhaus bringend. Warum also nahm er das alles auf sich? Hier wurde es dunkel und verworren und für ihn undurchsichtig. Immerhin, die Aussprache hatte Melittas Bild nun doch wieder emporgebracht, zwar nicht ganz deutlich, so doch immerhin. A., nach dem rustikalen Mahl recht nikotinhungrig, hatte eine Zigarre hervorgeholt und angebrannt. Warum hatte er das nicht schon längst getan? Aus Respekt vor dem Fräulein? Da fiel sein Blick auf die Rauchverbots-Tafel, die er wohl schon vorher gesehen, aber nicht bemerkt hatte, und weil er ein guter Staatsbürger war, der nicht einmal zeugenlos gegen Verbotstafeln verstößt, trat er mit seiner Zigarre auf den Bahnsteig hinaus, um zwischen der Heimkunft des Fräuleins und der seinen eine kleine Pause verstreichen zu lassen.

Hier auf dem Bahnsteig standen nun die Bauern und warteten, daß der letzte Lokalzug, der sie dann draußen Station um Station rudelweise abladen wird, in wenigen Minuten eintreffen mußte. Sie standen da als eine große schwarz-schweigende Masse, dunkel in sich selbst, nochmals dunkel infolge der mangelhaften Bahnsteig-Beleuchtung, und hätten sie alle die Köpfe gesenkt gehalten, es wäre nicht verwunderlich gewesen. Eine Herde der Schuldbewußtheit, eine Herde der Schwärze waren sie; sogar das rotäugige Aufglimmen der Zigarren, Glühpunkt da, Glühpunkt dort, nahm an der schwarzen Schuldbewußtheit teil. Aus der Wirtschaft, in der es nun von eingesammelten Bierkrügen erdig-steinern klickte, kam gerade die Nachhut heraus, vielfach torkelnd, auch mit einem Ansatz zum Gröhlen in den Kehlen, wie es sich beim Verlassen des heimischen Kirchweih-Wirtshauses geziemt hätte, doch der Masse zugesellt erstarb das Gröhlen im Schlechtgewissen und das Torkeln in Unbeweglichkeit. Unheilschwanger standen sie; hätte sie einer zu Mord und Totschlag aufgerufen, sie wären brandstiftend und plündernd dem Rufer bedingungslos gefolgt, die eigene Bedrücktheit austobend in Bedrückungslust. Denn wer sich selber zum Unheil ist, der ist es auch für die Menschenwelt, und mochte es hier ,– freilich in äußerster Simplifizierung ,– auch nur das üble Gewissen der vollgepackten Brieftaschen gewesen sein, das sich so düster auswirkte, es gehörte und gehört trotzdem zu dem kosmosweiten Schuldbewußtsein, dessen Dasein sich vielleicht vermuten, aber nicht mehr beweisen läßt, die Vieldimensionalität des Bösen, das bis in die letzten Partikelchen des Menschen dringt, und dem er selber tragendes Partikel ist, Ur-Träger des Bösen, das Kainsmal auf seiner Stirne. Gewiß, als einzelner ist der Mensch ,– und höchstens vom Handwerker darin übertroffen, wäre gerade der Bauer hierzu auserkoren nicht nur zum Unheil, nein, er ist auch zum Heil aufrufbar, ist aufrufbar zum Symbol, das im Dreidimensionalen das Ewige dartut und ihn selber zum Symbol macht, indes, zur Masse geballt wird der Mensch heilsblind und heilstaub, und obwohl die Bauernmasse hier bloß das Ausrufen ihres Zuges erwartete, es ist, ganz im geheimen und keinem bewußt, solches Warten dem noch unhörbaren Höllenpfiff zugewandt, der zum Unheil aufrufen wird. Die Lokomotivpfiffe, die hie und da im Bahngelände auftönten, waren gewissermaßen wie Probealarm, und fast war es, als ob der vorbeifahrende Lastzug, nachtverschwindend und unheimlich polternd, aus der Hölle käme, um wieder zu ihr zurückzukehren; er hinterließ eine schwere Rauchfahne, deren Gestank sich mit dem der Zigarren, des Bieres und des Massenschweißes vermengte. Aus der Wirtschaft drang, wenn auch nun schon weniger eifrig, das Klinken des Geschirrs und der Krüge, wurde seltener und seltener, so daß die Einzelgeräusche der Teller, der Gläser, des Bestecks unterschiedlich wurden und schließlich gänzlich verebbten; dann wurde es, bis auf wenige Glühlampen, auch dort dunkel. Heraußen aber stand nach wie vor unbewegt die schwarze Masse der Leiber, biervoll, geldvoll, schuldvoll, bösheitsvoll, stand unbewegt, bis die Bahnsteiglichter in stiller Plötzlichkeit reihenweise sich aufhellten, das Zeichen für die Öffnung der Sperre: da kam träge Bewegung in die Gestalten, und langsam entfädelte sich der Menschenknäuel, Stück um Stück durch den Trichter der Sperre hindurchgepreßt, begleitet von dem uhrgleich tickenden Knipsen der Fahrkartenzangen, das von dorther vernehmbar wurde.

A., der mitten in der Masse gestanden hatte, wurde mit zur Sperre vorgeschoben, und das dünkte ihm durchaus natürlich. War es ihm nicht gleichfalls bestimmt, in die Nacht hinauszufahren? War er nicht bemüßigt, dies zu tun? Es warteten die nächtlichen Dörfer, und wenn er an unbekannter Station den Zug verlassen wird, um hügelab zu der menschenleeren Dorfstraße zu gelangen ,– die wenigen Mitreisenden, schwarz in der mondbestaubten Weiße, werden bald in den Häusern und in den Seitengassen verschwunden sein ,–, dann wird er mit unbekanntem Schlüssel die unbekannte Tür eines unbekannten Hauses öffnen, und hier, im buntgewürfelten, bäuerlichen Federbett eines unbekannten Zimmers, wird er Melitta und ihre ganze Süße wiederfinden. Oh, so wird es sein! Und als er bis zur Sperre vorgedrängt worden war, ja am Schluß sich geradezu selber vorgedrängt hatte, da griff er tatsächlich nach der imaginären Fahrkarte in die Tasche, suchte tatsächlich nach ihr, so daß die Nachdrängenden bereits zu murren begannen, und erst an des Suchens Vergeblichkeit merkte er die Vergeblichkeit seines Traumes. Mit einem Achselzucken trat er den Rückzug an, den er freilich mühevoll genug gegen den Strom der mit herdenartiger Rücksichtslosigkeit vorwärtsstrebenden Menge zu erkämpfen hatte, und nachdem das gelungen war, blieb er an der Tür des Warteraums stehen: er schaute zu dem Zug hin, in den die Bauern, angetrieben von den Schaffnern, sich langsam verstauten, und erst als die Wagenreihe, nach ein paar mühselig krachenden Anfangsrucken, abgerollt war und die roten Endlichter ostwärts in der schwarzen Tiefe vergingen, wandte er sich, nicht ohne nochmals nach dem letzten Räder-Echo hinzulauschen, dem Bahnhofsausgang zu, heimkehrend in die Stadtlandschaft.

Denn des Bahnhofs Abfahrt- und Stadtfront sind zwei verschiedene Welten, jene mit ihrem Schienengewirr, trotz technischer Herkunft, bereits dem Land zugehörig, aus dem der Schienenstrang ebensowenig wegzudenken ist wie die Landstraße oder die Brücke oder das Dorf mit Kirchenturm und Gottesacker, hingegen die Vorderfront unwiderruflich ein Teil des Stadtbildes. Und selbst wenn die Bauern, die da abgedampft waren, wie Höllengestalten schienen, der Hölle entkommen und wieder in die Hölle fahrend, die Stadt war eine andere Art Hölle, vielleicht sogar eine lückenlosere. Freilich, der mondüberstrahlte Bahnhofsplatz mit der ruhig leuchtenden Uhr im Dreiecksmittelpunkt lag nun friedlich da, befreit von allem dynamischen Geschehen, eine friedliche Zone zwischen Hölle und Hölle, aber die Lichtreklame drüben an seiner Spitze zeigte glühend und hoffnungslos den Hölleneingang an, und daß dort irgendwo, sozusagen stadtumwuchert, Melittas Bett aufgeschlagen war, ließ sich kaum fassen. Ungeachtet aller Großväter müßte man dort eindringen und die noch Schlafwarme entführen! Nein, er wird Hildegards Wunsch nicht willfahren, er wird den Kauf nicht rückgängig machen, sondern im Gegenteil sein Vorkaufsrecht sofort ausüben. Nein, auf närrische Wünsche und gar auf drohende Warnungen durfte man nicht eingehen. Das Jagdhaus soll wirklich der Baronin letzte Altersfreude werden, und für Melitta wird sich eine andere, eine konfliktlose Zwischenlösung finden. Auf die Schaffung friedlicher Zwischenzonen inmitten des Höllischen kommt es an, auf sonst nichts. Das verworrene Dunkel begann mit einem Male sich zu lösen. A., barhaupt, die Hände in den Hosentaschen, promenierte die Längsseite der Parkanlage auf und ab, warf hie und da einen Blick zu der Wohnung der Baronin hinauf, zu dem Balkon, dessen Pelargonienschmuck nun blütenlos war, hinauf zu den Fenstern, hinter denen kein Licht mehr brannte ,– auch Hildegard war offenbar schon zu Bett ,–, und es war wie Abschiednehmen. Aus fern-unbekanntem Osten kam nun eine schwache Brise einhergeweht, und einheitsstiftend verband sie die Landschaften, verband Bauern- und Stadtlandschaft miteinander, machte das Atmen leicht. Die unendliche Seinsvielfalt schien sich zu einer neuen Einheit zu ordnen, zu einer dahinwehenden spannungsbefreiten Einheit, die kühle Hoffnung des nächtlich anhebenden Herbstes.

A., den es ein wenig fröstelte, ging zum Haus hinüber und sperrte das Tor auf; sein Tagewerk war getan, aber es bedurfte noch eines formellen Abschlusses. Und infolgedessen setzte er sich zum Schreibtisch, um eine Schenkungsurkunde zu entwerfen, mit der er unter gewissen Eigentumsvorbehalten, nicht zuletzt denen des eigenen Wohn- und Verfügungsrechtes, die Baronin zur Besitzerin des Alten Jagdhauses machte, ihr auch freistellte, es an wen immer zu vererben, jedoch eingeschränkt durch ein Verkaufsverbot, auf daß nach ihrem Tod, soferne der vor dem der alten Zerline erfolgen sollte, diese die Nutznießung des Anwesens für Lebenszeit erhalte. Melitta schied damit aus, und das war auch besser so; für sie mußte in anderer Weise vorgesorgt werden, was freilich einfach war und nicht eigens entworfen zu werden brauchte. Also beschränkte er sich auf einen Liebesbrief, die heutige einsame Nacht mit der so andersgearteten gestrigen vergleichend, dahingegen freudvoll zum übermorgigen, nein morgigen ,– denn die Mitternacht war längst überschritten ,– sehr ersehnten Abend hinblickend, an dem sie einander auf dem Schloßplatz droben treffen wollten. Ja, die steckte nicht voller Täuschungsmanöver wie das Fräulein, das drüben schlief, und das man mit Recht links liegen lassen mußte. Und nach dieser Konstatierung begab er sich zur Ruhe.

Und weil es so spät geworden war, verschlief er den nächsten Morgen. Als er aus seinem Zimmer trat, war Zerline, bei offener Küchentür, bereits mit den Vorrichtungen zur Mittagsmahlzeit beschäftigt; er rief ihr ein »Guten Morgen« zu, und sie winkte ihn zu sich heran: »Sie haben wohl noch immer Schlaf nachzuholen. Zwei Nächte mit einem Mädel und schon kreuzlahm; Sie könnten sich was schämen. Ein junger Mann!« Das waren aber offensichtlich bloß pflichtgemäße Scherze; in Wahrheit schaute sie versorgt griesgrämig drein. Und sein »Ja, ja, wir sind eben eine schwache Generation« nicht beachtend, deutete sie zur Vorderwohnung hin: »Sie weiß alles.« ,– »Natürlich, das ist mir schon gestern reichlich aufgefallen.« ,– »Ich hab Ihnen gesagt, daß ihr leise sein sollt; sie hat wieder einmal an Ihrer Tür gehorcht.« ,– »Man kann allerdings auch Nicht-Gehörtes phantasieren.« ,– »Ja, aber daß Sie das Jagdhaus gekauft haben, und daß die Frau Baronin hinausziehen soll, das ist keine Phantasie.« ,– »Damit hat's schon seine Richtigkeit ,… doch das gehört auf ein anderes Blatt.« ,– »Nein, aufs selbe.« »So? Wie nun das? Ist Ihnen das Jagdhaus etwa nicht recht?« »Recht wär's mir schon ,…« ,– »Woran hapert's also?« ,– »Die Melitta darf nicht mitkommen ,… werden Sie sie hinausnehmen?« Obwohl A. entschlossen war, Melitta nicht ins Jagdhaus zu bringen, geriet er in Rebellion: »Fangen Sie mir jetzt auch damit an, Zerline? Was ist denn in Sie gefahren?« ,– »Sie dürfen mit ihr schlafen wann Sie wollen und so oft sie wollen und wo Sie wollen und meinetwegen auch hier, aber nicht dort im Jagdhaus.« A. mußte lachen: »Das nenne ich kategorisch.« ,– »Da gibt's nichts zu lachen ,… ich bin nicht nur dazu da, um für Sie Schmiere zu stehen.« ,– »Niemand verlangt das, Zerline.« ,– »Fürs Schmierestehen bin ich Ihnen gut genug ,… aber ohne mich hätten Sie weder das Jagdhaus noch die Melitta ,…« ,– »Habe ich das je bestritten?« ,– »Weil mich das Mädel gedauert hat, hab ich sie hereingelassen.« ,– »Halt, sie hat Ihnen gefallen, und Sie haben sie gern; das haben Sie mir selber gesagt.« ,– »Natürlich hab ich sie lieb.« ,– »Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung.« ,– »Nix ist in Ordnung ,… die Melitta ist nichts Besseres als ich, und wenn sie ins Jagdhaus kommt, bin ich ihr Dienstbot ,… ich laß mir von ihr nichts kommandieren.« ,– »Mein Gott, die arme kleine Melitta, und kommandieren!« ,– »Sie soll's nicht versuchen; sie möcht arg draufzahlen dabei.« A. erschrak geradezu über ihr wildes Aussehen: »Seien Sie doch nicht so bös zu ihr; sie hat Ihnen doch nichts getan.« ,– »Ich duld nicht, daß man mich zu ihrem Dienstboten macht ,… sie hätt den Schaden, und das tat mir leid, weil ich sie lieb hab ,…« »Zerlinchen, das wird zu bunt ,… sehen Sie das nicht ein?« Bockig wiederholte sie nur: »Sie darf mir nicht ins Jagdhaus.« »Wie wär's, Zerline, wenn ich den Kauf einfach rückgängig machte? Für unser Fräulein wäre es eine Freude, und Sie wären sicher, daß die Melitta niemals da hinauskäme.« Nun wurde Zerline schrankenlos wild: »Also hat Sie die Hildegard doch eingewickelt? Ha? Unterstehen Sie sich! Unterstehen Sie sich, der Frau Baronin jetzt das noch anzutun!« ,– »War ja nur ein Vorschlag, Zerline.« Sie wurde etwas ruhiger: »Die Frau Baronin freut sich darauf; Weihnachten werden wir draußen feiern ,… mit Ihnen, Herr A.« ,– »Und wo soll Melitta ihr Weihnachtsfest haben?« Sie zuckte gleichmütig die Achseln: »Nicht dort.« ,– Das war A. zu viel: »Mag sein, daß ich Sie als Weihnachtsüberraschung zu meiner Hochzeit einladen werde.« Zerline drehte sich jäh um: »Ist das Ihr Ernst?« ,– »Warum nicht? Ich lasse mir ebensowenig wie Sie etwas kommandieren.« Ein kalter Blick traf ihn: »Schau, schau, hat die Hildegard doch recht ,… na, schön.« ,– »Ich gehe«, sagte A., »ich habe genug davon.« »Und Ihr Kaffee? Sie gehen ohne Frühstück?« ,– »Jawohl, ohne Frühstück.« Ein boshaft-belustigtes Greisenlächeln huschte über ihr Gesicht; dann wandte sie sich wieder dem Herde zu.

Er vergaß bald seinen Ärger, vergaß ihn um so mehr, als der ohnehin zu kurz gewordene Tag für vielerlei geschäftliche Wege verwendet werden mußte: er machte im Rathaus sein Vorkaufsrecht auf das Jagdhaus geltend, erlegte auch sofort die Zahlung hierfür, und dabei kam ihm in den Sinn, daß das angesichts der sich verdichtenden Währungsstabilisierungs-Gerüchte eine sehr weise Maßregel war, von der ihn am Ende keinerlei Weibergerede hätte abhalten können; hierauf ging er in seine Kanzlei, wo er den Entwurf der Schenkungsurkunde ins Reine schreiben ließ, und schließlich begab er sich zu seinem Rechtsanwalt, einerseits um mit ihm eine möglichst steuer- und gebührenfreie Form für die Schenkung zu finden, andererseits jedoch um die finanzielle Zukunft Melittas, für die er gleichzeitig eine größere Summe in Auslandwährung bereitstellte, auch für den Fall der Nicht-Verehelichung rechtlich hieb- und stichfest zu machen. Und als er hernach wieder auf der Straße stand, war er mit sich überaus zufrieden: er hatte für alle aufs beste vorgesorgt, und würde er jetzt stillschweigend aus der Stadt verschwinden, es wäre ein ordentlicher, ja ein edler Abgang. Und was sollte er auch noch hier? Die Realitätenankäufe waren ein Verlegenheitsgeschäft gewesen, um sein Dableiben zu legitimieren, und kam die Währungsstabilisierung, so war es damit aus. Und Melitta? Mochte er sich auch im Schlafzimmer daheim nach ihr sehnen, hier in dieser Geschäftsstraße dachte er beinahe mit Unbehagen an das morgige Zusammentreffen auf dem Schloßplatz droben. Wird er sie in ihrer städtischen Kleidung überhaupt erkennen? Und werden sie nicht hilflos einander gegenüberstehen als Kinder zweier verschiedener Welten, brückenlos? Und nachher? Als Liebespaar in ein Restaurant, als Liebespaar in ein Kino? Und endlich, da er sie unter keinen Umständen mehr zu sich nach Hause bringen wollte, als Liebespaar in ein Hotel? Mit ihr wegzureisen wäre die einzig würdige Lösung, und die war durch den legendären Großvater verhindert; Liebe ohne Würde war es, und das war bedrückend. Doch während er so dachte, bemerkte er, daß er dem Restaurant, dem besten der Stadt, zustrebte, in das er sie morgen zu bringen beabsichtigte. Generalprobe fiel ihm ein. In der Tat, es wurde eine so durchaus erfreuliche Generalprobe von fünf Gängen, daß er darüber Melitta schlechterdings vergaß, und als er nach Kaffee und Kognak das Kino aufsuchte, da fand er, daß eine geschaute Liebesgeschichte eigentlich weitaus schöner als eine selbsterlebte ist. Am Schluß des Films segnete die Mutter die neue Schwiegertochter, gegen die sie sich zwei Stunden lang gewehrt hatte der Segen der Mutter, ja, darauf kam es an.

Solcherart war die abendliche oder richtiger nächtliche Heimkunft für A. erfreulicher als sein vormittäglicher Auszug. Von den Bäumen der Anlage wehte es herbstlich herüber, Sehnsucht in Härte verwoben, Weichheit in Begehren, Gelöstheit in Strenge, Schwerelosigkeit inmitten der Schwere, und all das war gut. Nur daß die Lichter im Wohnzimmer droben brannten, paßte ihm nicht; wer immer noch wach war ,– wahrscheinlich Hildegard ,–, er hatte seit gestern genügend viel Aussprachen gehabt, er brauchte keine mehr und hatte das Recht erworben, unverzüglich zu ruhigem Schlaf ins Bett zu steigen.

Indes, es half nichts. Kaum daß er aufgeschlossen hatte, erschien Hildegard in der Wohnzimmertür: »Kommen Sie«, sagte sie kurz, und er hatte zu folgen.

Sie deutete zu den Fauteuils beim Ofen, und als er ihr gegenübersaß, fragte sie: »Waren Sie bei Ihrer Geliebten?«

Er dachte einen Augenblick nach, und wenn ihn auch die Frage ärgerte, es ärgerte ihn noch mehr, daß er auch jetzt nicht die verloren gegangene Sehnsucht nach Melitta, das verloren gegangene Begehren wiederzufinden vermochte, als sei es eine verfrühte Sehnsucht, ein verfrühtes Begehren, ein verfrühter Durst gewesen: »Ich habe sie gesucht, aber nicht gefunden«, antwortete er wahrheitsgemäß.

Das schien sie zu amüsieren. Ihr bestrickendes Lächeln wurde für einen Augenblick sichtbar, um gleich wieder zu verschwinden. Eine sonderbar wachsame Spannung lag in ihrem Gesicht, eine Wachsamkeit aller Nerven, und was noch sonderbarer war: sie hatte getrunken. Auf dem Serviertischchen neben ihr stand der Port, von dem er der Baronin vor einiger Zeit zwei Flaschen gebracht hatte, sozusagen als Huldigung für ihren Gatten, dessen Gepflogenheit es gewesen war, wie sie unter Hinweis auf die englische Sitte teils bewundernd, teils entschuldigend gerne erzählte, den Tag mit einem Gläschen Port zu beschließen. Hildegard dagegen hatte nicht nur ein Gläschen hievon zu sich genommen, sondern unzweifelhaft eine ganze Anzahl; die Flasche war zu einem guten Drittel leer. Warum trank sie plötzlich, sie, die sonst am Wein kaum nippte? Von den beiden Kristallgläsern neben der Flasche enthielt das eine noch einen Rest, und als die ungeübte Trinkerin, die sie war, füllte sie es auf, ohne es vorher geleert zu haben; hernach schenkte sie das zweite Glas voll und reichte es ihm hinüber: »Sie nehmen doch ein Glas Port ,… ich habe Ihrethalben einen argen Tag gehabt und kann nicht allein bleiben; es ist also Ihre Pflicht, mir Gesellschaft zu leisten.«

»Ich bin an Ihrem schlechten Tag schuld?«

»Gewiß; aber ich habe keine Lust, unser gestriges Gespräch fortzusetzen ,… ich will auch nicht einmal nach den Entschlüssen fragen, die Sie, wenn überhaupt, wegen des Jagdhauses gefaßt haben.«

»Ich ,…«

»Still, wenn Sie mich nicht morden wollen ,… gewiß, es ist ein Mörderhaus, in das Sie meine Mutter bringen wollen, doch das müssen Sie nicht noch überdies an mir beweisen ,…«

»Aber, mein gnädiges Fräulein ,…«

»Ich wünsche, daß Sie dort an mich denken; besonders, wenn die Geister Sie heimsuchen, sollen Sie an mich denken ,… begreifen Sie, daß ich meine Mutter nicht in ein Mörder- und Spukhaus ziehen lassen will?«

Sie ist betrunken, dachte A., betrunkener als ich annahm, und er sagte: »Wenn Sie den schweren Port weitertrinken, werden Sie auch noch hier Geister sehen; dazu braucht's nicht das Jagdhaus.«

»Sie sollen vom Jagdhaus schweigen ,… es ist ein Mörderhaus, es ist ein Spukhaus, und ich will davon nichts hören.« Sie hob abweisend die Hand, so daß der Kimonoärmel über ihren Arm zurückfiel; der Arm war weiß und wohlgeformt, die abweisende Hand untadelig in ihrer schmalgegliederten Form, und sicherlich waren die ,– nackt in Silberbrokat-Hausschuhen steckenden ,– Füße nicht minder untadelig. Sie war wohlgeraten und schön, dennoch altjüngferlich, und auch die Spannung, die sie umwebte, war zutiefst unjung. Und ebenso unjung war die übergangslose, plötzliche Aufforderung: »Aber Sie dürfen mir den Hof machen.«

Eine peinliche Situation, dachte A., sehr peinlich, wenn man schlafen gehen möchte; immerhin, ich muß ihr die Wahrheit sagen: »Wie kann ich Ihnen den Hof machen, da Sie viel zu schön für mich sind, als daß ich Sie lieben könnte, lieben dürfte? Da sind Gefahren, die ich nicht auf mich zu nehmen wagen würde.«

»Ausgezeichnet, keine Liebe ,… damit bin ich einverstanden, sehr einverstanden. Doch wie steht es mit dem Begehren? Bin ich hiefür desgleichen zu schön?« Mit halbgeschlossenem Blick, dem Blick einer Betrunkenen, schaute sie auf ihn; dennoch, der aus dem Lidspalt kommende Blick war von nüchterner Kälte, und die Stimme hatte nichts von ihrer gewohnten interessiert-interesselosen Trockenheit verloren.

Ich habe mich geirrt, dachte A., sie ist nicht betrunken, nein, sie gehört zu jenen, die sich nicht betrinken können, auch bei bestem Willen nicht, dafür aber jählings in der Seekrankheit landen. Hoffentlich wird sie mir nicht seekrank. Er setzte sein Glas ab: »Ich glaub's einfach nicht; ich glaube nicht, daß Ihnen Begehren erwünscht ist.«

»Doch ,… ich wünsche nur nicht, geliebt zu werden.« Mit einer kleinen Bewegung ließ sie den Kimono ,– der war grünlich-blau ,– ein wenig aufklaffen, so daß darunter die Spitzenstreifen des Nachthemds sichtbar wurden; das war wie ein gut eingelerntes Spiel, umsomehr als ihre Bewegungen durchwegs in einer seltsam verlangsamten Eckigkeit sich vollzogen.

»Gewiß, Sie wünschen nicht, geliebt zu werden. Und aus lauter Angst davor töten Sie auch das Begehren. Sie fürchten jedes Risiko.«

»Ich töte es? Ich töte es ,…« ,– sie lachte ,–, »ich töte es, ich töte ihn ,… man kann's noch weiter abwandeln ,… wir töten ihn, wir töten es ,… das scheint mir Mord zu sein ,… der Mordvorwurf soll also auf mich zurückfallen?«

»Natürlich ist's Mord. Bestenfalls fahrlässige Tötung. Vorausgesetzt, daß man Ihnen mildernde Umstände zugesteht.«

»Sie haben unrecht, und ich brauche Ihre mildernden Umstände nicht, nein, nicht im geringsten brauche ich sie ,… das Begehren läuft hinter der Blutspur her, und Mord erhöht das Begehren ,… wir morden sogar unser Begehren, damit es größer wird.« Mit einem Zug hatte sie ihr Glas geleert.

Ein blutrünstiger Blaustrumpf ist sie, dachte A., ich möchte schlafen gehen; ich bin hundemüde. Aber er sagte: »Soeben haben Sie voller Abscheu von dem Mordhaus gesprochen ,…«

»Ich will von dem Haus nichts hören.« Sie vergrub die Hände in dem dichten mahagonibraunen Haar und hielt sich die Ohren zu; die Kimonoärmel glitten über beide Arme zurück.

Welch unsägliche Anstrengung ist das Begehren, wenn es einmal dem Bewußtsein überantwortet worden ist, oh, welch ungeheure Anstrengung ist da die Rückführung des Nicht-Seienden ins Seiende, das der Mensch immer wieder suchen muß, wenn er zum Atem zurückfinden will! Und A. sagte:

»Sie wollen die Existenz von Liebe nicht gestatten, doch wäre es mir gestattet, Sie zu lieben, gestattet von Ihnen, wie vom Schicksal, wie von mir selber, ich würde Hand in Hand mit Ihnen den Weg vom Seienden ins Nicht-Seiende und wieder zurück ins Seiende gehen ,…«

»Zu den Toten und wieder zurück?«

»Mag schon sein«, nickte er, obwohl er es anders gemeint hatte.

»Hand in Hand mit Ihnen ins Totenreich«, lachte sie, »und wenn wir zurückkehren zur Welt, dann hört das Begehren nimmer auf ,… ist das nun ein richtiger Pakt? Ist das ein Versprechen?«

»Nein, kein Versprechen, ein Risiko.«

Sie wurde ernsthaft: »Den Führer ins Totenreich, den Führer ins Nicht-Seiende, um zum Seienden zu gelangen, das ist's, was wir alle benötigen ,… freilich« ,– sie maß ihn mit kühlnüchternem Blick ,–, »Sie sind kein solcher Führer.«

»Möchte ich auch gar nicht sein; ich bin entscheidungs-schüchtern und schicksals-schüchtern.«

»Warum sprechen Sie dann vom Seienden im Nicht-Seienden? Wissen Sie nicht, daß es da um Vernichtung, Mord und Selbstmord geht?«

»Vielleicht weiß ich es, aber ich will es nicht wissen.« Etwas schnitt kalt durch sein Herz und war gräßlich.

Das Makabre machte ihr offensichtlich Spaß: »Also Führer wider Willen und faute de mieux?«

Er war von ihrer makabren Spannung angesteckt: »Fragen Sie nicht zu viel.«

»Und trotzdem Hand in Hand?« Ganz vorsichtig und langsam, spitzfingrig die Luft abtastend, gewissermaßen die Entfernung abtastend, kam ihre Hand auf ihn zu. Und als sie bei ihm anlangte, küßte er die schmalen Fingerspitzen.

Sie überließ ihm die Hand, willenlos, muskellos, schier knochenlos, ein schmetterlingshaft nachgiebiges Flatterding, das er entfalten und schließen und wenden konnte, um es von allen Seiten zu küssen; er tat es bedächtig Zoll um Zoll, und seine Lippen, die schließlich in der Handfläche ruhen blieben, spürten die Fiebrigkeit: die Haut war fiebrig, dennoch kühl, war über ein kühl-nüchternes Nicht-Sein gespannt, das dennoch vom Fieber durchströmt war; Wärme ersehnend, Menschliches ersehnend strich er den kühlen Arm hinauf bis zu der fast flaumlosen Achselhöhle, und auch da war es kühl. »Nahe«, bat er, »näher«, und als Antwort legte sie nun beide Hände um seinen vornübergeneigten Kopf, den er wie ein Schlafender in der Eisenbahn, die Ellbogen auf den Knien, mit den Fäusten unterm Kinn gestützt hielt. So saßen sie lange Zeit, so daß das Zeitlose in die Zeit, die Zeit ins Zeitlose glitt, und sie es nicht mehr wußten. Die fiebrige Spannung ihres Körpers und ihrer Seele floß zu ihm hin, floß in ihn ein, und es war, bar jeder Liebe, ein gemeinsames Beben, bar jedes Begehrens, dennoch stark, stärker und stärker werdend bis zur Übermacht, übermächtiger und übermächtiger werdend, bis er nichts anderes mehr daneben fühlte, auch nicht, wie ihre harten, spitzen Fingernägel in seine Kopfhaut eindrangen. Der Schmerz kam nicht allmählich; er war mit einem Male zur Stelle, scharf und unentwindbar, da die Hände all seinen Bewegungen folgten. »Dornenkrone«, lachte sie, »Dornenkrone«, und sie ließ erst locker, als Blutstropfen über seine Wangen sickerten; fast zart, ein wenig leckend küßte sie die Blutbächlein weg, und als die Tropfen zu versiegen begannen, klagte sie mit zartestem Bedauern: »Es kommt nichts mehr.« Dann schlug sie den Kimono auf und bettete den Kopf des vor ihr Hingeknieten an ihre Brust, der Bebende an der Bebenden ruhend, liebelos, begehrenslos sie beide, bebend sie beide in der Kühle des Herbstwindes, der durch die offene Balkontüre hereinstrich und die gegenüberbefindliche, ins Vorzimmer führende Glastüre zu leis klapperndem Zitterklirren brachte.

»Mich friert«, sagte sie endlich, »komm.« Und sie zog ihn in ihr dunkles Schlafzimmer. Im Halblicht der durch die Jalousiespalten hereindringenden Straßenhelle sah er, wie sie den Kimono fallen ließ, das Hemd abstreifte und in nackter Schlankheit sich aufs Bett warf, doch als er sich auf den Bettrand setzen wollte, winkte sie ungeduldig und ärgerlich ab: »Nicht so, nicht so ,… richtig ins Bett.« Leicht ist es, sich auszuziehen, wenn die Liebe wartet, schwieriger ist's, wenn die Liebe erst erwartet wird, und am schwierigsten, wenn keines von beiden statthat; so dachte er während des lächerlichen Eil-Kampfes mit den Hosenfutteralen, des Kampfes, den noch jeder siegreich und noch keiner würdevoll geführt hat, die Männerunwürde an sich, die siegreiche Vor-Niederlage, die man eilends vergessen muß, und die auch er vergessen hatte, da er im Bett seine Arme um sie schlug. »Ach, seien Sie doch so freundlich, und decken Sie mich zu«, jammerte sie, »mich friert.« ,– »Das nenne ich aber kalte Höflichkeit«, meinte er, indem er es, trotz seines Erstaunens, scherzhaft zu nehmen versuchte. Sie hatte kein Lächeln dafür: »Ich friere ja wirklich; das müßten Sie doch merken.« Natürlich merkte er es; sie fühlte sich womöglich noch kälter als vorher an. »Bitte halten Sie mich ganz fest, und ziehen Sie die Decke über meine Schultern.« Bei all ihrer körperlichen Schmiegsamkeit, es war beiläufig die Anschmiegung eines Stockes, mit der sie sich ganz eng an ihn preßte, und so lagen sie in schmaler, harter, keuscher Zweisamkeit, unbewegt und unbeweglich. Und je länger sie zu der Zimmerdecke hinaufschauten, zu den lichten Querstreifen, welche von den Straßenlampen, den Jalousiespalten entsprechend, da hinaufgeworfen wurden, desto mehr verteilte sich das Zimmer im Vieldimensionalen und wurde schwebend. Da wurden auch sie schwebend, aufgenommen vom Nicht-Raum, und gleichwie in diesem die verstorbenen Seelen, fern jeder Gemeinsamkeit, nebeneinander und ineinander verschweben, ohne einander zu berühren, so geschah es auch ihnen. War das Nicht-Seiende bereits angebrochen, undeutlich zwar noch im Dunst der fernen Horizonte, trotzdem schon hier, unmittelbar verlockend, unmittelbar drohend? Ihre Hand löste sich langsam aus der Decke, fuhr über seinen Kopf, über seine Stirne, fast streichelnd über seine Wangen: »Hier war das Blut«, murmelte sie vor sich hin, »jetzt ist es fort.« Und da lagen sie wieder still, lauschend hinauf zur Decke, lauschend hinaus ins Weite, lauschend hinab zur Erde, und es war immer das nämliche, da in allem eines ins andere überging, da alles vertauschbar war. Nach einer Weile stellte sie fest: »Die Kälte verschwindet.« Tatsächlich fühlte sie sich jetzt eine Spur wärmer an.

Aber sie rührte sich noch immer nicht; es wurde bloß friedlicher, fast ließe sich sagen schläfriger, und es hätte wohl nicht viel gefehlt, daß er, die Mühen dieses Tages in den Knochen und den reichlichen Alkohol im Gehirn, wirklich eingeschlafen wäre. Plötzlich jedoch unterbrach sie die Friedlichkeit: »Jetzt dürfen Sie mich nehmen.« Nanu, antwortete etwas in ihm, und daß er es nicht laut geäußert hatte, was wohl allein richtig gewesen wäre, lag an dem erhabenen Schrecken der Geschlechtlichkeit, die sogar noch im Kalten, sogar noch im Schamlosen, sogar noch im Grotesken, sogar noch im Närrischen ,– und all das war in Hildegards nüchterner Aufforderung enthalten ,–, den Menschen erschauern und verstummen läßt. Doch er vermochte nicht zu entfliehen; er war von der Macht dieser seltsam verborgenen, ungeschlechtlichen Geschlechtlichkeit gebannt; er lag still, beinahe gelähmt. Dann wiederholte sie: »Sie dürfen mich jetzt nehmen.« ,– »Nicht ohne Liebe«, gelang es ihm zu antworten. »Wenn Sie mich nehmen«, und sie verbesserte sich, »wenn es Ihnen gelingt, mich zu nehmen, verspreche ich Ihnen die tiefste Lust, die je ein Mann von einer Frau empfangen hat.« Da packte es ihn; er wandte sich ihr zu und suchte ihre Lippen. »Nicht so, das ist Liebe.« Wie aus einem Abgrund war die Erinnerung an ihre kühle Schönheit in ihm aufgestiegen und trieb ihn an: »Ich will deinen Atem, ich will deinen Mund, deinen Mund.« ,– »Später. Merken Sie denn nicht, daß Sie mich vergewaltigen sollen?« Er hörte den Befehl nicht mehr, wollte ihn nicht hören und war trotzdem daran, ihn auszuführen. Mit beiden Händen ihren Kopf umklammernd, trachtete er nach ihrem Mund, doch sobald er sich mit seinen Lippen näherte, gelang es ihr, sich abzuwenden oder schmerzhaft zuzubeißen, in seine Wangen, in seine Nase, wie sich's eben traf, anscheinend wahllos und dabei voller Finten. Er ließ ab, versuchte ihre Brüste, ihre Achselhöhlen, ihren Schoß zu küssen, sie entzog ihm Brüste, Achselhöhlen, Schoß, wand sich schlangen gleich, entwand sich ihm mit blitzschneller Geschicklichkeit, nichtsdestoweniger unablässig weiter ihre Aufforderung keuchend: »Vergewaltigen Sie mich, vergewaltigen Sie mich.« Und da war es ihm, als ob, weit über jede Lust und jede Lustverheißung hinaus, nur die äußerste Konzentration auf diese Frau, auf diese eine Frau ihm den Sieg bringen könne, daß er neben ihr nichts mehr anderes kennen dürfe von nun ab und für immerdar, daß er sein Ich hergeben müsse, um das ihre zu erringen, und all seine Kraft sammelte sich in dem einen Schrei, heiser vor Gespanntheit: »Ich liebe dich!« ,– »Schweig«, keuchte sie zurück, »du sollst mich vergewaltigen.« Aber schon das wiedererrungene Du war ihm wie ein Sieg; und über sie geworfen, die Finger um ihre Gurgel gekrampft, ein Knie zwischen die ihren gepreßt, glaubte er, sie bezwungen zu haben. Allein, eben in diesem Augenblick, in diesem wilden Augenblick des Fast-Sieges, brach er in kalten Schweiß aus, und sei es weil die bebende Spannung, in die sie ihn versetzt hatte, allzugroß gewesen war, sei es weil der Kampf um die Existenz im Existenzlosen allzulang gedauert hatte, es war vorbei. Er warf sich auf den Rücken zurück: »Ich kann nicht mehr.«

»Du kannst nicht mehr?« Von der vorhergegangenen Atemlosigkeit schien nichts zurückgeblieben zu sein; sie war nichts als kühle Neugier.

»Ich kann nicht mehr.«

Mitfühlend, allerdings mit einem unverkennbar schadenfrohen Unterton fragte sie: »Kränkst du dich?«

»Ich weiß es nicht. Alles ist ausgelöscht.«

Ein kleines Lachen kam über sie: »Nicht-seiend? Im Totenreich?«

»Vielleicht.«

»Woran denkst du? Woran denkt man, wenn man gestorben ist?«

»Ich weiß es nicht ,…«

Vorsichtig näherte sie sich ihm, vergewisserte sich seiner Schlaffheit: »Denkst du an mich?«

»Auch an dich, aber auch an die Wohnung, auch an deine Mutter ,…«

»Liebst du mich?« Und wiederum war es Schadenfreude, sieghafte Schadenfreude, gerade weil es in Zärtlichkeit geflüstert war.

»Ja, ich liebe dich; ich liebe dich grenzenlos, aber ich kann nicht mehr.«

Da brach ein rauhes Ächzen aus ihrer Kehle, wahrlich ein rauher Jubelschrei:

»Aah, aah, du kannst nicht mehr, kannst nicht mehr! Aah. Ich habe dich getötet! Oh, weißt du es? Ich habe dich getötet. Nie mehr wirst du können, bei keinem noch so schönen Weib wirst du's mehr können; keiner Frau wird es mehr gelingen, dir deine Kraft wiederzugeben, und immer, immer wirst du an mich denken, an mich, die ich sie dir genommen habe!«

Es war Siegesjubel, und es war Lust, schlechterdings das Animalische, schlechterdings animalische Lust. Er machte eine hilflose Fluchtbewegung, hilflos: sie hielt ihn eisern fest, und ihre Zähne schlugen in seine Schulter, daß das Blut kam; jede Bewegung erhöhte den wütenden Schmerz. Indes, da sie merkte, daß er sich fügte und stillhielt, da war sie eingeschlafen, jählings eingeschlafen.

Im Schlaf lockerte sich ihr Biß und gab ihm die Möglichkeit, sich ohne Gewalt von ihr zu lösen; die Schmerzen ließen nach, und ehe er sich's versah, war er gleichfalls eingeschlafen. Nach offenbar kurzer Zeit ,– es war noch tiefe Nacht ,– war er wieder wach, vielleicht weil der Schmerz wieder hochkam, vielleicht weil der atmende Frauenkörper an seiner Seite ihm, zu seiner glückhaften Überraschung, wieder Begehren schenkte. Allein, da er sie liebend umfing, da gab es keinerlei Respons, weder einen zustimmenden, noch einen abweisenden: sie schlief wie ein Stück Holz, nein, wie ein Stein, nein, wie eine Tote, und es war, als atmete sie bloß durch die Haut, nicht durch die Lungen; ob liebendes Begehren, ob begehrende Liebe, es erstarb in dem frivolen Gedanken an Leichenschändung. Er sah die Fruchtlosigkeit ein. Und seine Sachen zusammenpackend, die Schuhe in der Hand, die Kleider über dem Arm, schlich er durch den Vorraum in sein Zimmer, um nun endlich selber wie ein Stück Holz, wie ein Stein, wie ein Toter dem Morgen entgegenzuschlummern. ,–

Des Morgens, für sein Ruhebedürfnis noch viel zu früh, wurde er durch Klopfen geweckt, und es war Zerline: »Heute gehen Sie mir nicht wieder ohne Kaffee aus dem Haus, Herr A.«, sagte sie so freundlich, als hätte es nie eine Zwietracht gegeben, und sie stellte ihm das Frühstück unter die Nase hin. Und dann sagte sie noch wohlgelaunt: »Wunderwunderschöner Morgen heute.«

Nun gut, besser Freundschaft als Zwietracht.

Doch als er fertig angezogen war, da gab es vorne im Wohnzimmereinen Schrei, einen Schrei aus Zerlinens Mund, und gleich darauf kam sie hereingestürzt und warf sich weinend an seine Brust: »Tot, tot«, heulte sie. »Wer? Die Baronin?!« Sie konnte nicht antworten, fiel aufs Kanapee, und er eilte ins Vorderzimmer.

Hier fand er, zu seinem Erstaunen, Hildegard ganz ruhig vor ihrem Frühstück sitzen, und als sie seiner ansichtig wurde, reichte sie ihm ,– der grünlich-blaue Kimono-Ärmel fiel dabei wie gestern über den weißen Arm zurück ,– einfach die Zeitung hin, in der sie gerade gelesen hatte. Vermittels einer eingestochenen Haarnadel war darin eine klein gedruckte Notiz angemerkt, und die lautete:

(Unglücksfall) Gestern abend ist die neunzehnjährige Melitta E., welche in der Wohnung ihres Großvaters, des Wanderlehrers Lebrecht Endeguth, hierorts einen kleinen Wäschereibetrieb unterhält, einem bedauerlichen Unfall erlegen. Nachdem eine Kundin, Baronin Hildegard W., sie verlassen hatte, wollte sie offenbar die an der Außenseite des Hauses angebrachte Wäschewinde betätigen und ist bei dieser Gelegenheit in die Tiefe gestürzt. Die Augenzeugin des Unfalls, Baronin W., erstattete die Anzeige bei der Polizei. Der Großvater des Opfers ist seit einigen Wochen nicht in der Stadt gesichtet worden, und sein Aufenthaltsort konnte bisher noch nicht eruiert werden.

So stand es da. »Melitta«, sagte A., und seine Knie wurden schwach. Doch Hildegard sagte beiläufigen Tones: »Ach bitte, schließen Sie die Tür zu Ihrem Zimmer, und auch diese hier. Wenn meine Mutter die Zerlin dort heulen hörte, wäre das sehr peinlich.« Mechanisch gehorchte er dem Befehl, mechanisch kam er zurück, setzte sich Hildegard gegenüber nieder; es war wie im Traum: ein Selbstmord, seinethalben ein Selbstmord, und trotzdem eigentlich ein Mord, von Hildegard verübt ,–, es gehörte nicht viel dazu, das zu durchschauen, und die Ereignisse der Nacht waren wohl volle Bestätigung hiefür. Und es packte ihn die Wut gegen die Mörderin, die gerade ihre Kaffeetasse hinstellte: »Das ist Ihre Tat, Hildegard.«

Sie maß ihn kühlen Blicks: »Ja, Herr A.«

»Und in aller Ruhe trinken Sie hier Kaffee.«

»Welche Mahlzeiten gedenken Sie auszulassen? Selbst wenn Sie heute mittag fasteten, es wird Ihnen am Abend desto besser schmecken.«

»Ich habe nicht gemordet.«

»Sie haben Ärgeres getan. Sie haben sich in dieses Haus rücksichtslos eingedrängt, Sie haben sich in mein Leben eingedrängt, und Sie sind daran, sich in das meiner Mutter einzudrängen. Gut, aber in einer solchen Situation fängt man keine Affäre mit einer kleinen Wäscherin an.«

»Daß ich mich, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, in Ihr Haus eingedrängt habe, war Schicksal; alles übrige ,…«

»… war gleichfalls Schicksal. Das ist das einzige, was ich Ihnen zugestehen kann. Aber ich habe Sie aufgefordert, sich gegen dieses Schicksal zu stemmen; ich habe Sie gewarnt. Und Ihre Schuld, Ihre schwere Schuld ist es, meine Warnungen in den Wind geschlagen zu haben. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich reinen Tisch zu machen pflege.«

»Und darum Mord? Ohne weiteres Mord?«

»Sie wissen so gut wie ich, daß diese letzte Konsequenz nicht vorauszuahnen war. Wäscherinnen sind im allgemeinen robuster gebaut, können also auch eine kleine Liebesenttäuschung ertragen. Und daß diese unausbleiblich war, wissen Sie gleichfalls so gut wie ich. Denn Sie hätten das Mädchen auf jeden Fall verlassen.«

»Ich habe alle Vorkehrungen getroffen, um ihre Zukunft tunlichst glücklich zu gestalten.«

»Was immer Sie getan haben, Sie hatten Ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Denn nicht nur mir war die Zukunft meiner Mutter wichtiger als die dieser kleinen Proletarierin ,… nein, auch Ihnen.«

»Trotzdem, Ihre Handlungsweise war höllisch. Was haben Sie dem armen Ding gesagt?«

»Die Wahrheit.«

»Welche Wahrheit?«

»Daß Sie mich lieben, und daß Sie mich auf das geringste Zeichen meiner Zustimmung hin sofort heiraten würden. Die Beweise hiefür haben Sie mir heute nacht reichlich geliefert. Nur meine Zustimmung ist ausständig und wird ausständig bleiben.«

»Und was geschah dann? Verheimlichen Sie mir nichts. Ich habe ein Recht, es zu erfahren.«

»Sicherlich haben Sie das Recht. Nun, Sie kennen ja das Haus dort. Ich bin die vier Stockwerke hinaufgestiegen und habe sie bei der Arbeit angetroffen. Sie war sanft und hübsch, und es ist mir nicht ganz leicht gefallen, meine Mitteilungen anzubringen, aber sie hat sie, wenn auch ein wenig blaß, ruhig entgegengenommen, hat mich sogar zum Sitzen eingeladen. Sie hat mir sodann ein Handtäschchen anvertraut, das Sie ihr geschenkt hatten und das ich Ihnen zu übergeben habe. Ich habe also hoffen dürfen, daß damit alles aufs beste, soweit man da vom Besten reden kann, erledigt worden sei. Doch kaum, daß ich unten angelangt war, kam ihr Körper heruntergesaust, keine zehn Schritt von mir entfernt. Schrecklich zugerichtet lag sie da, dennoch lieblichen Gesichts; es war ein Schädelbruch.«

»Und die Adresse haben Sie von Zerline erfahren?«

»Natürlich. Und natürlich war sie auch schlau genug, um zu erraten, wozu ich die Adresse brauchte. Aber Sie haben Sie gestern, recht überflüssigerweise, so sehr aufgebracht, daß sie« ,– und sie senkte die Stimme zum Flüstern ,– »Ihnen einen Streich spielen wollte; ich sagte Ihnen ja, wie herrsch- und rachsüchtig sie ist. Und so hat sie die Adresse sofort verraten. Daß das der Anlaß zu solcher Tragik sein würde, hat sie so wenig wie wir voraussehen können. Man darf ihr also keinen Vorwurf machen. Lassen wir sie eine Zeitlang sich ausheulen; das gehört zu ihren Vergnügungen.«

»Ich wünschte, Sie wären weniger kaltblütig. Das ist ja fast unmenschlich. Da war noch Ihre gestrige Verfassung vorzuziehen.«

»Gestern geschah der Unfall vor meinen Augen, gestern habe ich mich über die Leiche gebeugt, und gestern« ,– ihr berückendes, zahnschimmerndes und seltsam begehrliches Lächeln kam wieder zum Vorschein ,–, »gestern war es anders; da habe ich Sie noch geliebt ,… ja, Herr A.«

»Sie haben mich geliebt?«

Ernsthaft nickte sie: »Mit einer zwar weniger rührenden, dafür aber Ihnen wahrscheinlich angemesseneren Liebe, als es die der kleinen Melitta gewesen ist ,…«

»Hildegard! Um Himmelswillen, Ihr Verhalten war doch wahrlich nicht das einer Liebenden!«

»Nachträgliche Analysen erscheinen mir unanständig. Ich möchte Sie nur erinnern, daß Sie von der Lust einer andern Frau imprägniert waren, als Sie zu mir kamen ,… jetzt bringe ich Ihnen ihr Handtäschchen.« Sie stand auf und ging in ihr Zimmer.

Die posthume Liebeserklärung erschütterte ihn. Hildegard war keine Frau, die log, mochte sie sich auch oft selber belügen. Sie glaubte also an diese Liebe. Brauchte sie sie, um den Mord zu beschönigen? Hat sie die Nacht gebraucht, um zu der mordbeschönigenden Liebeserklärung zu gelangen? Oder wollte sie nur, nachdem sie ihm das Begehren geraubt hatte, nun auch noch den Stachel des ewigen Verlustes in ihn einsenken, des Verlustes der ihm angemessenen Liebe? Was meinte sie mit dieser würdigen Liebe? Und da begriff er jählings: sie meinte die Liebe, die aus Nicht-Sein aufsteigt, die aus dem Nichts aufsteigende Ur-Liebe, wild und untertierisch und bösartig, dennoch all das abstreifend und aufsteigend zum Sein, aufsteigend zum Menschlichen, das ihre Sehnsucht und ihre Aufgabe ist. Das Menschliche ,–, draußen lag noch leichter Morgennebel über den Wipfeln der Parkbäume; die Häuser drüben auf der andern Parkseite waren von der Sonne beglänzt, und es war Tag.

Dann trat Hildegard wieder ein, in ihrer Hand das ihm wohlbekannte silbergraue Täschchen. »Da«, sagte sie und übergab ihm das Stück, »es wird Ihnen wohl für immer Reliquie sein. Die großen schwarzen Flecke am Rande hier sind ihr Blut. Ich hatte die Tasche am Arm, und als ich mich über die Leiche beugte, streifte ich damit durch die Blutlache. Es war unwillentlich geschehen und war trotzdem bedeutungsvoll, für Sie bedeutungsvoll.«

Die Trockenheit der Mitteilung machte ihn erschauern; er wagte nicht die Blutflecke zu berühren: »Und doch ist es Mord.«

Wildheit, gemahnend an die verflossene Nacht, wahrlich etwas wild Unbändiges brach aus ihr hervor:

»Heucheln Sie doch nicht in einem fort Abscheu vor Mord, Abscheu vor Blut ,… es wird noch viel mehr Mord und Blut in der Welt geben, und Sie werden es hinnehmen, genau so wie Sie den Krieg hingenommen haben, leichten Herzens sogar ,… ja, es wird noch viel mehr Mord geben müssen, größern Mord, schlechtem Mord, und Sie wissen es, mögen es sogar wünschen, und Sie heucheln trotzdem weiter ,… dabei war dieser, soferne man ihn überhaupt Mord nennen darf, wenigstens einer zu Ihren Gunsten ,…«

»Zu meinen Gunsten?«

»Ja, Ihr Leben wird wieder einfach werden.«

»Ich werde es vollkommen neu aufbauen müssen.« Und er sah die kirschholzgerahmten Architekturkupfer an der Wand; sie waren voll gesicherter Dreidimensionalität, todesüberwindend selbst sie in ihrer Ruhe.

»Können Sie das Heucheln nicht lassen? Wo ist der Neuaufbau? Sind Ihre Entschlüsse nicht etwa schon längst gefaßt gewesen ,… das und nichts anderes war Ihre sogenannte Bedenkzeit! Sie wie Zerline, Sie haben beide Ihren Willen durchgesetzt, und meine Mutter wird ins Jagdhaus übersiedeln, sobald Zerline es befiehlt. Ich muß es hinnehmen und kann nur hoffen, daß das Unternehmen tunlichst katastrophenlos verlaufen wird.«

»Ich brauche nicht zu wiederholen, daß mir Katastrophenlosigkeit nicht genügt, und daß meine Bemühungen darüber weit hinausgehen werden ,… im übrigen werde ich Ihnen morgen die Dokumente für die zugehörigen finanziellen Garantien aushändigen.«

Hildegard zuckte resigniert, aber auch nicht eben unzufrieden die Achseln: »Es mag ja da draußen ganz beschaulich für euch werden«, meinte sie und lachte ein wenig, »ein beschaulicher Neuaufbau, und fast glaube ich, daß man meiner Mutter, die ja fiebernd darauf wartet, etwas davon sagen sollte ,… sie wird jeden Augenblick hier sein. Also räumen Sie das bitte inzwischen mal weg.« Und sie wies auf Melittas Handtäschchen.

A. trug die Tasche in sein Zimmer und verstaute sie in dem absperrbaren Fach, das neben seinen geheimeren Dokumenten auch seinen Revolver verbarg. Als er zurückkehrte, hatte die Baronin sich soeben in ihrem Lehnsessel niedergelassen und sagte: »Man muß wohl auch die Zerlin dazu hereinrufen.« Schlußszene einer Oper, dachte A., sogar einer tragischen Oper, bestenfalls einer tragikomischen. Er kniff die Augen ein wenig zu, und wiederum verrückte sich das Bild, verrückte sich das Seiende, verrückte sich, ohne an Festigkeit einzubüßen, in die höhere Realität des Irrealen. Waren die Baronin und Hildegard und die eintretende Zerline noch als Individuen zu werten, da ihr Zusammenspiel wie von einem einzigen höheren Willen, der dennoch kaum als göttlicher gelten konnte, geleitet war? Und gehörte er nicht gleichfalls dazu, er, der sich in ihre Gruppe eingereiht, ja eingedrängt hatte, eben um im Verein mit ihnen ins Irreale zu gelangen, sich im Irrealen aufzulösen? So hatte er es gewollt. Und trotzdem, oh trotzdem war er immer noch er selber, verharrend in seinem eigensten Sein. Das war der Sinn dieser Opernszene, jeder Opernszene: im Augenblick der Konstatierung nicht-seiend zu werden und doch im Seienden zu verharren! Und er, ein nackter, vielknochiger vielgelenker Mensch, dennoch eine Opernmarionette unter den mehrteiligen Kleidern, die auf ihm saßen, er bewegte sich auf die Gruppe zu.

»Sie handeln wie ein Sohn an mir«, begrüßte ihn die Baronin, und da er sich zum Handkuß niederbeugte, legte sie die Hand wie segnend auf seinen Scheitel. »Wahrlich wie ein Sohn«, sagte sie sodann, »ich wollte, Sie wären es wirklich; das wäre ein erfüllter Herzenswunsch.« Im selben Augenblick aber, gleichsam als wäre der Herzenswunsch das Stichwort für das Aufzischen eines imaginären Kochtopfes gewesen ,– vielleicht zischte aber nun wirklich einer ,–, sprang Hildegard auf und stürzte mit dem Ruf »Das Wasser kocht über!« in die Küche hinaus. Doch die Baronin schaute ihr gerührt nach und sagte: »Was nicht ist, kann noch werden.« Zerline hingegen schüttelte dem Beinahe-Sohn treuherzig die Hand; ob das Kondolenz oder Gratulation bedeutete, oder einfach der Ausdruck ihrer Freude über den bevorstehenden Umzug ins Jagdhaus war, ins Alte Jagdhaus, dem jetzt keine Melitta-Gefahr mehr drohte, das war freilich nicht zu entscheiden.

Hinterher beschloß man, daß A. zur Vorbereitung des Wohnungswechsels schon in den nächsten Tagen hinaus übersiedeln solle, um die Adaptierungsarbeiten zu überwachen, und daß man, dem Vorschlag Zerlinens gemäß, das Weihnachtsfest gemeinsam draußen feiern werde. Hildegard schwieg zwar dazu, aber sie widersprach auch nicht, so daß die Hoffnung auf ihre Teilnahme am Fest wenigstens offen blieb.

Es war ein Gebot der Schicklichkeit, daß er nach solch historischem Ereignis noch eine Weile bei der Baronin zubrachte, und von Rechts wegen hätten sie wohl Hand in Hand sitzen sollen, Mutter und Sohn in vertraut stummer Zwiesprache. Dies freilich war von der Schicklichkeit wieder verboten, und so saßen sie nicht Hand in Hand, sondern in schicklicher Entfernung voneinander, doch da ihnen stumm-vertrauensvolles Schweigen nicht verboten war, sprachen sie nur wenig, und wahrscheinlich gingen ihrer beiden Gedanken in nämlicher Richtung, hinlauschend zum natürlichen, zum natürlichsten Glück menschlichen Daseins: geboren zu sein, geboren zu sein von einer Mutter, entstanden zu sein aus einem Leib und selber Leib zu sein, Körper, dessen Rippen sich dehnen, wenn man atmet, oh, glückhaftes Gewordensein, glückhaftes Dahinspazieren die Welt entlang und ihre sanften Straßen, unverlierbar die Mutterhand, in der die Kinderhand geborgen liegt; oh, aus der Kindheit vermag die Geborgenheit eines ganzen Lebens emporzuwachsen zu immer weiterer Entfaltung, Geborgenheit, die nicht Gefangenschaft ist, sondern das Keimen der Freiheit in sich trägt. Und sie sagte: »Jetzt bin ich keine Gefangene mehr.«

Er lächelte ihr zu: »Ich dagegen begebe mich in meine Gefangenschaft, und wie gerne ich es tue, Baronin, das muß ich Ihnen nicht eigens versichern.« Und das hatte seine weitgehende Richtigkeit. Denn sein Lebensraum war ja schon hier eingeschränkt gewesen, freiwillig eingeschränkt auf den dreieckigen Platz da draußen und auf dieses Haus hier, ohne daß er anzugeben vermocht hätte, wer das bewirkt hatte, wer ihn gefangen hielt. Jetzt aber wußte er es: die Heimkehr. Und die freiwillige Gefangenschaft wird ihm auch weiter das Bestimmende bleiben; das Alte Jagdhaus wird daran nichts mehr ändern. Die Baumwipfel vor den Fenstern bewegten sich leise im sanften Septemberwind; ihre Blätter wurden bereits gelblich. Schwalben pfeilten darüber hin, übersiedlungsbereit, und die Luft war voller Vogelgezwitscher.

Ihr Blick schweifte gleichfalls über den gesitteten Bahnhofsplatz hin:

»Immer kehren wir in den großen Atem zurück, damit wir selber atmen können, immer kehren wir in die große Wachsamkeit ein, damit wir selber schauen können, und immer suchen wir die große Kette, die von den Ahnen bis zu den Urenkeln reicht, suchen das kurze Stück zwischen Mutter und Kind, klammern uns daran, damit wir leben können; ich habe gewartet, und das war mein Suchen, doch ob es in Gebundenheit oder in Freiheit geschehen ist ,–, wer vermag das zu sagen? Es war wohl beides zugleich.«

Überwölbt von der hauchdünnen Durchsichtigkeit des Firmaments, eingebettet in der von Straßen und Schienensträngen durchzogenen Landschaft liegt die Stadt, verdichtete Landschaft sie selber; doch eingebettet zwischen dem Rasen des Platzes da vorne und dem Grün des Gartens hinten, so zwischen Wachstum und Wachstum, zwischen Lebendigem und Lebendigem liegt das Haus, gefügt mit den Nachbarhäusern zur Einheit des Platzes, und zwischen den toten, den unbeweglichen Wänden des Hauses spannt sich das lebendige Geschehen, die Beziehung von Mensch zu Mensch, lebendig, dennoch kraft der Dimensionsvielfalt das Unlebendige unabänderlich in sich tragend, spannt sich Liebe und Haß, plötzlich in eins sich verschmelzend, spannt sich die Rede von Mund zu Ohr, der Hauch, durchschwebend den allesdurchdringenden Äther, in dem, sichtbar oder unsichtbar, gleich einem Versprechen schwereloser Ordnung der Regenbogen steht.

Und dann sagte die Baronin: »Wir wollen in Dankbarkeit der Toten gedenken.«

Er nickte. Meinte sie Melitta?

Sie aber stand auf, und als Zeichen der Vertrautheit benützte sie nicht den Stock, sondern seine ihr zur Hilfe gebotene Hand, um das nötige Stehgleichgewicht zu gewinnen; an seinem Arm setzte sie sich in Bewegung. Solcherart stolzierten sie feierlich ins Eßzimmer, woselbst vor dem Porträt des Gerichtspräsidenten ,– A. verspürte große Lust, sich feierlich zu verbeugen ,– zeremoniell haltgemacht wurde. Der Baronin freilich war dabei ganz und gar nicht komisch zumute; während sie mit sorglicher Hand die Zinnien in der großen Kristallvase unter dem Porträt ordnete, berichtete sie mit wehmütiger Ernsthaftigkeit, daß der Verblichene sich seit jeher einen Sohn gewünscht habe, und abwechselnd blickte sie in die Züge des Bildes und in die ihres Begleiters, als wäre es möglich, da nun doch noch eine Ähnlichkeit zu entdecken. A. war das unangenehm; weder wünschte er von dem abgemalten Talar-Herrn da droben gezeugt worden zu sein, noch wollte er überhaupt an die Geschlechtsfunktionen des Barons erinnert werden, und er fand es überdies ungerecht, daß die Baronin ein Bild ihres einstigen Partners besaß, während von Melitta, nicht weniger tot als jener, bloß das schwankende Gedächtnisbild übriggeblieben war, verurteilt, mit jedem Tag mehr zu verblassen. Und schier unabweisbar stieg der Wunsch in ihm auf, zu ihr hinzueilen, sie nochmals zu sehen, hinzueilen zu der Totenkammer, in deren Nüchternheit sie lag: ach, er hatte die Züge des Einst, die Dämmerzüge zweier Nächte sich einzuprägen.

Die Baronin, den Arm noch auf den seinen gestützt, spürte seine plötzlich ausgebrochene Ungeduld, und sie gab ihn frei. »Wir sehen uns zum Abendessen, lieber A.; es versteht sich, daß Sie heute unser Gast sind.« Und dankend sagte er zu.

Im Vorzimmer ergriff er seinen Hut und war eben daran, die Wohnungstür zu öffnen, als Zerline aus der Küche kam. Als sie ihn mit dem Hut auf dem Kopf vor sich sah, kicherte sie befriedigt: »Also ausnahmsweise einmal nicht vergessen.« Doch dann stutzte sie: »Wohin wollen Sie?« Er gab keine Antwort, und kurzerhand nahm sie ihm den Hut vom Kopf: »Tun Sie's nicht. Sie sollen nicht zu ihr hingehen. Schenken Sie ihr Ruh; sie verdient's, die Ruh. So tat ich's; so werd ich's halten. Hier Und nicht da« ,– sie deutete erst auf sein Herz, dann auf seine Augen ,–, »hier und nicht da soll sie wohnen, soll wohnen, wie Sie sie zuletzt gesehen haben, vorgestern um Fünfe am Morgen. Wenn Sie hingehen, ist's zerstört. Und was bleibt, ist in den Augen, nimmer im Herz, wo's hingehört.« Und als er schwieg, setzte sie hinzu: »Ich hab sie lieb gehabt ,… versprechen Sie mir's, daß Sie nicht hingehen ,… versprich's!« Er versprach es.

Später ging er aus, barhaupt; aber er hielt sein Versprechen und ging nicht zu Melitta. Hätte es überhaupt Rückkehr von jenem Ort geben können, geben dürfen? Er jedoch wollte zurückkehren, wollte heimkehren, wollte bleiben. Wer heimkehrt ist freigesprochen! Bis Dunkelheitsanbruch saß er auf einer der Bänke nächst dem Kiosk der Bahnhofsanlage, und die grabbekrönende, dreigesichtige Uhr des Todes, das Dreigesicht des Mittelpunkts vor sich, gedachte er Melittas, die gemordet worden war von der Unfreiheit, von der Unfreiheit der Marionetten, weil sie selber frei war. Denn aller Mord geschieht in der Unfreiheit; sie ist es, die mordet. Das Gewimmel der Marionetten erfüllte den Platz, erfüllte die Häuser um ihn, und trotz steter Dreiecksgebundenheit wurde der Platz wieder zum Konglomerat, zum Konglomerat der Stadt, zum Ding-Konglomerat, das zur Marionettenhaftigkeit gehört, heimatlos, hoffnungslos. Und doch hatte er, der hier saß, die Hoffnung der Heimkehr, die Hoffnung der freiwilligen Unfreiheit, seltsam verbunden mit Melittas Freiheit, die Hoffnung des leichten Abschieds. So gedachte er ihrer mehr und mehr, bis sie, sich auflösend, ganz eingegangen war in ihn, und als dann Abends die Lichter aufflammten, da stand dort drüben an der Spitze, dort wo die Schenkel des Dreiecks zusammenliefen, nicht mehr das gefürchtete Zeichen des Gerichts, sondern das der Heimkehr und der Unschuld, das Zeichen des Kindes ,–, der Hölle entronnen.

Nach zwei Tagen übersiedelte er ins Alte Jagdhaus. Und ehe noch der erste Schneefall eintrat ,– es war Mitte November, und über den Asphalt des Bahnhofplatzes raschelten die Blätter der nun unter den Windstößen plötzlich entlaubten Parkbäume ,–, holte er in seinem neuen Auto die Baronin zur Übersiedlung ab. Gewiß, es gab dabei vielerlei größere und kleinere Schwierigkeiten und Aufregungen, denn obwohl der Hauptteil des Gepäcks schon vorausgeschickt war und Fehlendes sich immer noch nachschicken oder abholen ließ, man kam mit den Dingen, die ins Auto verstaut werden sollten, schlechterdings nicht zurecht, und Hildegard, welche den Verpackungstrubel seit zwei Wochen mitgemacht hatte und bis aufs äußerste erschöpft schien, fiel zornig über A. her: »Da haben Sie es; jetzt beginnen die Aufregungen, genau wie ich es vorausgesagt habe, und weiß Gott, wie das noch enden wird.« Doch die heitere Miene der Baronin strafte sie Lügen. Am Ende ging der Umzug glatt vonstatten. Und die Baronin blieb heiter, ja sie wurde im Laufe der folgenden Wochen immer heiterer. Sie hatte sich noch nie so wohl gefühlt, beteuerte sie stets aufs neue. In Heiterkeit wurde das Weihnachtsfest gefeiert; der verschneite Wald schaute durch die Fenster. Nur daß Hildegard im letzten Augenblick wegen einer Erkältung abgesagt hatte, trübte die Stimmung ein wenig. Aber nicht für lange.


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