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Die Nach-Geschichten

Stimmen

1933

Neunzehnhundertdreiunddreißig ,–, warum mußt du's dichten?
Verheißnes Land des Abschieds, oh Ahnung tiefrer Schichten!

*

Wir wollen uns nicht täuschen,
wir werden niemals gut;
uns treibt's von Rausch zu Räuschen,
zu Folterung und Blut.

Die Todesstraf wir lieben
mit Knute, Strick und Schrei;
nach fünfzig braven Hieben
liegt Ripp und Wirbel frei.

Das Eisen der Garotte
bricht langsam das Genick,
und aus des Sünders Zotte
hängt blau ein Zungenstück.

Den tücht'gen Guillotinen
dankt unser Fortschritt viel;
Elektrostühle dienen
qualstumm dem gleichen Ziel.

Stahlgalgen-Konstruktionen,
des deutschen Heeres Stolz,
für zwei bis vier Personen
auf Gummireifen rollt's.

Am Reißbrett zeichnen Federn,
und keiner, keiner scheut's,
blitzblank fahrbar auf Rädern
Golgathas neues Kreuz
aus Muffen und aus Röhren
präzis, damit man's glaubt,
und dann von Ingenieuren
wird Jener drangeschraubt.

*

Entblöße das Haupt und gedenke der Opfer.
Denn nur der, der am Hals den Strick schon spürt,
Bemerkt den Halm, der im Wind sich rührt
im Pflastergestein unterm Galgen.
Oh die Genießenden, die Blutvergießenden!
Das Dämonische ist blind,
Das Unerlaubte ist blind,
Gespenster sind blind,
blind vor dem Sprießenden,
weil selber ohne Wachstum.
Und doch,
einstens war jeder ein Kind.
Preise nimmer den Tod,
preise nicht den Tod, den einer dem andern zufügt;
preise nicht das Unanständige.
Doch habe den Mut Scheiße zu sagen, wenn einer
um sogenannter Überzeugungen willen
zum Mord am Nebenmenschen aufhetzt; wahrlich,
der dogmenlose Raubmörder ist da der bessere Mann:
oh, der erniedrigende, der selbsterniedrigende Ruf
nach dem Henker, der Ruf geheimer Angst,
der Ruf aller schlechtgestützten Dogmen.
Mensch, entblöße das Haupt und gedenke der Opfer!
Schlechtes wendet sich an Schlechtes:
das gespenstische Menschenopfer,
wer bringt es dar? ,– ein Gespenst;
es steht im Zimmer, ein Unerlaubtes steht da,
pfeift vor sich hin, das Spießergespenst,
das ordnungsgewöhnte Gespenst!
Es hat lesen und schreiben gelernt,
es benützt eine Zahnbürste,
es geht zum Arzt, wenn es krank ist,
es ehrt manchmal Vater und Mutter,
ist ansonsten lediglich um sich selber besorgt
und ist trotzdem Gespenst.

Der Gestrigkeit entstiegen, romantisierend dem Gestrigen zugetan, doch heutigen Vorteil witternd und auf ihn bedacht, ein Gespenst, das kein Geist ist, ein Fleischgespenst ohne Blut und ebendarum blutrünstig in schier haßloser Sachlichkeit, erpicht auf Dogmen, erpicht auf geeignete Schlagworte und drahtpuppig von ihnen bewegt (mitunter auch von denen des Fortschritts), immer aber feigmörderisch und durch und durch tugendboldisch, das ist der Spießer: O wehe, wehe!

Oh, der Spießer ist das Dämonische schlechthin; sein Traum ist eine unentwegt auf gestrige Ziele gerichtete höchstentwickelte und höchstmoderne Technik; sein Traum ist der technisch äußerst vollkommene Kitsch; sein Traum ist die professionelle Dämonie des für ihn geigenden Virtuosen; sein Traum ist die im romantischen Feuerzauber glühend strahlende Opernmagie; sein Traum ist schäbige Brillanz.

Ach, wie waren wir erschrocken,
flitzte durch Gespenst-Berlinen
Spießer-Kaisers schwapse-schwipse
Purpurkitsch-Apokalypse
motorisiert und hermelinen,
tutend weiß und stink-barocken
in der großen Limousinen;
wir stießen uns an mit der Schulter,
und unser Entsetzen war Lachen.
Dabei war's nur Anfang, und als drei Dezennien danach
das Untier sich nahte und das Maul voll nahm,
hergebend eine Spreche, die wie Schleim war,
verloren wir unsere Rede; Wort wurde trockenes Etwas,
und es war als sei Verständigung uns für immer
genommen:
wer noch dichtete, war ein verächtlicher Narr,
der aus Früchten welke Blumen erzeugt.
Das Lachen war uns vergangen, und wir sahen
die Schreckmaske, den fünebren Kitsch,
dem Henker vors Spießergesicht gebunden,
Maske vor der Maske, Unnatur die Unnatur deckend,
das Antlitz der Tränenlosigkeit.

Aber die Revolutionen, Auflehnungen der Natur gegen die Unnatur, gegen das Gespenstische und radikal Unerlaubte, aber auch gegen die Überzeugungsvielfalt, die sie mit Hilfe der düster-zornigen Flamme des Terrors und der Zwangsbekehrung restlos ausbrennen wollen, die Revolutionen werden selber gespenstig, denn jeder Terror ruft neues Spießertum auf den Plan, aufrufend den Revolutions-Profiteur, den Revolutions-Spießer, den virtuosen Terror-Fachmann, ewig verruchten Schänder aller Gerechtigkeit: Wehe, o wehe!

Oh revolutionäre Gerechtigkeit! Aus der Revolution wird des Spießers dämonische Imitations-Revolution, raubmörderisch und trotzdem noch ärger, da ihre Dogmenlosigkeit die der nackten Macht ist; nicht um Bekehrungen oder Zwangsbekehrungen geht es da mehr, sondern nur noch um die allen Überzeugungen innewohnende Infamie, um das technisch vollkommenste Terror-Instrument als solches, um das Konzentrationslager und um die Laboratoriums-Folterkammer, auf daß mit der zum obersten Gesetz erhobenen Gesetzlosigkeit, mit der zur Wahrheit erhobenen Gespenster-Lüge eine geradezu abstrakte All-Versklavung erzielt werde, fremd allem Menschentum.

Verlorenen Seins, wir können's nicht ermessen:
Eins war ich damals in der Wiege,
Eins werde ich in meiner Sterbestunde sein,
vielleicht auch schon wenn hinter Stacheldrähten
ich warten werde, daß sie mich zur Richtstatt holen,
denn sind auch unsere Seelen bloß dem Nichts empfohlen
und wissen sie auch keiner Richtung hinzubeten,
sie rauschen doch im frommen Einsamsein,
als wär's im Nichts, daß sich das Sein verschwiege.
Oh, laß mich's nicht vergessen.
Darum, du noch Lebender, entblöße das Haupt
und gedenke der Opfer, nicht zuletzt der künftigen;
die Menschenschlachtung ist noch nicht beendet:
Wehe über die Konzentrationslager im Erdenrund!
sie vermehren sich, wie immer sie sich nennen;
ob revolutionär oder antirevolutionär,
ob fascistisch oder antifascistisch,
sie sind des Spießers Herrschaftsform,
da er Sklaverei ausüben und erleiden will.
Wehe über die Blindheit!
Wald und Wiese reichen bis zum Lagergitter,
und in den Henkerheimen zwitschern Kanariensänger;
groß wölbt der Blütenhimmel sich über Jahreszeiten,
und hoffnungsfarben steht der Regenbogen ,–,
der Kosmos höhnt in Unvereinbarkeiten
und fragt den Menschen: trägst du es noch länger?
was ist dir sichtbar? was gelogen?
Der Todgeweihte sieht's; nichts macht ihn bitter,
und der Genickschuß ist echt.
Entblöße das Haupt und gedenke der Opfer.

*

Der Schnitt im Irdischen ,– nochmals. Steil fällt das Ufer zur
See;
die Landschaft ist kein Ganzes mehr, und über den Horizonten
draußen
liegt meerbedeckend der Nebel der Verwandlung.
Denn zum Maß des Menschen sind die Dinge geworden und
das Gestern entflieht eh noch die Barke es aufnimmt. ,–
Gehe zum Hafen;
allabendlich warten die Barken, unsichtbar freilich
die Flotte des Menschlichen ausfahrend ins östlich Unbekannte
der Nacht: oh Schnitt durch die Zeit!
Gab's je ein Gestern? will's dich äffen?
Gab's je die Mutter? Oh, gab es je was einst dich hielt?
Gibt es ein Heimwärts? Oh, nie ist heimwärts, immer Treffen
triffst du das was auf dich zielt.
Darum suche nicht, doch blicke; erblicke das ruhende Verströmen,
erblicke die Verwandlung an der Schneide,
die Pause zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, in der
es sich auflöst, die Dinge aus Hand-Werk geboren zu ihm zurückkehren
machtlos am Ende der Macht. Hier reicht es hinüber. ,–
Gehe zum Hafen;
wenn der Abend die Mole berührt und den ruhenden Spiegel des Meeres,
blicke dorthin wo das Gestern eintreffen und zum Morgen werden wird
ehe es noch eingetroffen ist.
Die Landschaft ist zerschnitten, aber
größer als du ist dein Wissen; sporne dein Erkennen an, nochmals,
daß es dein Wissen erreiche, ehe der Abend sich senkt.

*

Es genügt nicht, daß du dir kein Bild von Mir meißelst;
du denkst trotzdem in Bildern, auch wenn du Meiner gedenkst.
Es genügt nicht, daß du dich scheust Meinen Namen zu nennen;
dein Denken ist Sprache, ein Nennen deine schweigende Scheu.
Es genügt nicht, daß du an keine Götter neben Mir glaubst:
dein Glauben vermag bloß Götzen zu formen,
stellt Mich in eine Reihe mit ihnen,
wird dir bloß von ihnen anbefohlen,
nimmer von Mir.
Ich bin, und Ich bin nicht, da Ich bin. Deinem Glauben
bin Ich entrückt;
Mein Antlitz ist Nicht-Antlitz, Meine Sprache Nicht-Sprache,
und dies wußten Meine Propheten:
Anmaßung ist jegliche Aussage über Mein Sein oder Nicht-Sein,
und die Frechheit des Leugners wie die Unterwerfung des Gläubigen
sind gleicherweis angemaßtes Wissen;
jener flieht die Prophetenrede, und dieser mißversteht sie,
jener lehnt sich gegen Mich auf, dieser will sich Mir anbiedern
mit bequemer Verehrung,
und darum
verwerfe Ich jenen, während dieser Mein Zürnen entfacht ,–,
eifervoll bin Ich gegen die Zutraulichen.
Ich bin der Ich nicht bin, ein brennender Dornbusch und bin
es nicht,
aber denen, welche fragen
Wen sollen wir verehren? Wer ist an unserer Spitze?
denen haben Meine Propheten geantwortet:
Verehret! Verehret das Unbekannte, das außerhalb ist,
außerhalb eures Lagers; dort steht Mein leerer Thron
unerreichbar im leeren Nicht-Raum, in leerer Nicht-Stummheit
grenzenlos.
Schütze deine Erkenntnis!
Versuche nicht dich zu nähern. Willst du den Abstand verkleinern,
so vergrößere ihn freiwillig, und freiwillig verkrieche dich
in Zerknirschung, in die Annäherungslosigkeit deines Selbst;
dort allein bist du ebenbildhaft.
Sonst nämlich wird es dich zerknirschen. Nicht Ich werde die
Geißel über euch schwingen; ihr selber werdet sie herbeiholen,
und unter ihren Streichen werdet ihr eure Ebenbildhaftigkeit
verlieren, eure Erkenntnis.
Denn soferne Ich bin und soweit Ich für dich vorhanden bin,
habe Ich den Nicht-Ort Meines Wesens in dich eingesenkt,
das äußerste Außen in dein innerstes Innen ,–,
auf daß
dein Erkennen zur Ahnung deines Wissens gelange,
du aber in deinem Nicht-Glauben glauben kannst;
erkenne dein Erkennen-Können, frage dein Fragen-Können,
die Helle deiner Dunkelheit, die Dunkelheit deiner Helle,
unerhellbar, unverdunkelbar: hier ist Mein Nicht-Sein,
nirgendwo anders.
So haben es, als die Zeit reif war, Meine Propheten gelehrt,
und widerspenstig, lediglich um ihrer Auserwähltheit willen
und dennoch auserwählt, haben einige aus dem Volke
es verstanden und sich daran gehalten.
Lausche ins Unbekannte, lausche den Zeichen der neuen Reife,
daß du da seist, wenn sie anbricht für dein Erkennen. Dahin
richte deine Frömmigkeit, dein Beten. Mir jedoch gelte kein
Gebet; Ich höre es nicht: sei fromm um Meinetwillen, selbst
ohne Zugang zu Mir; das sei dein Anstand, die stolze Demut,
die dich zum Menschen macht.
Und siehe, das genügt.

*

Oh, alles ist dem Menschen die Sonnenwelt,
und das Abschiednehmen fällt ihm schwer,
es sei denn, daß er das gelobte Land,
freilich ohne es betreten zu dürfen, ohne
es betreten zu müssen, im Abschiedsblick
erschaue.

Fremder Bruder, den in meiner Einsamkeit
ich noch nicht kenne,
wir wollen ,– es ist an der Zeit ,– uns
daranmachen den Berg Pisgah zu erklimmen,
ein wenig atemlos zwar (wie auch sonst
in unserm Alter) aber immerhin wir werden
es schaffen, und dann auf dem Gipfel Nebo
da wollen wir rasten.
Weder sind just wir die ersten dort droben
noch die letzten; nein, fortwährend werden
etliche unserer Art sich dazugesellen, und
mit einem Male werden wir Wir sagen, werden
das Ich vergessen. Solcherart aber mögen
wir hier sprechen:
Wir auserwähltestes Geschlecht, wir das
Geschlecht inmitten der erneuten, höchst
mächtigen Wandlung,
wir hungernde, dürstende, dreckverstaubte,
arg ermattete Wüstendurchquerer (ganz zu
schweigen von dem Ungeziefer und all den
Krankheiten, die uns wahrlich recht böse
zugesetzt haben) wir Umhergestoßene,
wir Heimgesuchte und darum Heimsuchende,
wir dem Entsetzen Entkommene, aufgespart
dem Glück der Aufsparung und des Schauens,
aufgespart dem Entsetzen der wachen Schau,
wir sind die Begnadeten, denen die Nacht
so kurz geworden ist,
daß uns das Gestern in das Morgen reicht
und wir beides in einem sehen, wundersam
das Geschenk der Gleichzeitigkeit.
Und so mag es uns auch beschieden sein
(während die drunten im wilden Gezänk
des Aufbruchs ihre Koffer packen) hier
oben zu warten glückhaft hoffnungsbefreit
im großen Abschied des Schauens,
den Kuß der Unbekanntheit starkmilde
auf unsern Stirnen, auf unsern Augen.

 

X. Steinerner Gast

Seit nahezu zehn Jahren schon lebte A. mit der recht gebrechlich gewordenen Baronin W. und ihrer nicht viel jüngeren, aber auffallend rüstigen, ja immer rüstiger werdenden Magd Zerline in dem waldumgebenen Alten Jagdhaus. Nun nahe der Vierzigermitte, hatte er reichlich Fett angesetzt, und daran war keineswegs allein die Bewegungsarmut oder richtiger die Bewegungsfeindlichkeit der von ihm gewählten Daseinsform schuld, nein, keineswegs, er stand einfach unter Mastdiät: seitdem sie ins Jagdhaus eingezogen waren, hatte Zerline der Ehrgeiz ergriffen, sich und ihre beiden Mitbewohner zu wandelnden Fässern zu machen; das Kochen und Auftischen wurde zu einem ihrer Hauptlebensinhalte, und wenn auch ihre Mastbestrebungen nur geringen Erfolg bei der Baronin hatten, sie hatten einen um so bessern bei A. und den besten bei ihr selber, denn sie hatte unzweifelhaft ihr Gewicht bereits verdoppelt und war auf gutem Weg, es zu verdreifachen.

A. sah ihr mit Staunen zu. Auf ihr Geheiß hatte er zur weiteren Befriedigung ihrer Fütterungsleidenschaft eine Menge Kleintierzeug angeschafft. Drei feiste Hunde, zwei Dackel und ein Spaniel, hiezu eine infolge Fortpflanzung ständig wachsende Anzahl von Katzen bevölkerten das Haus, und neben dem Hühnervolk, unter denen sie die fetten Kapaune bevorzugte, wurden einige Gänse gehalten, die sie zur Erzeugung mächtiger Lebern kunstgerecht schoppte. Hie und da, besonders wenn sich die Gicht in ihren Gliedern meldete, beorderte sie ihn in den Hühnerhof zur Mithilfe beim Fütterungsgeschäft, doch für gewöhnlich besorgte sie alles allein; je dicker sie wurde, desto hurtiger und behender wurde sie, und desto vollkommener, eindringlicher und anerkannter wurde ihre Autorität über Mensch und Vieh. Selbst die beiden walzenförmigen Dackel, die für den Befehl irgendeines anderen kaum ein Blinzeln hatten, gehorchten ihr aufs Wort, und war sie im Zimmer, so begannen die Katzen zu schnurren.

Sogar zum Gedeihen des Gemüsegartens war sie unentbehrlich; der Handlanger, der ihn bediente, holte für jede kleinste Verrichtung ihren Ratschlag ein. Nach einem Stadtleben von mehr als vier Dezennien war ihr altes Bauernblut wieder erwacht, zugleich aber auch ihre Bauerngier; da es unmöglich war, all den Reichtum an Eiern, Geflügel, Gemüse und Obst den Eigenmägen des Hauses einzuverleiben, was sie wohl am liebsten getan hätte, wanderten die Erzeugnisse vielfach und verschiedentlichen Weges nach auswärts, zum größern Teil als Verkaufs- und Tauschware, zum geringeren als manchmal gutherzige, manchmal zweckgerichtete Geschenke ,– zumeist kamen Kinder darum, die dann stundenlang bei ihr in der Küche saßen und die alte Frau, soweit sie ihr nicht helfen durften, aufmerksam betrachteten ,–, doch von den Erlösen dieses Handels bekam A. keinen Pfennig zu sehen; offenbar hortete sie das Geld im Strumpf. Jedenfalls, sie gab es nicht für sich selber aus; sie trug noch immer die gleichen Kleider wie vor zehn Jahren, nur daß die Röcke jetzt überall klafften und notdürftig mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurden, da ein kunstgerechtes Erweitern sich schon längst nicht mehr lohnte. Schenkte ihr A. zu Weihnachten oder zu sonstwelcher Gelegenheit ein neues Stück, so befühlte sie mit mißtrauisch prüfendem Finger den Stoff, stellte seine Haltbarkeit fest und begab sich auch vor den Spiegel, um zu sehen, wie es ihr zupaß stünde, ließ aber die Sache dabei bewenden; das Stück verschwand, und das alte Zeug wurde weiter getragen, nicht zuletzt, um es A. von Zeit zu Zeit als Elendsdokument vorzuführen: »Ich kann mir nichts kaufen; für die Frau Baronin sorgen Sie, und ich bin Ihnen gleichgültig.«

In der Tat, für die Baronin sorgte A.; er sorgte um sie und betreute sie wie ein Sohn. Sich um sie, die ihm Wahlmutter geworden war, zu kümmern, ihr aus der Zeitung vorzulesen, abends mit ihr Bésigue zu spielen oder mit ihr zusammen Radio zu hören, wurde ihm mehr und mehr zum Sinn seiner Tage. Und es genügte ihm, weil es ihr genügte, gleichsam, als dürften seine Ansprüche an das Leben die ihren nicht übersteigen. Dabei konnte von einer eigentlichen Mutter-Sohn-Vertrautheit kaum die Rede sein, und der seit zehn Jahren unveränderte, spielerische Zeremonialismus, mit dem sie einander behandelten, war ihnen, obwohl Form, zum Inhalt ihrer Beziehung geworden, die freilich so ausschließlich war, daß die Baronin darob mehr und mehr ihre frühere Existenz vergaß: die Zeit ihrer Ehe und erst recht die ihrer jungen Witwenschaft zerrann im Nirgendwo; die Orte ihres Daseins, nicht zuletzt die Stadtwohnung, die sie so viele Jahre hindurch mit ihrer Tochter Hildegard innegehabt hatte und nun von dieser an paying guests vermietet wurde, die Orte verblaßten am Horizont, und das Dahinschwinden, das in seiner Ruhe fast erstrebenswerte Dahinschwinden, erstreckte sich sogar auf Hildegard selber, machte sie in zunehmendem Maße zu einer Fremden, deren ohnehin nicht allzuhäufige Besuche schließlich den Charakter einer unerwünschten Störung annahmen. A. jedoch hütete sich, daran zu rütteln; denn sie spielten ein gemeinsames Verdämmerungsspiel miteinander, und jedes Heraufbeschwören der Vergangenheit verstieß gegen die Spielregel. Also war auch seine Vergangenheit vergessen. Daß er einstens die fünf Erdteile bereist hatte, daß er durch die Dschungel der Börsen und der internationalen Kurse, durch die Wildnisse der Finanz und der lauernden Spekulation sich einstens seinen Weg gebahnt hatte, getrieben von einer Lust, die zugleich die des Erforschers wie die des Spielers ist, weil sie immerzu ,– oftmals sogar mit gedanklicher Kühnheit ,– den Wahrscheinlichkeiten nachspürt, die aus Sein und Geschehen sich kombinieren lassen, all das war farbverblaßt und ins lediglich Konturige geraten, war vor einem Alltag gewichen, in dem man fett und gewichtig wurde, und der selber fett und gewichtig war, trotzdem aber unaufhörlich sich ins Gewichtlose und Schemenhafte verflüchtigte und ebendarum auch das Menschen-Ich mitverflüchtigte, ja es in eine Sphäre sonderbarster Wunschlosigkeit hob; selbst die erotischen Wünsche waren verflüchtigt, und unvorstellbar war es ihm geworden, daß er einst Frauen geliebt und besessen hatte, unvorstellbarer noch, daß sich derartiges je wiederholen könnte, am unvorstellbarsten aber wohl, daß seinethalben ,– oh, geschah es seinethalben? ,– ein junges Mädchen Selbstmord verübt haben sollte, sie, seine letzte Geliebte, heute nur noch ein Name, ein vergessensbereiter Name, von dem schon nicht mehr genau feststand, ob er wirklich Melitta gelautet hatte. Nichts war geblieben; nur das geschehenlose Jetzt der letzten zehn Jahre war vorhanden, und wenn die Baronin sagte: »Wir wollen von alten Zeiten sprechen«, so verstanden beide darunter die Tage ihrer ersten Begegnung; es gab nur mehr ein gemeinsames »Erinnerst du dich?«, das freilich bei ihnen, gemäß ihrer formellen Ausdrucksweise, »Erinnern Sie sich?« hieß. Und fast war es wie Furcht vor dem Erinnern; klapperte wo eine Tür im Luftzug, so gruselte es ihnen beiden ein wenig: dann pflegten sie ,– war das Wetter günstig ,– in den Garten hinauszutreten, um daselbst eine kleine Promenade zu unternehmen, die letzten Verschönerungen besichtigend, mit denen A. das Anwesen wieder geschmückt hatte, so die Sonnenuhr in der Mitte des Gartenrondells oder die frischgepflanzte Fuchsienreihe vor der Küchenfront, und mit beruhigter Seele kehrten sie hernach ins Haus zurück, und gar wenn sie von Zerline gerade zum Essen gerufen worden waren.

So war hier das Leben, hier im Haus der fetten Leute und des fetten Alltags, und A. wollte es nicht mehr anders haben; es freute ihn geradezu, die Jahre solcherart verrinnen und versickern zu lassen, und er achtete es nicht, ja er liebte sogar den Verwesungsgeruch, den er in diesem Alltag spürte. Oft sagte er sich, daß er nun wahrhaft und im wahrsten Wortsinn ein Mitglied der leisure class sei, und daß er bedauerlicherweise hiefür bestraft werden würde ,–, doch war es seine Schuld gewesen, daß ihm das Geldverdienen stets geglückt war? Gewiß ist internationaler Diamantenhandel lukrativer als das mühselige Diamantenschürfen in den Kimberleyfeldern ,–, doch darf man darum von einem wirklich arbeitslosen Einkommen reden? Nein, bei all seiner Bequemlichkeit, wirkliche Faulheit war ihm stets verwehrt geblieben, und selbst heute in seinem Müßigkeitsleben ist sie ihm nicht vergönnt, vielmehr muß er unausgesetzt auf dem qui vive sein, muß die Waren- und Wechselkurse Tag für Tag verfolgen, um den Maklern und Banken rechtzeitig Dispositionen erteilen zu können, und da man nun überdies mit dem Hochkommen politischer Narren vom Schlage Hitlers rechnen muß, heißt es doppelt vorsichtig sein, wenn man nicht plötzlich zum Bettler werden will. Nun, bisher hat er richtig operiert; er hat sich vom Realbesitz, vor allem dem deutschen, tunlichst gelöst, hat seine Warenspekulationen weitgehend liquidiert, ist in der Hauptsache auf amerikanische Anlagewerte übergegangen, und daß ihm das fast ohne jede Einbuße gelungen ist, gelungen trotz allgemeiner Krise und Depression, gelungen gegen die allenthalben verschärften, das internationale Geschäft unterbindenden Devisengesetze, kurzum gelungen unter Verhältnissen, von deren Schwierigkeit sein Vater sich nichts hat träumen lassen können, ist ein Triumph über diesen so selbstsicheren Mann, der dem Sohn Vermögensvergeudung vorausgesagt hat. Und nicht minder ein Triumph über den Vater ist die geglückte Finanzsicherstellung der alten Baronin; gewiß wird er Wohltätigkeitsinstitute und vor allem natürlich die seiner holländischen Heimat, sehr reichlich in seinem Testament bedenken, aber bevorzugte Erbin wird doch die Baronin sein, auf deren Namen er für den Fall seines Todes das Jagdhaus, einen der wenigen Reste des Realbesitzes, bereits überschrieben hat. Sorgen macht es ihm freilich, was bei noch weiterer Verschärfung der Lage, etwa bei Kriegsgefahr zu geschehen haben würde ,–, wird man dem Geld nachreisen müssen? wird man der alten Frau eine solche Verpflanzung, die für sie katastrophal werden könnte, zumuten dürfen? oder wird es ebendeswegen notwendig werden, hierzubleiben und das transferierte Vermögen aufs Spiel zu setzen, eine späte Erfüllung der väterlichen Prophezeiung von der Vermögensvergeudung? Indes, das waren, wiewohl ein vorsichtiger Pessimismus sich immer noch als lukrativ erwiesen hat, vielleicht allzutrübe Annahmen, denn fürs erste besserte sich die Lage ringsum: sowohl politisch als auch wirtschaftlich lockerte sich die Weltspannung, die von Zerline gefütterte Friedlichkeit des Jagdhauses schien vorderhand keinen Störungen ausgesetzt, der Nationalsozialismus verlor an Stimmen, die internationale Finanz erwarb eine gewisse Routine in der Behandlung von Devisenvorschriften, und auf bereits liebgewohnten Bahnen lief A.s Leben noch ein gutes Stückchen weiter. »Träge Lebensverdauung, träge Schicksalsverdauung«, pflegte er zu sagen und freute sich der wespenumschwärmten Fuchsienstöcke an der Küchenmauer und der Pelargonien beim Gartenpavillon: »Man muß nur lernen die Welt links liegen zu lassen.«

Manchmal, in der kühlen Wärme eines Sommermorgens oder auch im Herbst, wenn das gelblich werdende Laub still in der großen Durchsichtigkeit steht, unternahm er einen gemäßigten Spaziergang durch den Wald, langsam einherwandelnd zwischen den Buchenstämmen, oftmals stehenbleibend, um deren körnig glatte, grau-grünliche Rinde zu betasten und die darin eingekerbten, von den Stadtausflüglern stammenden, braunschwarz gewordenen Initialen und Herzen zu betrachten. Hiebei wurde er häufig vom Bild des Vaters wie von dem der Baronin begleitet, nicht von ihren leibhaftigen Bildern, nein, es trat jenes in Gestalt von Finanzproblemen, hingegen dieses in Gestalt von Testamentskodizillen auf, und für beides erwies sich der Wald als recht guter Ideenspender. Doch so klug die Testamentsverbesserungen, mit denen er sich da beschäftigte, auch sein mochten, es kam ihm sonderbarerweise überhaupt nicht in den Sinn, daß seiner greisen Erbin Vorversterben eigentlich im natürlichen Lauf der Dinge lag. Ihr Tod schien ihm geradezu vermeidbar, unendlich hinauszögerbar, kurzum vertuschbar, soferne man nur alle sie gefährdenden Katastrophenmöglichkeiten sorgsam von ihr abhielt, und im Grunde hieß das bloß, daß er sie unter keinen Umständen überleben wollte. Nichts sollte sich mehr ändern, und solange er noch hier auf dieser Welt weilte, sollte auch sie es tun. Auf einem der Bäume war die Liebesrune »Treu bis in den Tod« eingeschnitten, und wahrlich, es hätte nicht viel gefehlt, daß auch er sein Messer gezogen hätte, um darunter als Votivinschrift ihren Namen »Elvira« zu setzen. Und so verschmolzen sich in ihm die Valutenkurse und die Erbschaftsgesetze mit dem Rauschen des Waldes, mit dem Knistern des Holzes, mit dem Summen der Mücken, mit dem Pfiff der fernen Lokomotive, nicht minder aber mit allem Sichtbaren in Waldesdunkel und Waldeshelle; es verschmolzen sich in ihm die gesehenen und gehörten und gedachten Wirklichkeiten zu einem Ganzen von unendlich vielen Dimensionen, in deren höherer Realität sich alles Unmittelbare verwandelt, aufhebend das unmittelbar Menschliche in seiner Diesseitigkeit und Geschlechtlichkeit, dennoch es aufbewahrend für die vollkommene Geheimnisenthüllung des Endes, für den zeitlos ewigen Augenblick, da Zeit und Raum zusammenstürzen.

Kehrte er von solchen Spaziergängen heim, so versäumte er nie, der Baronin seine verschiedenen Naturerlebnisse zu erzählen. Im Frühjahr brachte er ihr die ersten Schneeglöckchen und Veilchen, den gelben Krokus von den Waldrändern, im Herbst aber war er armvoll mit Hagebuttenzweigen beladen, auf daß das Feuer ihrer abendroten Früchte in den Vasen leuchte. »Überanstrengen Sie sich nur nicht«, pflegte dann die Baronin zu sagen, indem sie wohlgefällig seine fettwerdende Gestalt betrachtete, ebenso sein runder- und fetterwerdendes Gesicht, die rosa Flecken über den Backenknochen, Auffärbungen, die sich bei blonden Männern reiferen Alters und zunehmenden Fleisches gerne einstellen, nicht selten verbunden, so auch bei ihm, mit zunehmendem Haarausfall, und ihr Wohlgefallen war das der Liebe, die immerzu, besonders jedoch nach langem Zusammenleben, die Defekte des andern in Vorzüge verwandelt. »Nein«, wiederholte sie dann gerne, »Sie dürfen sich nicht überanstrengen: Sie kommen in das Alter, in dem man mit der Schonung seiner selbst zu beginnen hat.« Er war um diese Zeit etwas über vierzig, außerdem in tadelloser Gesundheit, aber gerührt von der mütterlichen Obsorge begann er an seine Schonungsbedürftigkeit zu glauben, und obwohl ihm Zerlinens Gegenvorschrift »Bewegung in frischer Luft macht Appetit« durchaus einleuchtete, begann er den Umkreis seiner Spaziergänge einzuschränken, freilich ohne darum an Appetit zu verlieren; im Gegenteil, nicht selten schlich er sich in die Speisekammer, um mit diebischer Lust dort etwas zu stehlen.

Für gewöhnlich also saß er in seiner Stube und ließ den Wald zum Fenster hereinschauen. Zwar häufig von Ruhepausen auf dem Kanapee unterbrochen, war er hier seinen Finanzverpflichtungen hingegeben, doch die darüber hinaus verbleibende, noch immer sehr reichliche Mußezeit verbrachte er mit Lektüre, und da er ein flinker und vielinteressierter Leser war ,– fast allwöchentlich kam eine Sendung von dem Buchhändler in der Stadt ,–, häuften sich die Bücher, so daß das Zimmer bald das Aussehen einer richtigen Bibliothek angenommen hatte. Manchmal freilich tat er überhaupt nichts, und obwohl das dann entrückungsartige Zustände waren, sie entrückten ihn nirgendwohin, waren Entrückung ins Nichts und waren daher für ihn von einer lasterhaft funebren, dennoch fast erhebenden Faszination. Insbesondere im Winter überkamen ihn diese Zustände. Er hatte ,– gemäß Zerlinens Anempfehlung der Frischluft und derer appetitanregenden Qualitäten ,– es sich zur Gewohnheit gemacht, zumindest eines der beiden Zimmerfenster ständig geöffnet zu halten, tat dies sogar im Winter, mußte aber hiezu einerseits den Ofen zur Hochkapazität heizen, andererseits sich selber entsprechend winterlich vermummen: den wegen Haarschütterkeit erkältungsgefährdeten Scheitel vermittels einer altmodischen, krempenlosen Hauskappe geschützt, gestrickte (von der Baronin ihm gestrickte) Pulswärmer an den Händen, die Füße in Filzpantoffeln, saß er vor dem Schreibtisch, und geriet er da, zumeist ganz plötzlich und eigentlich stets ohne angebbaren äußern Anlaß, in den gruseligen Zustand gelähmter Nichts-Entrücktheit, so konnte ihn nicht einmal eine Schneebö mit ihren eisigen, ihm ins Gesicht getriebenen Flockenstößen bewegen, die Scheiben zu schließen, vielmehr war es ihm, als müßte er, ohne sich vom Platz zu rühren, diesen bis zum Sommer behaupten, durchhaltend bis zur satten Sommerwärme, die es sodann gestatten würde, im bloßen Hemd hierzusitzen und vom Winter zu träumen. Ob nämlich Schneeluft oder Hitzebrodem, ob Welle des Nordens oder des Südens, es war ihm, dem Entrückten, allzeit die nämliche Flutung, einströmend in sein Zimmer und ihn umspülend, den Waldatem herbeitragend, so daß es in ihn einflutete und ihn hinwegflutete ahnungswärts, denn der Atem des Waldes war der eines innersten Gefüges, war der des dunklen Wurzelbodens und war trotzdem zur Klarheit gehoben, war Ahnung jener fernsten und fast schwerelosen Wirklichkeit, welche die Ordnung ist. Und manchmal war es wie Gesang, ferner Gesang der Schwerelosigkeit.

Und eines Tages war es wirklicher Gesang.

Es war erst, als ob tief im Walde ein Holzfäller zu seiner Arbeit sänge. Dann mischte sich das Trillern und Zwitschern der Vögel hinein, und das war unmöglich, denn man war im März. Es war auch bald wieder still, und man hörte nur, wie die feuchten Schneeklumpen von den Ästen fielen und das Tauwasser vom Dach heruntertropfte. Aber bald hob es von neuem an. A. fühlte sich gestört. Und er hatte ein Recht dazu. Standen jetzt nicht wichtigere Dinge als dumme Singerei-Rätsel auf dem Spiel? Hatte er mit seinem vorauseilenden Pessimismus nicht schon vor drei Jahren alles ganz richtig gesehen? Jetzt war der Narr Hitler doch zur Macht gelangt, und in der geradezu schlagartig verdüsterten Weltlage schwelte die Kriegsgefahr; gewiß, auch dies mochte noch allzu pessimistisch gesehen sein, indes die Vorsicht gebot, die noch vorhandenen Pfundguthaben in Dollars zu konvertieren, und A., der daran war, seinen Londoner und New Yorker Banken zu kabeln, überlegte, ob nicht auch der Schweizer Franken prekär und vertrauensunwürdig werden könnte, jawohl, sogar der Schweizer Franken. Konnte die Singerei nicht warten, bis er mit seinen Gedanken ins reine gekommen war? Wußte der Sänger nicht, wie viel es gerade jetzt hier noch zu erledigen gab? Zudem war nach dem reichlichen Essen der Nachmittagsschlaf bereits dringlich notwendig geworden; ohne ausgeruhten Kopf ,– weiß der Kuckuck, warum er heute gar so schläfrig war ,– lassen sich keinerlei Entschlüsse fassen. Die Axthiebe störten nicht; die waren ein natürlicher Teil des Waldes, das Singen hingegen war unnatürlich, auch wenn es, wie eben jetzt, sich ins ganz Dunkle herabdämpfte und dem Tiefgesumme von Bienenschwärmen glich. Bienensummen ist kein Gesang, ist etwas Natürliches, hat ihn noch niemals gestört und wird ihn auch heute nicht stören. Unsinn, schwärmende Bienen im März! Im Sommer ist's natürlich, im Winter ist's Gesang. Trotzdem muß man's hinnehmen; Holzfällen ist eine schwere Arbeit, und wenn der Mann dabei singen wollte, so gibt einem die eigene Siesta nicht das Recht ,– und jetzt legte der gar mit voller Stimme los ,–, es ihm zu verbieten. Doch war es überhaupt der Holzfäller, der den Gesang erschallen ließ? Kamen die Axtschläge und der Gesang nicht aus verschiedenen Richtungen, voneinander getrennt, dennoch aufeinander abgestimmt? Das klang fast wie ein Choral vieler Stimmen. Nichtsdestoweniger, es war eine einzige Stimme, die das Chorhafte bewältigte, und dies wurde merkbar, sooft sie, gewissermaßen über sich selbst hinausschwingend, zu einer Art Arie wurde. Unzweifelhaft, es war eine einzige Stimme, eine einzige Mannesstimme, und unzweifelhaft kam sie näher, ihren Gesang vor sich hertragend, begleitet und umflötet vom Vogelgezwitscher, zudem von einem mächtigen Schnee-Regenbogen überwölbt. Holzfällerlied, Marschchoral, Psalm und Trosteshymne, es war alles zugleich und von großer Schönheit. A. konnte nicht umhin zu bedauern, daß es abbrach, und daß sofort danach das Siebenfarbige sehr rasch ins Dreifarbige und schließlich ins Unsichtbare verblaßte. Die Axtschläge hielten noch eine Weile an und verstummten dann gleichfalls. Dann hörte man seine Schritte, schwere, regelmäßige, unterbrechungslose Schritte, als ginge der Mann nicht durch schollenhaften Tauschnee, sondern auf festem Boden. Und auf das Haus zusteuernd, machten die Schritte drunten vor dem Kücheneingang halt.

»Gott zum Gruß«, sagte der Mann zu Zerline, die offenbar, als sie ihn hatte kommen sehen, vor die Tür getreten war.

»Na, so was«, begrüßte sie ihn mit der Überraschung, die sich beim plötzlichen Auftauchen eines alten Bekannten einstellt.

»Ja, ja«, bestätigte er beinahe entschuldigenden Tones, »es war an der Zeit.«

Kürzlich hatte Zerline die Absicht geäußert, den Veterinär heraufzurufen, da einer der Dackel zu erblinden drohte, doch daß der kleine schmächtige Veterinär solch mächtige Sangesstimme hatte, war einfach unvorstellbar. Nein, der war's nicht. Und so war es nur richtig, daß sie jetzt fragte: »Zu wem kommt Ihr? Doch nicht etwa gar zu mir?« Es klang heiter-vertraulich, ja schier kokett, allerdings mit dem Beigeschmack einer leisen Ängstlichkeit. Immerhin, einen Tierarzt hätte sie das nicht fragen können.

»Leider nicht zu Euch«, lachte der Fremde.

»Ihr habt mich ja nicht einmal gefragt, ob ich Euch haben möcht.«

»Warum erst fragen? Ihr schaut mir ganz so aus, als ob Ihr einen Kerl wie mich brauchen könntet.«

So scherzen alte Leute, dachte A.; sie tun noch immer, als ob sie miteinander schlafen wollten, und wären doch in rechter Verlegenheit, wenn sie's tun müßten. Aber warum, zum Teufel, sagen sie einander Ihr und nicht Sie oder Du?

Drunten ging das Geplänkel weiter, und geschmeichelt verwies Zerline den Fremden: »No, no, nur nicht übertreiben; so ganz blind seid Ihr denn doch nicht.«

»Doch, ich bin's«, gab er mit scherzhafter Grobheit zurück, »unsereins muß blind sein.«

»Blind hin, blind her, zum Heraufkommen haben Eure Augen ausgereicht, und Ihr müßt Hunger haben nach dem Marsch ,… also kommt herein, Ihr kriegt was Gutes.«

»Dank schön«, entgegnete der Fremde, »nicht nötig.«

»Nicht nötig, nicht nötig«, höhnte sie, »jeder muß essen, jeder will essen, sonst klappt er zusammen. Selbst der Tod muß gefüttert werden, wenn er was taugen soll.«

Der Fremde lachte, und aus dem Lachen klang wieder der Gesang heraus: »Was habt Ihr denn Gutes?«

»Wollt Ihr einen Kaffee? Oder was Richtiges zum Zubeißen?«

»Wenn's sein muß, beides.«

Sie kicherte: »So schaun die Leut mit ihrem Nichtnötig am End immer aus. In Wahrheit will ein jeder.«

»War auch nicht nötig. Wer in Geschäften kommt, ist kein Gast.«

»Ach was, Geschäfte. Wer zahlt Euch schon ,… erst eßt; dann meinetwegen mögt Ihr Euer Geschäft mit ihr«, sie verbesserte sich, »mit der Frau Baronin abmachen.«

Was für Geschäfte? War das irgend ein Makler? A. entschied, daß man die geschäftsunbewanderte alte Dame vor derlei zu bewahren habe. Indes, gleich darauf hörte er:

»Wer sagt Euch, daß ich zu ihr will? Stimmt ja nicht.«

Na eben, dachte A., der Mann hat hier bloß Station gemacht, und nach geschehener Abfütterung wird er weiterwandern.

»Sososo, nicht zu ihr«, sagte nun Zerline ein wenig erstaunt, »na, gleichgültig, erst wird gegessen.«

Und man hörte, wie sie beide in der Küche verschwanden, aus der nun das Geräusch der üblichen Hantierungen heraufdrang, untermengt mit Zerlinens Gekicher, die augenscheinlich den Fremden aufs heftigste umwarb.

Daß dieser Fremde, dieser merkwürdige Sänger nun da drunten von der Zerline gefüttert wurde, um sodann zu unbekannten Zielen, zu unbekannten Geschäften weiterzuwandern, das machte den Gesang nicht weniger merkwürdig. Vielleicht war es doch nicht er gewesen, der gesungen hatte. Und vielleicht hatte überhaupt keiner gesungen. Vielerlei Täuschungen ist der Mensch ausgesetzt, besonders wenn er schläfrig ist, und kein Gesang gesellte sich nun zu den Axtschlägen des Holzfällers, der seine Arbeit wieder aufgenommen hatte. A. stieß einen schweren Gegenstand, der da plötzlich unter den Papieren auf dem Tisch lag ,– wo in Dreiteufelsnamen hab ich das nun herausgekramt? ,– mit unwilliger Achtlosigkeit beiseite und machte sich aufs neue an die Aufstellung seiner Pfund- und Frankenguthaben. Das ist meine Arbeit, sagte er sich.

Und dann wurde Zerlinens Stimme vernehmlich: »Geschmeckt hat es Euch, und hinterher soll das Kochen keine Arbeit gewesen sein.« Unmittelbar darauf öffnete sie die Tür zu einem Spalt ,– durch den Arouette, A.s schwarze Angora, sozusagen seine Privatkatze, rasch aus dem Zimmer schlüpfte ,–, und mit einem Schmunzeln, als handelte es sich um eine Überraschung, meldete ihre Greisinnenstimme: »Da ist einer, der gern mit Ihnen reden möcht ,… er ist blind.«

Herein trat gewaltigen Aussehens ein sehr alter Mann, das Haupt mit weißer Mähne und weißem Bart umhangen, und als A. den Sessel rückte, um zur Begrüßung aufzustehen und dem Blinden behilflich zu sein, hob dieser eine schier ehrfurchtgebietende große Hand: »Keine Umstände, nur keine Umstände.« Auch er machte keine Umstände; gleich einem Sehenden begab er sich schnurstracks zu dem ledergepolsterten Lehnstuhl gegenüber A.s Schreibtisch, benützte hiezu auch keineswegs den Stock, der offenbar bloß als Wanderschaftsemblem knotig in seiner Hand ruhte, und schwergestaltig, doch nicht im mindesten schwerfällig sich niederlassend, streckte er die Beine mit den noch immer schneefeuchten Röhrenstiefeln von sich: »Ja, da wären wir halt, und um zu erraten, daß Ihr erklärungsheischend zu mir herblickt, braucht's nicht viel; also will ich Euch gleich die Erklärung geben und Euch vorschlagen, gemeinsam mit mir Euer Konto zu überprüfen ,… Ihr seid doch damit einverstanden?«

Ein Steuerbeamter? Ein blinder Steuerbeamter hochbiblischen Alters? Zu alldem ein Bekannter Zerlinens? Und von dem Waldgesang ganz abgesehen, welch seltsame, welch höchst seltsame Diktion für einen Steuerbeamten! Wahrlich, wäre das Kaffeetrinken in der Küche drunten nicht gewesen, man hätte ihn für einen Geist halten mögen, für einen Steuergeist, für einen Prüfergeist. Und ohne zu merken, daß er in die nämliche Geisterdiktion fiel, fragte A.: »Wer gibt Euch das Recht, mich prüfen zu wollen? Ich unterwerfe mich keinerlei Prüfung; meine Bücher sind in vollkommen korrekter Ordnung. Wer seid Ihr?«

»Ja, ja«, gab der Alte zu, »nur ein Narr mag an der Korrektheit zweifeln ,… aber was steht zwischen den Ziffern Eurer Bücher?«

»Nichts ,… sonst wären sie falsch.«

»Nichts? Ist das Nichts nicht Eure Schuld?«

»Nichts heißt, daß ich nichts schuldig bin; niemandem schulde ich etwas.«

»Was Ihr nicht sagt! So sind also Eure Bücher allwissend, aus eigenem eintragend, was Eure Hand nicht einträgt ,… um so mehr Grund für Euch, eine Überprüfung vorzunehmen, oder noch besser zuzulassen ,…«

»Wer seid Ihr, daß Ihr Euch so aufzudrängen wagt? Wer schickt Euch? Was seid Ihr? Seid Ihr ein Richter?«

»Zu große Worte, viel zu große Worte ,…«

»Gut ,… aber aufs bescheidenste eingeschränkt, muß es mir wenigstens gestattet sein, nach Eurem Namen zu fragen ,… wie soll ich Euch nennen?«

»Wenn man alt wird, fällt vieles von einem ab, so daß man sich selber kaum mehr daran erinnert; die ganz Alten werden namenlos, sogar für sich selber ,… immerhin, nennt mich Großvater, denn das tun viele.«

Großvater? Er dachte an den Vater der Baronin, von dem er sich kein Bild machen konnte; er gedachte der eigenen Großväter, die er in frühfernster Jugend gekannt hatte, ohne daß mehr davon zurückgeblieben wäre als allerkleinste Ausschnitte, das Blinken einer goldenen Uhrkette über dem Bauch, das Blitzen zweier Brillengläser, der aus einer Meerschaumpfeife aufsteigende Tabakgeruch. Doch plötzlich stieg fast schmerzlich ein Argwohn in ihm auf, schmerzlich, weil damit etwas aufgewühlt wurde, dessen er sich längst ledig geglaubt hatte, die Erinnerung, die verschüttete Erinnerung an Melittas Selbstmord, an dem er schuldlos schuldig gewesen war: das, oh, das mochte wohl das unabgeschlossene Schuldkonto sein, auf das der Alte anspielte!

»Ihr seid Melittas Großvater.« Es war schier ohne sein Zutun gesagt, und es hatte mit dem schweren Gegenstand, der da auf der Tischplatte vor ihm lag und den er nicht sehen wollte, einen dunklen, glücklicherweise unergründlichen Zusammenhang ,–, besser den gleichfalls nicht zu sehen.

»Mag sein, mag sein. Wenn's Euch wichtig ist, so war ich's. Wir sind jenseits der Erinnerung.«

Selbstverständlich war's wichtig. Es waren jetzt in Deutschland allerlei trübe Quellen aufgesprungen, und mancherlei Erpressungen waren im Gange. War es Melittas Großvater, so wollte er gern für ihn sorgen, doch vor schwindelhaften Erpressungen mußte man auf der Hut sein. So schrecklich die wiedererweckte Erinnerung an Melitta war, A. fühlte sich geradezu befreit, ja schlechterdings glücklich, einen Faden gefunden zu haben, an dem man sich aus all den Seltsamkeiten heraustasten konnte, sozusagen ins Leben zurück. Und jetzt, da sein Verstand gottlob wieder in Bewegung gekommen war, erinnerte er sich, daß Melitta eine Medaillon-Photographie des Großvaters besessen hatte; freilich ließ sich heute ,– Weißbart ist Weißbart, war es schon damals und ist's, nach einem vollen Dezennium, heute erst recht ,– keine Identifikationsmöglichkeit mehr daraus gewinnen, doch das hatte der Alte selber aufzuhellen, und Zerline, die mit der Sache in einem noch ungeklärten Zusammenhang stand, war zur Auskunft wohl verpflichtet: »Gewiß liegt mir daran zu erfahren, ob Ihr Melittas Großvater seid ,… sollte es da tatsächlich, obschon mir keineswegs bewußt, eine vertretbare Schuld geben, so soll, trotz später Forderung alles geschehen, um sie abzutragen.«

»Nicht so breitspurig, mein Sohn«, sagte der Alte einfach.

Eine furchtbare Scham überkam A. und machte ihn nackt. Und das war weitaus ärger, als wenn er sich seiner Nacktheit geschämt hätte. Und warum lag der Gegenstand da schwer auf dem Tisch? Wer hatte ihn hingelegt? Oder hatte der Alte ihn vorausgeschickt? Würde man hinblicken können, es wäre vielleicht die Scham geringer.

»Also sind wir uns wohl darüber einig, daß du dich nicht loskaufen kannst ,… nicht wahr?«

»Ja«, sagte A., und sein Blick traf das blinde Schauen, das aus den faltenumgebenen, farblos gewordenen, dennoch tiefsichtigen Greisenaugen kam und voll auf ihm ruhte.

»Und wir sind uns darüber klar, oder zumindest schon recht klar, daß deine Zeit um ist, und daß wir uns damit beschäftigen sollten, ja beschäftigen müßten ,… oder nicht?«

»Ja ,… Großvater.«

»Und ist dir auch klar, daß das, was sich da erfüllt, die Erfüllung deines eigenen Wunsches ist? Oder etwa nicht?«

Das war für A. allerdings weniger einleuchtend. Gewiß hatte er sich ungewöhnlich viel mit Testamenten beschäftigt, aber darum den Testamentsfall herbeizuwünschen, nein, das war ihm beileibe niemals in den Sinn gekommen. Ganz im Gegenteil, Testamente schienen ihm zu jenem vorsichtigen Pessimismus zu gehören, mit dem er stets die besten Erfahrungen gemacht hat und der bei den heutigen bewegten Zeiten doppelt geboten war. Also wartete er, auf daß der Alte fortfahre, und die Wartepause war ein wenig wie das feierliche Schweigen, das einer Urteilsverkündung vorangeht.

Und war es nicht eine solche? Denn des Alten Spruch lautete nun:

»Du wolltest nicht Vater, du wolltest ausschließlich und für immer Sohn sein. Das war dein Wunsch, ja fast dein Gelübde, wunschgetragenes und demnach schier unbrechbares Gelübde. Du hast dein Sein an jenes gebunden, das dir zum mütterlichen geworden ist, und mit seinem Erlöschen wirst wohl auch du abzutreten haben. Du hast dir selber keine andere Wahl gelassen.«

Ja, es war wie eine Urteilsverkündung, leise unheimlich wie jede Urteilsverkündung, trotzdem nicht erschreckend, um so weniger als mittenhinein ein kältebeladener schwerfeuchter Windstoß hereinfegte und die Blätter mit den Franken- und Pfundaufstellungen vom Tisch wirbelte, so daß A., im vergeblichen Versuch sie noch zu erhaschen, bloß mit halbem Ohr sein Todesurteil anhörte. Und was da gewichtig auf dem Gerichtstisch liegen geblieben war ,– war es das corpus delicti? war es das Richtschwert? war es beides? ,– schien nun mit einmal auch weniger erschreckend geworden zu sein. Doch auch dem Alten war der Windstoß in die Quere gekommen, denn ungeachtet seines wetterharten Aussehens fröstelte es ihn offensichtlich, da er eine Wollhaube aus der Tasche zog ,– oder war es doch das für die Urteilsverkündigung nötige Richterbarett? ,– und damit die weiße Mähne überstülpte.

Es war nicht feierlich und war trotzdem Urteilsverkündung. Und da es so die Regel ist, ließ nun der Alte trockenen Richtertones die Rechtsbelehrung folgen: »Es steht einzig und allein bei Euch, ob Ihr's annehmen wollt; ich bin der letzte, der Euch dazu drängt. Wenn Ihr's ungerecht findet, so könnt Ihr's verwerfen und braucht Euch nicht daran zu halten. Euer Wille bleibt frei, und alles ist Eurer Einsicht überlassen.«

»So werde ich, finde ich es ungerecht, weiterleben dürfen?« informierte sich A.

»Dürfen? Du wirst weiterleben müssen.«

»Und werde sterben müssen, wenn ich es gerecht finde.«

»Müssen? Aus freien Stücken wirst du's tun, geleitet von deinem freiesten Willen.«

»Dann mag aber mein freiester Wille recht leicht einen Justizmord an mir begehen.«

»Das ist ein Gedanke, für den dir weder in diesem noch im nächsten Leben Vergebung werden wird«, lachte der Alte.

»Wie ungemein ungerecht«, ereiferte sich A., »denn meine Einsicht ist schwach und langsam, und sie kann heute als gerecht befinden, was bei tieferer Überlegung sich ihr morgen als ungerecht erweisen wird. Soferne mein freier Wille beträchtliche, nämlich irreparable Fehlentscheidungen vermeiden soll, dürfte er sich überhaupt nicht entscheiden.«

»Sei unbesorgt. Was du Überlegung nennst, ist für deinen Willen belanglos. Er hat entschieden, ehe du zu überlegen beginnst, so er sich einzig und allein nach dem Wissen deines innersten Ichs richtet, das nie und nimmer, ja nicht einmal wenn es wollte, sich selbst zu belügen vermag, und dessen Teil er ist in Fleisch und Seele. Deine Überlegungen hinken nach, und oftmals hinken sie davon ins Lügenhafte, um dich, zumindest bei geringeren Gelegenheiten, zu verwirren. Hier aber, wo es ums Ganze geht, gibt's keine Verwirrung.«

»Wie könnt Ihr das behaupten! Schuld oder Unschuld, außerstande fühle ich mich, da eine Entscheidung zu treffen. Die Sachlage ist so verwirrt wie nur möglich.«

»Sie wird es nicht mehr sein, sobald du dich zu entschließen vermagst, wahrhaft dein innerstes Ich und sein Wissen sprechen zu lassen.«

»Eine weitere Fehlbehauptung! Gerade mein innerstes Wissen widerspricht Euch und hat allen Grund dazu. Uneinsehbar ist es nämlich, daß just das wenige Gute, das man in diesem Leben getan hat, Schuld bedeuten soll. Ein guter Sohn zu sein, ist sogar Bibelgebot.«

Wieder lachte der Alte: »Ich kann nichts dagegen sagen. Vater und Mutter zu ehren, das ist Gottesgesetz, und da der Mensch in seiner Unvollkommenheit froh sein muß, wenn seine Gesetzesbefolgung bis zur Hälfte gedeiht, läßt sich, bei einiger Wendigkeit, immerhin vertreten, daß du den Vater beiseite gelassen hast. Besser die Hälfte als gar nichts. Versteh ich dich recht?«

»Ja, man kann es auch so auffassen.«

»Schön, dann wollen wir den Punkt fallen lassen.«

A. war auf so raschen Rückzug nicht gefaßt: »Natürlich leugne ich nicht, daß es auch hierin Schuld-Elemente gibt.«

»Und die wären?«

»Ich habe das Wohlergehen auf Erden, das dem Menschen für die Einhaltung des Gebotes versprochen ist, überaus wörtlich genommen und mir den Lohn sehr reichlich eingeheimst. Obwohl nicht just ein Prasser, habe ich es mir auf Erden Tag für Tag höchst Wohlergehen lassen. Ich halte was auf gutes Essen und Trinken, und ein bequemes Leben spielt bei mir eine große Rolle oder hat sie gespielt, wie ich's vielleicht heute schon ausdrücken muß. Meine Flucht zur Mutter ist meinem Hang zum bequemen Wohlleben entsprungen.«

»Soll der Mensch etwa schlecht essen und trinken? Hast du die Absicht, alle deine Tugenden zu beichten? Wie also läßt sich da von Flucht reden? Die Zerlin kocht halt gut, und das ist alles.«

»Zum Wohlleben kann man keine Verantwortungen brauchen. Ich war seit jeher entscheidungs- und verantwortungsscheu, und so sehr es mich gedrängt hat, die Verantwortung für die Mutter zu übernehmen, ich habe, da ich zu ihr geflohen bin, mich gegen alle anderen versperrt.«

»Das läßt sich schon eher hören. Allein, jeder muß seinen Verantwortungskreis einschränken; allzuviele Verantwortungen ergeben Verantwortungslosigkeit.«

»Mein Streben war aber von allem Anfang an auf Flucht und Verantwortungslosigkeit gerichtet. Eben deshalb habe ich echte Liebe niemals gekannt; ich habe niemals geliebt. Und als mir dann wirklich die Möglichkeit zur Flucht winkte, habe ich meine Geliebte kurzerhand verlassen, so daß sie ,…«

Jählings stockte er. Jählings hatte er den Gegenstand auf dem Tisch erkannt: es war Melittas silbergraues Handtäschchen. Und es war von drohend unbegreiflicher Schwere.

»Nun?« meinte der Alte.

A. deutete auf das Stück hin: »Ich hatte es ihr geschenkt, und dann hat sie es mir vermacht. Die schwarzen Flecke da sind ihr Blut. Ich habe sie verlassen, und sie hat sich umbringen müssen. Ich bin ein Mörder.«

»Übertreib nicht. Alle Menschen übertreiben, wenn sie auf ihre Liebesgeschichten zu sprechen kommen, denn ob glücklichen oder unglücklichen Ausganges, sie bleiben ihnen das Dauervergnügen ihres Lebens. Mit solch wahrhaft nicht ausschlaggebenden Lappalien brauchen wir uns nicht zu befassen; es gibt deren allzuviele auf dieser Welt. Deine Melitta hätte sich einfach einen andern Mann suchen sollen.«

»Ich war der erste, dem sie begegnet ist, und war daher schicksalhaft für sie. Ihr das Kind vorenthaltend, das ihr das Leben bedeutet hätte, habe ich ihr das Leben genommen.«

»So will's dein Eiteltum, das nicht zugeben mag, daß sie ihre Kinder auch mit einem andern hätt erzeugen können. Doch wenn man sich selber zu einem fetten Kind gemacht hat, wie du es, nichts für ungut, getan hast, darf man derartige Männcheneitelkeit nachgerade aufstecken.«

A. war beleidigt: »Ich bin etwas fett, aber kein Kind ,… das Kind scheut sich nicht, verantwortungslos zu handeln, während ich in meiner Flucht vor Verantwortungen gerade auch die Verantwortungslosigkeit, kurzum ihre Schuld fliehe; das Kind hat keine Scheu, sich ernähren zu lassen, während ich mir alles aus eigenem geschaffen habe, ohne von irgendjemandem, am allerwenigsten von meinem Vater auch nur einen Pfennig angenommen zu haben, denn ich wünsche niemandem etwas schuldig zu sein.«

»Löblich«, sagte der Alte, »du hast Mannesarbeit geleistet und bist infolgedessen kein Kind.«

»Wieder daneben geraten«, triumphierte A., »ich habe zwar eine Mannesleistung vollbracht, dahingegen keine Mannesarbeit geleistet, und das vergrößert meine Schuld.«

»Wie das?«

A. dachte ein wenig nach, und hierauf erklärte er:

»Ohne einen Pfennig in der Tasche bin ich als junger Bursch in die Tropen gegangen ,… was echte Schwerarbeit ist, habe ich dort erlebt, vor allem in den südafrikanischen Minen; später habe ich entdeckt, daß es überall so zugeht, in den Kolonien ein bißchen ärger, in Europa und in Amerika eine Spur milder, doch im Grunde ähnlich, immer eine von der Hungerpeitsche angetriebene und ebendarum unentrinnbare Schwerarbeit, aus der kaum das nackte Leben, geschweige denn je Sicherheit für den Mann zu gewinnen ist. Mir hätte es leicht ebenso ergehen können, wenn ich nicht bald den Trick des leichten Geldes, den Trick vorsichtigen Geschäftemachens herausgehabt hätte. Das verdanke ich meinem Hang zum bequemen Leben, verbunden freilich mit einer gewissen wachsamen Schlauheit. Kurzum, seitdem ist mein Tun niemals mehr unter-, sondern in der erstaunlichsten Weise überbezahlt worden. Ich habe dieses Tun als Arbeit bezeichnet, weil ich eine innere Legitimation für den mir zugeflossenen Ertrag gebraucht habe; allüberall habe ich Täuschungsmanöver gewittert und habe mir eingebildet, mich gegen sie zur Wehr setzen zu müssen, doch in Wahrheit habe ich selber die Täuschungsmanöver begangen und habe mir Arbeit vorgeheuchelt, um mich mit Scheinarbeit begnügen zu dürfen. Und das nenne ich Schuld.«

»Halt«, warf der Alte ein, »ist Nicht-Arbeit unbedingt auch eine Schuld? Und ist Arbeit bloß etwas, worunter man schmachtet und das man ungern tut und wofür man unzureichend bezahlt wird? Ich glaube denn doch nicht. Und wofür hast du deine Un-Arbeit geleistet?«

»Um der Sicherheit willen«, sagte A. etwas verwundert, »nicht zuletzt, um der Mutter in diesen Unsicherheitszeiten Sicherheit zu bieten.«

»Ist das nicht gerechtfertigt? Und würde nicht jeder der hungernden Arbeitssklaven genau so handeln, wenn er deine Schlauheit aufbrächte und gleich dir den Trick des Geldes finden würde? Gewiß ist ein Drohnenleben nicht schuldlos, aber die Schuld ist nicht so schwerwiegend wie du sie darstellst.«

A. ärgerte sich über das Drohnenleben noch mehr als über die Herabsetzung seines Schuldbekenntnisses: »Gar so leicht, wie Ihr da meint, habe ich es mir auch nicht gemacht. Mein Geschäft war mir eine verteufelte Anstrengung, und oft habe ich mir gedacht, daß mir richtige Handarbeit leichter gefallen wäre. Woran das liegt, ob an meiner Konstitution, ob an irgend einer Erkrankung und Schonungsbedürftigkeit, das kann ich nicht ermessen und ist schließlich gleichgültig. Jedenfalls kostet mich der kürzeste Geschäftsbrief schon maßlose Überwindung. Wäre dem nicht so, es wäre meine ökonomische Sicherheit noch weitaus größer als sie heute ist, denn ich hätte meinen Geschäften eine vervielfachte Ausdehnung gegeben und hätte nicht die Gepflogenheit angenommen, die Dinge einfach an mich herankommen zu lassen. All das mag den Eindruck von Trägheit erwecken, und es ist ein Oberflächen-Eindruck; bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß ich alles andere als eine träge Drohne bin.«

»Um so geringer also ist die Schuld.«

Der ständige Widerspruch des Alten begann A. ganz ungemein zu reizen: »Falsch und abermals falsch! Begreift Ihr denn nicht, daß diese Geschäftigkeit, mochte sie noch so anstrengend für mich gewesen sein, bloß zu vorgeheuchelter Arbeit führt? Es ist die Lüge, und darauf kommt es an. Weil mir meine Heuchel-Arbeit geglückt ist und mir sogenannte Erfolge eingebracht hat, habe ich mir vorgeheuchelt, daß ich unendlich höher stünde als das übrige Gewimmel. Ich war der Sieger; was die Besiegten trieben, ging mich nichts mehr an. Mochte die Hungerpeitsche des Lohndrucks über sie hinsausen, mochten sie in Elend verrecken, mochte ihr Blut fließen, ich brauchte nicht mehr hinzuschauen; mein Weg war vorgezeichnet, fern vom Arbeitsschweiß, fern vom Todeschweiß der anderen, und die Gnade selber hatte mich zu solcher Sonderstellung auserlesen. Der Krieg wütete in Europa, und ich machte Geld; die russische Revolution verwandelte die ehemalige Siegerklasse ihres Landes in eine von Besiegten oder richtiger in eine von Leichenbergen, und ich machte Geld; das politische Untier Hitler kam vor meinen Augen Schritt für Schritt zur Herrschaft, und ich machte Geld. Das war meine Mannesleistung, falsche Härte und echte Schuld. Wahrlich, selbst wenn Nicht-Arbeit keine Schuld wäre, die Heuchelei ist es. Und das habt Ihr zu begreifen.«

»Und wenn du in Rußland wärest, so müßtest du für diese Fülle bürgerlicher Missetaten und Missehaltungen, zu denen wir, damit es in einem Aufwaschen geht, auch die Verführung des armen Mädchens Melitta dazurechnen wollen, unweigerlich mit dem bitteren Tode büßen. Ist das dein Schuldbekenntnis?«

»Nein«, sagte A. zu seiner eigenen Überraschung.

»Kurzum, von A bis Z ein verlogener Unsinn, obwohl es recht vernünftig geklungen hat. Nicht?«

Wiederum fühlte sich A. bis zur letzten Nacktheit entblößt, und doch war es, als ob all die Zeitwellen, welche mit gespenstischer Leerheit das Jetzt überdeckt hatten, sich zu klären begännen.

»Keine Ursache zu solch arger Scham«, begütigte der alte Mann, als hätte sein blinder Blick A.s tiefes Erröten wahrgenommen, »ich hab ja das meinige dazu getan; je dümmer man sich stellt, desto eher bringt man den andern dazu, sich um den Hals zu reden. Nun aber zurück zur eigentlichen Frage ,… steckt in dem merkwürdigen Verkriechen bei der Mutter nicht eben doch ein Hauptstück der Schuld mitsamt ihrem Eingeständnis?«

»Ja«, sagte A.

Der Alte nickte: »Ich glaub's auch.«

Daraufhin bat A.: »Ich möchte versuchen, es auszusprechen.«

»Tu's; dazu sind wir hier.«

Es gab eine Pause. Der Wind pfiff weiter ins Zimmer herein, manchmal gemäßigter, manchmal schärfer, und die von ihm herabgewehten Papiere schleiften mit leisem Rascheln über den Fußboden hin, um schließlich ,– manche hafteten schon dort an den Winkeln der Bücherregale und an den Wandecken gleichsam ruhesuchend sich anzulegen; die Schreibtischplatte war nun ganz blank.

Dann begann A. zu sprechen:

»Die Verfehlungen, deren ich mich bezichtigt habe, reichend von meiner Einstellung zu Melitta bis zu meinem sozialen und politischen Verhalten, sind nicht erlogen, und nicht einmal meine bußfertige Reue ist es. Verlogen ist die Auslegung, die ich ihnen gegeben habe und die eigentlich überhaupt keine ist; verlogen ist die allzuparate Bußfertigkeit, die gleich einem Revolutionsgerichthof strafrechtlich unanfechtbare, situationsbedingte und einfach menschhafte Handlungsweisen unbedingt zur Ahndung bringen will und hiezu jede einigermaßen geeignete Begründung, nicht zuletzt die einer bestimmten Klassenzugehörigkeit ohne weiteres akzeptiert. Und ebendarum war meine Selbstbeschuldigung der Heuchelei richtig; sowohl Nicht- als auch Fehlbegründungen tragen das Stigma der Heuchelei und sind daher gefährlich. ,–

Was aber darf als zureichende Begründung von Schuld und Schuldbewußtsein gelten? Auch dem Nicht-Religiösen drängt sich da der Gedanke an das wahrlich klassenunabhängig dem Menschen eingeborene Böse an sich auf, der Gedanke an die christliche Erbsünde. Das sind unübertreffliche Formulierungen, und fern sei es von mir, sie etwa modernisieren zu wollen. Wohl aber darf ich nach der konkreten Form fragen, mit der sich das Böse in unserer Zeit zum Ausdruck bringt, und wenn ich hiefür nach dem gemeinsamen Nenner meiner eigenen Untaten frage, so sehe ich meine tiefste und ahndungswürdigste Schuld in einer durchgängigen Gleichgültigkeit. Ur-Gleichgültigkeit ist es, nämlich die gegen das eigene Menschtum; die Gleichgültigkeit vor dem Leid des Nebenmenschen aber ist eine Folge hiervon. ,–

Grenzenlos geworden, ist der Mensch sich selber ein verschwimmendes Gebilde, und er sieht den Nebenmenschen nicht mehr. ,–

Ich spreche und weiß nicht, ob ich selber es bin, der spricht; fast ist es mir, als sprächen andere in mir; die Menschen dieser Stadt, die Menschen dieses Landes, viele und andere Menschen, obwohl ich weiß, daß auch darin kein Unterschied zwischen ihnen und mir besteht, und daß keiner weiß, in wessen Namen er spricht, und ob es das Sprechen seines eigenen Mundes ist, das er hört. Der Mensch hat seine Grenzen gesprengt und ist in die Dimensionsvielfalt eingetreten, in die neue Wohnstatt seines Ichs, verloren darin und umherirrend, verloren in der Unüberschaubarkeit. Wir sind ein Wir, doch nicht, weil wir eine Gemeinschaft halten, sondern weil unsere Grenzen ineinander verfließen. ,–

Wo, oh, wo sind wir? ,–

Grenzenlos sind die Möglichkeiten unseres Denkens, grenzenloser als die Möglichkeiten des Naturgeschehens, doch wo die beiden Vielfältigkeiten übereinstimmen, da mag es geschehen, daß sie sich zu einer neuen Wirklichkeit vereinigen, grenzenlos auch diese, entfesselt von den Unendlichkeiten des menschlichen Ichs und zusammen mit ihm das Nichts in sich bergend, seltsam einander bedingend, seltsam ineinanderverquickt. Der Guckkastenblick, der Blick aus der Heimat in die Fremde, aus dem Begrenzten ins Unbegrenzte ist dem Menschen genommen worden; statt dessen ist ihm etwas gegeben, das kaum mehr Blick genannt werden darf, da es im Unbegrenzten sich vollzieht, und es ist wie eine Rückkehr in den magischen Bereich, in die Magie des Ineinanderfließens von Außen und Innen, geheimnisentleerter als die Magie des Einst, dennoch nicht weniger erschreckend. ,–

Oh, Fahrt in eine neue Menschenheimat. ,–

Ihr, Vater und Großvater, habt mich auf das innerste Ich verwiesen. Gewiß besitze ich ein Ich. Seit Kindheitstagen hat es mich begleitet, und ihm danke ich den Dauerzusammenhang meines Lebens. Ich bin mein Ich. Und kraft meines Ich-Besitzes bin ich vom Tier unterschieden, bin ich ebenbildhaft dem Göttlichen angenähert, denn im Ich-Grund ist das Unendliche mit dem Nichts gepaart, beides dem Tier unerreichbar, dagegen für den Gott und nur für ihn zur Einheit werdend. Ist das nicht der unabänderlich unveränderliche Kern meines Mensch-Seins? Und doch vermag ich, vermögen wir seiner nicht mehr habhaft zu werden. Oh, welche Grenzsprengung kann so stark sein, daß sie das Unveränderbare verändert?«

Und die Antwort kam:

»Zweitausend Jahr um zweitausend Jahr vollendet sich der Weltenkreislauf. Und die Gewalt der Vollendung erschüttert nicht nur den Kosmos, sie erschüttert desgleichen und vielleicht noch mehr das Menschheits-Ich ,… wie könnte es anders sein! Die Zeit des Endes ist die der Geburt, und im Unveränderbaren geht die Veränderung vor sich, die Katastrophe des Wachstums. Begnadet und verflucht ist das Geschlecht der Veränderungszeit; es hat die Aufgabe zu leisten.«

Der Alte schwieg. Und dann sagte er: »Fahr fort.«

Und A., den Blick auf das Erbstück des toten Mädchens geheftet, nahm die Beichte wieder auf:

»Wie vermögen wir solche Aufgabe zu leisten! Verändert die Welt und verändert das Ich, beides aneinander sich verändernd, beides zur Grenzenlosigkeit gesteigert, oh, wie sollen wir da, auf daß wir uns behaupten, ihrer beider Beziehung aufs neue herstellen? Unlösbar schier, oh, unlösbar ist die Aufgabe, und die Gefahr des Endes ohne Neuanfang schwebt über uns. Wahrlich, es droht uns, ja gerade unserem Geschlecht droht es, daß der Mensch aus seiner Gottesnähe verstoßen wird und ins Tierische, nein, noch tiefer herabsinkt ins Untertierische, da das Tier niemals ein Ich zu verlieren gehabt hat. Zeigt unsere Gleichgültigkeit nicht schon das beginnende Abgleiten ins Tierische an? Denn das Tier mag wohl zum Jammer fähig sein, doch nimmermehr zur Hilfe und nicht einmal zur Hilfsbereitschaft; es ist vom Ernst der Gleichgültigkeit geschlagen, und es vermag nicht zu lächeln. Uns lächelt nicht mehr die Welt, nicht mehr das Ich. Unsere Angst wächst. ,–

Der Hafen ist zerstört und ist nicht mehr Hafen. Und trotzdem ist es schwer, ihn zu verlassen und ins Grenzenlose sich zu wagen. ,–

Unsere Aufgabe ist zu groß, und darum wappnen wir uns in blinder Gleichgültigkeit. Die Zersprengungskraft unseres Ichs ist uns zu groß. Uneindämmbar in Folgerichtigkeit und furchtbarer Logik hat es eine Welt geschaffen, deren Vielfalt uns undurchschaubar geworden ist, sie gleichfalls uneindämmbar in ihren entfesselten Kräften. Die Folgerichtigkeit unserer eigenen Zersprengungsleistung hat uns gelehrt, wie unentrinnbar das Seinsgeschehen ist, und wir haben daran gelernt, daß wir es achselzuckend geschehen lassen müssen; ja selbst vor dem Morden, das im Gestrüpp der Undurchschaubarkeit allenthalben statthat, schließen wir die Augen und lassen es geschehen. Unser Getanes lähmt unser Tun, hat uns zur Unterwerfung gebracht und zu tief verschreckten Fatalisten degradiert, so daß wir zur Mutter zurückflüchten, heim zur einzigen Beziehung, die ungespenstig und eindeutig bleibt in der unerklärlichen Vielfalt, gleichsam als wäre das Haus der Mutter eine Insel der Dreidimensionalität im Unendlichen und jenseits jeglicher Aufgabe. ,–

Von übergroßer Aufgabe gelähmt, wollen wir auch nicht mehr die der Vaterschaft auf uns nehmen; unfähig zur Gesetzgebung, wollen wir keinen Gesetzgeber, keinen Vater mehr dulden, und gesetzlose Muttersöhne, die wir sind, rufen wir das Tier, daß es uns befehle. ,–

Gelähmt fliehen wir vor der Lähmung in noch schwerere Lähmung, fliehen vor der Einsamkeit in noch nachbarlosere Einsamkeit; einsamkeitsgelähmt sind wir. Denn die Menschengemeinschaft, die unser bisheriger Tagtraum gewesen ist, der Traum von unserem Füreinandersein, ist gründlicher ausgeträumt als je zuvor, und wenn auch die Revolutionen sich stets für ein kühnes Erwachen gehalten haben, es ist in ihnen, mit besserem oder schlechterem Gelingen, doch immer nur um eine ausgeglichenere, um eine gerechtere Schlaflage gegangen, und wenn sie auch aus der Enttäuschung entstanden sind, die ihnen das chimärische Füreinander der Menschen bereitet hat, sie konnten sich keine andere Gemeinschaft vorstellen, und so haben sie, um so mehr als es keine Einsamkeitsüberwindung, keinen Lebenssinn ohne Tagtraum gibt, diesen fortzuspinnen gesucht, indem sie den gegenwärtigen Mitmenschen durch die künftige und nächstkünftige Generation ersetzt haben, durch die Kinder und Enkelkinder, für die gemordet werden darf, und von denen dafür, sozusagen mit vorprojiziertem Konservativismus, erwartet wird, daß sie die Revolutionsgemeinschaft weitertragen und vollenden werden ,… läßt sich aber noch heute solches erwarten? haftet solcher Gemeinschaftstraum nicht noch immer am Dreidimensionalen, aus dem er geboren wurde, so daß sein Einbau ins Grenzenlose schlechterdings unmöglich geworden ist? Und wird hiedurch nicht jede Revolution zu einem traurig sinnlosen Gemetzel? Mag sein, daß es morgen einen neuen Gemeinschaftstraum geben wird, angepaßt an das Grenzenlose, mag sein, daß hiezu ein Mut zur Einsamkeit und zum einsamen Sterben erforderlich sein wird, den der Mensch noch nicht gefunden hat ,… doch wer würde wagen, das vorauszusagen, zu planen, als Kampfziel hinzustellen? Wir regen keine Hand mehr. Einerseits verachten wir den politisch Handelnden als einen, der seine dreidimensionalen Vorstellungen kindisch einer grenzenlos gewordenen Weltvielfalt aufzwingen will, und andererseits sind wir zur Vermutung geneigt, daß er trotzalledem das mystische Werkzeug der sich erneuernden Realität sein könnte. Und wir haben Hitler gewähren lassen, den Nutznießer unserer Lähmung. ,–

Im Ich-Grund aber ist das Unendliche mit dem Nichts gepaart, beides dem Tier unerreichbar. Und eingeklammert zwischen dem Unendlichen und dem Nichts ist die Welt existent, die vom Menschen erkannte, die von ihm erschaffene Welt, unerreichbar dem Tier, nicht zuletzt auch dem politischen Untier. Und eingeklammert zwischen dem Unendlichen und dem Nichts spannt sich der Raum der menschlichen Verantwortung, er gleichfalls dem Tier unerreichbar. ,–

Ekelerregend sind unsere Kompromisse, und da sie aus dem Gewährenlassen hervorgehen, sind sie noch ekelerregender. Wir ziehen in den Krieg, wir verfaulen in den Schützengräben, wir geben unsere Gesichter und unser Augenlicht gräßlichem Verkohlen preis, wir verlieren unsere Eingeweide aus der zerrissenen Bauchwand, aber das Rote Kreuz ist zur Stelle, und unsere Feldspitäler sind zu einem großen Teil sehr modern ausgestattet, und wer Glück hat, kriegt eine Nasenprothese, eine Mundprothese und eine silberne Schädelplatte. Das sind die Kompromisse, die das Tier für uns schließt, und die wir akzeptieren, sie uns selber wie unsern Nebenmenschen zumutend, uns tröstend, daß das Apokalyptische immerhin noch erträglich sei. Und wenn am Schluß das Tier auch noch diese Maske wegschmeißen wird, um anstatt mit solch desinfizierter Guillotine, ganz zu schweigen vom elektrischen Stuhl, wieder mit Totpeitschungen, Verbrennungen und Kreuzigungen seine Hinrichtungen vorzunehmen, wir werden's immer noch erträglich finden, weil wir sonst vor Selbstekel vergehen müßten. ,–

Gleichgültig gegen fremdes Leid, gleichgültig gegen das eigene Geschick, gleichgültig gegen das Ich im Menschen, gegen seine Seele. Gleichgültig wird es, wer zuerst zum Richtplatz geschleppt wird. Heute dir, morgen mir. ,–

Wir tun manchmal das Gute; wir sorgen für die Mutter, manchmal für Kranke und Gebrechliche, und oft sind wir mitleidig. All das ist Kompromiß. Die guten Werke sind Kompromiß. Das Gute ist selbstverständlich, aber es ist diffus, und nur im Dreidimensionalen gewinnt es Form, nur hier ist es, war es Befolgung des Befehls, der als absolut-göttlicher Verantwortungsaufruf das menschliche Tun zum Unendlichen hingewendet hat; dahingegen wird das Gute seiner richtunggebenden Kraft verlustig, ja ist seiner bereits verlustig gegangen, da der Mensch selber ins Grenzenlose versetzt worden ist, denn in der Dimensionsvielfalt gibt es überhaupt keine Zielpunkte mehr, so daß die absolute Richtung nicht mehr durch ein Hinwenden, sondern nur noch durch ein Abwenden gehalten werden kann, also nicht mehr durch eine Hinwendung zum Guten, sondern nur noch durch eine Abwendung vom irdisch Bösen, kurzum durch die Bekämpfung des Tierischen und Untertierischen, das daran ist, sein Höchstmaß, seine wahrhaft konkrete Absolutheit zu erreichen. Konkrete Kampfansage an das apokalyptische Hier und Jetzt des Untiers, das ist der neue Verantwortungsaufruf, dessen Absolutgeltung wir anzuerkennen haben, anerkennend den Befehl zur aktiven Auflehnung gegen das Böse, und solcherart ebenso fern dem dumm-verlogenen Gut-Sein des unbedingten Pazifismus wie der dumm-ehrlichen Kampflust, die zugunsten künftiger Generationen und ihrer Traumlandschaft das Blutvergießen bejaht und fördert und eben hiedurch schon selber tierhaft handelt, ist uns, fern von dieser wie von jener utopischen Großartigkeit, die Pflicht zur schlichten Anständigkeit auferlegt worden, zu einer Anständigkeit des unmittelbaren Augenblicks, weil es immer nur auf die Reinigung des jeweiligen Weltaugenblicks ankommt, wenn Gut und Böse aus ihrer heillosen und unheilträchtigen Vermischung wieder entmischt werden sollen. Nichts kann uns dieser höchst militanten Anständigkeitspflicht entheben, nicht einmal die Aussichtslosigkeit ihres Beginnens, vielmehr wird jeder Verstoß gegen sie, und sei er noch so gut begründet, eine Manifestation unserer Gleichgültigkeit und ist durch keinerlei Guttat wettzumachen. ,–

Das ist meine wiedergefundene Erinnerung und es ist die Rechenschaft, die ich abzulegen habe. Rechenschaft für den Ich-Verlust, Rechenschaft für die Vertierungsgefahr, unter der ich stehe, unter der die Welt steht, die Welt mich, ich die Welt bedingend, in gemeinsamer Gefahr. ,–

Es ist nicht an mir zu entscheiden, ob die schlichte Anständigkeit, obwohl sie Abkehr vom irdisch Bösen und seiner Absolutheit, ja unmittelbarste Abkehr vom untertierisch Tierischen bedeutet, allein schon imstande sein mag, die Welt wieder zur Gottesnähe zu bringen. Sicher jedoch ist, daß keinerlei Gottesnähe je erreicht werden wird, solange wir in unserer Gleichgültigkeit verharren und in Steigerung unserer Schuld dem Abgleiten Vorschub leisten, dem unaufhaltsam werdenden Abgleiten der Welt ins Verbrechenhafte und Tierhafte. Erbsünde und Erbverantwortung sind verwandt, und die Frage nach dem erschlagenen Bruder ist an uns alle gerichtet, selbst wenn wir nichts von dem Verbrechen wissen. Wir sind in die Verantwortung hineingeboren, und ausschließlich dies, ausschließlich der magische Platz unserer Geburt und unseres Seins ist ausschlaggebend; nur unser Selbstopfer als Zeichen unserer ständigen Auflehnung könnte uns freisprechen. Ich bin verantwortlich für die Morde, die in diesem Haus einstmals vielleicht geschehen sind, bin verantwortlich für die Morde, die sich ringsum grauenhaft mehren werden, begangen von anderen, begangen ohne mein Zutun. Denn zersprengten Ichs im Grenzenlosen und bar der Ich-Grenzen, sind wir gerade wegen unserer Gemeinschaftslosigkeit zu einer kalt magischen Einheit geworden, kalt zusammengeschweißt in durchgängiger Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit, so daß sowohl die Schuld wie die Buße von allen geteilt wird, magisch die neue Blutrache in ihrer Nüchternheit, dennoch gerecht, da keiner der von ihr Betroffenen sich aufgelehnt hat. Ich glaubte die Verantwortungslosigkeit zu fliehen, und in Wahrheit war es die Verantwortung, die ich geflohen habe. Das war meine Schuld. Ich beuge mich der Gerechtigkeit, und ist mein Selbstopfer auch verspätet, ich bin bereit.«

A. hatte seine Beichte beendet.

Der Wind pfiff weiter durch das Fenster herein, daß die Scheiben nur so klirrten; das Feuer im Ofen war erloschen, kaum daß noch einige Funken unter der Asche glühten, und das Zimmer wurde sehr kalt. Doch eben aus dieser Kälte stieg eine bisher ungekannte Hoffnung auf, die Erwartung vollkommener Geheimnisenthüllung. Und A., durch Kälte und Erwartung entrückt seiner selbst, wiederholte:

»Ich bin bereit.«

»Ich weiß, Andreas, du bist es seit langem.«

Und weil der Alte ihn beim Namen genannt hatte, war es wie großer Trost in der wachsenden Angst, in der Angst, welche wußte, daß die Erbschaft die Selbstvernichtung und mit ihr deren Waffe enthielt.

Der Wind wirbelte noch einige der Blätter über den Fußboden weg, A., zu ihnen hinblickend, fragte: »Wie aber soll dann für die alte Frau gesorgt werden?«

»Du bist schwer von Begriffen, Andreas.«

Er gab es zu; er hatte es nur nicht begreifen wollen. Denn die Besorgnis um die Mutter umhüllte die eigene Todesangst.

Und die Angst wuchs: »Hilf mir, Großvater«, bat er.

Da streckte sich die Greisenhand, die in schweradriger Mächtigkeit auf der Tischplatte gelegen hatte, ihm entgegen, und er berührte sie. Und obwohl sie kalt und hart war wie Diamant, erschrak er nicht. Im Gegenteil, es war fast wie ein Zurückrufen, ein Zurückrufen in die Menschenwelt, und er fragte sich, ob der alte Mann, der doch von Zerline gefüttert worden war, auch innen aus lauterem Diamantenstein gemacht sein könnte. Doch da war auch schon die Antwort vernehmbar, ganz leise lachend, so daß sogar auch das Singen sich wieder darein mischte, leise auch dieses vernehmbar:

»Wäre ich ein Geist und nicht wie du Fleisch und Blut, ich wäre nicht fähig, dir Botschaft und Hilfe zu bringen; das Wort wird im Diesseitigen, wird im irdischen Raum getragen, von irdischem Mund gesprochen, von irdischem Ohr gehört.«

Auch dies war Trost, freilich nur irdischer Trost, und so fragte A. in seiner Todesangst:

»Warum ist gerade mir die Sühne auferlegt? Warum muß gerade ich es sein?«

»Ein jeder fragt dies, den es trifft.«

»Wen trifft es?«

»Vielleicht ist's Gnade. Denn die Schuldsühne geschieht in Läuterung, nicht in Abbüßung, als ging es um Strafe. Du bist kein Verbrecher. Du wirst nicht gestraft. Aber der Lohn ist Geheimnis.«

»Werde ich es je erfahren?«

»Ich kann dir bloß Hilfe bringen. Das übrige mußt du dir selber erwerben.«

Die Hand des Greises hielt die seine mit festem Griff umspannt, Vaterhand, in der die Kinderhand, die Hand des Sohnes für immer geborgen liegt, und in ihrem knochig harten, zeitüberdauernd verläßlichen Altersgefüge spürte er das der absolut ausgehenden Ordnung, die aller Wirklichkeit durch alle Dimensionen hindurch die letzte Grundlage gibt. Das war wie ein Versprechen, und die Stimme versprach ihm: »Ich bleibe bei dir, bis deine Angst gewichen ist.«

So saßen sie einander gegenüber, und das Ruhevolle floß aus der Hand des Vaters in die seine ein. Er hatte die Augen geschlossen und wartete auf das Abklingen der Angst; sie ging davon, lautlos rieselnd wie der Sand in einem Stundenglas. Und dann war es wie ein sanftes Wehen um seinen Kopf; es war der Ahne, der Ur-Ahne, der mit wehendem Bart sich über ihn beugte und mit diamantener Lippe seine Stirne küßte, ihn zu erwecken, ihn zum dritten Mal beim Namen rufend, als wollte er vätergleich das Kind aus der Namenlosigkeit heben:

»Es ist nicht schwer, Andreas.«

»Ich weiß es, Großvater.«

Er war nun gleichfalls aufgestanden, und mit abgezogener Kappe, geneigten Hauptes, fast ein Bittsteller stand er vor dem Blinden, fürchtend den Abschied und die Verlassenheit, die der Einsamkeit vorangeht, und die Gebärde war Flehen.

Doch mit dem sehenden Wissen des Blinden legte ihm der bloß die Hand auf die Schulter:

»Du bist nicht verlassen. Und setz deine Kappe nur ruhig wieder auf. Bedecke dein Haupt vor dem Ewigen, heißt es, und so tut es der Priester, so tut es der Richter. Und wer seine Schuld einbekennt, ist berufen.«

Und weil er Fleisch und Blut war, knarrte die Stiege unter seinen Röhrenstiefeln. Freilich hätte sie das auch getan, wenn er ein Diamantengeist gewesen wäre.

Dann aber hob aufs neue der Gesang an, taktmäßig begleitet von des Holzfällers Axtschlägen. Holzfällerlied, Marschchoral, Psalm und Trosteshymne, der singende Wald. Und über dem Wald im schneegrauen Himmel, verschleiert bereits von erster leiser Dämmerung, dennoch fast schmerzhaft hell in unsichtbarem Licht, war über die ganze nördliche Kuppelhälfte hin groß und tröstlich mit zartgrauen Strichen ein Dreieck eingezeichnet, aus dessen Mitte tiefklar und wachsam, farblos und unergründlich, zeitlos greisenhaft das Weltenauge herabblickte in ehrfurchtgebietender Vertrautheit, allblind und allsehend und wissend. Von ungeheurer Wirklichkeit durchflutet strömte dort um die Dreiecksgrenzen das Nicht-Seiende, die Auflösung des Dreidimensionalen, und getragen von dem blinden Blick der Mitte, eingeflutet in den Blick, umgeben von unsichtbaren Sternen, umkreist von unerschaubaren Zentralsonnen, sichtbar das Unsichtbare, klingend die Sterne, flutete es herab, aufgenommen hier von dem Gesang, der nun in unendlich viel Dimensionen erscholl. Leise begann es zu schneien, fast weihnachtlich, das Obere mit dem Unteren verbindend, Zeit und Raum ineinander auflösend, und in der Weichheit des Schnees verschwand der Himmel, verschwand der Gesang, verschwand das Diesseitige wie das Jenseitige, dennoch unverbrüchlich dableibend, bleibend in des Alls Sternenzusammenklang, klingend in der Unverbrüchlichkeit des nunmehr gemeinsamen Mittelpunktes.

Die Kälte im Zimmer schien sich dem Absoluten anzunähern, aber das Zimmer war nicht mehr vorhanden. Die Wanduhr hatte ihr Ticken eingestellt; sie zeigte 5.11, aber sie war mit der Zeit, die sie anzeigte, nicht mehr vorhanden, da alle Zeitwellen, gegenseitig sich aufhebend, im Seins-Mittelpunkt zusammengeströmt waren, eingeströmt in die Sphären der Gewichtlosigkeit und sie erzeugend. War es nicht auch der Ich-Mittelpunkt, den er damit erreicht hatte? War diese Gewichtlosigkeit des Seins nicht auch die der Seele? War es nicht die allem Leben zutiefst eingeborene Gewichtlosigkeit, entledigt der Gewichthaftigkeit des Todes? Wer noch ans Körperhafte gebannt ist, in dem wohnt noch die Todesschwere, und abgesondert von der Gewichtlosigkeit, in der er schwebt, nein, in der er noch steht, wird seine Seele zur Sehnsucht, unbezwinglich ihr Wunsch nach Überwindung der Absonderung: gelingt es den letzten Rest irdischer Schwere zu vernichten, so wird es zur Selbstaufhebung des in ihr wesenden Todes und zur Freigabe der menschlichen Erbschaft, die ihre Dauer erringt kraft Selbstvernichtung, eintretend und aufgenommen in das Reich der unhörbaren Stimmen, wiederentfaltet ins Siebenfarbige kraft Unsichtbarkeit. Und nicht anders die Sprache, auch sie noch körperbehaftet und in Schwere, da sie von körperlichem Mund gesprochen wird und bloß von körperhaften Dingen zu sprechen vermag, sie verlangt Vernichtung und Selbstvernichtung, auf daß, wie sie sagt, reiner Tisch gemacht und dem unerahnbaren, dem sprachüberwindenden reinen Gedanken Raum geschaffen werde. Ohne Gespenstigkeit geschah es, zwar im Nicht-Raum der Mitte und jenseits von Höhe, Breite und Tiefe, dennoch diesseits, und es vollzog sich in Natürlichkeit. Denn im eigenen Körper, in der eigenen Erinnerung noch vorhanden, strebte das Dreidimensionale nach Auslöschung, und das erinnerungsschwere, nur noch an den Blutflecken der Erinnerung, jedoch nicht mehr an seiner Form kenntliche Gebilde, das vor den noch sehenden Augen lag, schwebend über nicht mehr vorhandenem Tisch, es nahm daran teil und wollte sich der Hartgewichtigkeit gleichfalls entledigen: hatte er danach gegriffen? war es ihm zugeweht worden, zugetrieben von gewaltiger Kraft, von der Kraft der Mitte, die Körperliches an Körperliches fügt? Wer hatte die Schwere geöffnet? das Dingliche aufgebrochen? Wer hatte es zur Waffe umgestaltet? Es war ohne Drohung; es war nicht furchteinflößend, und es geschah in Natürlichkeit.

Breitbeinig stand er da, um inmitten des Schwebenden, inmitten des Gewichtlosen, inmitten des Nicht-Dimensionalen einen Halt zu haben. Die Hauskappe nahm er ab und legte sie vor sich hin ins Nichtvorhandene. Er sah noch, wie sie vom Wind davongefegt wurde, doch da war er auch schon mit durchschossener Schläfe hingeschlagen, breitgegrätscht die Beine und mit auseinandergeworfenen Armen, als sollte er an ein Andreaskreuz geheftet werden.

Zerline hatte den Schuß gehört und war heraufgeeilt. »Tz, tz, tz«, machte ihr Greisinnenmund, als sie der Leiche ansichtig wurde, aber sie war nicht eigentlich überrascht. Ruhig zog sie einen Stuhl herbei und setzte sich in fetter Behäbigkeit vor den Toten hin, ihn um so aufmerksamer betrachtend, als er nun plötzlich abgemagert schien, geradezu zurückverwandelt zu dem blonden Jungengesicht, mit dem sie ihn vor nun gut zehn Jahren kennengelernt hatte: »Er hat's gesühnt«, sagte sie schließlich mit lauter Stimme und wußte selber kaum, was sie damit hatte sagen wollen, und warum sie es so laut hatte äußern müssen. Doch weil damit die Unterhaltung in Gang gebracht worden war, sprach sie weiter: »Grad heut, wo ich Hühnerragout mit Klößen gemacht hab, was er so gern gehabt hat wegen des Weißweins, den ich hineintu, und wegen der Trüffeln ,… plötzlich war's ihm eilig.« Dann brummelte sie noch eine Weile vor sich hin, und endlich entschied sie: »Man muß ihn liegen lassen, wie er liegt; das verlangt die Polizei.«

Nichtsdestoweniger, von einer sofortigen Verständigung der Polizei sah sie ab; vielmehr ging sie hinunter, um den Tisch für die Abendmahlzeit zu decken. Und vorsichtigerweise legte sie wie gewöhnlich zwei Gedecke auf.

Als die Baronin sich zu Tisch gesetzt hatte, wartete sie ein paar Minuten; dann klingelte sie etwas ungeduldig nach Zerline: »Wo bleibt Herr A.?«

»Ach, ich vergaß es der Frau Baronin zu sagen ,… er ist vor einer halben Stunde dringend zur Stadt gerufen worden, telephonisch.« Und unbewegten Gesichts räumte sie das zweite Gedeck ab.

»Sonderbar ,… warum hat er sich nicht von mir verabschiedet? so einfach davonzugehen ist doch sonst nicht seine Gewohnheit ,… er, der immer so manierlich ist ,…«

»Wir glaubten, daß die Frau Baronin schlafen.«

Der Baronin schien es nicht geheuer zu sein. Aber sie sagte nichts mehr und ging zur gewohnten Stunde zu Bett.

Erst nachdem Zerline sich vergewissert hatte, daß die Baronin eingeschlafen war, verständigte sie den Arzt und die Polizei, beiden vorlügend, daß sie die Leiche erst jetzt gefunden hätte, nicht nur weil A., offenbar um die Tat ungestört ausführen zu können, eine Fahrt in die Stadt vorgeschützt hatte und daher beim Abendbrot nicht vermißt worden war, sondern auch weil man bei dem nachmittägigen Sturm den Schuß nicht hatte hören können; so sei sie erst jetzt heraufgekommen, um das Bett zu machen. Es lag kein Grund vor, ihr nicht zu glauben, und auf ihr Geheiß wurde die Leiche noch während der Nacht in die städtische Totenkammer überführt.

Am nächsten Tag war die Baronin schon äußerst unruhig. Zerline verwies sie, daß Herr A. kein kleines Kind sei, das immerfort bei der Mutter zu Hause zu sitzen habe. Und selbst Kindern habe man eine gewisse Selbständigkeit zu lassen. »Ja, aber es ist nicht seine Gewohnheit«, klagte die alte Dame. »Na, schön, hat er halt neue Gewohnheiten«, entgegnete Zerline grob. Nachmittags kam sie heiter aufmunternder Miene ins Zimmer der Baronin: »Also grad hat er telephoniert; er hat sich erkundigt, wie es der Frau Baronin geht, und bittet um Entschuldigung, daß er wegen eines auswärtigen Besuches erst morgen heimkommen wird. Frau Baronin sehen, Frau Baronin bringen sich selber in lauter nutzlose Aufregungen.« Doch die war mißtrauisch geworden: »Ich habe das Telephon nicht läuten hören.« ,– »Aber ich hab's gehört«, fuhr Zerline sie an und machte, daß sie in die Küche zurückkam. Beim Abendbrot klagte die Baronin, daß sie appetitlos sei. »Ich glaub's«, rügte Zerline, »das kommt davon; Frau Baronin werden sich am Ende noch krank machen mit dieser Unruhe, die was keinen Sinn und Zweck hat.« ,– »Keinen Sinn?« ,– »Ich hab's schon gesagt; er ist ein erwachsener Mensch, und er wird mit heilen Gliedern wieder hier sein. Der Dackel dort ist mir eine größere Sorge.« Und sie deutete auf den erblindenden, fettwulstigen Dackel, der mißmutig vor dem Ofen lag. Die Baronin schüttelte bloß traurig den Kopf; sie blieb noch eine Zeitlang bei Tisch, nippte ein wenig an den Speisen, und dann setzte sie sich zu den Hunden hin, streichelte sie und nahm die blond-tigerige Sidi, die eine der beiden Angorakatzen, auf den Schoß, doch die andere, die schwarze Arouette hatte sich verkrochen, ließ sich durchaus nicht herbeilocken, und das gab, als Zerline wieder hereinkam, Anlaß zu neuer Klage: »Die Arouette vermißt ihn gleichfalls; sie hat sich versteckt.« ,– »Die Arutt hat immer ihre Mucken.« ,– »Nein, nein, die Tiere vermissen ihn; ich weiß es.« ,– »Warum nicht gar; was die Frau Baronin sich wieder da einbilden ,… die Sidi schnurrt sehr zufrieden.« Die Baronin schaute auf die schnurrende Sidi herab: »Es ist nicht das Richtige; es ist was Ängstliches in den Tieren.« Hernach setzte sie die Katze vorsichtig auf einen der Polsterstühle und begab sich zur Ruhe: »Gib mir mein Pulver, Zerlin; ich will nicht die ganze Nacht wach liegen.« ,– »Das ist ein guter Einfall, Frau Baronin.« ,– »Gib mir zwei.« ,– »Meinetwegen zwei; das wird der Frau Baronin bestimmt nicht schaden.« Und Zerline löste die Schlafpulver in einem Glas Wasser auf. Am nächsten Morgen lag die alte Dame tot in ihrem Bett.

Hildegard wurde herbeigerufen; seit Jahren auf den Tod der Mutter gefaßt, nahm sie ihn ohne allzu schwere Erschütterung auf. Zum Begräbnis stellten sich einige alte Freunde ein; es waren ihrer nur mehr wenige, nicht nur weil der ehemalige Bekanntenkreis sich bereits sehr gelichtet hatte, sondern auch weil die Verblichene infolge ihrer Isolierung im Jagdhaus beinahe zu einer Vergessenen geworden war. Sie wurde an der Seite ihres Gatten, den sie mehr als drei Dezennien überlebt hatte, zur letzten Ruhe gebracht. In nächster Nähe befand sich das frische Grab des Selbstmörders A.

Den testamentarischen Verfügungen gemäß trat nun Zerline die Herrschaft im Jagdhaus an, um sie bis zu ihrem Lebensende auszuüben; erst dann sollte Hildegard ihr folgen. »Sie haben sich's wahrlich verdient«, sagte Hildegard zum Abschied. »Das will ich meinen«, antwortete Zerline; sie hatte eigentlich ›Gnädiges Fräulein‹ dazusetzen wollen, doch das hatte sie sich noch rechtzeitig verbissen.

Nach Herrschaftsantritt ergänzte Zerline vor allem den Viehbestand; die Hauptstücke waren zwei Kühe, die sie in der früheren Wagenremise einstellte. Aber die vermehrte Arbeit nahm sie nicht mehr auf sich; im Gegenteil, sie schränkte ihre eigene Mitarbeit im Hof zunehmend ein. Sie trug all die neuen Kleider, die ihr von A. im Laufe der Jahre geschenkt worden waren, und die sie in den Truhen verstaut gehabt hatte, und sie hielt sich Dienstboten.

 

XI. Vorüberziehende Wolke

Sonderbar, sagte ein Teil der Seele des Fräuleins zu einem anderen Teil, sonderbar, wie lange der Mann braucht, um mir entgegenzukommen.

Die Straße lag weitgestreckt vor ihr. Ein Auto verschwand in der Ferne. Es war ein heller Frühsommermorgen. Die Bäume warfen gute, gleichmäßige Schatten, die in der Nähe unruhig und sonnenfleckig waren, während sie schon in kurzer Entfernung zu einem dunklen Streif zusammenflossen und längs der Allee den Fahrdamm säumten. Weit hinaus war auf dem Gehsteig niemand zu sehen; bloß der Mann dort oben kam sachte die sanfte Neigung der Straße herunter, kam entgegen und brauchte so sonderbar lang dazu.

Das Fräulein ging zum Sonntagsgottesdienst in die Schloßkirche. Das Gesangbuch lag schräg in der behandschuhten Hand; sie trug es ein wenig gegen den Leib gepreßt, weil sie noch außerdem das Täschchen halten mußte. Das ergab ein züchtiges Bild, und das Fräulein war in ihm mit unzähligen Kirchenbesucherinnen verbunden, nicht nur mit jenen, die sich jetzt gleichzeitig in alle anderen Gotteshäuser Mitteleuropas begaben, sondern auch mit allen jenen, die dies während vieler vorhergegangener Jahrhunderte getan hatten. Es war eine durchaus konservative Körperhaltung.

Wenn man die Straße bis zu dem sanften Gipfel emporgestiegen ist, dann endigt die schräge Linie der Häusersockel, dann werden Sockellinie und Fensterreihen beruhigend parallel, und man sieht in mäßiger Entfernung den Schloßplatz vor sich liegen, in den die Straße einmündet. Und das großherzogliche Schloß fängt den Blick in schöner barockaler Kulisse auf.

Da die Häuserflucht bloß von wenigen Querstraßen durchschnitten wurde, fiel es schwer, die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Mannes richtig abzuschätzen. Das war irgendwie unbehaglich, und das Fräulein überlegte, ob sie nicht auf die andere Straßenseite hinüberwechseln sollte. Aber da die ganze Überlegung nicht sehr deutlich war, ja, eigentlich schon wieder verschwand, als der Blick die dort drüben brennende Sonne bemerkte, so blieb das Fräulein auf ihrem Gehsteig und verkürzte bloß den Schritt, als müßte sie sich ,– war es Angst oder Erwartung? ,– auf den Entgegenkommenden ebenso langsam zubewegen, wie dieser selber ihr nun zustrebte.

Es mag sein, daß die friedvolle Stille der sonntäglichen Avenue an und für sich schon langsame Bewegungen vorschrieb, selbst wenn es vielleicht auch nur eine scheinbare Ruhe war, denn in den oberen Luftschichten wurden die weißen Zirruswölkchen, verdichtet zu schmalen Bändern, mit ziemlicher Eile vorwärts getrieben, und so oft ein solcher Streif vor die Sonne kam, da gab es eine kurzwährende und gleichsam helle Verdunkelung des Tages, eine gleichsam jugendliche Trauer, auf die man zwar nicht achthatte, weil niemand gerne den wechselnden Bewölkungsverhältnissen einen Einfluß auf das eigene Leben zugesteht, die aber trotzdem, ein Sendbote größeren kosmischen Geschehens, in den Augen und in der menschlichen Seele haften bleibt.

Sicherlich haben sich nun auch schon andere Passanten auf dem Gehsteig gezeigt. Doch das Fräulein hatte nun einmal jenen langsamen Fremden im Auge, der vom Schlosse herunterkam oder richtiger einherwandelte, und gerade dieses Wandeln brachte ihn mit dem Schlosse, brachte ihn mit der erwarteten barockalen Abschlußkulisse da droben in eine vorderhand noch nicht aufklärbare, in eine wahrscheinlich niemals zu klärende Beziehung. Nicht etwa, daß das Fräulein in der näherkommenden Gestalt einen der einstigen Diplomaten vermutete oder einen der Offiziere, denen man vor dem Kriege, da sie selber noch ein Backfisch, oftmals und mit stets neu erwünschtem Vergnügen hier begegnet war: derartige Wünsche hatte das Fräulein, das freilich jugendlich aussah, aber auf Würde hielt, längst abgestreift und hatte jetzt um so weniger Anlaß, sie wieder zurückzurufen, als ja, soweit sie sich erinnerte, alles was damals mit dem Hofe zusammenhing, keineswegs einen bedächtigen, vielmehr einen forschen oder zumindest eleganten Eindruck erweckt hatte, während hier eigentlich das Gegenteil stattfand; denn ebenso wie es fast den Anschein hatte, als wären die ziehenden Zirruswölkchen Teile einer noch unsichtbaren Wolkenwand, so schien das überaus bedächtige Näherkommen dieses Menschen, dem man beispielsweise recht wohl das servile Hinken eines älteren Hofbeamten andichten mochte, wie eine Aussendung jener Bedächtigkeit zu sein, die in der weitausladenden Schloßfassade eingebaut ist.

Man muß wohl einer Stadt und ihrer Bauweise sehr verhaftet sein, wenn man solche Gedanken hegt. Ist dem aber so, und ist man so sehr verhaftet, dann bilden solche Gedanken eine natürliche Atmosphäre und man bemerkt sie eigentlich gar nicht. Dem Fräulein, das seit Kindheitstagen in dieser Stadt gelebt hatte, war das Schloß aus vielerlei Gründen wert und wichtig. Gründe, von denen allerdings die architektonischen die nebensächlichste Rolle spielten, und sie wußte daher auch nicht, warum sie eigentlich enttäuscht war, als sie des Mannes endlich ansichtig wurde. Daß er gar nicht so langsam ging, als sie angenommen hatte, war dabei von geringster Bedeutung, vielmehr war es daran gelegen, daß der Mann ein durchaus unhöfisches und eher kleinbürgerliches Aussehen besaß. Für jemanden, der auf sich hält und der sich auf dem Weg zur Schloßkirche befindet, für jemanden, der es tagtäglich bedauert, daß das alte Schloß der Großherzöge aus der Stille altererbten Privatbesitzes in die Öffentlichkeit eines Museums verwandelt worden ist, und daß die Schlafzimmer, in denen eine jahrhundertelange und verzweigte Reihe prinzlicher Kinder gezeugt und geboren wurde, heute von jedermann nicht nur mit schmutzigen Stiefeln sondern auch mit schmutzigen Gedanken betreten werden dürfen, so etwa mit den Gedanken an in Schränken verborgene, schmähliche Liebhaber, kurzum für eine Dame, welche die Verschwiegenheit des Boudoirs als eine der wichtigsten Institutionen des Weltgeschehens ansieht, ist es, gelinde gesagt, immerhin peinlich, die eigene Aufmerksamkeit auf einen Menschen konzentriert gehabt zu haben, der in seinem ganzen Wesen das Gegenteil solcher Lebensauffassung ausdrückt. Beinahe erstaunt, und weil sie es nicht recht glauben wollte, wohl aber auch, weil sie von ihrer Jungmädchenzeit her die Gewohnheit beibehalten hatte, Männer auffordernd und prüfend anzusehen, ohne dabei sich selbst zu gefährden, hatte sich der Blick des Fräuleins auf das Gesicht des Entgegenkommenden geheftet, ja hatte sich stracks in seine brillenbewehrten Augen gerichtet, und es war ein auffordernder und dennoch leerer Blick, der, sobald er erwidert wurde, sofort verschwamm und im Nichts versank, durch das Gesicht hindurchschaute, in alle Fernen, die dahinter sich dehnen. Zwar war das Fräulein von dem halb schüchternen, halb gebieterischen und dabei eigentlich leidenden Ausdruck dieses gewöhnlichen Mannes betroffen, und für eine Sekunde hatte sie vergessen, den Blick ins Unpersönliche zu flüchten, indes sie bewerkstelligte es alsogleich, als ihr Staunen dem des andern begegnete: da war ihr Blick in gewohnter Weise blicklos geworden, und in unverwandter Gleichgültigkeit war sie auch schon vorübergeschritten, Dame ohne jeden Makel und fast nonnenhaft.

Nun lag die Straße wirklich ganz leer vor ihr, und das war eine Art hoffnungslose Leerheit. Gewiß durfte man dies nicht überschätzen: schließlich war die Wegstrecke nur mehr kurz, und Schloßplatz wie Kirche waren bald erreicht. Nichtsdestoweniger blieb es hoffnungslos, und diese Hoffnungslosigkeit beschränkte sich keineswegs auf das kurze noch zurückzulegende Stückchen Weg, sie beschränkte sich keineswegs auf diesen Sommertag, sondern sie umfaßte das ganze Leben. Denn, selbst angenommen, es käme neuerdings eine Gestalt entgegen, noch so langsam oder noch so rasch, es hätte das Fräulein wohl kaum mehr den Mut aufgebracht, neuerliches Interesse an solch entgegenkommender Gestalt zu nehmen, neuerlich sich solcher Enttäuschung auszusetzen. Das war gewiß kein Gelöbnis, obgleich in der Seele eines zur Züchtigkeit neigenden Mädchens bald etwas die Gestalt eines Gelöbnisses annimmt, aber ob nun so oder so, das Fräulein hatte, da sie nun weiterschritt, urplötzlich das Gefühl einer Treue gefühlt, von der sie nicht wußte, wem sie eigentlich galt. Das Erlebnis war durchaus unabgeschlossen, und das Fräulein fühlte sich nun überdies sehr benachteiligt, weil ein inneres und äußeres Gesetz es ihr verwehrt hatte, den Blick länger auf dem zur Antwort bereiten Gesicht ruhen zu lassen. Es stak eine tiefe Ungerechtigkeit in der Situation, in die sie da hineingeraten war, und auch eine arge Gefährlichkeit, denn kein Zweifel, der Mann hinter ihrem Rücken würde nun stehenbleiben, ihr nachblicken und sodann folgen, während es ihr nicht erlaubt war, sich umzuwenden und sich zu vergewissern.

Durch Erziehung und Überzeugung daran gewöhnt, heroische Situationen zu ertragen, ging das Fräulein ruhigen Schrittes weiter; sie flüchtete nicht, und es wäre ja auch nutzlos gewesen, da der Unbekannte sie ohnehin einholen konnte. Sie hielt das Gesangbuch an den Leib gepreßt, nicht weil sie von dieser Berührung mit Gott eine besondere Kraft erwartete, wohl aber, weil der Druck auf die Magengrube ihr Sicherheit verlieh und die furchtsame Unruhe in diesen Körperzonen besänftigte. Allein sie vernahm ganz deutlich, wie die Schritte des Mannes hinter ihr haltmachten; sie spürte seine Blicke im Rücken, und kurze Zeit hernach hörte sie auch, wie in gemessener Entfernung sein leichtes Hinken ihr nachfolgte. Fast war sie daran, noch langsamer zu gehen, denn nicht nur, daß ihr der Anstieg heute beschwerlicher als sonst fiel, es erschien ihr auch richtig, den Verfolger zu zwingen, daß er sie überholte. Aber da war sie auch schon auf der Höhe; die Linien der Häusersockel und der Fensterscheiben wurden parallel, und nicht weit von ihr öffnete sich die Straße zum großen Oval des Schloßplatzes, in dessen Mitte das kurfürstliche Standbild zum scharfen Galopp gegen die Avenue ansetzte, gehindert bloß von den schweren Eisenketten, die in kleinerem Oval und von Steinblock zu Steinblock sich hinziehend, das Kunstwerk umgaben.

Wie nur hatte der Mensch ausgesehen? Er war nicht mehr ganz jung, vielleicht so an die Fünfzig. Jedenfalls Unter-Mittelklasse, fast proletarisch und dabei trotzdem mit einem gebieterischen Ausdruck im Gesicht. Wenn Hitler die Kommunisten nicht gottlob ausgemerzt hätte, es hätte ein solcher sein können. Leidend und frech hat er ausgesehen, beinahe schulmeisterlich mit seiner Brille und seinem rötlichen Schnurrbärtchen ,–, oder war es schon weiß? Was hatte der Mensch hier beim Schloß zu suchen gehabt?

Links war der Platz von der Schloßkirche beschattet und die Schatten der beiden Türme reichten bis über das Monument hinaus. Rechts dagegen befand sich das triumphale Portal, das zum Schloßgarten führte; seine reichen, schmiedeeisernen Flügel standen offen, und man sah auf die sonnigen schnurgeraden Alleen, sah dort die vielerlei verrenkten Bildwerke aus Sandstein und auch die Wasserkünste. Eine Bonne schob eben einen Kinderwagen durch das Portal; einstens war dies verboten gewesen, denn Kinderwagen und ihr unanständiger Inhalt hatten in einer Zone höfischen Anstands nichts zu suchen, und für einen Augenblick vergaß das Fräulein, daß auch Herrschergeschlechter sich fortpflanzten: wer über den Menschen steht, darf mit dem Menschlichen nichts mehr zu tun haben, und je tiefer die Gesellschaftsklasse, desto üppiger dünkte dem Fräulein das Überwuchern häßlicher geschlechtlicher Triebe. Die Schichtung des Reinen über dem Unreinen war durch die Demokratisierung der Welt zerstört worden, und wenn das Fräulein sich auch all dies nicht zu Bewußtsein brachte, so war es ihr doch klar, daß in einem geordneten Staat eine Dame nicht von den beharrlichen Schritten eines untergeordneten Menschen hätte verfolgt werden dürfen. Einstens stand auch ein Doppelposten vor dem Schloß, und als hielte der Schutz noch an, fühlte sich das Fräulein hier geborgener: ein Photograph hatte seinen Apparat mit schwarzem Tuch da vor dem Eingang aufgeschlagen, die Fremden erwartend, die sich mit dem Reiterstandbild zusammen abkonterfeien lassen wollten, ,– ein spärlicher Ersatz für den militärischen Doppelposten; aber das Fräulein fühlte sich geborgen. Sie überquerte den Platz in gerader Linie auf die Kirchenstufen zu, überzeugt, daß der Verfolger es nicht wagen würde, seine schamlosen Absichten dieser weiträumigen Öffentlichkeit preiszugeben, und daß er sich werde begnügen müssen, sie vom Rande des Platzes aus mit den Blicken zu verfolgen. Und tatsächlich, die Schritte hinter ihr verstummten, doch nach wie vor war es ihr untersagt, den Kopf umzuwenden und sich zu vergewissern: der Nacken schmerzte von der Anstrengung, dem Rückwendungsdrang zu widerstehen, und es brachte auch keine Erleichterung, als der Blick nach oben schaute, wo Gott wohnte und die Zirruswölkchen zogen; dennoch war es ein kleiner Dank, weil die Gefahr vorüber war.

Wie nur hatte der Mensch ausgesehen? Hatte er nicht ,– die Erinnerung schien jetzt deutlicher zu werden ,– das Parteiabzeichen getragen und sogar das goldene? Wenn das stimmte, so wäre er wohl einer der ersten Anhänger des Nationalsozialismus und sicherlich kein Kommunist. Frech war er darum trotzdem gewesen. Überhaupt, seit sie zur Macht gelangt sind, kommt ihre plebejische Frechheit mehr und mehr zutage. Ein frecher Brillenpöbel sind sie. Immerhin, sie will an den Menschen nicht mehr denken, und sie braucht nicht mehr an ihn zu denken.

Als sie jedoch in die Kirche eintrat und eben ihren Platz erreichen wollte, spürte sie wieder das Ziehen im Nacken, spürte, daß der Blick auf ihr brannte. Unschlüssig blieb sie stehen; es war ein Frevel an Gott, verunreinigt durch den Blick eines Gottlosen, gebannt von diesem Blick, dem sie sich nicht entziehen und den sie nicht vergessen konnte, der Andacht beizuwohnen. Der Raum war voller Menschen; sie war ohnehin zu spät gekommen, ein Entweichen war durchaus möglich. Das Fräulein schob sich langsam zwischen den Menschen vorwärts und zum Seitenschiff hin, wo auf den Steinfliesen die Tritte, ging man auf den Zehenspitzen, weniger dröhnten als auf dem mit Brettern belegten Boden des Mittelschiffs. Dann schlich sie an den Pfeilern vorbei und gelangte zu dem Seitenausgang, der früher von den Fürstlichkeiten benutzt worden war, drückte die mit Leder gepolsterte Pforte lautlos auf, und als sich diese mit einem leisen, ein wenig atemlosen Seufzen sanft hinter ihr schloß, da atmete auch sie sanft auf, und sie griff an ihren Nacken, sei es, um dort etwas wegzuwischen, sei es, um die schmerzende Stelle zu reiben. Sie befand sich in dem kleinen Hof zwischen der Kirche und dem Seitenflügel des Schlosses, und, welche Erlösung, hier war sie wirklich ganz allein. Eine Art Vorhalle ohne Dach, streng und festlich lag der kleine Hof da mit seinem großen, so außerordentlich ebenen und gefügten Quaderpflaster, und der Sperling, der zögernd darauf herumhüpfte, hatte hier eigentlich nichts zu schaffen. Gäbe es eine Bank, so könnte man hierbleiben, wenngleich der gedämpfte Choral, der jetzt aus der Kirche herausklang, wie eine Mahnung war. Zögernd trat das Fräulein durch die nicht minder festliche, nicht minder strenge offene Doppelarkade, die auf den Schloßplatz hinausführt, und beinahe listig ließ sie die Augen um den Platz kreisen. Der Photograph war noch immer da, beim Monument stand ein offenbar fremdes Ehepaar, drüben gingen einige Frauen. Sonst niemand. Sie hatte also den Verfolger überlistet, sie hatte sogar Gott überlistet, da sie nun dorthin schaute, wohin sie vordem nicht schauen durfte; sie hatte einen Bogen geschlagen, um nach rückwärts schauen zu dürfen, und es war gelungen. Nein, jetzt war niemand mehr hinter ihr, obwohl der Nacken noch immer schmerzte, obwohl sie noch immer den Blick, den brennenden, im Nacken spürte, und als wollte sie sich ein für allemal schützen, als wollte sie die Gefahr aller Ungewißheit, aller Dunkelheit, die rückwärts liegt, für immer bannen, lehnt sie sich an den Pfeiler zwischen den beiden Torbogen, oder richtiger, sie nähert sich ihm so weit, daß sie die strahlende Kühle des beschatteten Mauerwerks im Rücken fühlt. Darf sie hier nicht lehnen und den schönen Platz betrachten? Darf sie hier nicht lehnen an der Grenzscheide zwischen der Dunkelheit des schattigen Hofes hinter ihr und dem besonnten Platze, der vor ihr sich dehnt? Darf sie dies nicht? Viele Leute haben von hier oder daneben von den Kirchenstufen aus den Platz schon betrachtet, haben hinübergeschaut zu den Gärten, deren Alleen im Abhang des Hügels sich verlieren, und nun kommt auch das Ehepaar vom Monument herüber: ihre Beine gehen nebeneinander, vier Beine, die zwei Körper und zwei Köpfe tragen; in der Hand des Mannes ist ein roter Baedeker. Der Apparat des Photographen steht auf drei Beinen, und das gekrümmte Bein des Pferdes auf dem Monument schlägt in die Luft, schlägt mit dem Huf in den lichtblauen Himmel, der über den Gärten tief sich herniederwölbt, angesaugt von der im Grenzenlosen des Unten sich verlierenden und verlorenen Erde. Der amerikanische Ehemann öffnet den Baedeker, und jetzt blickt auch seine Frau hinein, blickt auf Buchstaben, an denen ihrer beider Blicke sich treffen.

Wer eine Schneise läuft, ist imstande, dem Bösen zu entrinnen, denn der Teufel, hinkehufig wie er ist, vermag trotz aller Schlauheit bloß geradeaus zu rennen, und darum bleibt er am Schluß auch immer der Erzdumme.

Das Fräulein steht an den Pfeiler gelehnt, und falls sich der Verfolger in dem kleinen Hof befinden sollte ,– er tut es aber nicht, oh, er tut es gewiß nicht ,–, so kann er sie nicht sehen, der Pfeiler deckt sie vollständig. Aber nun läßt sie die Hand mit dem Gesangbuch sinken, und weil sie sich ein wenig schwach fühlt, greift sie nach der Kante des Pfeilers; sie berührt die kühle Kante nur ein wenig, nur mit dem kleinen Finger und wohl auch ungeschickt, denn das Gesangbuch in einem schwarzen Deckel klafft dabei auf, und ,– oh furchtbar! ,– der Verfolger könnte da mit seinem roten Brillenblick nicht nur den Finger und das aufgeklappte Buch an der Pfeilerkante sehen, sondern auch die Buchstaben entziffern! Rasch zieht das Fräulein die Hand und das Buch zurück. Warum tut sie es nur? Würde das heilige Buch nicht den Bösen bannen? Oder fürchtete sie, daß er der Stärkere sei, und daß sein Blick das Buch entheiligen könnte? Fürchtet sie Vermählung, fürchtet sie Teufelsvermählung, wenn ihr Blick sich mit dem seinen an den Buchstaben träfe? Oh, er soll ihre Hand nicht berühren, sonst wäre es geschehen!

An der Flaggenstange auf dem Mittelgiebel des Schlosses ist ,– Symbol des Traditionsbruches ,– die Hakenkreuzfahne aufgezogen. In der Windstille hängt sie unbeweglich längs der Stange herab, ein schmaler roter Strich, der sich scharf gegen die Himmelsbläue abhebt, und dieses Rot da droben war plötzlich mit dem des Buches verbunden, in das die beiden Reisenden da drüben, einander vermählt, gemeinsam hineinblickten, hier wie dort das Rot der Emporkömmlinge, das Rot der Herabziehenden.

Unter dem Torbogen zwitschern Sperlinge. Das Ehepaar kommt näher; sie sind verheiratet und daher sozial gleichgestellt. Sie kommen, um den ovalen Platz zu betrachten und um des fürstlichen Erbauers zu gedenken; für sie ist Ordnung, und sie haben soeben aus ihrem roten Buch erfahren, daß dies eine schöne Architektur sei. Der Verfolger in dem Hofe ist ein Mensch minderen Standes, und dennoch kann man ihm nicht enteilen, dennoch ist man hier gebannt an den Pfeiler gleich einer Bettlerin. Das Fräulein hat nun das Gesangbuch wieder an den Leib gepreßt, aber sie weiß zugleich, daß das Herz, gegen das sie das Buch preßt, die Worte nicht zu entziffern vermag, daß nichts als Buchstaben auf den weißen Seiten zwischen den schwarzen Deckeln stehen. Das Rund des Himmels spiegelt sich im Rund des Platzes, das Rund des Platzes spiegelt sich im Kreise um das Monument, der Gesang der Engel spiegelt sich im Gesang, der aus der Kirche heraustönt, und die Kirchenlieder sind in dem Buche an ihrem Herzen, aber man muß wissen, daß es so ist, man muß wissen, daß Gott im Fürsten sich spiegelt und der Fürst in dem Sterblichen, der den Platz überquert: weiß man es nicht, dann ist das Rund um das Monument niemals der Himmel, ist das Wort im Gebetbuch niemals der Gesang der Engel, dann dürfen die Kinderwagen durch das Portal des Parkes geführt werden, und, schändlicherweise, es stört niemanden. Schwarz sind die Kinderwagen, so schwarz wie der tote Blick des schwarzen Photographieapparates, der alles im Bilde festhält, oh, festhält, damit nicht eines in das andere stürze, damit Erde und Himmel geschieden bleiben, wie Gott am ersten Tage es befohlen hat, geschieden und dennoch vereint im Gotteswort.

Von oben ist der Erlöser herabgestiegen, göttlich und irdisch in einem, auf daß er, fleischgewordenes Wort, in Menschensprache die göttliche Wahrheit verkünde und als Menschenopfer im Fleischesleid die irdische Welt entsühne. Und desgleichen von oben stürzen die Aufruhrsengel herab, sie aber in die rotglühenden Wurzelabgründe der Bösheit, um daraus aufzusteigen in Menschengestalt, zwar sturzlahm für immerdar, um so gieriger jedoch auf Fleischeslust mit den Menschenkindern erpicht, die in irdischer Schwachheit wieder und wieder der verführenden Vergewaltigung ausgeliefert sind und der vergewaltigenden Verführung erliegen, Hexer und Hexen, anvermählt der fleischgewordenen Sünde, freilich gleich ihr der Austilgung verfallen und im letzten machtlos vor der Entsühnungstat, dennoch diese stets aufs neue gefährdend und das Böse weitergebend von Geschlecht zu Geschlecht bis zum Jüngsten Tag.

Doch, ist nicht jede Wolke schon Mittlerin zwischen Erde und Himmel? Löst sie nicht die Erde auf, zieht sie nicht den Himmel herab, auf daß sein Rund sich dränge zwischen die Häuser und die Mauern der Plätze, sie zu sprengen, das sträfliche Rund der Nachahmung? Weiß sind die Mauern, weiß die Wolken, die dem schwarzen Gewölke voranfliegen, schwarz die Bücher und ihre Worte, doch rot und brennend ist der Blick, der herausbricht aus der Höhle der Dunkelheit, einsaugend das Ich, immer weiter zurück durch das lärmende Tor des Todes, immer weiter zurück in die brennende Kälte der Finsternis. Es verschlingen sich die geraden Wege des Parks, schlagen Bogen um Bogen, sie verschlingen sich zu einem unzüchtigen Knäuel, in dem alles gleich ist, und einander verschlingend, fressen sie einander auf, stets aufs neue einander gebärend. Da nützt kein Wachtposten, da nützt es nichts, daß ein rotes Buch das Brennende zu spiegeln trachtet, denn die Spiegelung des Großen im Kleinen ist aufgehoben: es ist das Schöne und die Schönheit aufgehoben, es jagen die Pferde der Monumente aus der Schönheit ihrer Erstarrung, und sie fliegen davon; es ersticken die Lungen der Menschen in den Hallen der Kirche, und kein Bild kann mehr festhalten, was geschieht, da das Geheimste nunmehr hervorbricht, sich über die öffentlichen Plätze zu ergießen. Und nicht achtend, daß der Verfolger sie nunmehr packen würde, ihre Arme nehmen und sie zurückreißen wird, zu sich und in seine Tiefe, breitet das Fräulein die Arme aus, ja, sie greift nach rückwärts, und, angepreßt, angeklebt an den Pfeiler, der nun ihr einziger Halt ist, klammert sie sich an, ohne Rücksicht darauf, daß sie ihren dunklen Mantel an der Mauer beschmutzt. Das Zwitschern der Sperlinge im Torbogen wird immer ärger, es ist zu einem pfeifenden Sausen angeschwollen, und es ist, als wäre aller Schatten von der Welt abgelöst worden, der Schatten weggeflogen, Welt, die nicht mehr Welt ist, in unerträglicher Nacktheit zurücklassend, zur Beute der Emporkömmlinge und Hinabzerrenden, zur Teufelsbeute.

Unentrinnbar die Vergewaltigung! In der prallen Sonne geht das Teufelsgewirr jetzt den Rundtanz an, den schattenlosen Hinketanz, zu dem der Verfolger mit servilem Hinken und serviler Verbeugung sie nun alsbald holen wird, unentrinnbar seine verführende Vergewaltigung.

Indes, das fremde Ehepaar, vierbeinig noch immer, war bei den Kirchenstufen angelangt und nun, noch den entfalteten Plan des Baedekers in der Hand, schickten sich die beiden sogar an, in den Hof einzudringen. Vielleicht war es gleichgültig geworden; möge es geschehen, mögen die Menschen das Geheimnis und die Schande dort entdecken, den siegenden Verfolger; es war wohl gleichgültig, denn es gab keinen Schatten mehr, und selbst der Hof, in dem jener stand und befahl, ein Mann niederer Herkunft, trotzdem in der Mitte des Hofes ragend wie ein Monument, ja selbst der Hof war jetzt des Schattens entblößt. Und vielleicht um den Verfolger zu schützen, dessen Opfer und Bettgenoß sie, zur Hexenschaft bereit, von nun ab und für ewig zu sein hatte, vielleicht um mit ihm zu flüchten, ehe es zu spät sein würde, vielleicht um ihn, unentdeckbar den beiden Fremdlingen, in einem Schrank zu verstecken, löste sich das Fräulein mit großer Anstrengung von der Mauer los und wandte sich dem Hofe zu: doch ,– oh, Enttäuschung und Erleichterung ,– der Hof lag schattig und leer da, so wie sie ihn verlassen hatte, und der Sperling saß noch immer auf den Fliesen. Die Mauern umschlossen das Geviert, streng und kühl, gleichsam eine freundlich helle Verdunkelung des Tages, und für einen Menschen niederen Standes oder einen Kommunisten oder dergleichen war hier kein Raum. Der Hof war teufelsrein.

Da wagte das Fräulein nochmals zum Schloßplatz zurückzublicken, und auch dieser erwies sich als teufelsrein. Denn keiner tanzte. Schlaff hing droben die Fahne an der Stange, und die Vergewaltigung war wieder einmal abgeschlagen, vielleicht bloß verschoben, für heute jedoch sicherlich abgeschlagen. Eine Art bedauernder Schadenfreude stieg in der Seele des Fräuleins auf. Wahrlich, die kühle Schönheit des Gewesenen und Geschaffenen hatte wieder einmal, mag sein zum letztenmal, die plebejischen Hinkdämonen und deren erzdumme Häßlichkeit besiegt. Der Schloßplatz breitete sich vor der weitausladenden Bedächtigkeit der Gebäude im schönen großen Oval und spiegelte, ein abgeschlossenes Erlebnis, das Rund und die friedvolle Stille des Himmels; die Schatten der Türme reichten jetzt nur mehr knapp bis zum kleinen Oval des Monuments, auf drei Beinen stand das Pferd des Kurfürsten in schöner Starrheit, auf drei Beinen stand das Stativ des Photographen, und von schwarzen, schnurgeraden Schatten gesäumt, dehnten sich die Alleen des Parks den Hügel abwärts, überwölbt von der lichtblauen Kuppel, an der die Zirruswölkchen langsam dahinglitten, ,– Reinheit, die über alle Unreinheit geschichtet ist.

Aus der Kirche drang der Choral. Und das Fräulein, erfüllt von Treue, durchschritt den kleinen Hof und betrat die Kirche durch die gleiche Türe, durch welche ehedem die großherzogliche Familie ihren Einzug in das Gotteshaus gehalten hatte, und durch die sie, so Gott will, unablässig einziehen wird. Kein Teil der Seele des Fräuleins brauchte mehr mit einem andern zu sprechen, so einstimmig klangen die Teile ineinander, kaum daß das Fräulein, süßer Hoffnungslosigkeit voll, an sich selbst zu denken vermochte: nonnenhaft schlug es das Gesangbuch auf.


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