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Die Vor-Geschichten

Stimmen

1913

Neunzehnhundertdreizehn ,–, warum mußt du's dichten?
Um noch einmal meine Jugend zu sichten.

*

Ein Sohn und ein Vater, sie schritten fürbaß
schon etliche Jahre: »Jetzt bin ich es laß«,
sagt plötzlich der Sohn, »wo führt das noch hin?
Viel gräßlicher ist es als einst am Beginn;
das Wetter ist scheußlich, und ringsherum drohn
Gefahren die Menge, Gespenst und Dämon.«
Darauf der Vater: »In herrlichstem Führen
ging der Fortschritt voran. Wer wagt dran zu rühren!
Du störst ihn mit Zweifeln und ängstlichem Schaun;
drum schließe die Augen zu blindem Vertraun!«
Drauf sagt der Sohn: »Kalt faßt es mich an ,–,
hat's dir noch immer kein Leid getan?
Wir gerieten ,– oh merk's ,– auf gespenstische Bahn,
unser Fortschritt ,– oh merk's ,– ist ein Stapfen am Ort;
den Boden zog's unter den Füßen uns fort,
und wir wirbeln umher wie gewichtloser Flaum.
Unser Schreiten ist Täuschung; es fehlt ihm der Raum.«
Darauf der Vater: »Öffnet nicht jegliches Weiterschreiten
himmlisch dem Menschen unendliche Weiten?
Der Fortschritt führt ins Unbegrenzte;
du aber nimmst es für Gespenste.«
»Fortschritts verflucht, fortschrittsbeschenkt,
der Fortschritt selbst hat den Raum uns gesprengt,
ohne den noch keiner ein Schreiten vollbracht,
und raumlos der Mensch ward gewichtlos gemacht.
Und dies ist das neue Weltengesicht:
Die Seele braucht den Fortschritt nicht,
doch braucht sie sehr ein Neugewicht.«
Marschierend schüttelt der Vater das Haupt:
»Mein Sohn ist reaktionsverstaubt.«

*

Oh, herbstlicher Frühling;
nie gab es schöneren Frühling als
jenen im Herbst.
Noch einmal blühte das Vergangene,
das Zuchtvolle,
die lieblichste Ruhe vor dem Gewitter.
Sogar Mars lächelte.

*

Und selbst zugegeben, daß angesichts der
Leidensmannigfaltigkeit, die einander anzutun
die Menschen fähig sind, der Krieg nicht der
Übel ärgstes ist, er ist jedenfalls deren
dümmstes, und von ihm, dem Vater aller Dinge,
ist die Dummheit unausrottbar der Menschenwelt
eingeerbt worden.
Wehe, oh wehe!
Denn Dummheit ist Vorstellungslosigkeit;
sie schwatzt Abstrakta, schwatzt vom Heiligen,
schwatzt vom Heimatboden und von der Landesehre,
schwatzt von irgendwelchen Frauen und Kindern,
die's zu verteidigen gilt. Aber wo's konkret
wird, da wird sie stumm, und die zerfetzten
Gesichter, Leiber und Glieder der Männer
sind ihr ebenso unvorstellbar wie der Hunger,
den sie den treuen Frauen und den geliebten
Kinderchen auferlegt. Das ist die Dummheit,
wahrlich eine gottserbärmliche Dummheit,
miteinschließend die der Philosophen und Dichter,
die triefenden Geistes, triefenden Mundes
von des Krieges Heiligkeit daherschwatzen;
freilich sollen sie sich auch vor den
kühn fliegenden Fahnen auf den Barrikaden hüten,
denn hier gleichfalls lauert das abstrakte Gewäsch,
die unheilsträchtige blutig-blutlose Verantwortungslosigkeit.
Wehe, oh wehe!

*

Im Raume, der nicht Raum zu nennen war,
weil alle Engel darin Platz gefunden
und alle Heiligen bei ihnen stunden,
hauste einst gotisch die Seele;
weder brauchte sie Boden noch Wölbung oder gar
Fortschritt, denn ihr Schreiten war Schweben,
gehalten von oben, ein Einverweben
unendlich und ewig ins Ohngefehle.
Doch hier, da schon Unendliches ihm winkte,
da ward der Geist aufs neu zurückverwiesen
zum Raum des Diesseits, und er mußte diesen
sich frisch erwerben als Gewinn,
hinnehmend Hoch und Breit und Tief als unbedingte
Formen des Seins: so war das Wissen,
das nun in Blut und Qual und Kompromissen
zum Fortschritt wurde und sein Neubeginn
hexig und ketzrisch verwirrt, in Roheit tief glaubenszerrissen,
mitleidslos höllisch verfoltert und trotzdem schon menschlichkeitsweit,
Barock erkenntnisgroß zu jeglicher Forschung bereit,
es ahnt im irdischen Bilde aufs neu Unendlichkeit.
Doch gleiches Spiel wie einst ,–, vom Geiste fast erlangt,
entschlüpft Unendliches, weist hin zu fremd'ren Räumen,
zum Rande der Erkenntnis, zu jenen eis'gen Träumen
verstummten Wort's, ertaubten Ton's, wo selbst das Bild entschwankt:
kein Maß ist hier mehr Maß, kein Engel wohnet hier, es gilt kein Eid,
Gestrüpp des Richtungslosen ist's, ein Wuchern übergräßlich
vertauschend Nah und Fern, ein Brodeln, hexenkeßlich
vertauschend Heiß und Kalt, denn raumlos unermeßlich
ein Raum erstehet hier, der Raum der neuen Zeit,
bricht wieder auf zu Qualen ,– oh wie das Herz sehr bangt ,–,
bricht wieder auf zu Kriegen ,– oh Sünde über Sünde ,–,
auf daß die Menschenseele wiederum erstünde.

*

Das ist die große Zeit der bürgerlichen Jugend;
sie denkt an Liebe, Geld und ähnliche Geschichten
und ist durchwegs gewillt, auf andres zu verzichten,
mit Eifersuchtsproblemen Welt an Welten fugend:
Gott ist ein Requisit, verwendbar in Gedichten,
und Politik ist dem, der in die Zeitung lugend
als Pöbelsünd sie sieht, die einst'ge Fürstentugend,
nichts als Verächtlichkeit; das macht ihn frei von Pflichten.
Und neunzehnhundertdreizehn hat sich's so vollzogen
mit leerem Seelenlärm und opernhafter Geste,
und doch war's immer noch der leichte schöne Bogen,
des Liebesritus Hauch, der Nachklang einst'ger Feste,
Steifkragen, Mieder, Spitzen, oh Reiz des Glockenrocks:
Oh letztes sanftes Jahr im Abschied des Barocks!

*

Selbst das längst Überlebte und dumpf Gewordene
gewinnt im Abschied die sanfte Farbe der Wehmut,
oh das Gewesene!
Oh Europa, oh Jahrtausende des Abendlands,
Roms gegliedertes Leben und Englands kluge Freiheit,
einander entgegengesetzt, nunmehr beide bedroht,
und es steht das Einstige nochmals auf,
die wohnliche Ordnung der irdischen Symbole,
in denen ,– oh mächtige Kirche ,– großgebreitet
das Unendliche sich spiegelt,
die Spiegelung des Kosmos in des Dreiklangs Ruhe,
in seinen langsamen Auflösungen und Einmütigkeiten.
Und eben dies war Europas Würde,
die gebändigte Bewegung, die Ahnung der Ganzheit
im Fortschreiten folgend den Linien einer Musik,
die ,– oh Christlichkeit Sebastian Bachs ,– aufschaut
als das Auge des Diesseits, prägend was jenseits ist,
so daß oben wie unten die Verbindungen geschehen,
das Geschehnis der gesitteten Ordnung und Freiheit
hinerstreckt in gemessener Bewegung von Symbol zu Symbol
bis zu den verborgensten Sonnen,
der abendländische Kosmos.
Und nun zeiget sich jählings, daß alles zugleich ist,
verbindungslos die Bilder, unbeweglich vor Raschheit,
kaum mehr Symbol, Endliches und Unendliches auf einmal,
drohend lockend die Dissonanz.
Unerträglich wird der Dreiklang und lächerlich,
Tradition, in der sich nicht mehr leben läßt;
Elysium und Tartaros stürzen ineinander, werden
ununterscheidbar.
Leb wohl Europa; die schöne Tradition ist zu Ende.

*

Kling klang Gloria,
Wir ziehen in die Schlacht;
Wir wissen nicht warum wir's tun,
Doch Mann an Mann im Grab zu ruhn
Vielleicht Vergnügen macht.
Feinsliebchen bleibt zuhause sacht
Und weint herzbitterlich,
Doch der Soldate ritterlich
Zu Weibertränen lacht,
Wenn vor dem Feind gewitterlich
Mit Kling und Klang und Gloria
Die Feldkanone kracht.
Halleluja, halleluja,
Wir ziehen in die Schlacht.

 

I. Mit schwacher Brise segeln

Unter dem braun-weiß gestreiften Sonnensegel, das auch jetzt bei Nacht ausgespannt ist, stehen die leichten Korbtische und Korbstühle. Zwischen den Häuserreihen, durch die jungbelaubten Kronen der Alleen streicht der leise Nachtwind; man könnte fast meinen, er käme vom Meer. Aber es ist wohl nur das feuchte Pflaster; der Sprengwagen ist soeben durch die leere Straße gefahren. Ein paar Ecken weiter liegt der Boulevard; von dorther hört man das Hupen der Autos.

Der junge Mann war vielleicht schon ein wenig angetrunken. Ohne Hut, ohne Weste ist er die Straße heruntergekommen; er hielt die Hände im Gürtel, damit der Rock weit aufklaffe und der Wind möglichst bis zum Rücken gelange; das war wie ein lau-kühles Bad. Wenn man die Zwanzig kaum überschritten hat, ist das Lebende im Körper fast immer spürbar.

Der Boden vor dem Café ist mit braunen Kokosmatten belegt, und ihr Geruch ist leicht stickig. Ein wenig unsicher wand der junge Mann sich zwischen den Korbstühlen hindurch, streifte da und dort einen Gast, lächelte entschuldigend und gelangte zu der offenstehenden Glastüre.

Im Lokal war es womöglich noch kühler. Der junge Mann setzte sich auf die Lederbank, die unter der Spiegelreihe die Wände entlang lief; er setzte sich mit Bedacht der Türe gegenüber, denn er wollte die kleinen Windstöße sozusagen aus erster Hand in die Lungen bekommen. Daß das Grammophon auf dem Bartisch gerade jetzt das Spiel abbrach ,– ein paar Augenblicke lang zischte es noch kreiselnd, um sodann das Lokal den stilleähnlichen Kaffeehaus-Geräuschen zu überlassen ,–, das war unangenehm boshaft, und der junge Mann schaute auf des Marmorfußbodens blau-weiße Würfelmusterung, die an die eines Mühlbretts gemahnte; in der Mitte allerdings bildeten die blauen Würfel ein schräges Kreuz, ein Andreaskreuz, und zum Mühlspiel braucht man kein solches ,–, jawohl, das war überflüssig. Doch von derlei darf man sich nicht stören lassen. Die Tische hatten weiße, leichtgeäderte Marmorplatten; auf der vor ihm stand ein Glas dunkles Bier; die Bläschen des Schaumes dehnten sich und zerplatzten.

Am Nebentisch, gleichfalls auf der Lederbank, saß jemand. Es wurde ein Gespräch geführt, aber der junge Mann war zu faul, um den Kopf hinzuwenden. Es waren zwei Stimmen, die männliche sehr knabenhaft und die der Frau guttural-mütterlich. Ein dickes und dunkles Mädchen muß das sein, dachte der junge Mann, und nun wandte er den Kopf absichtlich nicht in diese Richtung. Wenn einem die eigene Mutter gerade gestorben ist, sucht man nicht andere Mütterlichkeiten. Und er bemühte sich, an den Amsterdamer Friedhof zu denken, an des Vaters Grab dort, an das er niemals hatte denken wollen, und an das er nun doch denken mußte, da man auch sie hineingesenkt hatte.

Daneben die männliche Stimme sagte:

»Wieviel Geld brauchst du?«

Als Antwort kam ein guttural dunkles Lachen. War die Frau da wirklich dunkelhaarig? Ein Wort kam ihm in den Sinn: dunkle Reife.

»So sag mir doch, wieviel du brauchst!« Die Stimme wurde die eines gereizten Knaben. Natürlich will jeder seiner Mutter Geld geben. Und die hier braucht's. Die seine hat's nicht gebraucht; die hat alles gehabt. Und schön wär's gewesen, für sie sorgen zu können, da seine Einnahmen ,– da drunten in Südafrika ,– ständig sich mehrten. Jetzt war's nutzlos. Reiner Tisch und nutzlos.

Wieder das dunkle Lachen daneben. Der junge Mann denkt: Jetzt hat sie nach seiner Hand gegriffen. Sodann hört er: »Woher hast du denn so viel Geld? ,… und selbst wenn du's hättest, von dir nähme ich es nicht.« So sprechen Mütter; sie nehmen's bloß vom Vater.

Warum war er nach dem Tod des Vaters nicht heimgekommen? So hätte es sich gehört. Was hatte er sich da noch weiter in Afrika herumzutreiben gehabt? Und er war geblieben, nicht bedenkend, daß die Mutter sterben konnte. Nun hat sie's getan. Gewiß, man hat ihm nicht rechtzeitig gekabelt, aber von Rechts wegen hätte er es ahnen müssen. Sechs Wochen nach ihrem Tod ist er in Amsterdam eingetroffen. Und was hatte er sich jetzt noch in Paris herumzutreiben?

Der junge Mann schaut auf den Fußboden, schaut zu dem Andreaskreuz hin. Der ganze Fußboden ist mit winzigen Sägespänhäufchen bedeckt; sie verdichten sich um die Grundplatten der gußeisernen Tischfüße zu kleinen Dünen.

Nach einer Weile denkt der junge Mann: Wahrscheinlich ist ihr mit hundert Francs geholfen. Wenn ich wüßte, wie ich's anstellen soll, würde ich ihr die hundert, nein, zweihundert, dreihundert nur zu gerne geben. Jetzt habe ich ja auch noch die holländische Erbschaft, die ich nicht antasten werde. Mein Vater hat immer gefürchtet, daß ich sie einstmals vertun würde. Ob er wohl enttäuscht wäre, wenn er mich jetzt sähe? Nein, ich werde sein Geld nicht anrühren. Aber ich habe es gut angelegt, vorsichtig und doch mit Verzinsung. Auch darüber würde er sich wundern. Und er überdachte nochmals die Vorzüge und Nachteile seiner neuen Kapitalsanlagen.

Darüber hat er das Gespräch daneben verloren. Jetzt hört er wieder hin, und die Knabenstimme sagt:

»Ich liebe dich ja.«

»Eben deshalb darfst du nicht von Geld sprechen.«

Der junge Mann denkt: Beide schicken sie ihre Stimmen aus, ihrer beider Münder entsenden den Atem mit der Stimme, und ein paar Spannen von ihnen entfernt, etwa über ihrem Tisch schon, kaum viel weiter dahinter, fließen die atmenden Stimmen zusammen, einander sich zu vermählen. Das ist das Wesen eines Liebesduetts.

Und in der Tat, aufs neue wird vernehmbar:

»Ich liebe dich ja, liebe dich so sehr.«

Ganz leise kommt es zurück:

»Oh, mein Kleiner.«

Jetzt küssen sie einander, denkt der junge Mann. Es ist gut, daß drüben kein Spiegel ist; sonst würde ich sie sehen.

»Noch einmal«, sagt die tiefe Stimme der Frau.

Ich möchte ihr vierhundert Francs dafür geben, denkt der junge Mann und vergewissert sich, ob seine nur allzusehr angefüllte Brieftasche ,– warum, zum Teufel, trage ich immer viel zu viel Geld mit mir herum? wem will ich damit imponieren? ,– auch wirklich noch vorhanden ist. Mit vierhundert Francs könnte man sie glücklich machen. Doch die Knabenstimme nimmt ihm das Wort aus dem Mund:

»Brauchst du das Ganze auf einmal? ,… in Raten könnte ich es wohl aufbringen.«

Der Bursch muß beiläufig im gleichen Alter wie ich sein, denkt der junge Mann, höchstens eine Spur jünger. Warum macht der kein Geld? Man müßte ihn lehren, wie leicht das Geldmachen ist. Ich möchte ihm vorschlagen, mit mir nach Kimberley zu gehen. Meinetwegen mag er sie mitnehmen.

»Lieber stürbe ich, als daß ich von dir Geld annähme.«

Hallo, denkt der junge Mann, das ist falsch; mit mir dürfte sie nicht so reden. Ich weiß schon, ich weiß schon, sie möcht's ihm ersparen; sie möchte ihn lieber füttern, mit dem Löffel füttern, aber sie will leben, sie muß leben, und zum Leben gehört Geld, das Drecksgeld. Aber mit wem will sie leben? mit wem will sie leben? mit ihm? Wenn ich ihr fünfhundert, sechshundert Francs gebe, wird sie mit mir leben wollen und ihn im Geheimen füttern. Würde sie von ihm das Geld nehmen, so würde sie vielleicht mit ihm leben, aber er würde nicht mehr ihr Sohn sein, und das will sie verhüten. So und so ist's schlecht. Freilich wär's besser für ihn, wenn sie stürbe; nur tut sie's nicht, geschweige denn, daß sie sich umbringt. Eigentlich müßte man den Knaben vor dieser Frau schützen. Doch der Gedanke ließ sich nicht weiter verfolgen. Wenn man schon einiges getrunken hat, läßt sich nicht jeder Gedanke zu Ende denken.

Mit dem Bier da scheint's nichts zu sein. Er hat das letzte Glas mit einem Zug geleert und fühlt sich ein wenig übel. Um die Magengegend herum hat sich etwas Eisiges festgesetzt, das Hemd klebt, und selbst mit tiefem Atemholen ist die vorherige Behaglichkeit nicht wiederzugewinnen; es wäre gut, eine mütterliche Frau zur Seite zu haben.

Er lacht vor sich hin: wenn ich mich umbringe und vererbe ihr mein Geld, all das schöne Drecksgeld, so kann sie den Burschen füttern, und wenn ihr mein Selbstmord noch überdies ein gutes Beispiel zur Nacheiferung wird, so ist der Kleine von ihr sogar befreit; so oder so ist's gut, oder wär's gut, denn ich will mich ja nicht umbringen, denke nicht daran mich umzubringen. Warum habe ich jetzt daran gedacht?

Hinter der Bar bewegte sich eine ältliche Person in einem nicht sehr reinen rosa Kleid. Wenn sie mit dem Kellner dort sprach, so sah man ihr Profil, und zwischen Ober- und Unterkiefer ergab sich ein Dreieck, das sich öffnete und schloß. Eine große, schneeweiße Angorakatze war nun mit unhörbarem Schwung auf den Bartisch gesprungen, putzte sich ein wenig und blieb dann unbeweglich sitzen, rosanasig und rund-blauäugig das Lokal betrachtend.

Ich bin froh, daß ich die Frau da neben mir nicht sehen muß, dachte er, und unversehens, ihm selber unversehens, sagte er halblaut:

»Man kann sich ruhig umbringen.«

Das hatte er gesagt, und er war darüber erschrocken: es war wie Antwort auf einen Anruf gewesen, den er gehört und doch nicht gehört hat, trotzdem wissend, daß er bei seinem Kindernamen gerufen worden war, ein Befehl zum Abbruch des Spiels, ein Befehl zum Heimkommen ins Haus. Und er überlegte: hätte ich keinen Namen gehabt, sie hätte mich nicht rufen können, so aber muß man ihr folgen; immer muß man der Mutter folgen, hat sie mich gelehrt, bis ins Grab hinein muß man ihr folgen, als sei nicht einmal das Überleben gestattet. Doch so schrecklich es war, sich umbringen zu müssen, es ließ sich nicht ändern; was richtig ist, ist richtig und muß offen ausgesprochen werden:

»Nur der Tod hindert uns an neuen Verflechtungen.«

Das stand nun gewissermaßen als ein Teil seines Ichs klar und scharf in der Luft, war gewissermaßen in die Luft eingeritzt und bildete zugleich selber einen Beweis für das Gesagte. Denn nun war zu erwarten, daß seine dort eingeritzte Stimme sich den Stimmen jener beiden verflechten werde, und er maß aus, an welchem Punkt der Luft vor ihm dies geschehen könnte: das Ritzbild stand genau an der richtigen Stelle, etwa acht oder neun Fuß von ihm entfernt. Jetzt wird es ein Trio, dachte er, und er horchte, wie sich die beiden dazu verhalten würden. Aber sie hatten es wohl nicht beachtet, denn die Frau sagte halb spielerisch, halb ängstlich:

»Wenn er jetzt käme!«

»Er würde uns töten«, erwidert die Knabenstimme, »zumindest mich würde er töten, soferne er sich hierher verirrte ,… und das ist äußerst unwahrscheinlich.«

Die beiden reden Mist, dachte der junge Mann, reden da von einem, der offenbar eine Art Rächer sein soll, eine Art Prüfer und Richter, eine Art Henker, der sie beide abschlachten wird. Ich muß sie doch beruhigen:

»Der kommt nicht. Herzschlag vor drei Jahren im Zug zwischen Amsterdam und Rotterdam.«

»Gib mir eine Zigarette«, sagt die Frau, und ihre Stimme klingt tatsächlich beruhigt.

Na, sie hat's verstanden, nickt der junge Mann, und ich werde auf den Schrecken einen Scotch trinken. Und er gibt dem herbeigerufenen Kellner die Bestellung.

Nachher fühlte er sich wirklich wohler, sogar richtig wohl. Das konnte fortgesetzt werden: »Kellner, noch einen!« Ja, das wollen wir fortsetzen. So ein elender Mist, was die redeten. Die Toten sollen aus den Gräbern kommen, um sie zu töten. Der Komtur. Der Steinerne Gast. Das gibt's nur in der Oper, meine Herrschaften, und da nur im Don Juan. Plötzlich durchfuhr es ihn:

»Jetzt kommt er trotzdem und macht reinen Tisch.«

Doch es war nur der Kellner, der mit dem Whisky vor ihm stand, und das war so komisch, daß er lachend wiederholen mußte: »Kommt trotzdem, ist schon gekommen.«

Freilich, die Frau daneben hat's ernst genommen: »Vielleicht wäre es besser, wegzugehen.«

»Ja«, sagt der junge Mann. Vielleicht war's doch ernst, vielleicht war's doch der Steinerne Gast und nicht der Kellner gewesen, der Holer, nicht der Bringer.

»Laß dich doch nicht ins Bockshorn jagen«, bittet die Knabenstimme, »eher können wir ihn auf der Straße treffen ,… er wird sich bestimmt nicht gerade in dieses Lokal verirren ,…«

Nicht so vorwitzig, Bürschchen ,… wenn er sich ins Spital hat verirren können, die Mutter zu holen, warum soll er sich da nicht auch hierher verirren? Die Ärzte im Spital haben erzählt, daß die schwere Magenoperation, die an ihr hatte vorgenommen werden müssen, selbst für stärkere Organismen kaum überlebbar gewesen wäre; durch nichts jedoch ist bewiesen, daß er sie nicht trotzdem gezwungen hat, sich umzubringen.

Die Frau daneben entgegnete:

»Auf der Straße kann man wenigstens davonlaufen.«

Es gibt kein Davonlaufen, meine Liebe. Wenn Sie davonlaufen, schießt er Sie in den Rücken. Es gibt nur einen einzigen Schutz, und das ist Namenlosigkeit. Wer keinen Namen mehr hat, der kann nicht gerufen werden, den können sie nicht rufen. Gottlob, ich habe meinen Namen vergessen. Und er wählte eine Zigarre aus seinem Etui und zündete sie behaglich an.

»Wir werden wegreisen, Süße, ganz weit weg ,… nichts und niemand wird uns mehr ereilen«, sagte die Knabenstimme.

Also hast du's doch kapiert, daß wir nach Südafrika fahren, Geld verdienen. Mir ist's recht. Nur, daß mir die Zigarre nicht schmeckt, ganz und gar nicht schmeckt, ist mir unrecht. Pfui Teufel, ich sollte eine heiße Milch trinken.

Prompt nahm's die Frau am Nebentisch auf: »Kellner, bringen Sie mir eine heiße Milch.«

Jetzt sind wir im Schwung, dachte der junge Mann; die Verflechtung der Stimmen funktioniert tadellos, und die der Schicksale wird folgen. Jetzt sollte ich mich davonmachen. Warum soll ich mich noch weiter in die Schicksale dieser beiden verflechten lassen? Ich möchte ihr einen Tausend-Francs-Schein zustecken und verschwinden. Sie gehen mich nichts an. Ich bin allein, und so bin ich auch am besten vor ihm gefeit. Bleibe ich mit ihnen, so wird mich nichts vor ihm retten.

»Süße, Süße, Süße ,…« warb das Bürschchen daneben.

Haben die beiden keinen Namen füreinander? Wissen sie vielleicht doch schon von der Gefährlichkeit der Namen? Verständlich wäre es; dennoch muß ich's rügen. Jawohl, meine Liebe, Sie sind unmütterlich; Mütter erfinden Namen für ihr Kind, und nichts kann sie abhalten, sie zu verwenden, und sei die Gefahr noch so groß.

»Wir sind in einem öffentlichen Lokal«, entschuldigte sich die Frau, und man spürte, wie sie auf den Kellner wies.

Der Kellner hatte eine spiegelnde Glatze. Wenn er unbeschäftigt war, lehnte er an der Theke, und die Kassierin sprach, auf- und zuklappenden Gebisses, eifrig auf ihn ein. Es war ein Glück, daß man nicht verstand, was ihre Stimmen redeten, sonst wären auch noch die in den Verflechtungsknäuel der Stimmschicksale, der Schicksalstimmen eingegangen, alles verflochten, aber jedes und jeder mutterseelenallein: der Knäuel sitzt mir in der Kehle; jetzt habe ich wieder einen Saudurst.

Die Frau hatte die bestellte Milch bekommen, und die Kassierin goß einen Rest in eine Untertasse: »Arouette«, lockte sie die Angora herbei, »Milch, hier, hier, Arouette.« Und Arouette begab sich würdevoll zögernd über die Theke zu der Milchschale hin.

Wahrscheinlich trank die Frau gleichfalls jetzt ihre Milch in kleinen leckenden Schlucken, denn die Knabenstimme sagte bewundernd:

»Oh, wie ich dich liebe ,… wir werden einander immer verstehen.«

»Verstehen ist Verflechten«, sagte der junge Mann, »und das ist meine Angelegenheit. Hätten die Dinge keine Namen, so gäbe es kein Verstehen, aber es gäbe auch kein Unheil.« Und er dachte: ich bin besoffen, namenlos besoffen, und ich habe keinen Namen mehr; die Mutter ist tot.

Hat die Frau geantwortet? sie hat's getan:

»Wir lieben, wir lieben einander bis zum Tode.«

»Der wird schon kommen und schießen; darüber mögen Sie ganz beruhigt sein, meine Gnädigste«, und der junge Mann ist sehr befriedigt, weil er den Reflex der Mittellampe nun auf der Glatze des Kellners entdeckt hat: eine Glatze ist eine Glatze, und ein Licht ist ein Licht, und ein Revolver ist ein Revolver, und zwischen den Namen spannt sich das Geschehen, so daß ohne Namen die Welt stillestünde; aber mein Durst ist ein Durst, und was für einer.

Indes, nun war ein Mann ins Lokal hereingekommen, ein etwas dicklicher, schwarzschnurrbärtiger Mann, dessen rötlichgeädertes Gesicht auf eine gewisse Schlagflußneigung schließen ließ, und ohne sich umzuschauen war er strackwegs auf die Bar zugegangen, hatte sich daran gelehnt, eine Zeitung aus der Tasche gezogen und zu lesen begonnen, ein Stammgast, der nicht eigens zu bestellen braucht; der Vermouth wurde ihm von der Kassierin in Selbstverständlichkeit hingeschoben.

Der junge Mann dachte: sie sehen ihn nicht. Und laut sagt er:

»Jetzt ist er da.«

Und weil sich nichts rührt, und auch der Mann an der Bar sich nicht umdreht, ruft er überlaut:

»Kellner, noch ein Bock.«

Zwischen dem Durst und dem Bier, Namen sie beide, spannt sich wohlig das Geschehen des Trinkens.

Der Wind draußen war stärker geworden, die herabhängenden Zacken des Sonnendaches bewegten sich, und wer an den Korbtischen dort Zeitung las, mußte oftmals das windknittrige Papier vermittels eines kurzen, knisternden Striches aufglätten.

Gleichviel, interessanter als die Zeitungsleser draußen war der hier an der Theke, und der junge Mann, der ihn beobachtete, hatte plötzlich den Eindruck, als hielte der dort das Blatt verkehrt in den Händen; das war ein falscher, ja ein beleidigender Eindruck, denn dem Fräulein an der Theke zugewandt, unterhielt sich der Mensch ganz offensichtlich über den Inhalt des Gelesenen, da er immer wieder mit dem schwarzbehaarten Handrücken und mit den Fingerknöcheln gegen eine bestimmte Stelle des Blattes trommelte.

Was aber mochte der nur gelesen haben, was ihn gar so sehr aufregte? Man mochte schier glauben, daß ihn vor lauter Aufregung nochmals der Schlag treffen könnte. Kein Zweifel war da möglich: der Mensch hat in der Zeitung bereits seinen eigenen Prozeß, seinen Mordprozeß abgedruckt gefunden, und das war merkwürdig, war um so merkwürdiger, als damit nicht nur die Zukunft vorweggenommen wurde, sondern auch eine Umkehrung der Rangordnungen Platz griff ,–, wie darf man es wagen, einem Richter und Prüfer den Prozeß zu machen? ist es nicht sein Recht, sein gutes Recht, sein ewiges Recht, den Knaben zu töten, die Frau zu töten, sie alle zu töten? Und der junge Mann starrt auf die Stelle, an der sich ihrer aller Stimmen und Schicksale verflochten hatten, um stets aufs neue sich daselbst zu verflechten.

»Wir sind hier«, meldet der ungeduldig gewordene junge Mann schließlich.

»Wenn ich nur das Geld aufbrächte«, sagte die Frau, »er ist käuflich.«

»Ich werde zahlen«, sagt der junge Mann, »ich ,…«, und er legt einen Hundertfrankenschein auf den Tisch, gleichsam zur Probe, ob das ausreicht.

Der Gast an der Theke schenkt der Geste, schenkt dem Geld keine Beachtung. Schulden müssen mit dem Leben bezahlt werden.

»Hab keine Sorgen, ich will nicht, daß du Sorgen hast«, ertönt flehend die Knabenstimme, »ich ,…«

Was heißt Ich? du schweig; wer kein Geld hat, der hat auch zu schweigen. Du bist mir zum Ekel. Ich will zahlen, und ich werde zahlen. Ich bin ich. Ich bin's, selbst ohne Namen bin ich's:

»Hier!«

Der junge Mann hat es geschrieen, hat es geschrieen, damit der Gast dort, der unbewegliche Gast sich endlich umdrehen und den erwarteten, ja längsterhofften Schrei des Erkennens ausstoßen möge, Schrei dem Schrei gesellt, Schicksal dem Schicksal, und einverflochten im gemeinsamen Vereinigungspunkt.

Nichts jedoch geschah. Sogar der Kellner kam nicht; der war draußen auf der Terrasse beschäftigt, und seine weiße Schürze wurde von der auffrischenden Brise hin und her geweht. Der Mensch an der Bar bleibt ungerührt, bleibt steinern ungerührt und spricht weiter mit der Kassierin, der er das Zeitungsblatt hinübergereicht hat. Das war seine Rache für die Namenlosigkeit ,–, steinerne Verachtung.

Die Frau am Nebentisch sagt:

»Ich mache mir keine Sorgen; im Gegenteil, mein Herz ist voller Hoffnung. Aber meine Füße und Hände sind schwer, und wenn er doch käme, ich wäre wie gelähmt ,… es ist Zeit heimzugehen.«

Hoffnung? Ja, Hoffnung. Wer keinen Namen mehr hat, lebt im Ungeschehen, und es kann ihm nichts mehr geschehen; er ist allen Verflechtungen entlöst: ich habe keinen Namen, ich will keinen mehr haben; ich bin lange genug mit dem mir aufgezwungenen herumgelaufen, und jetzt sind mir die Namen allesamt zum Ekel. Allein, ist das nicht ein leer nutzloses Aufbegehren, sogar ein Aufbegehren gegen die Mutter, die den Namen gerufen hat? Und fast weinerlich faßt er zusammen:

»Es nützt nichts ,…«

»Ja, laß uns heimgehen ,…«, sagt die Knabenstimme.

Heimgehen willst du? ohne Ich? ohne Namen? Das gibt's nicht, das hat's noch nie gegeben. Der junge Mann fühlt, daß Schwäche ihn wieder überkommt, daß sein Gesicht ,– aber vielleicht auch das des Burschen daneben ,– blaß geworden ist, und an die Stirn sich greifend, fühlt er den kalten Schweiß: ich habe alle Namen, alle von A bis Z und darum keinen.

»Oh, mein süßer Kleiner ,…«, sagt nun die Frau leise, verliebt, traurig.

Der junge Mann nickte. Nun nimmt sie Abschied. Auch ich werde Abschied nehmen, namenlosen Abschied. Ich werde die Kette aller Namen an mein Ich hängen. Ich werde mit A beginnen, auf daß ich als erster geprüft werde, geprüft auf Herz und Nieren, geprüft auf Leben und Tod, auch wenn er das Urteil schon fix und fertig in seiner Rocktasche dort hat.

Und wirklich hat nun der Mensch an der Bar den Revolver hervorgezogen und zeigt jetzt dem Kellner, wie die Waffe funktionieren wird; die Sache mit der Zeitung war also Vorbereitung gewesen, eine sehr richtige Vorbereitung ,–, warum soll nicht alles einmal verkehrt ablaufen?

Der Kellner wägt die ihm gezeigte Waffe in der Hand, und dann reibt er mit seiner Serviette den Lauf spiegelrein.

Nein, was zu viel ist, ist zu viel. Den Kellner geht die Sache überhaupt nichts an; der möge hinterher das Blut vom Marmorboden wegwaschen und Sägespäne draufstreuen. Und um ihn zur Pflicht zurückzubringen, ruft der junge Mann: »Noch ein Bock!« Dabei schwenkt er den Hundertfrankenschein, zugleich ein letztes, verzweifeltes, doch schon hoffnungsloses Signal für den Schützen. Natürlich kehrt sich der nicht daran; er schraubt weiter an der Waffe herum, macht sie schußbereit, er, Richter, Prüfer, Henker in einem.

Die Katze Arouette hat ihre Milch beendet, und weise rollt sie sich zum Schlafen ein, nachdem sie noch ein bißchen an Schnurrbart, Hals und Schwänzchen herumgeschleckt hat.

Währenddessen hat das Fräulein sich darangemacht, eine Reihe von Gläsern auf den Bartisch zu stellen, eine Kette von Gläsern, und bei jedem Hinstellen klirrte es leise und klingend. Der Revolver knackt. Die Instrumente werden gestimmt, denkt der junge Mann, und wenn alle Stimmen zusammenklingen, dann ist der Augenblick des Todes da: dann werde ich hingeschmettert sein, getroffen von dem Geschoß, das er dort eben ins Magazin einlegt, werde hingeschmettert sein auf den Marmorfußboden, hingeschmettert auf das marmorne Andreaskreuz, als ob ich daran angeheftet werden soll, angeheftet an seinen Namen. Hieß ich nicht einst schon einmal Andreas? mag sein, aber ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls fängt Andreas mit einem A an, und er bat:

»Fortab sollt Ihr mich A nennen.«

Der Wind, der jetzt wieder heftiger hereinstieß, brachte Spuren von Akazienduft mit.

»Schön ist heute die Nacht unter den Bäumen, unter den klingenden Sternen«, sagte die Stimme der Frau in dunkler Sanftheit.

»Unter den klingenden Sternen des Todes«, respondierte der junge Mann und wußte nicht, ob er es gesagt hatte.

Die Knabenstimme aber sagte:

»In einer solchen Nacht könnte ich an deiner Brust sterben.«

»Ja«, sagte der junge Mann.

»Ja«, sagte die Frauenstimme ganz tief, »komm.«

Und nun bewegte sich der Mensch an der Bar. Ohne jegliche Eile und in größter Langsamkeit bewegte er sich. Erst nahm er das Zeitungsblatt aus den Händen der Kassierin zurück, um nochmals bekräftigend auf die Stelle zu schlagen, die von seinem Prozeß berichtete, und hierauf drehte er sein Gesicht langsam den Anwesenden zu, blind über sie hinwegschauend, dennoch schon das Urteil in seinem Mund:

»Die Exekution kann beginnen.«

Ungeachtet ihrer Weichheit duldete die richterliche Stimme keinen Widerspruch; sie trug bis zu dem Punkt der Verflechtung, bis zu diesem Punkt, auf den der junge Mann nach wie vor gebannt und mit aller Anstrengung hinstarrte, und da blieb sie hängen.

A. hingegen ,– denn so will er fortab genannt sein ,– sagt:

»Nun ist die Kette geschlossen, Geburt und Grab, da wie dort die Mutter.«

Den Gast an der Bar berührt es nicht. Mit großer, runder Bewegung hebt er die Waffe, zeigt sie den gebannten und gelähmten Blicken ringsum, und dann sie hinter seinem Rücken verbergend, setzt er sich in Bewegung, kommt in steinerner Entschlossenheit näher, unabänderlich unentfliehbar ,– war's nicht so erwartet? ,– dem Nebentisch zusteuernd. Und weil nun der Augenblick der Katastrophe eingetreten war, und weil die rücklaufende Zeit das Jetzt nun erreicht hat, den Jetzt-Punkt, des Todes Jetzt-Punkt, an dem sie aus der Zukunft in die Vergangenheit überspringt, oh, weil jetzt alles wieder zur Vergangenheit wird, gestattet sich A. den Traum, der ihn ja im nächsten Augenblick mitverschlingen soll, erstmalig und letztmalig aufzudecken, und seine Augen auf den Herankommenden geheftet, ihn und die von ihm eingeschlagene Richtung verfolgend, blickt er zum Nebentisch hin.

Der Nebentisch war leer, das Paar war verschwunden. Und gleichzeitig begann das Grammophon den »Père de la Victoire« zu spielen.

Der Kellner, seine Serviette schwenkend, war dem daherkommenden Gast gefolgt. A. hielt ihm den Hundertfrankenschein hin:

»Haben die Herrschaften bezahlt, die hier saßen?«

Der Kellner sah ihn verständnislos an.

»Ich wollte nämlich auch für sie bezahlen.«

»Alles ist bezahlt, mein Herr«, sagte der Kellner gleichgültig und betätigte seine Serviette, damit der schwarzschnurrbärtige, schlagflüssig dickliche Gast, der im Begriff war, sich daneben auf der Lederbank niederzulassen, reinen Tisch vorfände.

Der Gast lächelte über das ganze rötliche Gesicht: »Seien Sie doch nicht so ehrlich, mein Freund.«

Wen hat er gemeint? dachte A.: den Kellner oder mich? ich bin wirklich besoffen, zum Sterben besoffen.

Die Kassierin begann nun die Gläserreihe zu reinigen. Sie nahm ein Glas nach dem andern; es klirrte klingend, und jedes Glas spiegelte die Lichter des Lokals. Arouette, die wieder aufgewacht war, schlug manchmal mit spielender Tatze nach dem Geblinke. Und draußen war der Wind abgeflaut.

 

II. Methodisch konstruiert

Jedes Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt besitzen, muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen: so gilt es in der Musik, in ihr vor allem, und so müßte, ihr gleichend, auch ein erzählendes Kunstwerk in bewußter Konstruktion und Kontrapunktik aufgebaut werden können.

Annehmend, daß Begriffe mittlerer Allgemeinheit eine allseitige Fruchtbarkeit zeitigen, sei der Held im Mittelstand einer mittelgroßen Provinzstadt, also etwa einer der ehemaligen deutschen Kleinresidenzen ,– Zeit 1913 ,– lokalisiert, sagen wir in der Person eines Gymnasialsupplenten. Es kann ferner vorausgesetzt werden, daß derselbe, unterrichte er Mathematik und Physik, kraft einer kleinen Begabung für exakte Betätigungen an diesen Beruf geraten war, und daß er sohin mit schöner Hingabe, roten Ohren und einem netten Glücksgefühl im klopfenden Herzen seinem Studium obgelegen haben dürfte, freilich ohne die höheren Aufgaben und Prinzipien der gewählten Wissenschaft zu bedenken oder anzustreben, vielmehr überzeugt, mit der Ablegung der Lehramtsprüfung nicht nur eine bürgerliche, sondern auch eine geistige Höchstgrenze in seinem Fach erreicht zu haben. Denn ein aus Mittelmäßigkeiten konstruierter Charakter macht sich über die Fiktivität der Dinge und Erkenntnisse wenig Gedanken, ja, sie erscheinen ihm bloß schrullenhaft, er kennt bloß Operationsprobleme, Probleme der Einteilung und der Kombination, niemals solche der Existenz, und gleichgültig, ob es sich hierbei um Formen des Lebens oder um Formeln der Algebra handelt, ist er immer nur darauf erpicht, daß es »genau ausgehe«; die Mathematik besteht ihm aus »Aufgaben«, die er oder seine Schüler zu lösen haben, und ebensolche Aufgaben sind ihm die Fragen des Stundenplans oder die seiner Geldsorgen: sogar die sogenannte Lebensfreude ist ihm Aufgabe und eine teils vom Herkommen, teils von den Kollegen vorgezeichnete Gegebenheit. Völlig determiniert von den Dingen einer ebenen Außenwelt, in der kleinbürgerlicher Hausrat und Maxwellsche Theorie einträchtig und paritätisch durcheinanderstehen, arbeitet ein solcher Mensch im Laboratorium, arbeitet in der Schule, gibt Nachhilfestunden, fährt mit der Straßenbahn, trinkt abends manchmal Bier, besucht nachher das öffentliche Haus, hat Wege zum Spezialarzt, sitzt in den Ferien an Mutters Tisch; schwarzgeränderte Nägel zieren seine Hände, rötlichblonde Haare seinen Kopf, von Ekel weiß er wenig, doch Linoleum dünkt ihm ein günstiger Bodenbelag.

Kann ein solches Minimum an Persönlichkeit, kann ein solches Non-Ich zum Gegenstand menschlichen Interesses gemacht werden? Könnte man nicht ebensowohl die Geschichte irgendeines toten Dinges ,– beispielsweise einer Schaufel ,– entwickeln? Was kann nach dem großen Ereignis eines solchen Lebens, nämlich der abgelegten Lehramtsprüfung, noch Wesentliches geschehen? Welche Gedanken können im Kopfe des Helden ,– Namen tun nichts zur Sache, er heiße also Zacharias ,– noch entstehen, jetzt, da nun auch die kleine Denkbegabung zur Mathematik langsam zu erstarren beginnt? Was denkt er jetzt? Was dachte er? Reichte es je über die mathematischen Prüfungsaufgaben hinaus und bis in menschliche Bereiche? Nun wohl: zur Zeit der bestandenen Examina verdichtete sich dieses Denken immerhin zu gewissen Zukunftshoffnungen; da sah er sich zum Beispiel im eigenen Heim, sah, wenn auch ein wenig schwankend, das künftige Speisezimmer, aus dessen abendlichem Dunkel die Konturen eines schön geschnitzten Anrichteschrankes und der grünliche Schimmer des wohl gemusterten Linoleumfußbodens deutlicher sich abhoben, und es ließ sich im futurum exactum dieser Formungen ahnen, daß zu jener Wohnung eine Hausfrau erheiratet worden sein würde, was jedoch alles, wie gesagt, schemenhaft blieb. Das Vorhandensein einer Frau war ihm, im Grunde genommen, eine unvorstellbare Angelegenheit; wenn ihm auch beim Bilde der zukünftigen Hausfrau gewisse erotische Schwaden durchs Gehirn zogen und etwas in ihm meckerte, daß er deren Unterkleidung mit allen Fleckchen und Löchern so genau kennen werde wie seine eigene, wenn ihm also jenes Weib einmal als Mieder, einmal als Strumpfband angedeutet wurde ,– eine Illustrationsaufgabe für den damals sich entfaltenden Expressionismus ,–, so war es ihm andererseits undenkbar, daß ein konkretes Mädchen oder Weib, mit dem man normale Dinge in normaler Syntax besprechen könnte, irgend eine sexuelle Sphäre hätte. Frauen, die sich mit derlei beschäftigten, standen völlig abseits, keinesfalls niedriger als jene, aber in einer völlig andern Welt, in einer, die mit der, in der man lebte, sprach und aß, nichts gemein hatte: sie waren einfach anders, sie waren Lebewesen fremdester Konstitution, die für ihn eine stumme oder zumindest unbekannteste und irrationale Sprache redeten. Denn, wenn man zu diesen Frauen gelangte, so vollzog sich das Restliche mit sehr zielbewußter Fixheit, und niemals wäre es ihnen beigefallen, sich etwa über Staubtücher ,– wie seine Mutter ,– oder über diophantische Gleichungen ,– wie die Kolleginnen ,– zu unterhalten. Es erschien ihm daher unerklärlich, daß es je einen Übergang geben könne von diesen rein objektiven Themen zu den subjektiveren der Erotik; es war ihm dies ein Hiatus, dessen Entweder-Oder (ein Urquell allen Sexualmoralismus) überall auftritt, wo erotische Unsicherheit herrscht und demgemäß auch als der Anlaß zur künstlerischen Libertinage der Epoche genommen werden darf, nicht zuletzt als der zu dem spezifischen Hetärismus, in dem ein großer Teil ihrer Literatur exzellierte.

In der sonst so ungebrochenen Weltgegebenheit des Zacharias klaffte hier ein Riß, der also unter Umständen den sonstigen Automatismus seines Handelns in eine Art menschliche Entscheidungspflicht verwandeln könnte.

Vorderhand geschah natürlich nichts dergleichen. Bald nach dem Examen erhielt Zacharias eine Supplentenstelle zwecks pädagogischer Wirksamkeit zugewiesen, und er begann das nunmehr abgeschlossene, säuberlich abgeschnürte und handliche Paket seines Wissens in kleine Paketchen zu zerlegen, die er an die Schüler weitergab, auf daß er sie von diesen in Gestalt von Prüfungsergebnissen zurückverlangen könne. Wußte der Schüler nichts zu antworten, so bildete sich in Zacharias die, wenn auch nicht klare, Meinung, jener wolle ihm sein Leihgut vorenthalten, schalt ihn als verstockt und fühlte sich benachteiligt. Auf diese Weise wurde ihm jedes Klassenzimmer, in dem er unterrichtete, zum Aufbewahrungsort für ein Stück seines Ichs, gleichwie der Schrank in seiner kleinen Mietskammer, der seine Kleider beherbergte, denn auch diese Kleider hatten als Teile selbigen Ichs zu gelten. Fand er in der Tertia seine Wahrscheinlichkeitsrechnung vor, zu Hause im Waschtisch seine Schuhe, so fühlte er sich unzweideutig der Umwelt gegeben und verknüpft.

Da aber solches Leben nun schon einige Jahre währte, war es an der Zeit, daß die bereits angedeutete erotische Erschütterung eintrat. Und es wäre eine gezwungene und unnatürliche Konstruktion, wenn sich dem Zacharias ein anderes als ein ganz naheliegendes Komplement, nämlich seiner Hauswirtin Töchterlein ,– Philippine sei sie genannt ,– beigesellt hätte.

Es entsprach der Weibauffassung des Zacharias, jahrelang ohne irgend einen Wunschgedanken neben einem Mädchen einherleben zu können, und wenn dieses Negativum den Wünschen des Mädchens vielleicht auch nicht entsprochen hätte, er wäre sicherlich nicht der Mensch gewesen, bürgerlich-mädchenhaftes Seufzen zu verstehen. Sohin kann ohne weiteres angenommen werden, daß Philippinens Phantasie, wie immer sie sich auch mit dem Zacharias befaßt hätte oder nicht, nunmehr auf auswärtige Objekte gerichtet war, und man wird nicht fehlgehen, ihr romantischen Charakter zuzusprechen. Es ist zum Beispiel in kleineren Städten üblich, täglich den Bahnhof zu besuchen, um die durchfahrenden Schnellzüge anzustaunen, eine Sitte, der Philippine gerne folgte. Wie leicht ist es da möglich, daß ein junger Herr, am Fenster des abrollenden Zuges stehend, dem nicht unhübschen Ding zugerufen hätte: »Komm doch mit!« eine Begebenheit, die Philippinen fürs erste in einen blöde lächelnden Pfahl verwandelt hätte, und zwar in einen Pfahl, der nur mit schweren Füßen nach Hause gelangte, der aber auch eine neue Art von Träumen heimbrachte: nachtnächtlich muß sie fortan mit müden, ach, so müden Beinen enteilenden Zügen nachlaufen, die, auf Griffweite erreichbar, in ein Nichts versinken und nichts hinter sich lassen als ein erschreckendes Erwachen. Doch auch tagsüber, wenn man von der Näherei aufblickt und eine Zeitlang den aufreizend unvollkommenen Zickzackflug der Fliegen um die Stubenlampe verfolgt hat, da entsteht immer wieder jene Bahnhofsszene, schärfer und reicher als im Traum, reicher auch als die entschwundene Wirklichkeit, und Philippinen wird es zauberisch klar, wie sie auf den abfahrenden Zug noch hätte aufspringen können, sie sieht ihre große Lebensgefahr, sie sieht, nein, sie spürt die rührende Verletzung, die bei diesem kühnen Sprunge unvermeidlich gewesen wäre, und sie sieht sich sodann gebettet auf den weichen Polstern der I. Klasse, handgehalten von ihm und in die dunkle Nacht hinausfahrend; das sieht Philippine, und sie läßt den Schaffner, der Buße für die fehlende Fahrkarte samt reichlichem Trinkgeld erhalten hat, in Unterwürfigkeit verschwinden, so daß nur noch zu wählen ist, ob im entscheidenden Augenblick die Notbremse ihrer Ehre erreichbar sein wird oder nicht, denn beides ist atembeklemmend.

In solcher Sphäre lebend, hatte sie kaum mehr Augen für den Zacharias, nicht etwa seiner graugestrickten Socken wegen, die sie ausbesserte ,– auch den Schnellzugsgeliebten würde sie nicht anders als grausockig präzisiert haben ,–, wohl aber wegen der IV. Klasse, in der Zacharias seine Sonntagsausflüge mit Rucksack und Gamsbart besorgte; sie bemerkte kaum mehr seine Anwesenheit, und selbst der Hinweis auf seine Pensionsfähigkeit hätte nicht vermocht, ihr Blut rascher fließen zu lassen.

Wahrlich, nur raumzeitliche Zufälligkeit ermöglichte es, daß diese beiden Menschen aneinander gerieten; in grobmaterialer Dunkelheit und aus wirklichem Zufall begegneten sich ihre Hände, und das Begehren, das da jäh zwischen Männer- und Frauenhand emporflammte, es tat's zu ihrem eigensten Erstaunen. Philippine sprach die reinste Wahrheit, als sie, an seinem Hals hängend, wiederholte: »Ich wußte ja nicht, daß ich dich so liebhabe«, denn das hatte sie tatsächlich vorher nicht gewußt.

Zacharias fühlte sich durch den neuen Sachverhalt einigermaßen beunruhigt. Er hatte nun den Mund stets voller Küsse, und stets sah er die Türwinkel ihrer Umarmungen, die Bodenstiege ihrer raschen Zusammenkünfte vor sich. Schläfrige Pausen erlebte er am Katheder, er kam mit dem Lehrstoff nur ruckweise vorwärts, hörte den Prüflingen nur zerstreut zu und schrieb indessen »Philippine« oder »Ich habe dich lieb« aufs Löschblatt, dies jedoch niemals in normaler Buchstabenfolge, sondern er verteilte, damit des Herzens Geheimnis sich nicht verrate, die Buchstaben nach willkürlich erklügeltem Schlüssel über das ganze Löschblatt, wobei die nachträgliche Wiederzusammensetzung der magischen Worte ein zweites Vergnügen an ihnen ergab.

Die Philippine, der er dabei über alle Maßen gedachte, war freilich nur die ihrer flüchtigen Geschlechtsbereitschaft: hinter den Türen Geliebte, hingegen in der Öffentlichkeit normale Gesprächspartnerin, mit der man vom Essen und der Häuslichkeit redete, war ihm das Mädchen doppeltes Lebewesen geworden, und während er des einen Namen sehnend aufs Löschpapier malte, war ihm das andere gleichgültig wie ein Möbelstück. Kann ein solches Verhalten von irgendeiner Frau unbemerkt hingenommen werden? Nein: selbst wenn sie ihrerseits ähnlich veranlagt wäre, wäre es unmöglich. Auch Philippine konnte es nicht; sie mußte es bemerken. Und so geschah es, daß sie eines Tages ihre frauliche Erkenntnis in die glücklich gefundenen, glücklich gewählten Worte »Du liebst nur meinen Körper« zusammenfaßte: zwar hätte sie nicht zu sagen vermocht, was sonst Liebenswertes an ihr zu finden gewesen wäre, und wahrscheinlich hätte sie sich sogar wohl jede andere Art von Liebe verwundert verbeten, aber das war weder ihr noch ihm bekannt, und sie empfanden die aufgeworfene Tatsache als Kränkung.

Zacharias nahm sichs zu Herzen. Hatte ihr Liebesspiel bishin erst nachmittags begonnen, wenn er aus der Schule heimkehrte und die Mutter ausgegangen war, während stiller Übereinkunft gemäß der Morgenstunden relative Ungewaschenheit von dieser ästhetischeren amourösen Tätigkeit ausgeschlossen geblieben war, so bemühte er sich nunmehr, die Universalität seines Liebens durch dessen Ausdehnung auf sämtliche Tagesstunden zu beweisen. Den ihm knapp vor dem Schulgang gebrachten Kaffee rasch schlürfend, verabsäumte er nun nie, ihr einige innige und leidenschaftliche Worte zuzuraunen, und die Zusammenkünfte auf der Dachbodenstiege, früher bloß ein eilendes und ununterbrochenes Finden von Mund zu Mund, wurden nun vielfach zu einem sinnigen stummen Aneinanderpressen und Handverschränken verwendet. Waren sie aber abends allein zu Hause ,– die häufige Abwesenheit der Mutter wäre immerhin mit Hinblick auf seine Pensionsfähigkeit zu erklären ,–, so wurde diese Zeit nun oftmals nicht mehr in tollen Umarmungen vertan, sondern Philippine nötigte ihn, beim Korrigieren seiner Hefte zu bleiben, einer Arbeit, die er unter der Petroleumlampe am Speisezimmertisch ausführte; da ging sie auf Zehenspitzen, räumte beim schöngeschnitzten Anrichteschrank und kam nur selten zu ihm hin, seinen blonden, unter die Lampe gebeugten Scheitel ungeachtet etlicher Haarschuppen zu küssen oder mit manchmal auf seiner Schulter, manchmal auf seinem Schenkel ruhender Hand still und traulich neben ihm zu sitzen.

Allein: diese geistigeren Gefilde, in denen ihre Liebe jetzt streckenweise wandelte, sie vermochten nicht das Unbehagen zu bannen, das unweigerlich mit jeder unlösbaren Aufgabe verbunden ist. Es war sogar mehr als Unbehagen, denn Zacharias war nahe daran, an seiner steten Aufgabe zur Gefühlssteigerung glattweg zu verzweifeln: war jenes »Ich-hab-dich-lieb« beim ersten Kuß zwar erstaunlich, aber immerhin einfach ins Wort getreten, so fühlte er sich jetzt unfähig, es mit einem unaufhörlich anzusteigernden Pathos zu erfüllen, dessen Arsenal keineswegs einfach zu handhaben war, und wenn er auch dieses »Ich-hab-dich-lieb« und Philippinens Namen nach wie vor auf die Löschblätter malte, so geschah es jetzt doch ohne eigentliche Teilnahme, und er war auch nicht mehr fähig, die Worte aus ihrer kunstreichen Zersplitterung wieder zusammenzusetzen, sondern verfolgte statt dessen mit gereizter Aufmerksamkeit die Schüler, die weniger wußten denn je. Die unablässige Anspannung seiner Gefühle hatte in ihm den Begriff des Seienden verschoben: war dieses Sein früher in seinem kleinen mathematischen Wissen eingebettet gewesen, in dem kleinen Wissen, das er mit den Schülern tauschte, in den Kleidern, die er nach bestimmten guten Regeln anlegte, in der pflichtgemäßen Rangordnung, in der er mit Vorgesetzten und Gleichgestellten verkehrte, so hatten diese unzweifelhaft berechtigten Belange nunmehr unliebsamerweise in seinem Ich keinen Platz mehr ,–, Philippinens Aufgabe, die er eben, voll wie jede andere, voll auf sich genommen hatte, ging über die Unlösbarkeit sogar hinaus, sie war eine unendliche Aufgabe, denn mehr als ihren Körper lieben, hieß nach einem unendlich fernen Punkt streben, und mögen auch alle Kräfte der armen erdgebundenen Seele dazu aufgeboten werden, mag diese Seele für solches Ziel auch alles aufgeben, was ihr die wirkliche Welt bedeutet hatte, also ihr ganzes aufgebreitetes metaphysisches Werterlebnis, sie wird vor dem Unerreichbaren verzweifeln und wird sowohl sich selbst als auch das ganze wunderbare Phänomen ihres bewußten Seinsbestandes entwerten und negieren müssen.

Alles Unendliche ist einmalig und einzig. Und da des Zacharias Liebe sich bis ins Unendliche projizierte, wollte sie auch einzig und einmalig sein. Dem aber stand die Bedingtheit ihres Werdens gegenüber. Nicht nur, daß er zufällig an das Gymnasium dieser Residenzstadt versetzt worden war, nicht nur, daß er zufällig gerade bei Philippinens Mutter sich als Zimmerherr eingemietet hatte: es war die wahllose Zufälligkeit des so plötzlich perfektionierten Liebesbeginns, die er nunmehr als Ungeheuerlichkeit empfand, und es war die Erkenntnis, daß das Begehren, das aus ihren Händen seit damals so erstaunlich emporschoß, sich kaum von jenem unterschied, das er in den Armen jener Frauen erlebt hatte, die er heute als Huren beschimpfte. Freilich hätte er sich über diesen Mangel an Einmaligkeit, soweit er sich nur auf seine eigene Person allein bezog, schließlich hinweggesetzt, aber folgerichtigerweise mußte er ihn auch bei Philippinen hypostasieren, und da wurde der Gedanke schlechthin überschmerzlich. Denn in seiner Sucht nach Unendlichkeit kann sich der Mensch vielleicht zu eigenerlebter einmaliger Universalität emporsteigern, indes zuviel wäre es verlangt, daß er auch seinen Partner zu gleicher Größe erweitere: hier mußte die ins Unendliche strebende Kraft des Zacharias versagen, er konnte Philippinens Liebe nicht als einmalige und unendliche empfinden; unablässig sah er die Flamme des Begehrens, richtungslos und wahllos, um Philippinens Hände lohen, und obwohl ihrer Treue sicher, litt er an der bloßen Möglichkeit ihrer Untreue tiefer, als er in jedem materiellen Fall zu leiden vermocht hätte.

So wurde er nicht nur in der Schule unerträglich, sondern auch dem Mädchen gegenüber. Setzte sie sich, ihrer Gartenlaubenhabitüde folgend, traulich zu ihm, so riß er sie manchmal an sich, biß ihr die Lippen wund, um sie ein andermal wieder rüde wegzustoßen; kurz, er äußerte seine Eifersucht in der rüpelhaftesten Form. Philippine, keiner Schuld sich bewußt, ertrug die Krise mit Verständnislosigkeit und fand kein Mittel zur Abhilfe. Wenn sie einstens ihre letzte Gunst, wie sie es nannte, was in Ansehung des von allem Anfang an als selbstverständlich Gewährten eher als eine symbolische Besitzergreifung zu bezeichnen gewesen wäre, wenn sie diese letzte Gunst auch lange hintangehalten und sich eigentlich erst gegeben hatte, als er, um ihr eben zu beweisen, wie seelisch er liebe, keinerlei diesbezügliche Wünsche und Gesten mehr äußerte, so lag es auf dem Wege ihrer gradlinigen Phantasie, daß sie jetzt die Heilung in der verpönten körperlichen Liebe suchte, ihm eifrig das entgegenbringend, was sie sonst, schelmisch erhobenen Fingers, ihm so gerne verzögerte. Die Arme, sie wußte nicht, daß sie damit Öl ins Feuer goß. Denn ob auch Zacharias die sogenannte Gunst nicht verschmähte, so war es nachher um so ärger, denn um so klarsichtiger erkannte er, daß das ihm Geschenkte ebensowohl und mit gleicher Leidenschaft jedem anderen zuteil hätte werden können, jedem einzelnen all dieser jungen und eleganten Männer, die er ,– der früher nie dergleichen bemerkt hatte ,– nun plötzlich durch die frühsommerlichen Straßen sich bewegen sah.

Er begann herumzuirren. Lächelten sie nicht alle über ihn, über ihn, den Unendlichkeits-Süchtigen, den Übersich-ausholenden? Lächelten sie nicht, diese Passanten, die, in Leichtigkeit und im Meßbaren bleibend, nicht nur Philippinens, nein aller Frauen Liebe genießen durften?! Lächelten sie nicht über ihn, weil ihm die Frauen bisher unberührbar erschienen waren, während sie stets gewußt hatten, daß die allesamt nichts anderes sind als schlechte Weiber? Sogar die Schüler der oberen Klassen begann er mißtrauisch zu beobachten. Kehrte er dann zu Philippine zurück, so würgte er sie am Halse mit der Motivierung, niemand, hörst du, niemand könne und werde sie je so lieben wie er, und die Tränen des entsetzt geschmeichelten Mädchens flössen mit den seinen zusammen, beschließend, daß nur der Tod von solcher Qual erlösen könne.

Philippinens romantischer Sinn, vom Wort des Sterbens gefangen, wandelte die Vorzüge der verschiedenen Todesarten ab. Die ungestümen Formen ihrer Liebe forderten ein ungestümes Ende. Da jedoch nichts geschah, weder die Erde zu erwünschtem Beben sich öffnete, noch der Hügel vor der Stadt Lava zu speien anfing, vielmehr Zacharias trotz schmerzverzerrter Miene täglich zur Schule wandelte und sie, Philippine, bereits voller blauer Flecke an Hals und Armen war, vermochte sie ihn, ein Ende zu bereiten, daß er einen Revolver erstünde. Er fühlte, und auch wir, die wir es herbeiführen, fühlen es, daß damit die Würfel gefallen sind. Mit trockenem Mund und feuchten Händen betrat er das Waffengeschäft, stotternd das Gewünschte bezeichnend und gleich sich entschuldigend, daß er es zu seiner Verteidigung auf einsamen Wanderungen benötige. Mehrere Tage hielt er seinen Kauf verborgen, und erst als Philippine eines Morgens, den Kaffee bringend, zurückgeworfenen Kopfes ihm zuflüsterte: »Sage mir, daß du mich liebst«, da legte er ihr zum Beweis die Waffe auf den Tisch, schüchtern und gebieterisch und leidend zugleich.

Nun entwickelte sich das Weitere in großer Geschwindigkeit. Schon am nächsten Sonntag trafen sie sich, sie, wie so oft, den Besuch bei einer Freundin vorschützend, im gewohnten Nachbarorte, als handle es sich um den üblichen gemeinsamen Spaziergang. Doch ein letztes Mal einander in den Armen zu ruhen, hatten sie einen verschwiegenen Waldplatz mit schöner Fernsicht auf Berg und Tal gewählt, und dem strebten sie nun zu. Allein, der Blick, dessen Weite sie sonst als schön empfanden und bezeichneten, sagte ihnen in ihrer Beklommenheit nichts mehr. Sie durchstreiften bis in die Nachmittagsstunden ziellos den Wald, hungrig, da das Essen nicht zum Sterben paßte, vermieden das Försterhaus, obwohl oder gerade weil man dort Milch, Butter, Schwarzbrot, Honig hätte erstehen können, vermieden das herrschaftliche Alte Jagdhaus, das mit gelbem Gemäuer und grünen Fensterläden freundlich aus dem besonnten Laubwerk zu ihnen herlugte, sie wurden hungriger und hungriger und ruhten endlich, wahllos und erschöpft, zwischen den Büschen. »Es muß sein«, meinte Philippine, und Zacharias zog die Waffe hervor, lud sie behutsam, legte sie vorsichtig neben sich nieder. »Tu's rasch«, befahl sie und schloß in letztem Kuß die Arme um seinen Hals.

Über ihnen rauschten die Bäume, Licht brach in kleinen Flecken durch leichtbewegte Buchenblätter, und weniges sah man vom wolkenlosen Himmel. Der Hand erreichbar lag der Tod, man mußte ihn bloß aufnehmen, jetzt oder in zwei Minuten oder in fünf, man war völlig frei, und der Sommertag ist zur Neige, ehe ihn die Sonne verblaßte. In einer einzigen Handbewegung konnte man die Vielheit der Welt erledigen, und Zacharias empfand, daß sich eine neue und wesentliche Spannung zwischen ihm und jenem Komplex auftat: der Freiheit eines einigen und einfachen Entschlusses gegenüber wurde auch dessen Willensobjekt zur Einheit, es wurde rund, es schloß seine Spalten und schloß sich in sich; handlich in seiner Totalität, wurde es problemlos und ein Wissen der Ganzheit, wartend, daß er es aufnehme oder wegstelle. Eine Struktur absolut ausgehender Ordnung, gelöster Klarheit, höchster Realität ergab sich, und es ward sehr licht in ihm. Fernab rückte die Sichtbarkeit der Welt, und mit ihr versank das Gesicht des Mädchens unter ihm, doch verschwand weder das eine noch das andere zur Gänze, vielmehr fühlte er sich jener Weltlichkeit und dem Weibe intensiver denn je gegeben und verknüpft, erkannte sie weit über jede Lust hinaus. Sterne kreisten über dem Erleben, und durch den Fixsternhimmel hindurch sah er Welten neuer Zentralsonnen im Gesetz seines Wissens kreisen. Sein Wissen war nicht mehr im Denken des Kopfes, erst glaubte er die Erleuchtung im Herzen zu fühlen, aber das Leuchten, sein Ich entweitend, dehnte sich über die Grenzen seines Körpers, floß zu den Sternen und wieder zurück, erglühte in ihm und kühlte ihn mit sehr wundersamer Milde, es öffnete sich und wurde zu unendlichem Kusse, empfangen von den Lippen der Frau, die er als Teil seiner selbst und doch schwebend in maßloser Entfernung erfaßte und erkannte: Ziel des Eros, daß das Absolute sei, das unerreichbare, dennoch zu erreichende Ziel, wenn das Ich seine brückenlose, hoffnungslose Einsamkeit und Idealität durchbricht, wenn es, über sich und seine Erdgebundenheit hinauswachsend, sich abscheidet und, Zeit und Raum hinter sich lassend, im Ewigen die Freiheit an sich erwirbt. Im Unendlichen sich treffend, gleich der Geraden, die zu ewigem Kreise sich schließt, vereinigte sich die Erkenntnis des Zacharias: »Ich bin das All«, mit der des Weibes »Ich gehe im All auf«, zu einem letzten Lebenssinn. Denn für Philippinen, im Moose ruhend, erhob sich das Antlitz des Mannes zu immer weiteren Himmeln, und es drang dennoch immer tiefer in ihre Seele, verschmolz mit dem Rauschen des Waldes und dem Knistern des Holzes, mit dem Summen der Mücken und dem Pfiff der fernen Lokomotive zu einem rührenden und beseligenden Schmerz jener vollkommenen Geheimnisenthüllung, die im empfangenden und gebärenden Wissen des Lebens ist. Und während sie die Grenzenlosigkeit ihres wachsenden und erkennenden Fühlens entzückte, war ihre letzte Angst, solches nicht festhalten zu können: geschlossenen Auges sah sie das Haupt des Zacharias vor sich, sah es vom Rauschen und von Sternen umgeben, und ihn lächelnd von sich haltend, traf sie sein Herz, dessen Blut sich mit dem ihrer Schläfe vermählte.

Ja, so war dieses Geheimnis denkbar, so war es konstruierbar, so ist es rekonstruierbar, doch es hätte auch anders sein können. Denn es ist der anmaßende Irrtum der Naturalisten, daß sie den Menschen aus Milieu, Stimmung, Psychologie und ähnlichen Ingredienzen eindeutig determinieren zu können vermeinen, vergessend, daß niemals alle Motive zu erfassen sind. Wir haben uns hier mit der materialistischen Beschränktheit nicht auseinanderzusetzen, sondern bloß anzumerken, daß der Weg Philippinens und Zacharias' wohl zu der außerordentlichen Ekstase des Liebestodes hätte führen können, um in ihm den unendlich fernen Punkt eines außerhalb der Leiblichkeit liegenden und doch in ihr eingeschlossenen Zieles der Vereinigung zu finden, daß aber dieser Weg vom Schäbigen ins Ewige für den Durchschnittsmenschen einen Ausnahmefall, ja einen »unnatürlichen« Ausnahmefall darstellt, und daher zumeist vorzeitig oder, wie man da zu sagen pflegt, »rechtzeitig« abgebrochen wird. Gewiß, allein schon die gemeinsame Todesbereitschaft ist ein ethischer Befreiungsakt, und er kann so stark sein, daß er für manche Liebende ein ganzes Leben lang vorhält, ihnen für ein ganzes Leben lang die Stärke einer Wertwirklichkeit verleiht, zu der sie nimmer sonst fähig gewesen wären. Indes das Leben ist lang, und die Ehe macht vergeßlich. Und so ist fürs erste bloß anzunehmen, daß sich in diesem Fall die Dinge zwischen den Gebüschen eben bloß in gewohnt plumper Ungelenkheit vollzogen hatten, um sodann dem ihnen angemessenen natürlichen, freilich nicht unbedingt glücklichen Ende zuzueilen. Spät abends hätten dann Zacharias und Philippine den letzten Zug erreicht, und einem Brautpaar schon gleich ,– zur Feier des Tages in einem Wagen I. Klasse wären sie Hand in Hand in die Heimat zurückgekehrt. Würden Hand in Hand vor die ängstlich harrende und erschrockene Mutter hintreten, und pathetischen Gestus des Nachmittags beibehaltend, kniet der Pensionsfähige auf dem grünlich schimmernden Linoleumfußboden nieder, den mütterlichen Segen zu empfangen. Und im Walde draußen ist ein Baum zurückgeblieben, in dessen Rinde nun, von Zacharias mit scharfem Messer eingeritzt, schön herzumrahmt die Initialen Z und P sich verschlingen. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es sich so verhalten hat.

Jedes Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen können, aber es sei auch nicht vergessen, daß solche Einmaligkeit noch keineswegs eine strikte Eindeutigkeit in sich zu schließen braucht: kann ja sogar behauptet werden, daß selbst das musikalische Kunstwerk immer nur eine, und vielleicht nur zufällige Lösung aus der Fülle der zu Gebote stehenden Lösungsmöglichkeiten darstellt!


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