Clemens Brentano
Die Chronika des fahrenden Schülers (Urfassung)
Clemens Brentano

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Clemens Brentano

Die Chronika des fahrenden Schülers

(Urfassung)

In dem Jahr, da man zählte nach Christi, unsers lieben Herrn, Geburt 1358, im lieblichen Monat Mai, hörte ich, Johannes, die Schwalbe früh an meinem Kammerfenster singen, als ich erwachte, und ward innig durch den frommen Morgengesang des Vögeleins erbauet, bedachte auch auf meinem Lager, wie die Schwalbe in ewiger Seligkeit lebt, gegen den kalten Winter in ferne wärmere Lande zieht, und der Heimat getreu gegen den Frühling wiederkehrt; so nicht der Mensch, der wohl viel Leid und Weh im Herzen erdulden muß, ehe ihm wieder ein freundliches Glück, ein Frühling erblühet.

Da ich so in meinen einfältigen Betrachtungen versunken war und das Vögelein auf seine Art auch immer fort phantasierte, wär ich beinahe wieder eingeschlummert, als die Wächter auf dem Münster bliesen, welches ich vorher noch nie gehöret hatte, da ich in Straßburg so früh noch nicht erwacht war. Es ward mir auch da sehr wehmütig um das Herz, denn mir fiel ein, wie nun heute mein zwanzigster Geburtstag angekommen war, und wie mir es viel besser geworden als die letzten Jahre, wo ich meinen lieben Geburtstag wohl auf freiem Felde, in einem zerrissenen Mäntelein empfangen und mit einem Bissen Almosenbrot bewirten mußte. So ist es doch eine Freude, einen Geburtstag zu haben, dachte ich in mir selbsten und glaubte wohl in meiner Einfalt, die Schwalbe sei nur gekommen, mir Glück zu wünschen, wie auch der Türmer nur allein geblasen habe um mir eine Ehre zu erweisen; was doch ein eitler Wahn gewesen, da die Schwalbe bloß ihrer eignen Frühlingslust wegen gesungen und der Türmer vielleicht gerne noch eine Stunde geschlafen hätte, wenn er seinem Amte gemäß nicht um vier Uhr des Morgens blasen müßte. Da die Bäume nun so anmutig mit ihrem zarten Laube vor meinem Stüblein im Garten rauschten, sprang ich von meinem Lager und kleidete mich nicht ohne Tränen in mein neues Gewand an, welches mir mein gütiger Ritter verehret und gestern abend durch seinen Diener auf die Kammer geschickt hatte. Es war aber dies ein feines Wammes und ein zierliches Unterkleid, so ich vorher nie getragen, und ich kam mir ganz wunderbar und stolz vor, doch währete meine Eitelkeit nicht lange. Mein zerrissenes Mäntelein, welches ich als einen Vorhang an das Fenster gehängt hatte, erleuchtete sich durch den Sonnenschein, und es war mir, als seien alle seine Löcher so viel Lippen und alle seine Fetzen so viel Zungen, die mich meiner früheren Hoffart zeihen wollten. Ich nahm mein Mäntelchen herab und legte es um und gedachte, indem ich die Treppe hinab in den Garten ging: Wie ich ein armer fahrender Schüler gewesen bin, so werde ich immer ein armer fahrender Schüler bleiben, denn auf Erden sind wir alle arm und müssen mannigfach mit unserm Leben herumwandeln und immer lernen, und bleiben doch arme Schüler. Da ich nun in den Garten gekommen war, den ich vorher auch noch nicht gesehen, denn mein gnädiger Herr Ritter war den Abend spät angekommen und ich im Dunkeln nach meinem Gemach in das Sommerhäuslein geführt worden, da ergriff mich nun neuerdings eine wunderbarliche Unruhe, denn ich war herabgegangen, um meine Morgenandacht im Freien zu verrichten, fand mich aber von dem schönen Garten, dem freundlichen Sonnenschein fast ebenso sehr als meinem neuen Gewand überraschet. Ich fand mich gleich einem neugebornen Kindlein, welches noch nicht beten kann und erst durch einige Erfahrung in der Süßigkeit des Lebens seine Händlein zum Danke falten lernet. Der fröhliche Mai, das lustige Singen der Vöglein, der helle Sonnenglanz, der über die mannigfaltigen Kräuter und Blumen ausgegossen war, alles das war mir, als hätte ich es nie vorher gesehen, und wußte auch nicht, was aus aller der Freude werden sollte. So wie die lieben Kinder durch die süßen Blumen gehen und sie brechen und Kränzlein winden und sich bei den Händen fassen und mit den Kränzlein in den Locken im Zirkel tanzen, gleichsam selbst ein lebendiger Blumenkranz, wie sie aber nicht gedenken der Frucht des heißen Sommers und des Todes im trüben Herbste und der Ruhe im kalten tiefsinnigen Winter, also wandelte auch ich armer Schelm wie ein einfältiges Kind durch den Garten und konnte vor tiefer Freude an meinem neuen Glück, des ich gestern noch nicht gedacht hatte, nicht zum Gebete kommen.

Da ich nun so in meiner Unschuld fortschritt, kam ich an ein kleines Heilgen-Häuslein, welches dicht in Gebüschen verborgen war und in dem eine Lampe brannte. Da sah ich an den Wänden sehr schöne hölzerne Bilder, die mancherlei Geschichten aus dem Leiden unsers Herrn Jesus Christus treulich abbildeten. Das größte Bild in der Mitten der Kapellen stellte den lieben Herrn dar, wie er am Ölberge kniet und betet. Dabei stund auch ein Kästlein mit vielen Heiligtümern, und ich konnte mich auch nicht länger erhalten, kniete nieder und dankte mit weinenden Augen Gott, daß er mich armen fahrenden Schüler nicht vergessen und mich durch seine ewige Barmherzigkeit erhalten und dem guten Ritter übergeben hatte, gelobte auch ferner fromm und fleißig zu sein und die Künste, die ich mit seinem göttlichen Beistand mit meinen schwachen Sinnen erlernet hatte, allezeit zu Nutzen und Frommen guter Menschen und zur Mehrung seiner Verehrung anwenden zu wollen. Da ich so gebetet hatte, legte ich zum Opfer meiner Andacht ein gülden Band zu den Füßen des Bildes, welches ich einstmal von einer frommen Einsiedlerin erhalten, der ich ein andächtiges Lied verfertiget hatte; ich hatte es seither als Zeichen in meinem Gebetbuche liegen. Dann wendete ich mich und trat wieder in den Garten, der sich mir wieder gar verwandelt hatte; so mag nichts vor dem Gemüte des Menschen Stand haben, welches alle Dinge nach sich umgestaltet. Da ich nun fromm und andächtig gewesen war, erschienen mir alle die roten, leibfarben und weißen Röslein, jene Blumen, durch die der König Asverus in seinem Schloßgarten zu Susan gewandelt, seines Zornes zu vergessen, und es war mir, als sei der liebe Gott auch durch diese Blumen gegangen und sei hier freundlich gegen mich armen Jungen geworden, denn hier an diesem ersten Morgen meines zwanzigsten Jahrs ist mir viel Licht im Herzen aufgegangen, und ist mir der Frühling zuerst ein weiser Lehrer in meinem Leben geworden.

Besonders aber hat mein Herz der hohe Münsterturm erschüttert, als ich aus einem schattigen Baumgang herfürtrat und er so allmächtig vor mir in die Wolken ragte; alles Menschenwerk hat etwas Erschreckendes, und das Gemüt muß lange darauf verweilen, bis es Trost findet. Die gewaltige Künstlichkeit dieses wunderwürdigen Turmes hätte mich beinahe wieder niedergeschlagen, und ich gedachte bei mir mit Verwunderung, wie ich doch unter den hohen Eichen in finstern Wäldern und bei den stürzenden Wasserfällen in einsamen Tälern recht in der Einsamkeit ganz verlassen, auch wohl gar hungrig gesessen und mich doch nicht so bewegt gefühlt, als bei dem Anblick des Münsterturms. Wenn ich die Blätter und Zweige der Bäume betrachte, so frage ich nicht, wie sie da hinaufgekommen, und erschrecke nicht, wenn sie sich bewegen und hin und her neigen mit Rauschen, aber wenn ich so den ungeheuren Turm ansehe mit den vielen Säulen, Türmlein und Schnörkeln, die immer auseinander steigen und durchsichtig sind wie das Gerippe eines Blattes, ach, so kommt es mir vor wie der Traum eines tiefsinnigen Werkmeisters, vor dem er wohl selbst erschrecken würde, wenn er erwachte und ihn nun ausführen sollte; und wie nun so ein hohes Werk durch vieler Menschen Hände vollendet, ja an dem auch manches Leben sich totgearbeitet hat, wie dieser Turm dasteht, stolz und eisern, wie er kein Herz hat und keinen Verstand, ja wie er ein recht unvernünftiger Turm ist und doch dasteht, als wäre er aus sich selbst hervorgewachsen und es keinem Menschen zu danken brauche, das ist, was den Anblick mir so erschütternd machte, da doch in den Blumen und den Bäumen, ja selbst in den harten Felsen eine Seele zu wohnen scheint, welche gleich dem Menschen atmet und fühlt, sich im Frühling mit ihm erfreut und im Winter mit ihm trauert; und doch konnte ich meine Augen nicht von ihm wenden. Es ist etwas Wunderbares um des Menschen Herz, daß es immer zu dem Unbegreiflichen hinstrebt, als sei dort das Ende seiner Laufbahn, dort sei der Schlüssel zum Himmel, und alles Irdische sei bloß ein Rufen aus der Ferne, das zu unsern Ohren dringt, ein heiliger Bote Gottes, der vor unsre Augen tritt, und uns durch seinen Glanz und seine versprechende Miene ein Bild unsres zukünftigen Lebens geben muß. Also ist mir auch immer alle mein Drangsal als eine Sehnsucht nach einem bessern Leben erschienen; alle meine bittern Stunden waren die kalten duftigen Tage, die nach dem Winter kommen und denen der liebliche Frühling, ganz mit Blumen und grüner Lust bekleidet und mit der süßen Musik der Vöglein angetan, auf dem Fuße folgt.

In diesen Betrachtungen war ich wieder in den Laubgang getreten, als der Türmer auf dem Münster blies: »In süßen Freuden geht die Zeit«. Da wollte ich wieder nach meinem Sommerhäuslein gehen, sah aber meinen Herrn Ritter gar tiefsinnig unter einem Baum im Sonnenschein sitzen und hatte den Mut nicht vorbeizugehen, denn ich wußte nicht, ob ich ihn störte. Ich stellte mich darum an einen Baum in seiner Nähe bescheiden hin, nahm meinen Hut in die Hand und wartete, ob er vielleicht seine Augen nach mir wenden würde. Der Anblick meines gnädigen Herrn und Wohltäters aber erweckte ein große Ehrfurcht in mir. Er hatte ein schneeweißes Haar, über das wohl viel Sorgen mochten hingeflogen sein – ich hatte ihn gestern nicht recht gesehen, da es schon dunkelte, als er mich vom Wege aufraffte, und ich hatte lange keinen so frommen alten Ritter gesehen, der mit allen seinen Mienen ein solches Vertrauen erregte. Gott gebe, daß du so in Ehren grau werdest, dachte ich bei mir und fühlte mich mit ganzem Herz zu dem lieben Ritter hingezogen. Er aber schien sehr betrübt zu sein, seufzte auch oft und tief, und die kleinen Vöglein, die über ihm in den Zweigen so lustig sangen, konnten ihn nicht trösten.

Da ich so eine Weile nach meinem Herrn Ritter gesehen hatte, wendete er die Augen von ungefähr nach dem Orte, wo ich stand, und redete mich freundlich an mit den Worten: »Was machst du, Johannes, daß du so stille dastehst?« Worauf ich ihm höflich entgegnete: »Ich wollte Eure Ruhe nicht stören, Herr, Ihr scheinet mir in schweren Gedanken.« Der Ritter sprach hierauf: »Wie gefällt dir deine neue Heimat, bist du froh?«

»Herr, sollte ich nicht froh sein, da ich nun weiß, wo schlafen, da ich weiß, wo Brot finden und wem dienen? Da weiß ich nun auch, wo beten und wen lieben. Herr, meine Heimat gefällt mir wohl; Gott gebe, daß ich ihrer würdig sei und auch ihr wohlgefalle.«

»Johannes, deine Rede gefällt mir; wenn dir das Ernst ist, so sind wir Gesellen. Aber wenn du mir gefallen willst, was wirst du dann tun? Wirst du mir etwas geben wollen, da du nichts hast?«

»Herr, ich bin Euer Schuldner vor der Welt in Ewigkeit, denn ich kann Euch kein Wams für das Wams geben, das ich trage, aber vor Gott gebe ich Euch einen guten Zahlmann, denn ich gebe Euch mein Herz.«

»Und wenn ich dir nun auch mein Herz geben wollte, so hätte ich doch noch den Wams zugute. Wie dann, Johannes?«

»Herr, Ihr rechnet streng. So habe ich doch eins, Herr, das Ihr nimmer mit allen Gaben einholen werdet, dann es ist rasch und fliehet davon; auch werdet Ihr es nie mit Eurer Macht verdrängen können, denn es ist lieblich und lustig anzusehen, und Ihr werdet Euch dessen so erfreuen, daß Ihr es nicht lassen möget, wenn ich es Euch geben könnte.«

»Was ist dies für ein Kleinod, mit dem du so prahlest?«

»Herr, es ist die Jugend, die will ich Euch geben, wie ich kann, denn Ihr sollt Euer Alter vergessen bei mir, so will ich Euch erfreuen mit mancherlei Reden und Gedanken.«

Aber was ich da zuletzt geredet hatte, war töricht und war ein schlechter Anfang meiner versprochenen erfreulichen Reden, denn mein gnädiger Herr ward wiederum stille und betrübt, weil ich ihn an sein Alter erinnert hatte, so glaubte ich. Da redete ich ihn wiederum an:

»Herr, ich habe Euch mit törichten Worten erzürnet.«

»Das hast du nicht, Johannes, sondern ich bedachte, ob dein stolzer Mut wohl meine Sorgen zerstreuen könne, wie du mir versprachst, aber das mag wohl nicht sein. Hast du mich nicht gefunden hier im Grünen, in einem lustigen Garten, bei dem fröhlichen Singen der Vögel und bei Sonnenschein, nachdenklich und betrübt? Wirst du können, was der Frühling nicht kann? – So du aber Künste gelernt hast, die ich nicht besitze, so wirst du mein Schuldner nicht sein. Setze dich zu mir und sage mir treulich, wie du zur Armut gekommen bist in gutem, und wie es sich mit dir begeben, bis ich gestern an der Eiche dich gefunden habe, und dann sollst du ebenfalls von mir hören, warum ich betrübt bin.«

Da ich die große Freundlichkeit meines lieben Ritters aus dieser Rede vernommen hatte, setzte ich mich zu ihm unter den Baum und faßte einen guten Mut, ihm zu sagen, was ich weniges in meiner Armut erfahren hatte, zog auch ein kleines Buch aus der Tasche meines Mantels, in welches ich gewohnt war, das aufzuschreiben, was mir aus meinem Leben bemerkenswert dünkte, um ihm daraus vorzulesen, und sprach zu ihm:

»Lieber gnädiger Herr, es ist wohl kein ehrlicherer Weg zur Armut, als der: in Armut geboren zu sein; so bin ich auch zur Armut gekommen, als ich zur Welt kam, und ist mir früh gelehrt worden, daß all mein Gold der Glanz der Sonne sei, alle mein Silber der Spiegel der Flüsse, meine schönen Teppiche und Tapezereien die grünen Wiesen mit ihren Blumen, alle meine schönen Gebäude und Hallen der Himmel mit seinen Gewölben und der grüne Wald, ja ich bin so reich geworden, daß mir die ganze Welt offen stand und alle freundlichen Menschen meine Diener wurden, zu denen ich sprechen konnte: Gib mir dies, gib mir jenes; auch hatte ich keinen Herrn als den allmächtigsten Herrn, den lieben Gott, der mir das Leben zu einem Lehen gegeben und dem ich auch täglich aus tiefster Seele gedankt habe.«

»Du kannst schreiben, Johannes?« sprach der Herr Ritter zu mir, »darin hast du mir es schon zuvorgetan, das kann ich nicht; ich freue mich zu hören, wie du alles niedergeschrieben hast, denn wenn ich gleich nicht schreiben kann, so habe ich doch oft bei mir überlegt, wie ich dies oder jenes, was mich im Leben sonderlich freute oder schmerzte, aufschreiben möchte, daß es andern Menschen und auch Menschen jedes Standes wohlgefallen möge, und habe mir durch öftere Erinnerung in meinem Gedächtnis gleichsam ein Buch gemacht, wo ich vielerlei eingeschrieben habe, und mehrere Begebenheiten sind darunter, die sind mir ganz verschieden erschienen, so daß sie mich auf eine Art beruhigen, auf die andere aber betrüben und doch immer dieselben Geschichten sind. Nun aber soll doch alles so niedergeschrieben werden, daß es einem jeden Menschen belehrend und erfreulich sein soll, denn was öffentlich gemacht wird, soll öffentlich werden, sonst ist es ein Betrug und böses Irreführen unschuldiger Menschen; denn soll sich der Mensch nicht an die Schrift halten können, die ihm doch als etwas Künstliches und des Gedanken Würdigeres aufgestellt wird, wie kann er dann an das glauben, was ihm in gemeiner Rede ganz gleichgültig vorgestellt wird? So lies dann, Johannes, und wie du es niedergeschrieben hast, wird mich lehren, was du für ein Mensch bist; denn wie ein Mensch sein Leben fühlt, so ist er, und nicht so, wie sein Leben ist. Du bist ein armer fahrender Schüler, und ich bin ein alter Kriegsmann, aber wir sind beide auch Menschen; der Schüler und der Kriegsmann haben nichts in ihrem Wesen gemein und sind sich fremd, aber die Menschen sind von demselben Stamme, und was sie erfahren, müssen alle teilen können; und so bin ich dann begierig, mein lieber Johannes, ob du so geschrieben, daß ich es auch genießen kann.« Da las ich dem Herrn Ritter vor, wie ich in meiner Einfalt niedergeschrieben hatte:


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