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Die Fabrik

Robert schritt kräftig aus. Halb vier Uhr hatte er zu Emanuel gesagt, halb vier.

»Tag, Schatzi, paß auf, dein Schlüpfer rutscht!« Entrüstet fauchend drehte sich das kleine Mädchen um. Sie stand auf einem Stuhl und wischte mit einem Frottierlappen die Fensterscheibe des Delikateßladens sauber. Robert ging grinsend vorbei. Sie sah ihm eine Weile nach und versuchte krampfhaft, eine treffende Antwort zu finden, aber es fiel ihr nichts ein. Als Robert über die Brücke ging, drehte er sich noch einmal kurz um, und sie sah, daß er sie auslachte, und sie ärgerte sich maßlos, daß sie ihm nachgestarrt hatte. Als er aber hinter dem Brückengeländer verschwunden war, guckte sie schnell an sich herab. Nein, nichts war geschehen, natürlich war nichts geschehen, alles in Ordnung, der Junge hatte sie veralbert, dieses Bürschchen. Sie wischte weiter. Als Robert halb über die Brücke war, sah er schon die Metallfabrik Fritsche & Blumberg unten an der Straße. Sie lag auf einem räumlich umfangreichen Gelände, in der Form eines umgestülpten U, die offene Seite dem Bahndamm zugekehrt, mit einem privaten Anschlußgleis zur Fernstrecke hin. Die verschiedenen Hallen lagen parallel nebeneinander, mit Glasüberdachungen, wie bei Treibhäusern. Robert mußte die mehrere hundert Meter lange Fabrikmauer umlaufen, ehe er das Hauptportal erreichte. Unterwegs betrachtete er eifrig die kahle hohe Ziegelsteinmauer, die mit Kalk verputzt war. An einigen Stellen leuchteten noch die bunten Plakate, die sie in der vergangenen Nacht geklebt hatten, aber die meisten waren abgefetzt worden.

Über dem Hauptportal eine große, schwarzglänzende Uhr. Zwanzig vor vier. Von Emanuel weit und breit nichts zu sehen. »Tag, Rohrbach!« Robert quetschte sich an der Portiersloge vorüber. »Habt Ihr keinen jungen Mann hier gesehen, mit roten Haaren, he?« Mit gönnerhafter Miene bequemte sich der Portier, seine Behausung zu verlassen. Er hatte seine Hände auf dem Rücken gefaltet und trug würdevoll die grüne Uniform der Firma Fritsche & Blumberg.

»Hier war niemand«, sagte er. »Was soll denn der junge Mann?«

»Ach«, meinte Robert, »der wird heute mitarbeiten:« »So. Bei den Kisten?«

»Jawoll, Meinert hat mir nämlich am Mittwoch gesagt, sie brauchten noch einen, und da hab ich gleich für meinen Freund vorgewärmt.«

Er lächelte, und der Portier lächelte auch.

Ein Lastauto hupte. Der Portier Rohrbach ging in seine Loge zurück und drückte auf einen Knopf. Lautlos glitt die eiserne Schiebetür zurück. Robert schlüpfte hinter dem Auto in den Hof. Aber vorsichtshalber lümmelte er sich noch eine Weile in der Nähe der Portierloge herum. Außerdem mußte er Emanuel Bescheid geben, der Junge hatte sich schon über eine Viertelstunde verspätet.

»Weißt du was«, sagte er zu Rohrbach, »ich gehe gleich hinter, und du schickst meinen Freund nach. Er heißt Roßhaupt, ja? Wird schon nach mir fragen.«

»Du, hat das Meinert wirklich gesagt, daß du noch jemanden mitbringen sollst?«

»Also, Ehrenwort, ich werde dich doch nicht anschmieren. Wenn du mir so wenig glaubst, kannst du ja bei Meinert anfragen.«

»Guter Gedanke«, sagte der Portier. »Besser ist besser, nicht wahr? Das kannst du mir nicht übelnehmen, du weißt doch, wie die sind.«

Er ging zum Telephon.

Ach, verflucht, na, das habe ich gut gemacht, dachte Robert. Ihm pochte das Herz. Er starrte dem Portier nach, und viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, aber alle waren so dumm, daß er schließlich gar nichts unternahm. Jetzt konnte noch passieren, daß er selber rausflog. Er kratzte sich vor Aufregung auf dem Kopfe.

»Ja, verbinden Sie mich bitte mit der Personalabteilung«, sagte der Portier. »Was sagen Sie? Besetzt? Ach, das ist schade. Ja, ich werde nochmal anrufen.«

Robert flimmerte es vor den Augen.

»Pech«, sagte er. »Aber ihr Portiers seid doch mißtrauische Hunde.«

»Geh nur hinter, ich werde dir deinen Freund schon nachschicken ... Nichts für ungut, du weißt doch, wie hier der Betrieb ist.«

Robert blieb noch eine Weile stehen, ihm wäre es lieber gewesen, wenn er Emanuel gleich hätte mitnehmen können. Man wußte nie, was noch dazwischen kam. Vielleicht würde dieser Trottel wirklich noch einmal die Personalabteilung anrufen.

»Schönes Wetter heute, was? Ich war den ganzen Vormittag baden«, sagte Robert. Baden ist gut, dachte er, ein heißes Bad war das.

»Hast du eigentlich die Zettel draußen gesehen?« fragte der Portier, ohne Robert anzusehen. Er putzte sich die Fingernägel mit seinem Taschenmesser.

»Was für Zettel?« Robert zog die Augenbrauen hoch.

»Na, du hast doch die Zettel an der Mauer gesehen, heute morgen war doch alles vollgeklebt.«

»Ich habe nischt gesehen. Habe auch nicht so aufgepaßt. Interessiert mich übrigens gar nicht.«

»Wenn ich so einen Burschen erwische, der kann was erleben. Die Direktion verlangt, daß wir jeden Morgen den ganzen Dreck abkratzen. Und da kleben vielleicht so ein paar hundert Stück dran, mit einem Kleister, sage ich dir ...«

»Eingekochter Mehlkleister.«

»Was?«

»Ja, ich meine, ich weiß, wie die kleben.«

»Hör mal, du bist doch mit der Belegschaft ziemlich dicke Freund ... also, nun tue mal nicht so, denkst du etwa, ich bin blind? Mich kannst du doch nicht für dumm verschleißen ... aber, ich will dir eins sagen, wenn du mal was erfährst, etwas wirklich Genaues, und wir kriegen dann so einen Kerl, dann bringe ich dich doch verdammt in den Betrieb hinein ...«

»Äh, wirklich? Mensch, das wäre famos.« Robert überlegte eine Weile. »Aber die binden mir auch nicht alles auf die Nase, so dicke Freund bin ich hier noch nicht, das kannst du doch nicht behaupten.«

»Nee, nee, du sollst bloß so ein bißchen herumhorchen. Ich sage ja, vielleicht klappt es mal, du weißt schon, wenn wir so was rauskriegen würden ... dufte Sache ...«

Das glaube ich dir, mein Junge, dachte Robert. Und laut sagte er: »Also, abgemacht. Du weißt doch, wie ich hinter 'ner Stellung her bin. Ich gehe jetzt rüber ... Wenn der Rothaarige kommt, dann schicke ihn zu mir.«

Der Portier nickte.

Als Robert wegging und schon ein Stück in den Hof hinein war, rief ihm Rohrbach nach: »Du, aber nicht in den Betrieb hineingehen, verstanden!«

Aha, so gute Freunde sind wir also noch nicht, dachte Robert. Na, schön, werde ich mir merken.

Er lief ruhig und bedächtig quer über den Hof nach der Abladerampe zu, und als er an der Schmiede vorbeikam, zog er einen kleinen Spiegel aus der Tasche und fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare, und dann hielt er den Spiegel ein kleines Stückchen zur Seite und sah, wie Rohrbach gerade in sein Pförtnerhäuschen ging, um das Tor für ein Lastauto zu öffnen. Robert steckte den Spiegel ein und schritt schnell zur Schmiede hinüber, lief um den niedrigen Bau herum und blieb stehen, um sich zu verschnaufen.

Nur ein Teil dieses Betriebes arbeitete noch voll, aber stoßartig und ruhelos atmete der Rauch aus allen Essen, die Transmissionen surrten, das Feuer brannte unter den Kesseln, und die Leistungsziffer der Dynamos stieg. Lastautos fuhren langsam und tackend über den Hof, beladen mit Röhren und Stabeisen und gewalztem Blech. Knirschende Geräusche aus der Walzerei, Ächzen der hydraulischen Pressen, schmetternde Schläge aus der Stanzerei, die Band- und Kreissägen sangen eintönig ihr Lied ... ziiiiirrrssssi ... ziiiiirrrsssi ... Und die Züge pfiffen lustig über den Bahndamm, und der Himmel sonnte sich in heller Heiterkeit.

»Was machst du denn hier?«

Robert fuhr herum. Ein Arbeiter schlürfte in Holzpantinen vorüber.

»Ach, du bist es. Mensch, bin ich erschrocken. Hör mal, ich muß zum Verwaltungsgebäude rüber, aber Rohrbach soll es nicht sehen.«

»Geh doch neben einem Auto her.«

»Es kommt keins vorbei.«

»Warte mal.« Der Arbeiter ging um die Ecke herum, nach einer Weile kam er zurück.

»Wilhelm fährt gleich raus, ich habe ihm Bescheid gesagt.«

»Merci.« Robert drehte sich eine Zigarette und brannte sie an.

»Was haste denn vor?«

»Ich muß mit ein paar Genossen sprechen.«

»In der Verwaltung?«

»Nee, da habe ich was anderes zu tun.«

»Willi haben se jetzt in die Adjustage versetzt.«

»Weiß schon.«

»Dreh mir auch 'ne Zigarette.«

Ein schwerer, mit ausgewalzten Blechen beladener Lastkraftwagen ratterte an der Schmiede vorbei.

»He!« rief der Chauffeur durch den Lärm hindurch. »Mach schnell!«

»Komm, dreh dir den Glimmstengel selber«, sagte Robert, gab dem Arbeiter ein Stückchen Zigarettenpapier und schüttelte ihm etwas Tabak in die hohle Hand. Dann schlüpfte er rasch um das Auto herum, so daß er auf der Seite ging, die dem Portal abgewandt war.

Das Auto ratterte mit großem Lärm quer über den Fabrikhof, und Robert ging immer nebenher, und Wilhelm, der Chauffeur, sagte einiges zu ihm, aber Robert verstand wenig, weil der Lärm zu groß war.

»Habt ihr es ihnen tüchtig gegeben?«

»Was?«

»Habt ihr es ihnen tüchtig gegeben heute morgen?«

»Ja.«

»Rechtzeitig hingekommen?«

»Verstehe nischt!«

»Seid ihr noch rechtzeitig hingekommen?«

»Ja. War nett von dir!«

»Meine Frau ist dabeigewesen. Hat mir heute mittag alles erzählt.«

Robert sah zu dem Chauffeur rauf, er kannte die kleine Frau, von der Wilhelm sprach, und er verstand auch, warum Wilhelm so stolz lächelte. Ja, ja, hinter der molligen und energischen Käthe war das ganze Viertel hergewesen, und sie hätte einen Eisenbahnbeamten haben können und einen Friseur mit gutgehendem Geschäft in besserer Lage, aber da lernte sie eines Tages auf einem Ball in Reuters Festsälen Wilhelm kennen – und wie das so ist, hatte gerade der nie in seinem Leben daran gedacht, eine Chance bei Käthe zu haben – der riesige, breitschultrige Kerl gefiel ihr, er war so nett unbeholfen mit seinen Riesentatzen und schwitzte vor Angst, wenn er mit ihr tanzen sollte, und dann hatte er eine gute Stellung, und sie fand es lustig, einen Chauffeur als Schatz zu haben, wenn auch ihr Traum eher ein hochherrschaftlicher Chauffeur als ein Lastkraftwagenkutscher von Fritsche & Blumberg war. Aber was will man gegen Liebe machen? Sie heirateten also. Käthe war sehr selbstbewußt, andere nannten das sogar eingebildet, und Wilhelms Kollegen schüttelten zuerst ihre Köpfe, weil sie dachten, es ginge schief, aber nun lebten sie schon ein paar Monate glücklich in ihrem Nest, genauso zufrieden wie am ersten Tag, und alles ging in Ordnung.

»So, ich fahre jetzt raus«, schrie Wilhelm. »Paß auf!«

»Danke schön!« Robert warf dem Chauffeur eine Kußhand zu, aber Wilhelm spuckte vernehmlich zum Wagen heraus.

Der Junge lief in das Verwaltungsgebäude hinein. In der ersten Etage befand sich die Personalabteilung und im Vorzimmer arbeitete eine Parteigenossin Roberts.

Er öffnete vorsichtig die Tür, das Mädchen war allein.

»Tag, Lieschen«, sagte er. »Ich muß mit Meinert sprechen. Hat er Zeit?«

»Was hast du denn?«

»Ich muß einem Freund Arbeit verschaffen.«

»Wirst du wohl nicht viel Glück haben. Warte mal 'ne Weile.«

Sie klopfte an eine Tür und ging ins Nebenzimmer. Kurz darauf kam sie zurück und nickte mit dem Kopf nach der Tür hin. Robert setzte seine Mütze ab und trat ein.

Herr Meinert, Leiter der Personalabteilung von Fritsche & Blumberg, ein kleiner, jovialer Mann, mit dem schon ein Wort zu sprechen war, stand im neunundvierzigsten Lebensjahr. Personalchef war er noch nicht lange, er hatte sich hochgearbeitet; vor wenigen Jahren wohnte er noch klein und bescheiden in jener Mietskaserne, in der auch Robert Grätz, allerdings zwei Etagen höher – Mansarde und Höhenluft – hauste, und von daher datierte ihre Bekanntschaft. Robert hatte ihn dann später – als Meinert schon avanciert war – auf der Straße getroffen, nicht ganz zufällig übrigens, und gefragt, ob eine Stelle frei wäre. Freie Stellen gab es bei Fritsche & Blumberg schon lange nicht mehr, aber aushilfsweise konnte Robert jeden Nachmittag ein paar Stunden arbeiten. Und dazu kam noch etwas anderes. Robert hatte dem Personalchef im Laufe ihrer damaligen Unterhaltung, die von Meinert zuerst sehr kühl und abweisend geführt wurde, zu verstehen gegeben, daß er immerhin einige Ahnung hatte, wie die Umwandlung des Herrn Büroangestellten Meinert in einen Personalchef Meinert vor sich gegangen sei. Oh, es war keine Erpressung, wahrhaftig nicht, auch keine Drohung. Nein, wozu auch? Robert konnte ganz ruhig und beiläufig auf den Streik der Belegschaft von Fritsche & Blumberg vor drei Jahren hinweisen, in dem der Büroangestellte Meinert im Streikkomitee eine etwas sonderbare Rolle gespielt hatte. Nun natürlich, niemand wußte, warum damals die Firma so gut über alle Maßnahmen der Streikleitung unterrichtet war, Robert zuckte die Achseln, wen ging das etwas an, Herr Meinert brauchte gar nicht rot zu werden, jeder ist seines Glückes Schmied, und was meinte der Herr Personalchef über eine kleine Stelle, die sich vielleicht doch freimachen ließe ...?

Lieschen war ein verläßliches Mädchen, sie hörte allerhand, und Robert handelte durchaus nicht auf eigene Faust. Herr Meinert konnte vor der Belegschaft kompromittiert werden, sicher – aber wem nützte das? Abwarten, der Personalchef war gewissermaßen ein Eisen im Feuer.

»Tag, Herr Grätz«, sagte der fröhliche Mann, der schon tüchtig Fett anzusetzen begann. »Na, was führt Sie denn hierher?« »Ich habe eine Bitte, Herr Meinert.« Robert drehte verlegen seine Mütze hin und her.

»Sie wollen hoffentlich keine besser bezahlte Stellung haben.«

»Nein, aber ich habe einen Freund, und der braucht dringend Geld, und da dachte ich, wenn der vielleicht ein paar Stunden aushilfsweise tätig sein könnte ...«

»Aber sehen Sie, Herr Grätz, das war eine Gefälligkeit von mir, daß ich Sie hereingenommen habe, aber ich kann doch nun nicht noch andere versorgen! Mir sind doch selbst die Hände gebunden. Sie wissen doch, daß bei uns schon kurzgearbeitet wird ...«

Eine verlegene Pause entstand, und Robert spielte noch immer mit seiner Mütze. Dann sagte er langsam: »Der Mann könnte Ihnen aber sehr nützlich sein ...«

»Wieso?«

»Er kennt die Leute, die im Betrieb Zettel kleben.«

»Äh ... Bluff!«

»Wie Sie denken. Ich weiß ja auch nischt. Mir hat er bloß gesagt, wenn er sie wiedersieht, weiß er Bescheid.«

»Na, bringen Sie ihn doch mal her, dann soll er uns seine Weisheit mitteilen.«

»Namen kennt er keine.«

»Aha! Habs doch gleich gewußt.«

»Aber er kennt doch die Leute.«

Meinert sah ihn einen Augenblick an, dann klopfte er mit dem Bleistift auf den Schreibtisch und überlegte.

»Mich gehts ja nischt an. Ich habe es nur aus Gefälligkeit für den Jungen getan.«

»Einen Versuch kann man ja mal machen«, meinte der Personalchef gleichgültig. »Nehmen Sie ihn mit zu den Kisten hinter, und dann soll er morgen mal zu mir kommen, ja?«

Sie schüttelten sich die Hände, und Robert ging vergnügt hinaus.

»Na, geglückt?« fragte das Mädchen.

Robert nickte.

Das Mädchen stand auf und kam nahe an ihn heran. »Ich wollte dir noch etwas sagen, Emil weiß es schon, seid vorsichtiger beim Kleben, die wollen euch diesmal kriegen.«

Robert grinste. »Kriegen? Dazu gehören zwei. Tschüs, Lieschen!« Er hob grüßend die Faust.

Das Mädchen setzte sich wieder an ihre Schreibmaschine und arbeitete weiter. Als Robert unten war, blickte er über den ganzen Hof bis zum Lagerplatz, aber Emanuel war nirgends zu sehen. Sollte der Junge nicht kommen?

Zwei Arbeiter in blauen Arbeitskitteln kamen aus der Fräserei und gingen in das Hauptwerk. Robert lief schnell hinterher. Aus der einförmig groben Melodie der Maschinen hoben sich einige Stimmen ab: der helle, zirpende Schleiflaut einer Fräsmaschine und die Warnungssignale der Krane. Keiner verstand das Wort des Nebenmannes. Sie brauchten auch nicht zu sprechen. Sie standen isoliert an ihren Maschinen und Arbeitsplätzen, an den Laufbändern und Schaltern, an den Werkzeugmaschinen, an Drehbänken und elektrischen Spulbohrern. Schweigen förderte die Arbeitsdisziplin.

Robert schlüpfte vorsichtig vorbei. Die Arbeiter sahen nicht auf. Oben war durch das Glasdach der hohlen Halle der helle Himmel zu sehen. Beweglich wie eine Spinne lief der Riesenkran auf Deckenschienen hin und her und stieß schrille Pfiffe aus, um die Arbeiter zu warnen.

Robert kannte diese Halle. Er kannte auch viele Arbeiter, meistens allerdings nur mit Vornamen. Seine Schuhe schlurften durch helle, glänzende Metallspäne, die überall auf dem Boden lagen. Der Mann, der den Luftdruckhammer bediente, sah auf, als Robert vorüberging und nickte mit dem Kopf. Das war ein Freund. Aber vor den Werkleitern und Meistern mußte sich Robert hüten, und er trat leise und vorsichtig auf, als könne er dadurch die Aufmerksamkeit von sich ablenken, und es kam ihm der große Lärm der Maschinen nicht zum Bewußtsein, der alles andere übertönte.

Im hinteren Saale standen schwere hydraulische Pressen, und hier ebbte der Lärm ab. Zwei Arbeiter bedienten die größte Maschine.

»Tag, Emil«, sagte Robert.

Buschige Augenbrauen, stachliger Schnauzbart, ungesunde, fahle Hautfarbe, ein knochiges Gesicht und dazu zwei äußerst mißtrauische graue Augen, das war Emil Buschenhagen, Betriebsrat bei Fritsche & Blumberg.

»Mensch, warum kommst du schon wieder hierher? Du fliegst nochmal in großem Bogen raus, und dann kannst du dich einpökeln lassen ...«

»Mich hat niemand gesehen«, antwortete Robert, »und zum Einpökeln bin ich viel zu schade. Nich?«

Er grinste.

»Quaßle keine Opern. Was willst du?«

Während sie miteinander sprachen, arbeitete Buschenhagen ruhig an seiner Schmiedepresse weiter. Die Maschine stanzte Nieten und Muttern in Massen, sie wurde durch einen Kurbelbetrieb in Gang gehalten; die Arbeit war schwierig und erforderte Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit, dauernd ging der zweite Arbeiter mit einer Schmierkanne an das Getriebe, ölte, putzte, kontrollierte. Ihre Gesichter glänzten, die Hände waren mit Öl und Putze verschmiert, neun Stunden und eine halbe täglich, siebenundfünfzig in der Woche, und wieviel im Jahr und wieviel in dreißig Jahren, die vier an der Front nicht mitgezählt. Schlimm? Schlimm sollte es erst werden, in der nächsten Woche, da begannen Kurzarbeit, Feierschichten, Abbau ... keine Aufträge ... Einschränkung.

»Wir wollen morgen abend 'ne Zellensitzung machen.«

»Wo denn?«

»Bei Fischers.«

»Lokal schon festgemacht?«

»Jawoll. Wir schreiben heute abend die Einladungen, ich bringe sie dir noch rüber, ja?«

»Und wer soll denn sprechen?«

»Du natürlich. Wir müssen die Aktion weitertreiben, wir rutschen schon wieder hinterher. Ich dachte mir so, daß ihr zuerst einen Antrag im Betriebsrat einbringt und dann gleich 'ne Betriebsversammlung, damit Dampf hinter die Sache kommt. Was sagen denn die Kollegen?«

»Was sollen die sagen? Die freuen sich natürlich wie Schneekönige über die Kurzarbeit!«

»Übrigens noch eins, von wegen Klebezettel ... ich habe nämlich keine Hektographentinte mehr ...«

»Na, und ...? Du weißt doch, daß wir kein Geld in der Zellenkasse haben.«

»Da müßt ihr eben eine Liste im Betrieb rumgehen lassen.«

»'ne Liste! Immer noch 'ne Liste! Du weißt wohl nicht, wieviel Sammellisten im Betrieb am Laufen sind, wir können bald die Wände damit tapezieren, jede Woche 'ne neue Liste, und nun, wo abgebaut wird, da wollen sie alle sparen ...«

»Quatsch, unsere Arbeit geht vor. Und wenn zehn Listen herumgehen, dann hat immer noch niemand zu meckern ...«

Auf einmal kam der zweite Arbeiter mit seiner Ölkanne um die Maschine herumgerannt und schob Robert weg.

»Rohrbach«, sagte er, »Rohrbach kommt!«

Die beiden Arbeiter gingen nach vorn an die Stanze, so daß man erst an ihnen vorbei mußte, um an die Rückfront der Halle zu kommen.

»Himmelarsch! Dieser liebliche Junge hat mir noch zu meinem Glück gefehlt ...«

»Los ... Hau ab!«

Robert, der klein und gewandt war und außerdem den Betrieb genauer kannte als der Portier und genauer selbst als die Ingenieure, schlüpfte rasch hinter die Schmiedepresse, lief geduckt und schnell wie ein Wiesel an den aufgestapelten Blechen vorbei und stieß sich dabei heftig gegen das rechte Bein. Er fluchte leise. Rechts standen wieder große, heiße, öltropfende Maschinen, die dicke Bleche bogen und wölbten, ein roter Blitz auf grauem Blechschild warnte vor der Starkstromleitung, Robert hinkte so gut er konnte weiter, vorbei an den Werkbänken und hinaus ins Freie.

Natürlich, an der Schmiede lümmelte sich Emanuel herum.

»Warum kommst du denn so spät? Wir hatten doch halb vier ausgemacht!«

Emanuel sah ihn dumm an und machte ein ziemlich gleichgültiges Gesicht, und das ärgerte den Jungen, der sich so darauf gefreut hatte, seinem Kameraden die Arbeit zu verschaffen, was wahrlich nicht ganz einfach gewesen war.

»Mach nich so ne blöde Fresse«, sagte er, »du scheinst nicht mehr viel Wert darauf zu legen, Geld zu verdienen ... komm jetzt, wir müssen hier verschwinden ...«

Sie gingen um die Schmiede herum und nach den Geleisen zu.

Vor ihnen lag der mit gelblichem Sand aufgeschüttete Bahndamm und der Kanal dahinter, den sie nicht sehen konnten. Am Rande des Bahndamms stand eine Baubude, die aus Kentuckys oder Arizonas großen, heroischen Zeiten zu stammen schien. Mattes Licht fiel auf die rohen, schief zusammengehauenen Bretter, und nur der wettergebräunte Mann mit der Donnerbüchse fehlte, der melancholisch, aber immerhin mit Falkenaugen in den düsteren Wald zu starren hatte. Dafür erschien gerade ein Trupp Streckenarbeiter mit Spaten, Hacken und Schaufeln auf den Schultern, und das konnten schließlich die todesmutigen Schienenbauer der Pacific Railway sein. Aber die aufgestapelten Fahrräder an der Baubude zerstörten alle Wildwest-Illusionen. Die Grenzreiter fuhren auf ihren Stahlrössern zu Muttern nach Hause und schlugen mit der Faust auf den Tisch, weil das Essen angebrannt schmeckte.

Das war der Bahndamm.

Eine häßliche steinerne Brücke und zwei gespenstische Krangestelle ragten darüber hinaus, und die Stadt wuchs dahinter, zuunterst mit Holzstapelplätzen, Kohlenbergen, Lagerschuppen, mit Fabriken und Werkstätten darüber, die dicken Rauch ausspuckten in den bleicher werdenden Himmel, denn die Höhe des Tages war längst überschritten und bald kamen die Sirenen mit ihrem Schlußpfiff, und die Arbeiter in den Fabriken und die Angestellten in den Kontoren und die Hafenarbeiter am Kanal, die Kutscher, Chauffeure und die Hausfrauen in den Mietskasernen warteten auf diese Fabriksirenen und auf das violette Abenddämmern, auf die Kühle und auf die Ruhe und auf das Abendbrot ...

»Bist du mit Rohrbach hereingekommen?«

»Wer ist Rohrbach?«

»Der Portier.«

»Nee, der. hat mich hierher geschickt.«

»Na, und?«

»Ja, und da habe ich auf dich eben gewartet.«

»Hat er nicht nochmal mit dir gesprochen?«

»Nee.«

»Also, paß auf, paß gut auf, du«, er rempelte Emanuel an, der schwankend und unsicher neben ihm herging, »wenn der Portier zu uns herkommt, wird er dich sicher fragen, wo du mich getroffen hast. Dann sagst du, du hättest mich hier am Stapelplatz getroffen, verstanden? Hier am Stapelplatz.«

»Gut.«

»Das ist nämlich wichtig. Ich war bei einem Genossen im Betrieb, und das Betreten der Werkräume ist verboten, wenn man nicht gerade da arbeitet, und ich muß mich schwer hüten, daß die mich nicht auf den Kicker nehmen. Rohrbach hat natürlich genau gesehen, daß du mich nicht gefunden hast, und da ist er rin in den Betrieb. Na, so dumm wie der bin ich noch allemal.«

Sie waren auf dem Verlade- und Stapelplatz angelangt, der ziemlich nahe am Bahndamm und neben dem Anschlußgleis der Metallfabrik lag. In hohen Stößen warteten ausgewalzte Bleche und in Holzwolle verpackte Maschinenteile auf den Abtransport. Das Lager war genau nach Gattung und Größe in verschiedene Abteilungen getrennt. Kurbeln, Zahnräder, Rohre, jedes Werkstück hatte seinen besonderen Fleck. Der Sammelplatz machte dem preußischen Exerzierreglement alle Ehre. Gefüllte Holzkisten häuften sich neben den Geleisen, auf denen ein Dutzend leerer Güterwagen standen. Die Kisten waren oben offen, mit einer Schicht Sägespäne bedeckt, und daneben lag ein Stoß Holzdeckel.

»So, das ist unsere Arbeit«, sagte Robert, »Deckel aufnageln und in den Loris verstauen. Den Spaß wollen wir in drei Stunden bewältigen. Auf die Art haben sie sich gesichert, daß wir nicht faulenzen. Macht dir's Spaß?«

Sie sahen sich an.

»Weißt du«, sagte Emanuel gleichgültig, »eigentlich wollte ich nicht herkommen. Aber dann dachte ich, daß du vielleicht auf mich wartest, und da bin ich eben doch gekommen.«

»Goldig von dir.«

Sie begannen langsam zu arbeiten.

Auf einmal knurrte Robert: »Na, ich muß schon sagen, du bist 'n ziemlicher Gemütsmensch. Heute morgen konntste dich überhaupt nicht halten, um irgendwoher Geld zu bekommen. Wir kriegen sechzig Pfennig die Stunde, das ist jeden Tag 'ne Mark achtzig, nicht viel, aber immerhin ...«

»Heute morgen war's auch anders, heute morgen brauchte ich Geld.«

»Inzwischen haste wohl geerbt, was?«

»Nee. Mir ist aber was anderes dazwischengekommen.«

Robert drehte sich um und gab seinem Freund einen derben Stoß in den Rücken.

»Schnauze halten. Rohrbach kommt. Also, du weißt, was du zu sagen hast. Mensch, nehme den großen Hammer!«

Sie klopften in raschem Tempo die Deckel auf die Kisten, acht Nägel in jeden Deckel. Robert kam viel schneller vorwärts, er war eingearbeitet, mit ein paar raschen, sicheren Schlägen war die Kiste fest verschlossen. Emanuel aber mußte erst dahinter kommen, die Nägel gingen schief in das Holz hinein, er ratzte sich Splitter in die Hand, und manchmal paßten die Deckel auch nicht. Die Kisten waren alle sehr schwer.

Der Portier blieb etwa zehn Schritte vom Stapelplatz entfernt stehen und sah eine Weile zu, ohne etwas zu sagen. Dann ging er fort.

Die beiden Jungens arbeiteten schweigend weiter, klopften Nägel ein, zerrten schiefgeschlagene wieder heraus und rückten die Kisten zur Seite. Sie hatten ihre Jacken ausgezogen und an die Tür des Eisenbahnwagens gehängt, die Luft war immer noch sehr warm, und die heftige Arbeit trieb ihnen bald den Schweiß ins Gesicht.

Helle Wölkchen kamen auf, schwammen durch die rauchige Luft der Stadt und brachten einen leisen Hauch von Wind, die Rauchfahnen an den Essen bewegten sich und lösten die starre Drecklinie, und Robert verspürte ein Prickeln im Gesicht und sah auf, zu Emanuel hin, eine lange Weile. Dann sagte er: »Drückt dich was?«

Emanuel wurde rot. »Was soll mich denn drücken?« sagte er.

»Dir ist was in die Krone gefahren. Hängt das mit der Schlägerei heute vormittag zusammen?«

»Nee.«

»Na, du mußt es schließlich selber wissen. Wenn du es mir nicht sagen willst, auch gut ...«

Robert nagelte weiter.

Nach einer kleinen Pause sagte Emanuel, ohne seinen Freund anzusehen: »Es ist 'ne Geschichte mit einem Mädel.«

Robert hämmerte, daß die Nägel in das Holz krachten.

»Ach«, sagte er gleichgültig. »Hat sie dich sitzen lassen?« »Nee ... es ist was anderes ...«

Die Sirene der Metallfabrik heulte auf, zwitschernd stieg der Pfiff nach oben, glitt wieder ab, begann noch einmal, hell ... leise, hell ... leise, dann verstummte sie nach einem schrillen Aufschrei. Fünf Uhr. Die Belegschaft von Fritsche & Blumberg machte Schluß.

Emanuel kam in den richtigen Takt, die Nägel flutschten sauber und gerade ins Holz, achtmal bei jeder Kiste, ihm machte die Sache langsam Spaß, arbeiten, ja, darüber hinwegkommen, ja, nicht nachdenken, jawoll, Robert ist doch ein feiner Junge, ein guter Genosse. Ja, ein treuer Kerl. Brrr, den Mist vergessen. Das zerrt bloß runter. Rinn mit dem Nagel. Arbeiten, Mensch, mit der Faust losschlagen. Jawoll, mit der Faust ... Verdammt, geh weg, dachte er, denn er sah ihr Gesicht wieder, und seine Faust paßte nicht dazu. Er konnte doch nicht hingehen ins Stadthotel und sie herauszerren, oder dem Burschen, der sie gewinnen würde, die Visage polieren ... Es gab doch schließlich noch andere Dinge zu tun, Wichtigeres. Hm, was war denn heute morgen los? Heute vormittag, he? Ich soll einen Polizeibeamten erledigt haben, das hat sie gedacht. Da muß ihr doch einer was gesteckt haben. Zu blöd. Aber das habe ich ihr gegeben, verflucht nochmal, das war gut. Da stand sie da und konnte nichts mehr sagen.

Und die Nägel schmetterten in das Holz, die Kisten schlossen sich, der Berg wurde kleiner und kleiner. Aus den Werkstätten der Metallfabrik kamen die Arbeiter, sie zogen ihre Jacken über und nahmen den Henkelmann in die Hand, sie hängten ihre Marken ab und verließen den Betrieb, und die weißen Wölkchen rückten dichter zusammen, und weit über der Stadt, draußen am Rande des flachen Landes, schob sich eine dichte, unheilschwangere Wolkenwand in den klaren Himmel, und der Wind brachte Brandgeruch mit, Duft frischen Holzes und das Läuten der Glocken und den Lärm der Züge, die über den Eisenbahndamm rollten, aus der Stadt, in die Stadt, immerzu, immerzu ...

»Ich will dich mal was fragen«, fing Emanuel wieder an, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, »was würdest du machen, wenn du ... wenn du zum Beispiel eine Schwester hättest und die wollte zur Revue gehen ...«

»Wohin?«

»Zur Revue.«

»Ach so, Tanznutte.«

Emanuel zuckte zusammen, verlegen sah er seinen Freund an.

»Na, weiter ...«, sagte Robert.

»Ja ... was würdest du tun mit dem Mädchen?«

»Ich würde ihr den Hintern versohlen.«

Emanuel schwieg.

»Was hat das denn mit deiner Geschichte zu tun?« fragte Robert.

»Hast du das Plakat gelesen von dem verschenkten Girl?«

»Das verschenkte Girl? Das Plakat habe ich dir doch heute morgen erst gezeigt. Na, und?«

»Nun, nehme mal an, du kennst das Mädchen und es wäre ein nettes Mädchen, und du hast sie gern, und sie tut das nur, um Geld zu verdienen, was würdest du dann machen?«

»Eh ...« Robert feuerte seinen Hammer hin »... und dieses Mädchen kennst du ...?«

Emanuel nickte.

Robert stand mit offenem Munde da.

»Und du ... und du ... und sie ist ... ihr seid ... habt ihr was zusammen ...?«

Emanuel klopfte einen Nagel ein und nickte, ohne aufzusehen, und nahm einen neuen Nagel und wuchtete ihn in das Holz, daß es splitterte.

»Eh ...« Robert wischte sich über die Stirn, »... das muß ich erst noch mal hören ... also du und die ...«

Immer mehr Arbeiter gingen über den Fabrikhof und nach Hause, und die Lastautos ratterten zurück, eins nach dem anderen.

»Nun muß ich aber mal ganz dumm fragen, willst du das Mädchen heiraten?«

Emanuel schwieg, und dann nickte er wieder, aber seinen Freund sah er dabei nicht an.

»Na, so was habe ich doch verdammt noch nicht gehört ...«

Robert betrachtete diesen rothaarigen kleinen Chauffeur, der sonst immer ein so indifferentes Gesicht machte, auf einmal mit ganz anderen Augen. »Was hast du denn zu ihr gesagt, als sie dir erzählt hat, daß sie diese Geschichte machen soll?«

»Ich habe gesagt, sie soll es nicht tun ...«

»Und?«

»Sie muß aber.«

»Warum? Fliegt sie sonst?«

»Ja.«

»Na, dann soll sie doch fliegen!«

»Das will sie nicht.«

»Das will sie nicht?«

»Nein.«

»So ein verrücktes Radieschen!«

»Wie?«

»Ich meine ... was machen wir da? ... Gehen wir heute abend hin?«

»Wohin?«

»Nu da, wo sie ist.«

»Das geht doch nicht.«

»Warum nicht? Ich habe Zeit.«

»Da können wir doch nicht rein.«

»Warum?«

»Nu, Eintritt und so.«

»Nicht mal Freikarten haste?«

Emanuel erschrak, da hätte er beinahe eine schöne Dummheit gemacht.

»Ach, wenn es weiter nichts wäre«, sagte er, »aber du mußt doch auch was essen und trinken, und du brauchst einen Frack.«

»Wir gehen hin«, sagte Robert auf einmal bestimmt. Er kam nahe an Emanuel heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter und fügte geheimnisvoll hinzu: »Verlaß dich auf mich. Die Sache schaukeln wir.«

»Aber wie denn?«

Robert hob abwehrend die Hände.

»Abwarten«, sagte er, »wir machen die Sache schon.«

Sie arbeiteten weiter, und Emanuel wußte nicht, wie er aus dieser Zwickmühle herauskommen sollte, denn Susie wollte von ihm nichts wissen, und die Sache war für ihn erledigt, aber nun ging alles von vorn los, und er mußte Theater spielen, und es hatte doch alles keinen Zweck ...

»Ist sie hübsch?«

»Ja. Sehr hübsch.«

»Wie bist du eigentlich da rangekommen?«

Emanuel konnte die Frage nicht beantworten.

Auf einmal richtete sich Robert auf und blickte über den Hof hinweg.

»Holla«, sagte er, »da hat es Karambolage gegeben.«

Ein schwerer Lastkraftwagen schleppte einen zweiten Wagen hinter sich her, dessen Motorhaube eingedrückt zu sein schien. Ein paar Arbeiter gingen nebenher.

»Nanu, das sieht doch bald so aus wie Wilhelms Karre ...«

»Die Wagen sehen doch alle gleich aus.«

Aus dem Verwaltungsgebäude kamen zwei Herren eiligst gelaufen und dirigierten den Transport zur Schmiede hinüber. Einer der Arbeiter sprach heftig auf die Werkbeamten ein.

»Komm, gehen wir mal rüber.«

Die beiden Jungens gingen rasch über den Hof.

»Da will ich doch einen Affen fressen, wenn das nicht Wilhelms Karre ist«, sagte Robert. Sie liefen schneller.

Die Leute standen im Kreis um einen Arbeiter herum, der die Geschichte erklärte.

»Tscha, das Kind lief direkt in die Fahrbahn rein, und da riß er die Karre rum und geriet natürlich gleich auf den Fußweg, und dann wird er wohl die Gewalt über den Wagen verloren haben ...«

Robert drängte sich durch. »Wer ist es denn?« fragte er. Er wußte es aber schon.

Die Arbeiter sahen ihn an.

»Wilhelm ist es«, antwortete der Beifahrer.

»Na, und was ist mit ihm?«

Der Arbeiter zuckte die Achseln.

»Krankenhaus. Schädelbruch wahrscheinlich.«

»Verflucht«, sagte Robert, und schnippste mit dem Finger durch die Luft.

Die Arbeiter betrachteten sich den Wagen, der nicht viel abbekommen hatte. Der Kühler war eingedrückt and das Verdeck des Führersitzes in der Mitte durchgebrochen. Von der Windschutzscheibe hingen nur noch ein paar Splitter drin.

»Wilhelm«, sagte Robert ganz verloren und sah dabei Emanuel ins Gesicht, der weiß wie eine Wand war, obwohl er den Verunglückten nie in seinem Leben gesehen hatte.

Der Beifahrer kam auf Robert zu und sagte im Vorbeigehen:

»Das ist nun mal so. Die besten Kerle erwischt es immer zuerst.«

»Keine Hoffnung mehr?«

Der Mann zuckte mit den Achseln.

»Wenn ich mich nicht zufällig hinten drauf gesetzt hätte, weil wir nämlich gleich wieder abladen wollten, ehe das Unglück passierte, dann hätte es mich genauso gehascht. Na, als wir auf den Bürgersteig rauffuhren, dachte ich, jetzt haut die Karre um und dann ade ... da wären mir so ein paar schöne Fünfzig-Kilo-Rohre auf den Kopf geplauzt ...«

»Und Wilhelm?«

»Er saß ganz ruhig vorn drin. Erst sah ich gar nichts, aber als dann das Blut aus den Haaren rauslief, da wußte ich Bescheid. Wir haben ihn rausgehoben und antelephoniert und sie kamen auch gleich.«

»Wie ist es mit seiner Frau?«

»Wird noch nischt wissen.«

Einer der Beamten hörte das. »Da müssen wir aber sofort einen Mann hinschicken.«

Die Arbeiter schwiegen und sahen verlegen vor sich hin.

»Robert, der kennt sie, der wäre richtig dafür.«

Robert schüttelte sich.

»Machen Sie es?« sagte der Beamte.

»Habt ihr keinen anderen?«

»Sie kennen die Frau, das ist immer besser.«

Robert drehte sich zu Emanuel um.

»Komm«, sagte er. Sie gingen an den Arbeitern vorbei, die ihnen Platz machten, und quer über den Hof. Im Maschinenhaus war alles still, unnatürlich still. Sie vergaßen sogar, eine Zigarette zu rauchen, was bei den Jungens immer noch ein gutes Gegenmittel war, wenn etwas zu tief ging. Als sie ein Stück weg waren, sagte Robert:

»Was machen wir nun mit dir?«

»Mit mir? Ach laß das. Mach dir keine Sorgen ... is ja so scheißegal.«

Was für ein trauriger Tag, dachte Emanuel. Er sah hinüber auf die Konturen der Stadt. Er sah das Gerüst von Neubauten und die häßliche, fensterlose Seitenfront eines Mietshauses. Kaufe billig, kaufe gut, alles nur bei Wohlgemuth, stand auf der glatten, grauen Wand, große Buchstaben, verwischt, rußbetupft, die Rauchfahne eines Zuges legte sich davor, zerriß an einer Stelle; das Wort gut war einen Augenblick zu lesen, dann hellte sich alles wieder auf.

Robert blieb stehen und überlegte etwas.

»Mensch«, sagte er müde, »die brauchen doch einen Ersatz für Wilhelm.«

Emanuel schüttelte den Kopf.

»Ich?«

»Natürlich. Komm mit.«

Sie gingen zu Meinert, der noch in seinem Büro arbeitete, obwohl sechs Uhr längst vorüber war.

»Wissen Sie schon die Geschichte mit Wilhelm?« fragte Robert.

»Ja. Ich habe eben davon gehört.«

»Dann brauchen Sie doch einen neuen Mann.«

Meinert sah von einem zum anderen.

»Das geht bei euch aber schnell.«

Der Personalchef machte nicht gerade ein übermäßig freundliches Gesicht.

»Soll doch bloß aushilfsweise sein. Solange Wilhelm im Krankenhaus ist.«

Aber Meinert schien genau zu wissen, wie es mit dem verunglückten Chauffeur stand.

»Haben Sie denn einen Führerschein für Lastkraftwagen?« sagte er zu Emanuel. »Und Ihre Zeugnisse müssen wir natürlich auch sehen.«

Emanuel drehte sich zu seinem Kameraden um. »Du«, sagte er, »ich laufe gleich zu Fritz Brösicke, der hat meinen Führerschein.« Und erklärend fügte er zu Meinert gewandt hinzu: »Der fährt nämlich Taxi und soll aufpassen, ob er mir eine Stelle verschaffen kann, deswegen hat er meine Führerscheine immer bei sich. Aber ich bringe Ihnen alles vorbei, auch die Zeugnisse. Gefahren bin ich ja noch nicht viel, aber Sie können sich auf mich verlassen.«

»Heute abend nicht mehr«, sagte Meinert unfreundlich, »morgen früh meinetwegen.«

An der Tür drehte sich Robert noch einmal um. »Da unten hat mir ein Beamter gesagt, ich soll zu Wilhelms Frau fahren ...«

»So.«

»Ich wollte es Ihnen bloß sagen, damit Sie Bescheid wissen. Es sind nämlich noch nicht alle Kisten im Lori ...«

»Hm. Na, Sie können der Frau gleich sagen, ihr Mann wäre tot ...«

»Tot ...?«

»Ja, das Krankenhaus hat gerade angerufen.«

Robert stolperte zur Tür hinaus.

»Er ist tot«, sagte er draußen zu Emanuel.

»Der arme Kerl.«

Im Gang war es dunkel und kühl, und marmorne Glätte und Stille.

»Hast ihn gut gekannt?«

Robert nickte.

Emanuel nahm ihn am Arm. »Komm«, sagte er. Er merkte, daß der Junge zitterte. Sie gingen langsam die Treppe hinunter. Auf einmal schluckte Robert und seine Stimme war nicht ganz fest. »Der Schweinehund hat gedacht, wir hätten nichts anderes im Kopfe gehabt als die freie Stelle ...«

Emanuel packte ihn fest an.

»Kümmere dich nicht um das Kleinbürgerpack«, sagte er, »die können uns doch nicht verstehen.«

Es wurde ihm so wunderbar leicht und wohl ums Herz, weil er Robert trösten konnte, und er dachte gar nicht mehr an die neue Stelle, und als sie herauskamen aus der Tür des Verwaltungsgebäudes, lagen schon Schatten über dem Hof, und die Wolkenwand hinter der Stadt war ein Stück höher gerückt, und der karambolierte Lastkraftwagen stand einsam und allein in der Mitte des Fabrikhofes.

Der Abend kam.

Robert machte seinen Arm frei und schnaubte sich die Nase.

»Du holst dir jetzt den Führerschein«, sagte er ruhig, »und ich gehe zu Wilhelms Frau, und dann treffen wir uns am Stadthotel. An der Uhr vor dem Stadthotel. Sagen wir ... Punkt neun Uhr, paßt dir das?«

Sie gingen über den Hof, durch das Portal, vorbei an der Portierloge, hinaus auf die Straße, über die Brücke, durch das Menschengewühl des frühen Abends, und drückten sich die Hand und gingen auseinander, nach verschiedenen Richtungen.


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