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Der Friseurladen

Der Laden wurde von einem schmuddeligen Grünwarengeschäft zur Linken und dem Hausflur zur Rechten wie eine Ziehharmonika zusammengedrückt. Die gesprungene Fensterscheibe schien ein Opfer der mißlichen Raumverhältnisse zu sein. In Wirklichkeit waren Betrunkene die Täter gewesen. Als Herr Mieseritz, der Inhaber des feinen Herren- und Damenfrisiersalons, wie auf dem Ladenschild zu lesen war, eines Morgens sein Geschäft öffnen wollte – er selbst wohnte zwei Straßen weiter in Untermiete bei einem pensionierten Postsekretär, dessen Tochter er zu heiraten beabsichtigte –, stand schon die Witwe Leuthold vom nebenanliegenden Kolonialwarengeschäft vor der Tür und besah sich den Schaden. »Ich habe doch heute morgen, so gegen fünf Uhr kann das vielleicht gewesen sein, da habe ich doch ganz genau gehört, wie es knallte. Erst dachte ich nämlich, es wäre bei mir gewesen, und sie wollten einbrechen wegen meinem Malaga, den ich jetzt im Fenster habe, is ja 'ne sehr gute teure Marke, man kann nie wissen, wie das heutzutage ist, und deswegen bin ich nämlich aufgestanden. Aber dann habe ich mich wieder hingelegt, es waren bloß Besoffene, Kegelbrüder wahrscheinlich, das sind immer die Schlimmsten, sage ich Ihnen, sie machten furchtbaren Krach, und gesungen haben sie ...«

Mehr wußte Frau Leuthold beim besten Willen nicht zu erzählen, und sie kam wieder auf ihren Malaga zurück. Die Täter wurden nicht entdeckt. Da Herr Mieseritz nicht versichert war und sein Geschäft keine üppigen Überschüsse abwarf, blieb vorläufig der Sprung in der Scheibe. Mieseritzens Kunden kümmerten sich sowieso nicht darum.

Hinter der gesprungenen Scheibe gab es allerhand zu sehen. In der rechten Ecke stand ein Damenkopf aus Wachs mit herrlich blonder Ondulation. Mieseritz hatte den Kopf auf einer Auktion sehr billig erworben. Die Frisur war zwar etwas alt, alle Versuche, sie zu restaurieren, schlugen fehl, aber im Fenster machte sie sich gut. Außer den üblichen Päckchen mit Toilettengegenständen, den bunten, duftenden Seifen, Zahnpastatuben, Haarnetzen, einer großen Froms-Act-Reklame, vielen Fläschchen mit Parfüm und Haarwasser, nahm die Mitte des Fensters ein auffälliges und wirkungsvolles Plakat ein, das Mieseritz an einem regnerischen Sonntagnachmittag selbst gemacht hatte, mit viel Phantasie und Wasserfarbe und mit großer Geduld. Auf diesem Schild war zu lesen:

Achtung! Arbeitslose!

Gegen Vorzeigung der Stempelkarte erhalten Sie bei mir

1 mal Rasieren für 10 Pfennige
1 mal Haarschneiden 30 Pfennige
scharf nachreiben und parfümieren 15 Pfennige
 
Sonnabend haben diese außergewöhnlichen Bedingungen keine Gültigkeit.

Franz Mieseritz.

 

Mieseritz war ein kleiner molliger Mann mit rosigem Babygesicht und, obwohl erst fünfunddreißig Jahre alt, mit einer vollendet schönen Glatze. Wer zum erstenmal dieses pfiffige, aber durchaus bequeme Kleinbürgergesicht sah, wäre nie auf die Idee gekommen, daß dieser Mann revolutionärer Gedanken fähig sein könnte.

Um die Mittagszeit dieses Tages stand er, bekleidet mit einem tadellos sauberen weißen Kittel, in dem Hausflur und sah auf die Straße. Wenn man in den Laden hineinwollte, mußte man durch den Hausflur gehen.

Viele Leute drückten sich in den Torwegen und Hauseingängen herum und beobachteten die Straße. Einzelne Gruppen, vor allem Frauen, besprachen die Vorfälle. Weiter oben, an der nächsten Straßenkreuzung, stand noch Polizei. Sonst war alles ruhig.

»Tag, Franz.«

»Tag, Robert, nu? Keine Hiebe bekommen?« Mieseritz lächelte wie ein Baby.

»Ach wo, Bonbons haben die guten Jungens verteilt, hier ...«

Er hielt seine rechte Hand hoch, über deren Außenseite ein paar scharf abgezeichnete, gerötete Striemen liefen. Mieseritz sah sich die Hand aufmerksam an.

»Soll ich dir was drauftun?«

»Ist schon gut. Ich möchte bloß wissen, ob Emanuel schon bei dir gewesen ist.«

»Emanuel? Ich kenne keinen Emanuel.«

»Du kennst nicht Emanuel Roßhaupt? Den Rotkopf mit den Sommersprossen?«

»Nee, den kenne ich nicht. Ein Rotkopf war heute bei mir noch nicht in Behandlung.«

»Ist gut. Dann kommt er noch. Halte ihn so lange fest, bis ich wiederkomme.«

Er winkte mit der Hand und ging weiter.

An der Straßenkante vor Mieseritzens Laden standen zwei Männer, die aufmerksam die Straße beobachteten. Einer sah rasch zu Mieseritz hin. Der Friseur machte eine unauffällige Bewegung mit dem Kopfe. Der Mann nahm langsam eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und ging an die zersprungene Fensterscheibe.

»Ich muß rein«, sagte Mieseritz.

»Wieviel hast du noch drin?«

»Drei glaube ich.«

»Schlimm?«

»Nee.«

Der Mann nickte mit dem Kopf und ging wieder zu seinem Posten zurück.

Franz Mieseritz machte die Ladentür auf. Ein früherer Mieter dieses Raumes hatte mit Lumpen und Alteisen gehandelt, er mußte diese Tätigkeit mit der Herstellung von Tüten vertauschen, weil die Kriminalpolizei der Meinung war, daß intakte Bleirohre nicht unter den Begriff des Alteisens fallen. Eine strittige Frage; wie dem auch sei, Franz Mieseritz mietete sich in die verlassene Lumpenhandlung ein und renovierte alles. Allerdings, das merkte der neue Inhaber bald, eignete sich die Lokalität doch besser als Sammelstelle für abgelegte Kleider und mehr oder weniger abgelegte Bleirohre; Licht kam nur durch das Ladenfenster, das nach dem Geschäft zu noch durch eine Milchglasscheibe abgeschlossen war, die Risse und Sprünge in den Wänden bahnten sich durch alle Übermalungen einen Weg an das sowieso spärliche Tageslicht, und die so ungeheuer wichtige Wasserleitung fehlte völlig, sie mußte erst gelegt werden. Mieseritz aber besaß das bescheidene Talent, mit wenig Mitteln große Wirkungen zu erzielen, deshalb war er auch, vor wenigen Wochen erst, in den Vorstand des Schrebergartenvereins »Neu-Kamerun-Nordost« gewählt worden, nachdem das von ihm großartig organisierte Frühlingsfest allerseits als Beweis für seine Tüchtigkeit und sein Organisationstalent anerkannt worden war. Aber das hat eigentlich nichts mit dieser Geschichte zu tun. Es soll damit nur angedeutet werden, daß er tatsächlich aus der verdreckten und verlausten Lumpensammelstelle einen hygienisch einwandfreien Frisiersalon hervorzuzaubern verstand.

Verschiedene organische Leiden hatten Herrn Franz Mieseritz vom Heeresdienst befreit, aber aus Begeisterung meldete er sich 1915 freiwillig und kam zu einer Sanitätskompanie. An der rumänischen Front lernte er nicht nur das Haarschneiden bei Cholera- und Typhuskranken, auch gewisse medizinische Handgriffe eignete er sich rasch an. Er versäumte keine Gelegenheit, um sich zu vervollkommnen. Mit inbrünstiger Besessenheit grübelte er in der fiebrigen Einsamkeit der siebenbürgischen Feldlazarette über Tod und Leben und gelangte sehr bald zu Endergebnissen, die Hippokrates viel näher lagen als der vom Stabsarzt gewünschten Schulmedizin. Zurechtweisungen halfen schon nichts mehr, Mieseritz war verbissen und verbohrt, außerdem hatte er einen dicken Kopf und den heiligen Glauben an die Richtigkeit seines Systems. Nach verschiedenen heftigen Zusammenstößen mit seinen Vorgesetzten, die schließlich in einer kompletten Gehorsamsverweigerung gipfelten, kam er auf die Festung.

Das war allerdings schon im September 1918, und gleich nach seiner Freilassung eröffnete Franz Mieseritz eine »Homöopathische Beratungsstelle«. Vier Jahre lang kurierte er nach bestem Wissen durch Aderlassen mit Hilfe gekochter Kräuter und anderer »natürlicher« Produkte, am liebsten aber durch seelischen Zuspruch und »Magnetopathie«. Aus seinem proletarischen Viertel hatte er ungeheuren Zulauf, besonders die Arbeiterfrauen schworen auf ihn. Er gehörte zu jenen geselligen Menschen, die durch eine umfangreiche Vereinstätigkeit ihre geschäftlichen Beziehungen ausbauten. Neben »Neu-Kamerun-Nordost« spielte er vor allem im »Verein bewußter Sexualreformer« eine führende Rolle. Seine unversöhnlichen Feinde waren Ärzte und Behörden, die aus dem friedlichen Franz Mieseritz bald einen bewußten Rebellen machten. Als er Anfang des fünften Jahres seiner homöopathischen Tätigkeit wegen Kurpfuscherei und Abtreibung zu einer erheblichen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, sah er darin die Krönung seiner segensreichen Tätigkeit. Die Gefängnisstrafe tat ihm bei seinen Verehrern keinen Abbruch, trotzdem stellte er sich nach der Entlassung aus dem Kittchen um und wurde Friseur. Seine frühere Kundschaft aber erschien »hintenherum« und wurde wie früher prompt bedient: Hand auflegen, Kräutertee trinken, massieren usw.

Ein dunkler, orientalisch anmutender Vorhang trennte seinen Barbierladen – diese Profanierung durfte man allerdings in seiner Nähe nicht aussprechen – in einen Herrensalon und in die Damenabteilung. Im Herrensalon, der dem Flur am nächsten lag, wurde gerade ein junger Mann rasiert. Franz Mieseritz beschäftigte nämlich einen Gehilfen namens Oswald Klein, der seine Sache sehr gut machte, nicht viel Gehalt bekam, dafür aber seinen Chef duzen durfte.

Oswald Klein sah auf, als Mieseritz hereinkam.

»Vorbei?« fragte er. Auch der junge Mann drehte das eingeseifte Gesicht zu Mieseritz hin.

»Ziemlich. Wie ist es mit den Leuten?« Er nickte mit dem Kopf in der Richtung des Vorhangs.

»In Ordnung«, antwortete der Gehilfe.

Im selben Augenblick – gewissermaßen als Bestätigung dieser Worte – begann jemand erbärmlich hinter dem Vorhang zu stöhnen. Mieseritz machte einen Satz bis zu diesem Vorhang und brüllte mit einer Stimme, die ihm keiner zugetraut hätte: »Seid ihr verrückt? Die Polente ist draußen!«

Weiter kam er nicht. Irgend jemand riß energisch die Tür auf, ein Paar schwere Stiefel klappten herein, Mieseritz drehte sich um. Wenn sein Gesicht nicht von Natur weiß gewesen wäre, hätte es sich jetzt verfärben müssen. In der Tür stand ein Polizist. Aus!

Mieseritz ließ den Vorhang fallen und stand mit offenem Munde da. Der Mann, der eben rasiert wurde, hatte sich halb vom Sessel erhoben, der Gehilfe hielt in seiner rechten Hand das Rasiermesser, von den Fingern seiner linken tropfte Seifenschaum, es war ein schönes lebendes Bild.

Der Beamte, ein gemütlicher rotbäckiger Kerl, klappte die Hacken zusammen und legte grüßend die rechte Hand an den Tschako.

»Entschuldigen Sie, kann man bei Ihnen telephonieren?«

Eine Weile war es still im Laden, ein Wasserhahn tropfte, von der Straße kam verworrener Lärm herein. Es war nichts Außergewöhnliches draußen los, um diese Zeit kamen immer viele Leute vorbei, die Hausfrauen gingen einkaufen, Straßenhändler schrien ihre Waren aus, Straßenmusikanten machten Lärm, die Kinder spielten zwischen dem Verkehr ruhig und ungestört Fußball, es war der Lärm, den man jeden Tag auf dieser Straße hören konnte.

Plötzlich plauzte die Tür noch einmal mit großem Krach auf. Die beiden Beobachter von der Straße standen im Flur, und sie machten sehr erstaunte Gesichter.

»Nein«, sagte Mieseritz, »ich habe kein Telephon.«

Er war selbst erstaunt, wie gut seine Sprache noch funktionierte.

Der Polizeibeamte grüßte mit einem verwunderten Gesicht und ging. Die beiden Arbeiter kamen herein.

»Was ist denn nu los?«

Mieseritz setzte sich in einen Frisierstuhl und starrte in den Spiegel. Dann sagte er in den Spiegel hinein: »Menschenskinder!«

Es war nicht ganz ersichtlich, auf wen sich die Anrede bezog.

Der eine der beiden Männer, die den Auftrag hatten, den Friseurladen von Franz Mieseritz aus einem bestimmten Grunde zu sichern, sagte: »Ich dachte, wir können gehen. Draußen ist ja nischt mehr los. Wie wir an der Ecke waren, sehen wir den Blauen zu euch reingehen. Und da sind wir wieder zurückgekommen. Das ist alles.«

»Es sind doch noch drei Mann hier«, sagte der Mann, der rasiert wurde.

»Vielleicht ist es besser, wir nehmen sie gleich mit.«

Sie gingen mit Mieseritz hinter den Vorhang.

Draußen trillerte ein Überfallauto vorbei, der letzte Wagen fuhr in die Kaserne zurück, am Arbeitsamt standen nur noch Streifen und Doppelposten.

Der Vorhang wurde zur Seite geschlagen, und Mieseritz kam mit den beiden Leuten und drei anderen wieder aus dem Damensalon. Einer von den Männern hatte die Stirn verbunden und einer die Hand, der dritte trug keine Binde, auch war keine Wunde zu sehen, aber sein Gesicht sah schlimm zugerichtet aus. Der mit der Stirnwunde mußte eine weite Sportmütze aufsetzen, die bis zur Hälfte über den Verband rutschte, und der zweite bekam die Hand ganz vorsichtig in seine Hosentasche gesteckt. Er jammerte dabei, ihm war ein Schuß durch die Hand gegangen. Einer der beiden Arbeiter, die auf der Straße die Verletzten gedeckt hatten, ging voraus, um den Abmarsch zu sichern. Sie verließen rasch den Friseurladen.

Der junge Mann war fertig rasiert, er drehte den Hahn der Wasserleitung auf und spülte sich die Seife vom Gesicht ab. Während der Gehilfe das Messer säuberte, kamen zwei Arbeitslose herein und setzten sich in die Stühle.

»Rasieren«, sagte einer.

Robert steckte den Kopf zur Tür herein. »Ist der Rotkopf schon dagewesen?«

Mieseritz drehte sich um und sah die beiden Neuangekommenen an: »Habt ihr Rotköpfe?«

»Nee, die haben bloß Krautköpfe«, sagte Robert an der Tür.

»Zieh Leine«, grunzte der eine, den Oswald Klein schon einseifte. »Hast wohl noch keen Verhältnis mit 'ner Krankenschwester gehabt, was?«

»Bedarf gedeckt, süßer Schatz«, flötete Robert. Und zu Mieseritz hin: »Also denk daran. Hoffentlich kommt er noch.«

»Ist gut«, sagte Mieseritz.

Robert knallte die Tür zu.

»War das nicht der Junge aus dem Arbeitslosenausschuß?« fragte der zweite Mann.

»Glaube es schon.« Mieseritz seifte den Mann ein.

»Hat Glück gehabt, daß er noch lebt.«

»Wieso?«

»Den Swarzenski haben sie mächtig zugedeckt.«

»'s war nicht zum erstenmal.«

Die Tür ging, und ein neuer Besucher kam herein. Er trug eine hellgraue Sportmütze, und weil er noch nicht an der Reihe war, nahm er die Mütze nicht ab. Er setzte sich in den dritten Stuhl und begann die Zeitschriftenmappe durchzusehen, die ein Lesezirkel an Mieseritzens Friseurladen gegen wenig Geld lieferte, denn in den Mappen befanden sich nur uralte, ausrangierte Hefte.

»Schönes Wetter heute«, sagte Mieseritz im Vorbeigehen, ohne den Neuen überhaupt anzusehen.

»Ja, Hagelwetter«, murmelte der.

»Was abgekriegt?«

»Nee.«

»Schwein gehabt.«

»Hm. Heute ist mein Glückstag.« Der Neue nahm die Sportmütze ab und salutierte sich im Spiegel. Sein brandrotes Haar stand borstig nach oben. Mieseritz beobachtete ihn immer noch nicht.

Emanuel betrachtete sich eine Weile. Die Haare hatten es nötig, geschnitten zu werden. Susie würde Augen machen, wenn er so fein wieder nach Hause kam. Er wußte jetzt ganz genau, wie sie aussah, er konnte sich an ihr Gesicht wieder erinnern, er blinzelte mit den Augen und sah sie im Spiegel. Susie blickte über seine Schultern hinweg und lachte ihn an.

Und auf einmal packte sie mit ihren festen Händen in seine Haare und sagte:

»Rasieren?«

»Und Haare schneiden«, fügte Emanuel hinzu.

Als Mieseritz wegging, um den Rasiermantel zu holen, zählte Emanuel rasch das Geld. Es waren immer noch die sieben Groschen, die er am Morgen von dem Taxichauffeur zurückerhalten hatte.

Mieseritz fuhr ihm noch einmal durch die Haare. »Rotkopf?« sagte er. »Den hat einer gesucht.«

»So? Die Polizei?«

»Hähä, was ausgefressen?«

»Quatsch.«

»Wie heißt du?«

»Emanuel Roßhaupt.«

»Stimmt. Also du wartest hier, verstanden, du wartest hier auf Robert.«

»Robert? Haben sie ihn nicht gekriegt?«

»Was weiß ich. Im Laden war er schon dreimal. Hinten zwei Millimeter?«

Emanuel wußte nicht, was zwei Millimeter war, er sagte ja.

Der Betrieb klappte heute. Ein junger Arbeitsloser kam herein und dann noch ein Bauarbeiter. Mieseritz unterhielt alle. Die Leute erzählten sich einiges von der Schlägerei.

Emanuel schloß die Augen und dachte an Susie. Es war ein wunderbar schönes Gefühl, im warmen Mittagslicht zu sitzen, nichts zu tun und sich so angenehm leer zu fühlen von allen Gedanken und nur an Susie zu denken. An ihre festen Hände, an die energische Stimme.

Rasieren. Haare schneiden.

Dann sofort zum Bahnhof gehen und den Koffer holen.

Draußen schlug eine Uhr.

»Wie spät ist das?«

»Zwölf Uhr.«

Als der Friseur mit Emanuels Schopf fertig war, kam Robert herein.

»Pinsle mal einen anderen ein«, sagte Robert zu Mieseritz, »ich muß mit dem jungen Mann was besprechen.«

»Geht doch auf euer Büro, wenn ihr was besprechen wollt. Hier ist ein feiner Herren- und Damensalon.«

»Wo sind denn deine Damen?«

»Ja, das könnte euch noch so passen! Das glaube ich.«

»Halt die Klappe.«

Robert beugte sich zu Emanuel hinunter, als wollte er ihm ein großes Geheimnis mitteilen.

»Ich habe Gelegenheitsarbeit für dich ...«

»Wieso?«

»Ich denke, du brauchst Moneten?«

»Sicher.«

»Also, ich habe was.«

»Nun?«

»Weißt du, wo Fritzsche & Blumberg ist?«

»Sicher.«

»Da wartest du so gegen vier Uhr auf mich.«

»Gut.«

»An der Pförtnerbude.«

»Jawoll.«

»Aber keinem Menschen was sagen.«

»Warum?«

»Idiot! Damit uns andere die Arbeit noch wegschnappen?«

»Na, kann man vielleicht den jungen Grafen heute noch einmal einseifen«, sagte Mieseritz, indem er Robert zur Seite schob.

»Huch, du kleiner Einseifer!«

»Du hast es wohl mal nötig, deinen Urwald zu lichten«, bemerkte Mieseritz und betrachtete Roberts Stoppeln.

»I wo, wegen mir kannst du Bankrott machen. Meinem Mädel macht es erst Spaß, wenn ich richtig stachlig bin.«

»Na, die Strandkanone möcht ich auch mal sehen!«

Die Männer lachten laut, und Robert drehte sich erbost um.

»Was? Strandkanone? Ich werde dir gleich ein paar kleben.«

Mieseritz meckerte.

Robert schnitt eine Fratze und ging bis zur Tür.

»Also, Emanuel, nicht vergessen! Pünktlich kommen!«

»Wird gemacht«, gurgelte Emanuel. Ihm kam Seifenschaum in den Mund.

Die Tür quietschte zu.

Eintöniges Fliegengesumm; die Wartenden blätterten in den Zeitschriften, und es wurde immer heißer, und alle machten schläfrige Bewegungen. Nur der Mann, der plötzlich die Tür aufriß, schien von der Hitze nichts zu merken. Er war noch jung, mit einem hageren Gesicht und einem weichen grauen Hut auf dem Kopf. Er trug auch einen grauen grobkarierten Sportanzug, und der war nicht von schlechten Eltern. Was er in Mieseritzens Friseurladen wollte, war zuerst nicht recht klar, denn er sah tadellos rasiert aus. Der junge Mann blieb einen Augenblick stehen, und dann ging er auf Mieseritz zu. Kunststück, in diesem Laden den Chef zu erkennen.

»Verzeihung«, sagte der junge Mann, und er sagte es nicht etwa besonders leise, »Verzeihung, ich bin von der ...« Das war das einzige Wort, das nur Mieseritz verstand, der junge Mann zeigte ihm eine Karte, auf der wahrscheinlich bestätigt war, wohin er gehörte, und dann sagte er weiter:

»... man hat mir gesagt, daß Sie Verletzte hier haben.«

Franz Mieseritz glotzte den Mann an, und Oswald Klein drehte sich um und Emanuel Roßhaupt und alle anderen auch.

»Was habe ich?« sagte Mieseritz voll ungläubigen Staunens.

»Ja, sehen Sie«, versuchte der junge Mann zu erklären, »ich habe nämlich die ganze Schweinerei vor dem Arbeitsamt miterlebt, und da hat mir einer was von ihrem Laden gesagt. Ich möchte über den Vorfall einen scharfen Bericht schreiben, ich werde natürlich keinen Namen erwähnen ...«

»Mensch, mach dich dünne«, sagte der junge Arbeitslose, der neben Emanuel saß, »du bist wohl nicht von guten Eltern ...«

»Mieseritz, schmeiß ihn raus!«

Der junge Mann stand ziemlich hilflos da, er wurde rot und streckte seine Hände aus, als wollte er um etwas bitten.

»Aber ich sage Ihnen doch, warum ich hier bin. Mich hat der ganze Vorfall außerordentlich empört und erschüttert. Ich meine es ganz ehrlich. Hier ist doch mein Presseausweis ...«

»Das kennen wir schon«, sagte der Arbeitslose und stand auf. Mieseritz öffnete die Tür, der junge Mann zuckte mit den Achseln und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Dem hätten wir eine Abreibung geben sollen.«

»Du bist wohl verrückt? Ausgerechnet in meinem Laden?«

»Das war doch ein richtiger Spitzel.«

»Ach wo«, sagte Emanuel fröhlich, »das war nur ein Dummkopf.«

»Das war kein Dummkopf, das war ein gerissener Spitzel.«

Sie konnten sich nicht einig werden. Emanuel sah heute alles im rosigen Lichte. Er ließ sich noch scharf nachreiben und seine Hand mit Kölnischwasser bespritzen und dann gab er die sieben Groschen Herrn Franz Mieseritz, obwohl der Spaß eigentlich nur fünfundsechzig Pfennige kostete. Als er auf die Straße kam, lief der junge Herr mit dem grauen karierten Anzug auf ihn zu und sagte:

»Entschuldigen Sie, meinen Sie das wirklich ernst, was Sie vorhin gesagt haben?«

»Ich? Ich habe doch nichts gesagt.«

»Waren Sie das nicht?«

»Nee.«

»So? Entschuldigen Sie.«

Er ging aber noch ein Stück neben Emanuel her und sagte nach einer kleinen Weile: »Halten Sie mich für einen Aushorcher.«

Emanuel grinste. »Sie sind aber komisch.«

»Warum?«

»Glauben Sie wirklich, daß wir Ihnen was sagen werden, wenn wir Sie gar nicht kennen?«

Emanuel merkte, daß er wir gesagt hatte. Es ging ihm durch und durch. Er schritt entschlossen aus. Jawohl, er gehörte dazu. Was dieser junge Mann noch sagte, interessierte ihn gar nicht, und als jener wegging, war es Emanuel ganz egal.

Im Fundbüro des Bahnhofs sagte der Beamte mißtrauisch, der Koffer sei schon abgeholt worden. Das versetzte Emanuel allerdings einen Schlag. Wer hatte den Koffer abgeholt, und warum hatte man nicht auf ihn gewartet? Was sollte er nun tun? Wie stand er vor den Mädchen da? Einen ganzen Vormittag verbummelt und nichts erledigt. Nichts erledigt? Hoho. Er hob seinen Kopf. Langsam ging er aus der dunklen Bahnhofshalle heraus. Draußen blendete die Sonne. Weißes Licht. Wenig Verkehr. Zwei kleine Eiswagen auf der Fahrstraße. Er spürte, daß er den ganzen Vormittag noch nichts gegessen hatte. Nicht einmal einen Groschen für ein Eis hatte er.

Die Mittagssonne machte schläfrig. Träge schlenderte er in der Richtung nach Hause. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er war traurig.

»Hallo! Emanuel!«

Emanuel blieb stehen. Das war Frieda, die hatte jetzt Mittagszeit.

»Wo kommst du denn her? Bei euch hat es eine Schlägerei gegeben, was?«

Frieda sah müde aus.

»Aber wie! Wir haben uns vielleicht mit den Blauen herumgeschlagen, einer ist niedergestochen worden, und die Polizei hat geschossen ...«

»So? Bist du denn dabei gewesen?«

»Natürlich. Denkst du etwa, ich bin ein Drückeberger?«

»Na ...« Frieda sah ihn eigentümlich an, und er wurde etwas verwirrt. »Übrigens, es ist gut, daß ich dich treffe, ich möchte nämlich was anderes von dir wissen. Wen hast du denn in eure Wohnung raufgeschleppt?«

Emanuel blieb stehen. »Woher weißt du denn das?«

»Ja, lieber Junge, wir sind eben nicht auf den Kopf gefallen, wir riechen alles.«

»Das möchte ich aber wirklich wissen ...«

»Antworte erst mal, wo hast du denn die feinen Damen aufgegabelt?«

»Quatsch keinen Blödsinn.«

Frieda blieb mitten auf der Straße stehen, beide Arme in die Hüften gestützt, sie pustete sich ihre hellen Haare aus der Stirn, und Emanuel konnte sich schon denken, was nun kommen würde. Aber er hätte doch gar zu gern gewußt, woher sie das erfahren hatte. Von Fritz?

»Was ist dir denn in die Knochen gefahren, he? Gib doch mal eine vernünftige Antwort, verstehst du. Ich werde dich nicht ohne Grund fragen.«

Emanuel nuschelte: »Da ist doch nischt Schlimmes dabei. Die beiden Mädchen wohnen bei uns im Hinterhaus, und ich habe sie heute morgen zufällig getroffen, bestimmt, du brauchst gar nicht zu lachen, ich kenne sie ja gar nicht, und sie konnten nicht in ihre Wohnung, weil sie irgend etwas liegen gelassen hatten. So. Das ist alles.«

»Hm. Das hat mir Fritz auch schon erzählt.«

»So. Also Fritz ist bei dir gewesen. Na, das konnte ich mir eigentlich denken.«

»An den haste wohl heute morgen gar nicht gedacht?«

»Wieso?« Sie schritten gerade die Straße aufwärts, und die Sonne stand fast genau über ihnen. »Ich will gleich nach Hause.«

»Das würde ich dir auch empfehlen. Sonst fliegen deine holden Schönheiten noch aus, ins Stadthotel zum Beispiel, zum Ball der verschenkten Girls ...«

Sie kamen über einen freien Platz, auf dem viel Verkehr war. Emanuel lief ein Stück vornweg, an der nächsten Verkehrsinsel blieb er stehen und sah Frieda an. Er war ganz weiß im Gesicht.

»Na, was ist denn los?« sagte sie erstaunt.

»Du, was soll das heißen, was du da eben gesagt hast. Da verstehe ich nämlich keinen Spaß.«

»Ach so ...« Frieda dehnte ihre Worte. »Verknallt ist der junge Mann auch noch? Na, denn guten Appetit.«

»Zwischen uns ist es aus«, sagte Emanuel.

Frieda gab ihm lächelnd einen Klaps auf den Rücken.

»Meinetwegen, aber erst gehst du mal zu deinen Damen und fragst sie persönlich. Das könnte dir nämlich manchen Schmerz ersparen.«

»Das sind keine Damen.« Er hatte sich weggedreht.

»So? Das sind keine? ... Was sind sie denn?«

Er sagte nichts. Er sah auf den Platz. Der Platz war asphaltiert, und die Füße und die Wagenräder drückten sich ein und hinterließen ihre Spuren. Es war ein außergewöhnlich heißer Tag.

»Wer hat dir denn eigentlich die Rosinen in den Kopf gesetzt? Dir ist wohl die Hitze nicht gut bekommen?«

»Das verstehst du nicht.«

»Nein, das verstehe ich nicht. Da hast du wieder mal recht.«

Sie kratzte mit ihren Sandalen auf dem Boden herum und sah hinunter. »Aber paß auf, daß dir nichts schief geht.«

Emanuel antwortete nicht. Sie standen immer noch auf der schmalen Verkehrsinsel. Auf dem Platz war ein großer Lärm, und die umstehenden Leute achteten nicht auf Frieda und Emanuel. Vor der Verkehrsinsel stand ein Winkposten, er ließ eine lange Reihe Autos von der anderen Seite durch, und es vergingen vielleicht zwei Minuten. Das Mädchen sah in das Gesicht des Jungen, und sie wunderte sich sehr.

Der Winkposten drehte sich herum und gab den Straßenübergang frei. Emanuel sauste los, ohne etwas zu sagen und ohne sich zu verabschieden, quer über den Platz, an Autos und Elektrischen vorbei und um Fußgänger herum. Sie sah ihm nach, bis er hinter einem Omnibus ihren Blicken entschwand. Er lief in der Richtung nach Hause.

Frieda war sehr betroffen, weil sie Tränen in dem Gesicht des Jungen gesehen hatte.

Vielleicht ganz gut, sagte sie sich, wenn der Junge öfters mal Prügel von der Polizei bekommt.


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