Lily Braun
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Lily Braun

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Zehntes Kapitel.

Von der Auferweckung.

In der Sommerschwüle unter den hohen Kastanien auf dem Hof von Hochseß summten und surrten Fliegen und Wespen, und die Pferde vor dem leichten Selbstfahrer am Portal stampften ungeduldig. Konrad stand auf der Schwelle, der alte Greifensteiner neben ihm.

»Es bleibt mir wohl kaum noch etwas zu sagen übrig,« begann er, mit einem raschen, hellen Blick, der wie von Zärtlichkeit glänzte, um sich schauend.

»Nur, daß ich noch immer nicht begreife,« brummte der andere.

Ein Lachen, klar und froh, wie sorglose Jugend zu lachen pflegt, unterbrach ihn: »Nenn's eine Schrulle – eine neue Verrücktheit –, wie du willst! Hochseß steht auf zwei Augen. Da ist's immerhin gut in diesen romantischen Zeitläuften, ein Paar andere in die Verhältnisse einzuweihen.«

»Du tust, als wärst du ein fahrender Ritter und wolltest dich vom österreichischen Bundesbruder zum Kampf gegen die Serben und sonstige dreckige Balkanvölker werben lassen,« erwiderte Rothausen noch immer voll Mißmut.

Noch einmal lachte Konrad: »Das Schlechteste wär's nicht!« um dann ernster hinzuzufügen: »Besinnst du dich auf die Verwandtschaft zwischen Adel und Abenteurer, die die Großmutter einmal definierte? Der alte Kreuzritter droben zog auch aus keiner anderen als der inneren Berufung ins Preußenland wider die Polen. Im übrigen: du kennst ja meine Ansichten über die Weltlage.« Und er sprang elastisch auf den Bock, noch einmal die Hand herunterreichend.

Kräftig in sie einschlagend, sagte der Greifensteiner: »Gott verzeih' mir meine Schnauze, die ich in der letzten Zeit nicht im Zaume hielt, wenn sie über dich herzogen; bist doch ein Kerl vom alten Schrot und Korn, Konrad. Wir sehen uns vielleicht noch in Berlin, wenn du recht behältst und es wirklich losgeht, – müssen doch auch von dem Jungen, dem Alex, Abschied nehmen. Leb' wohl indessen und Glück auf den Weg!«

Die Pferde zogen an. Da fiel Konrads Blick auf den Turm mit der flatternden Fahne. Er wandte sich noch einmal um. »Ich vergaß –« rief er zurück, seine Stimme hallte laut unter dem Torweg – »daß sie mir keiner herunterholt – jetzt blühen die Rosen!«

In scharfem Trabe ging es den Berg hinab. Erst unten zügelte Konrad die Füchse. Denn vom Parkhügel leuchtete, überschüttet von brennenden Blütenbüscheln, Norinas Tempel ins Tal. Und langsam, ganz langsam, gesenkten Kopfes, als schritten sie im Trauerkondukt, zogen die Pferde den Herrn vorüber.

Und nun umfing ihn der Wald, und es war, als ob die Bäume mit ihrem trauten, tiefen Schatten ihn wie mit zärtlichen Armen halten wollten. Dann kam die Wiese und lachte ihn an, und der Bach, der sie durchzog, lud ihn zum Plaudern. Doch immer nur rascher griffen die Pferde aus.

Da – welch ein Hindernis? Noch rasch zog der Fahrer die ungebärdig sich bäumenden Tiere zurück. Vor dem Wirtshaus von Gasselsdorf unter dem Kastaniendach stauten sich die ländlichen Gefährte, die vom Markte kamen, und um einen, der vorlas, drängten sich Männer und Frauen mit heißen Gesichtern. Kaum, daß jemand dafür Gedanken hatte, beiseite zu treten. »Hallo! –« rief Konrad. »Hallo!« sekundierte der Reitknecht, der neben ihm saß, mit gewohntem rauheren Tonfall. »Laß das, Johann,« verwies ihn der Herr, »heut hat jeder ein Recht auf die Straße.«

»Der Hochseß ist's,« schrie einer erregt.

»Der fährt schon?!« fiel eine zitternde Weiberstimme ein.

»Gibt's Krieg, Herr Baron?« und ein Alter mit schlohweißem Haar, die Greisenhände über der Brust gefaltet, trat vor. Konrad beugte sich nieder und reichte ihm die Hand.

»Bist noch einer von Siebzig, Vater Lorenz, und fürchtest dich?« sagte er.

Der Alte warf den Kopf in den Nacken: »Fürchten?! Ne! – Nur daß ich im Winkel hock' –« und er wischte sich mit der rissigen Faust über die Augen.

Jetzt umringten junge Burschen den Wagen. Sie riefen alle durcheinander: »Wann geht's los? –«

»Bald!« –

Da machten sie mit einem Hurra die Straße frei.

Nur ein blondhaariges Mädchen – mußte sie immer am Wege sein, wenn er kam? – lehnte am Zaun und weinte.

Auf dem Bahnhof in Bamberg liefen die Reisenden hin und her, viele Frauen und Kinder darunter, die mit Koffern und Schachteln und Sträußen beladen, aus den Bergen kamen. Aller Mienen schienen gespannt, alle Augen eine Frage. Nur langsam setzte sich die unendliche Wagenreihe des Zuges in Bewegung. Weich und zärtlich schmiegten sich die Umrisse der fränkischen Höhen an den in der flirrenden Hitze silbern glänzenden Horizont, während die vier Türme des Doms sich seltsam nah und schwarz in den Himmel streckten wie Lanzenspitzen. Konrad sah ihnen nach, bis eine Biegung des Zugs sie verschwinden ließ. Daß ihn das plötzlich so schmerzen konnte, als wären sie etwas Lebendiges, etwas, das ihm gehörte!

Er schloß die vom grellen Licht geblendeten Augen. Wirbelnde Funken und Sterne und Kreise sah er. Sie schmolzen ineinander, verdichteten sich. Und dann war es, als ritte der steinerne Ritter vom Dom vor ihm her im leeren, im pechschwarzen Raume, weiß und leuchtend, – bis er kleiner und kleiner wurde – immer kleiner – ein gleitender Schwan – ein schwebender Vogel – zuletzt nur noch ein Stern – und im nachtdunklen Meer der Unendlichkeit versank.

* * *

Es wetterleuchtete fern am Horizont. Aber in den abendlichen Straßen der Stadt brütete die Glut des Tages; jede Mauer strömte die Hitze der Sonne aus, die sie stundenlang in sich gesogen hatte. Und wo Menschen in Gruppen beieinander standen, war es, als wäre eine unsichtbare Flamme mitten unter ihnen. Man sprach nicht viel – man lauschte mit gespannten Nerven – selbst im Rollen der Räder lag ein gedämpfter Ton.

Da: – von fern her ein Ruf, unverständlich zunächst, dann deutlicher: »Österreich macht mobil!« Und unten, am Ende der Straße, flutete es hervor mit schwarz-gelben Fähnchen, in festem Schritt, dem der Gesang den Rhythmus gab: »Gott erhalte Franz den Kaiser –«

Konrad war bis zum Potsdamer Platz vorgedrungen, als der Zug sich näherte. Die Bogenlampen überströmten ihn jetzt mit ihrem weißen Licht: es war Jugend, lauter Jugend, rundbäckige Knabengesichter darunter, Jugend, durch die Wonne des Erlebens allein beseligt. Singend verlor sie sich wieder, rasch übertönt von entfesselten Stimmenfluten ringsum, die vom nächsten Café aus brausten und prasselten, sich selbst überstürzend. Konrad ging vorüber. »Nieder mit Serbien!« klang es. »Hoch Österreich!« vom nächsten Tisch, und die Bierseidel klapperten aneinander. »Expansionspolitik –« »Platz an der Sonne –« fing er weitere Gesprächsfetzen auf. Er eilte weiter; in allen Nebenstraßen war es leer, – an den Ecken standen Dirnen und lachten ihm ins Gesicht – Bettler traten aus dunklen Türen. Sein Schritt wurde schneller. War er gekommen, um Gespenster von einst zu sehen?

Da und dort, wie die letzten Raketen eines Feuerwerks, stiegen noch abgerissene Klänge gen Himmel.

Und der nächste Tag erwachte, noch leuchtender als der vorangegangene. Aber niemand in der Stadt hatte irgendeinen Sinn für seine blaue, glühende Sommerstille. Die Straßen, die Cafés waren von früh an überfüllt. Aber nicht mehr von jener Jugend, die sich in der Nacht zuvor an dem ersten großen Ereignis ihres Daseins berauscht hatte. Reife Männer waren es, die in aller Frühe von der Sorge von ihrem Lager getrieben worden waren, und mit übernächtigen Gesichtern überall beieinander standen, um ihre Ansichten und Befürchtungen über die politische Lage auszutauschen. Wenn sich auch die Hoffnungen vieler an die Friedensbemühungen des Kaisers knüpften, von denen die Presse erfüllt war, so schienen die meisten am Kriege kaum noch zu zweifeln.

Krieg! – Wer von der Generation der Gegenwart wußte noch etwas von ihm? Der ängstlichen Gemüter bemächtigten sich fast mittelalterliche Vorstellungen. Besonders die Frauen schienen einen Zusammenbruch des gesamten wirtschaftlichen Lebens für möglich zu halten und suchten mit einer Aufregung, die oft an Paroxismus grenzte, Einkäufe für den Haushalt zu machen, als gelte es, sich für eine Belagerung vorzubereiten. Aber auch ruhige Männer wurden vom Fieber ergriffen.

Krieg! – Für die Generation des Friedens bedeutete dieses Wort ein dunkles Rätsel, erfüllt von tausend Schrecknissen.

Konrad gehörte zu den Zuschauern dieses Schauspiels. Er fürchtete nichts. Er hoffte nur. Wie der Landmann angesichts der durstenden Felder den schwarzen Wolken hoffend entgegensieht, die sich drohend am Himmel ballen.

Je höher die Sonne stieg, desto mehr schien sie die Luft zwischen den Häusern zu etwas greifbar Schwerem zusammenzupressen. Sie lastete förmlich auf den Köpfen und beengte den Atem.

Die Schatten schrumpften verängstigt zusammen.

Auch der Tiergarten, in den Konrad einbog – den alten Weg zu Walter Warburg ging er –, bot keine Kühle. Kein Luftzug regte sich. Jedes Blatt am Baum stand wie gebannt im blendenden Glast der Mittagshitze.

»Ich suche den Arzt, wenn ich den Freund nicht finde,« sagte Konrad, als Warburg, den unerwarteten Patienten erkennend, mit rasch verhärtetem Gesichtsausdruck vor ihm zurücktrat.

»Bitte,« erwiderte er kühl, ihn mit flüchtig einladender Handbewegung zum Sitzen nötigend.

»Du weißt,« begann der Ankömmling, mit einem Blick voll Schmerz und Mitgefühl des Arztes durchfurchtes Antlitz streifend, »daß ich seinerzeit wegen eines Herzfehlers für dienstuntauglich erklärt wurde. Jeder, der was auf sich hielt, bereitete sich damals« – und er lächelte leise – »mittels einer durchschwärmten Nacht wirkungsvoll auf die Untersuchung vor. Jetzt« – mit einer energischen Gebärde richtete er den Oberkörper auf – »wünsche ich nichts mehr, als gesund zu sein und hoffe, deine Untersuchung wird das ergeben.«

Warburg hielt den Blick hartnäckig gesenkt, keine Muskel in seinem Gesicht zuckte. Er kramte zwischen den Notizen auf seinem Schreibtisch und sagte dann geschäftsmäßig wie zu einem völlig Fremden: »Hier ist die Adresse eines Militärarztes, der für diese Frage allein in Betracht kommt.« Er umging sichtlich jede Anrede, um das »du« nicht aussprechen zu müssen.

Konrad sprang auf, er atmete schwer, und die drohende Falte zwischen seinen Brauen strafte den freundlichen Ton, mit dem er sich zu sprechen zwang, Lügen.

»Danke. Ich werde zu ihm gehen – nachher. Mit deinem Attest – dem meines Hausarztes, verstehst du? –« Warburg hatte mit einem Bleistift gespielt, jetzt warf er ihn heftig auf die Tischplatte, aber er antwortete nicht. Und eindringlicher fuhr Konrad fort: »Kleine Unregelmäßigkeiten, die etwa noch an meinem Herzschlag zu spüren sein sollten, wird er weniger beachten, wenn ich ihm dein Attest vorlegen kann.« Er machte eine Pause. Als der andere beharrlich schwieg, näherte er sich mit einem raschen Schritt und sagte laut, jedes Wort betonend: »Denn ich muß felddienstfähig sein – ich muß!«

Warburg lachte kurz auf. »Ach so!« erwiderte er mit schneidender Schärfe, »du gehörst neuerdings zu den Ästheten, den Expressionisten und Futuristen, die den Weltbrand schüren helfen, um der neuen unerhörten Sensation willen, die auch die schlaffsten Nerven aufzupeitschen vermag!«

»Walter!« rief Konrad vorwurfsvoll. Er kam nicht weiter. Es war als durchbräche eine lang zurückgehaltene Leidenschaft alle Dämme; Warburg, der sonst so gehaltene, fast steife, Warburg, der nie so recht jung gewesen zu sein schien, geriet außer sich.

»Der Krieg ist's, den ihr wollt, ihr Verfeinerten, ihr, die ihr Krämpfe bekommt, wenn ein Tischtuch nicht zur Tapete paßt,« fuhr er los, »wißt ihr denn nicht, was er ist, was er bedeutet?!«

»Not und Tod, – Hunger und Pestilenz,« sagte Konrad tiefernst; »aber wir sind es nicht, die ihn heraufbeschwören. Nur fürchten wir ihn nicht, nur aus dem Wege gehen wir ihm nicht.«

»Wir sollen ihm aber aus dem Wege gehen, wenn nicht anders, so mit der Preisgabe von irgendeinem Stück dummen Stolzes; wir sollen ihn fürchten, auch auf die Gefahr hin, daß irgendein Narr uns feige schilt,« begann Warburg aufs neue, »denn alles steht auf dem Spiele, nicht nur Leben und Gesundheit, – alles, was wir jahrzehntelang mühsam bauten an Völkerverständigung, an innerer und äußerer Kultur. Das mußt du doch einsehen, Konrad, gerade du!« Und seiner selbst unbewußt lag der alte vertraute Ton der Freundschaft in seinen letzten Worten. Ein warmer Blick aus Konrads Auge streifte den Sprecher.

»Wir sind reich geworden, aber nicht glücklich; klug, aber nicht weise, geschickt, aber nicht schöpferisch,« antwortete er. »Ein Teich, der in der Tiefe liegt, wohin der Wind nicht trifft, versumpft, und Schilf und Entenflot täuscht nur Kurzsichtigen eine blühende Wiese vor. Es bedarf des aufwühlenden Sturms, um ihn rein und klar zu machen – auch wenn dabei den Libellen die Flügel zerrissen, den Wasserrosen die Blätter befleckt werden.«

»Dein Bild ist vortrefflich,« warf ihm Walter heftig entgegen, »nur, daß der Sturm, von dem du Reinigung erwartest, statt des Blühens, das er zerstört, die Verwesung, den Schmutz der Tiefe an die Oberfläche trägt. Alle rohen Instinkte werden wie Verbrecher die Kerkertüren sprengen. Schon feiert engherzigster Nationalismus seine Orgien; er ist wie eine schwärende Krankheit, die plötzlich am Körper Europas ausbricht.«

»Und darum – das solltest du als Arzt besser wissen als ich – seine Gesundung herbeiführt,« wandte Konrad ein. Aber den Gedankengang Walters schien nichts aus der Richtung zu bringen.

»Hast du heut nacht gehört, wie sie ihr ›Heil‹ durch die Straßen brüllten, all die Germanen, die nicht einmal ihres Vaters Herkunft zu kennen pflegen?!« spottete er. »Unter jedem ihrer Rufe hörte ich ein: ›nieder mit den Juden –!‹ Ich sage dir, wenn dieser Krieg Wahrheit wird, es wird im eigenen Land ein moralisches Morden geben ohnegleichen!«

Konrad schüttelte den Kopf: »Wie kannst du nur die in solchen Augenblicken natürlichen Überhitzungen Unreifer tragisch nehmen und nationale Gesinnung mit dem Fanatismus der Rassenpuristen identifizieren?! National empfinden heißt doch nur, sich mit Bewußtsein wieder einordnen in die Gemeinschaft.«

»Und im Namen dieser Gemeinschaft den niederknallen, der einer anderen angehört, und dir nichts getan hat; oder als Arzt dazu verurteilt sein, den Getroffenen mit allen Mitteln unserer Kunst schleunigst zu heilen, damit er wieder fähig ist, auf andere, auf die ›Feinde‹ zu zielen!« rief Warburg leidenschaftlich.

»Du hast recht, wenn du das ›im Namen der Gemeinschaft‹ stärker betonen wolltest,« antwortete Konrad. »In ihr hören wir auf, einzelne zu sein, sind nicht mehr die Täter unserer Taten, nicht mehr die Opfer persönlicher Schicksale. Wir sind Werkzeuge, Träger einer höheren Idee.«

Warburg hob ungeduldig die Schultern: »Eine höhere Idee: andere niederzuknütteln!«

»Alles Leben nährt sich vom Tode, lehrte mich Jörun Egil –« sagte Konrad versonnen. »Sollen wir um des Friedens willen tatenlos dabeistehen, wenn die Kosaken unsere Felder zertrampeln, wenn die Franzosen im Rhein ihre Rosse tränken, wenn die Engländer unseren Handel, unsere Kolonien schmunzelnd in ihren weiten Geldsack stecken?«

Er sah, daß Warburg allmählich müde in sich zusammensank, und umfaßte leise seine nervöse, blutleere Hand, die auf der Stuhllehne lag. »Walter,« sagte er, in seine Stimme alle Weichheit seines Empfindens legend, »wir haben beide viel, haben alles verloren. Meinst du nicht, daß wir zu allererst diesem Leben, das einen subjektiven Wert für uns nicht mehr besitzt, einen tieferen Inhalt geben sollten, daß wir ja sagen sollten zum Schicksal, rückhaltlos ja? Ich glaube, wir haben noch etwas zu tun. Und auch etwas zu finden, das wir wie arme Blinde suchten: Die Lösung des Zwiespalts zwischen uns und der Welt, die innere Einheit allen Lebens. Die alten Ideale sind schal geworden – weißt du noch, daß du mir das sagtest? Es gilt, für neue, die vielleicht die kommenden Geschlechter zu göttlicher Begeisterung berauschen werden, die Trauben zu keltern.« Er stockte. Walters Kopf senkte sich tief.

»Kannst du mir heute nicht verzeihen, daß ich dich einmal kränkte? Sieht nicht aller persönlicher Hader, an dem Ungeheuren gemessen, beschämend klein aus?« In diesem Augenblick fühlte er, wie des Freundes Hand sich mit festem Druck um die seine schloß. Er atmete auf wie befreit. »Und nun erfüllst du auch die Bitte, die mich zu dir geführt hat, nicht wahr?«

Warburg nahm das Hörrohr und erhob sich. »Du willst –?!« frug er, den Blick seiner Augen suchend, als traue er der Sprache des Mundes nicht.

»Den Tod suchen? Nein!« antwortete Konrad; »das wäre vermessen, wo das Leben jedes einzelnen einen höheren Wert, eine tiefere Bedeutung bekommen hat. Aber mich ihm stellen – gewiß!«

Und nun schwiegen beide. Ohne auf Konrads steigende Ungeduld acht zu geben, untersuchte ihn Warburg gründlich. Endlich steckte er die Instrumente ein. »Du bist gesund,« sagte er, »bis auf –«

Aber Konrad ließ ihn nicht weitersprechen. »Gesund!« wiederholte er jubelnd, »nun aber komm, komm! Viel zu lange waren wir zu zweien, wo man nur noch zu Hunderten sein darf!«

* * *

Jene große Straße, – die einzige der jungen Weltstadt, die gesättigt ist von Erinnerungen, und sonst selbst an Sonntagen die königliche Würde, die sie wahrt, auf die Ströme derer überträgt, die sie durchwandern – lag heute wie ein Kranker im Fieber. Es entfesselte in jenen Gruppen dort, die einander in kreischender Erregtheit zu überschreien versuchten, wilde Phantasien; es löste in den Menschenzügen, die sich aus den Nebenstraßen ergossen, heldische Begeisterung aus; es schlug andere, die beiseite schlichen, mit stumpfer Apathie; es erfüllte schließlich die ganze Atmosphäre mit einer Unruhe, vor der nichts mehr zu schützen vermochte. Sie packte die Männer bei der Arbeit, die Frauen am Herd, selbst die Kinder beim Spiel; die Werkstätten, die Zimmer, die Höfe wurden ihnen zu eng; schwer wie ein Alp lag's auf der Brust eines jeden. Nur hinaus – hinaus, wo man atmen konnte, – und einer lief dem anderen nach, getrieben von einer Macht, die keinen Namen hatte.

Aber nichts ereignete sich, gar nichts. Das erlösende Wort blieb unausgesprochen. Der Abend kam. Doch wer hätte es vermocht, heimzukehren in die Stube, ins Bett, während draußen der unsichtbare gigantische Würfel noch immer rollte! Das Volk wartete weiter. Und fern aus den Vorstädten entließen die Fabriken neue Scharen, die sich schwarz und schwer zum Zentrum wälzten. Da und dort lösten sich zwei oder zwanzig von der Menge ab, die ohne Kommando wegsicher ihre Straße zog, und verschwanden hinter den Pforten der Versammlungssäle.

Konrad und Walter, die sich bisher vom Strom hatten treiben lassen, blieben unwillkürlich vor einer von ihnen stehen und lasen das große Plakat, das daran hing: »Was haben wir Frauen zu tun?« Irgendein unbestimmter Wunsch nach einer Pause, mehr als der nach einer Antwort auf die gestellte Frage, ließ sie eintreten. Auf der Rednertribüne stand eine hagere Frau, die mit überschriener Stimme »den Landsturm unserer Schwestern in allen Ländern gegen den einzigen Feind, den Krieg« zu entfachen und zu verkünden versuchte. Aber ihr leidenschaftlicher Appell, verhallte fast wirkungslos; und die nach ihr sprachen, schlugen einen ganz anderen, milderen Ton an.

»Fräulein Dr. Mendel«, begann die eine, »hat uns zu einer Stellungnahme zu überreden versucht . . .«

»Fräulein Dr. Mendel – Hedwig Mendel?« flüsterte Konrad fragend einer neben ihm Sitzenden zu. Sie nickte. Und allmählich erkannte er in dem spitzen Gesicht die Züge der einstigen frischen Studentin wieder. Er verlor sich für Augenblicke in ferne Erinnerungen.

»Mögen wir noch so sehr für die Erhaltung des Friedens sein,« schloß die Rednerin eben ihre Polemik, »gegen den Krieg zu protestieren, wäre nur dann mehr als eine schöne Geste, wenn wir die Macht unseres politischen Einflusses zugleich in die Wagschale zu werfen vermöchten. Darum muß unser A und O im Krieg wie im Frieden immer dasselbe bleiben: her mit dem Frauenwahlrecht!«

Auch auf diesen Ton schienen die Zuhörer nicht gestimmt, nur wenige klatschten Beifall.

»Frau Berg hat das Wort,« verkündete die Vorsitzende. Und eine weißgekleidete, schlanke Gestalt stieg die Stufen empor, um, oben angekommen, ein von aschblonden Scheiteln weich umrahmtes Gesicht der Menge zuzukehren.

Konrad packte Walters Arm, »Else!« überrascht hervorstoßend. »Else Gerstenbergk,« bestätigte dieser.

»In diesem Augenblick, dünkt mich, sollten wir weder richten noch fordern,« begann sie, und ihre volle, tönende Stimme schien die Wogen der Erregung zu glätten, »sondern nur daran denken, bereit zu sein. Denn eines ist gewiß: muß der Mann hinaus, um Haus und Hof zu verteidigen, wie es seit undenklichen Zeiten seines Geschlechts Recht und Aufgabe war, so werden auch wir Frauen uns wieder derjenigen zu erinnern haben, die die Natur selbst uns gestellt hat, und sie auf uns nehmen nicht wie eine Last, unter der wir uns nur widerwillig beugen, sondern wie eine heilige Verpflichtung, in der wir uns selbst erfüllen werden. Die Wunden, die ein Krieg schlägt, solch ein Krieg, wie er zwar noch verhüllt, aber doch in dem Tritt seiner eisernen gigantischen Sohlen sich schon ankündigend, hinter dem Vorhang der Weltbühne erscheint, sind nicht nur die in die Körper der Kämpfer grausam gerissenen, die unsere Hände verbinden und heilen sollen. Wo der Mann ins Feld zieht und die Seinen zurückläßt, werden Not und Armut nach unserer Fürsorge schreien; wo die Arbeit stockt, werden wir eingreifen müssen; ach, und wo die vielen, vielen Kinder darben, werden wir keinen Augenblick mehr Zeit haben, etwas anderes zu sein als Mütter!«

Ein Murmeln freudigen Beifalls unterbrach sie, alle Mienen belebten sich, in Augen, die verschleiert gewesen waren, kehrte ein Glanz von Hoffnung, von Mut und Glauben zurück. Sie stand da, verklärt von einer Aureole demütig-stolzer Weiblichkeit. Konrads Blick hing an ihr. Ein Gefühl von tiefer, innerer Zusammengehörigkeit übermannte ihn, das er sich nicht zu deuten wußte, da es mit Liebe, mit verlangender Mannesliebe gar nichts zu tun hatte.

Im weiteren Verlauf ihrer Rede entwickelte Else jeden einzelnen ihrer Gedanken und entwarf in großen Zügen den Plan einer Organisation, die alle den Kriegsdienst der Frau in sich schließenden Tätigkeitsgebiete umfassen sollte. Immer lebhafter wurde der Ausdruck der Zustimmung von allen Seiten. Da schien sie plötzlich zu stocken. In diesem Augenblick war es Konrad, als habe ihr Auge ihn entdeckt, als erblasse ihr Antlitz wie vor einer Erscheinung, als zucke ein jähes Erschrecken durch ihren Körper.

»Wir wollen fort,« flüsterte er Warburg zu; »sie ist gewiß eine glückliche Frau. Es wäre ein Verbrechen, wenn ich sie durch meinen Anblick entsetzen wollte.«

Aber schon klang ihre Stimme, nur fester und voller noch, wieder an sein Ohr, und ihre Augen waren über alle Köpfe hinweg mit einem Ausdruck des Ergriffenseins in die Ferne gerichtet.

»Eine alte Geschichte, die in uns allen vergessen ruht, wie so viele Geschichten aus heiligen Büchern, für die wir keine Feierstunde mehr hatten, weiß ich noch. Als die Stunde der großen Not aufgegangen war über seinem Volke, kam Mardochai, der Prophet, zu Esther, der Königin, und forderte von ihr, daß sie um der Bedrohten willen hintrete vor den König. Sie aber zauderte. Denn mit dem Tode wurde bestraft, wer ungerufen den Stufen des Thrones sich näherte. Doch Mardochai sagte zu ihr: ›Vielleicht bist du um eines solchen Tages willen Königin geworden, o Esther.‹ Da schmückte sie sich mit allen Kleinodien, salbte ihren Körper, flocht Perlen in ihr Haar, wie damals, als sie erhoben wurde, und ging . . .«

Und abermals suchte das Auge der Rednerin den stillen Mann in der Menge. Ganz leise, als wollte sie nur zu seinem Ohre sprechen, wiederholte sie:

»Vielleicht bist du um eines solchen Tages willen Königin geworden, o Esther.«

Sie traten schweigend in die Nacht hinaus, die beiden Freunde.

»Die Gedanken der Fernsten klingen heut zusammen. Es ist eine große Harmonie,« sagte Konrad schließlich.

Stimmengewirr, Pferdegetrappel, Rufe, Geschrei – schienen im gleichen Moment seine Worte widerlegen zu wollen. Ein Zug von Arbeitern kreuzte die Linden – waren es Hunderte, Tausende? Ließ nur die Nacht ihn so endlos erscheinen? »Nieder der Krieg!« tönte es vorn – »nieder der Krieg!« klang das Echo vier-, fünfmal, weit am Ende der Straße verhallend. Und berittene Polizisten durchbrachen die Reihen. Die blanke Scheide eines Säbels blitzte. Konrad und Walter sahen sich in einen Torweg gedrängt, ein Haufen Verfolgter schob nach, so daß sie bis in einen engen, dunklen Hof gelangten, über den als einziges Licht der Schein einer kleinen Lampe lag, die im Erdgeschoß hinter rot verhangenem Fenster brannte. Die Versprengten sprachen leise mit dem verhaltenen Zischen äußerster Heftigkeit, bis einer, der den anderen bekannt zu sein schien, auf ein umgestürztes Faß stieg und Ruhe gebot.

»Bewahrt euch euren Zorn und euren Eifer auf die Stunde, wo es not tut,« rief er.

»Unsere Söhne sind kein Kanonenfutter,« kreischte eine Frauenstimme aus dem Dunkel.

»Noch fordert sie keiner,« suchte der erste Sprecher sie zu beruhigen, »überall sind unsere Genossen an der Arbeit. In Rußland bedroht die Revolution die Hetzer, in Frankreich schützt unser Freund, der größte Apostel des Friedens, dessen Stimme selbst unsere Feinde nicht überhören, die Sicherheit des arbeitenden Volkes: Jean Jaurès!«

»Hoch, hoch Jaurès!« Laut klang es und prallte an den hohen Mauern ab und hallte wieder. Der Vorhang des erleuchteten Fensters bewegte sich ein wenig. Dann erlosch die Lampe. Man suchte stolpernd den Ausgang. Da bahnte sich einer von draußen her mit den Ellenbogen einen Weg durch die Masse:

»Jaurès ist tot!«

Keiner rührte sich mehr vom Fleck.

»Wer sagt das?!«

Ein weißes Papier schien über den Köpfen zu flattern bis zu dem, der gefragt hatte. Nun blitzte ein Streichholz auf, beleuchtete unsicher ein Gesicht, eine knochige Hand:

»Ermordet!« –

Noch ein einziger Aufschrei. Dann Stille – und tiefe, schwarze Finsternis.

Auf die Straße trat alles, stumm, mit gesenkten Köpfen, denn das Licht der Bogenlampen blendete.

»Der Traum ist aus,« sagte ein Alter und nickte Konrad zu, wie einem Freunde, dann fiel ihm der Kopf tief auf die Brust.

An der nächsten Ecke lehnte todmüde eine Zeitungsfrau. Sie schrie mit rauher Stimme: »Eine russische Patrouille in Eydtkuhnen eingeritten – das Postamt von Schmidden verbrannt –«

»Kanaillen –«, »Mordbrenner –.« Es waren junge Burschen, die als letzte aus dem Torweg traten und nun mit blitzenden Augen schrien: »Nieder mit dem Zaren – mit dem Knutenregiment!« Und sie liefen dem Zuge nach, der eben, die ganze Breite der Straße beherrschend, alles mit sich fortriß.

»Deutschland, Deutschland über alles –« brauste es in vieltausendstimmigem Chor. Aus den Fenstern winkten sie überall mit weißen Tüchern, aus den Wirtshäusern strömten sie hinaus, und Geschrei und Gesang erfüllte die ganze Stadt.

Da schlug es ein Uhr, schwer, weithin schallend. Es war, als käme der neue Tag, ein Herold, belastet mit großer Kunde.

Es gibt Städte, die schlafen des Nachts wie Kinder: früh und fest und ohne Traum; wer im Dunkel durch ihre Gassen geht, der dämpft den Schritt und hält den Atem an. Aber Berlin schläft nie. Denn erst wenn der rohe Lärm des Tages schweigt, kommt der Rausch des Lebens über die Menschen: die Geister erwachen um Mitternacht wie in alten Gespenstergeschichten, Gedanken bekommen Gestalt, Gefühle Glut. Grau und fahl und frostig kommt mit dem ersten blassen Tageslicht die Nüchternheit. Wer dann des Morgens, sein eigener Schatten, scheu durch die Straßen heimwärts schleicht, der begegnet denen mit den rauhen Fäusten, die der Daseinskampf in den Dienst des Tages zwingt. Und feindselig fast schaut einer den anderen an; es gibt kaum ein Verstehen zwischen ihnen.

In jener letzten Julinacht aber, die gewitterschwül über dem Lande lag, hatten selbst die verschlafensten Städte unruhige Träume, und viele Fensteraugen in den Dörfern glänzten furchtsam über erntereife Felder. Berlin schlief nicht; doch in seinem Wachen war etwas von Schlaf, der die Glieder zur Einheit bannt, den Atem zu einem Rhythmus bändigt. Nicht der Rausch in seinen tausend sinnverwirrenden Formen, nicht die Sorge in ihren zahllosen, quälenden Gestalten hielt die Augen der Millionen offen. Es war ein Gefühl, ein Gedanke – unnennbar noch – tief und heiß, von dem Glanz ferner Sternenwelten erhellt wie die Sommernacht. Und als dann der Morgen kam und die Menschen auf den Straßen einander begegneten, lag ein gutes Grüßen in jedem Blick, als wären sie Brüder geworden.

Konrad verbrachte den Vormittag mit den notwendigsten Geschäften und den Vorbereitungen zu seinem Eintritt in die Armee. Viele, sehr viele, weit mehr als er irgend erwartet hatte, begegneten ihm mit den gleichen Absichten, und sie betrachteten einander jetzt schon wie Kameraden. Und die Nachrichten und die Kommentare und die Vermutungen flogen von Mund zu Mund: von Frankreich, das ohne Kriegserklärung die Grenzen nicht mehr respektierte, von der verräterischen Haltung Rußlands, dessen Patrouillen schon plünderten und sengten, während der Kaiser mit dem Zaren noch Friedensdepeschen wechselte. Von Friedensmöglichkeiten sprach niemand mehr; die Sehnsucht nach Entscheidung, nach der erlösenden Tat beherrschte alle.

Und nicht nur einzelne Züge waren es heute, die singend die Straßen beherrschten. Aus stillen Häusern kam es wie Ameisengewimmel, um die elektrischen Wagen schwirrte es, ein Schmetterlingsschwarm, es ergoß sich wie ein Wasserfall über die Treppen der Bahnhöfe und kroch, eine endlose, schwarze Schlange, aus den Erdlöchern der Untergrundbahn. Und der gleiche Gedanke, das gleiche Ziel schufen den gleichen Rhythmus des Schritts.

Noch immer hatte Konrad die Menge als die größte Einsamkeit empfunden; heute fühlte er sich weder als einer allein, noch als einer unter vielen; sein Ich schien ihm in all die Tausende geteilt, die mit ihm gingen, und in seinem Ich schienen sie wieder wie in eins zu verschmelzen. Wie lange wanderte er schon im Takt ihrer Füße auf und nieder? Wie lange schon warf die Sonne ihre Strahlenbündel über all die heißen Hirne? Wölbte sich nicht seit einer Ewigkeit der gleiche silbergraue Himmel über ihm – still, feierlich, unerbittlich? Oder war er eine riesige rotierende Kugel, die ihren ganzen Inhalt zu einer Masse zusammenwirbelte? Und was war er, Konrad Hochseß, in diesem Augenblick noch, das ganz er selber war?

Da – er spürte etwas wie einen elektrischen Schlag, der den ungeheuren Körper, als dessen winziger Teil er sich bewegte, irgendwo weit vorn getroffen hatte. Und es war, als ob ein Wind sich erhöbe, die Blätter an den Bäumen aus ihrer Starrheit zu rütteln.

Das Trompetensignal einer Autohupe durchschnitt schmetternd die bleierne Luft. Und der Wind ward zum Sturm, in den Kronen unsichtbarer Wälder rauschend. Vor dem grauen Wagen her, der sich in die Menge bohrte, sie auseinanderriß, zur Seite warf und einen zuckenden Schweif hinter sich herzog, gellte die aufpeitschende Fanfare der Hupe. Aber eine junge, starke Menschenstimme übertönte sie:

»Krieg!«

Und zum Orkan ward der Sturm. Er drang in alle Gassen, in alle Höfe, er schlug Fenster und Türen auf, und wer noch verborgen im Winkel schlief, den schnellte er auf die Füße. Wo ein Feuer in Herzen und Hirnen glühte, fachte er es zur lodernden Flamme. Er riß von gebeugten Schultern die staubige Last der Tagesmühen, daß sie sich reckten, er sprengte die eisernen Ringe über der Brust der Hassenden, daß sie frei wurden, und vor seinem Atem zerstoben die Schleier, die Sorge und Übersättigung zwischen Welt und Mensch gewoben hatten.

Und ihre Befreiung und ihre Kraft, ihren Zorn und ihre Zuversicht trug der brausende Ruf der Masse gen Himmel.

Ihre Füße aber waren beschwingt. Unbekannte führten einander vertraut an den Händen. Kinder schwebten auf Armen und Schultern fremder Männer, damit sie, die Kommenden, ihre Augen sättigten mit dem Licht dieses Tages.

Sie zogen zum Schloß in breiten, alles mit sich fortreißenden Scharen. Es bedurfte keines rauhen Kommandoworts, um jedes Räderrollen von diesen feierlich Bewegten fern zu halten. Und dann standen sie, Kopf an Kopf, ein Menschenmeer, das den riesigen Platz erfüllte, das an die grauen Mauern der ehrwürdigen Königsburg schlug, das emporflutete über die Stufen des Doms und in mächtiger Woge des alten Museums hohe Freitreppe überschwemmte, dessen Brandung übermütig aufwärtsschäumte bis in die Äste der Bäume. Waren es Tausende? Hunderttausende?

Und es sang, es rief, es jubelte. Von den Kandelabern herunter, auf die sie geklettert waren, sprachen junge Studenten. Auf den Stufen des Doms stimmte ein Chor weißgekleideter Mädchen alte fromme Lieder an, und unter dem Kaiserdenkmal erzählte einer, der sehr alt war, von den Taten der Ahnen. Unsichtbar wandelten sie, von den Verzückten dieser Stunde heraufbeschworen, unter der Menge: die Luther und Goethe, die Fichte und Kant, die Bismarck und Nietzsche.

Auf der Treppe des Museums stand Konrad. Geschlossenen Auges hörte er die Töne, die aus der Tiefe aufwärts rauschten; beschwingte Fabelwesen der Vorzeit waren es, deren Flügelschlag er zu hören meinte. Dann plötzlich tiefe Stille – er schlug die Augen auf: hatte der Zauberstab des unsichtbaren Dirigenten die ungeheure Sinfonie der Masse gewaltsam unterbrochen? Auf dem weiten, von der Abendsonne goldüberströmten Platz standen sie Kopf an Kopf regungslos, mit dem Boden verwurzelt, und schwiegen.

»Der Kaiser spricht,« flüsterte jemand.

Konrad hörte nichts; niemand hätte von hier zu hören vermocht, was weit drüben am Schloß, wo die Gestalten kaum zu erkennen waren, geredet wurde. Und doch hielt jeder den Atem an. Und Konrad fühlte das Lauschen der Hunderttausende. Eines Mysteriums Zeuge erschien er sich: denn in diesem Augenblick nahm das Volk einen Herrscher, um den der blendende Glanz der Krone einen weiten leeren Raum, eine große Fremdheit geschaffen hatte, in sich auf. Und einen Herzschlag lang, der, mag er auch nur Sekundendauer haben, in der Wage der Zeit schwerer wiegt als viele Jahre, waren alle Menschen Brüder.

Da huben die Glocken des Doms zu läuten an; ihre Stimmen von Erz wurden die Sprache dieser Stunde. Die Menge erwachte aus tiefer Versunkenheit. Auch Konrad hob den Kopf.

War es nicht Else, die über ihm im weißen Kleid an der bräunlichen Säule lehnte? Und sagte sie nicht laut, daß es mächtiger als die Stimme des Kaisers über den Platz bis zum Schloß hinüberschallte: »Vielleicht bist du um dieses Tages willen Königin geworden, o Esther?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne; stundenlang hatte er in der glühenden Sonne gestanden. »Haben wir wieder heiße Träume gehabt, bambino mio?« hörte er eine alte Stimme mit zärtlichem Tonfall sagen. Er sah sich um. Es war leer geworden auf der Treppe. Langsam strömten unten die Menschenfluten zurück. Rosig färbte sich der Abendhimmel über ihnen mit langgestreckten weißen Wolken darauf wie Kometenschweife.

Und im Schritt mit den anderen ging er unter den Bäumen der großen Straße.

War sie da nicht schon wieder dicht vor ihm, die Weiße? Mußte er ihr begegnen und vielleicht ihren Frieden stören? »Frau Berg,« dachte er, »sie scheint mehr als glücklich, sie scheint –« und vergebens suchte er nach einem Ausdruck für das, was er bezeichnen wollte – »erfüllt zu sein, Erfüllung gefunden zu haben.« Es wurde ihm warm ums Herz, denn der Gedanke, sie könne leiden, vielleicht gar einsam sein und verlassen, hatte ihn oft gequält. Er spürte sogar etwas wie Neugierde; gern hätte er den Mann gesehen, dem sie gehörte. Und er ging unwillkürlich rascher.

»Konrad!« rief ihre Stimme, ganz deutlich. Er prallte zurück. Aber sie sah sich nicht um nach ihm.

»Konrad!« klang es noch einmal, ein wenig ängstlicher. Da stürmte ein schlankes Bübchen, das wohl zu weit vorangeeilt war, der Rufenden entgegen, die es lachend auffing. Blonde, wehende Haare hatte es – tiefe, nachtdunkle Augen. Der Mann, der jetzt dicht hinter der Frau mit dem Kinde stand, schwankte wie von plötzlichem Schwindel gepackt. Hatte er Fieber, gingen Geister um?! Dieser Knabe war doch kein anderer, als – er selber!

Die Umstehenden wurden auf ihn aufmerksam. Er riß sich zusammen. »Mutti –« sagte in diesem Augenblick eine süße Kinderstimme, und die dunklen Augen hefteten sich weit und erstaunt auf ihn. Da wandte auch die Frau den Kopf. Das Blut wich aus ihren Wangen. Aber sie faßte sich rasch, denn schon fühlte sie, wie die Neugierde ringsum sich auf sie richtete. »Baron Hochseß,« sagte sie förmlich.

Er verbeugte sich korrekt: »Ich freue mich, Sie zu sehen, Frau . . .« »Gerstenbergk,« ergänzte sie rasch, »wie immer.«

In seinen Schläfen hämmerte das Blut.

»Gestatten Sie mir, einen Wagen zu nehmen?« brachte er stockend heraus. Sie gingen über die Straße. Eine kleine warme Kinderhand schob sich in die seine. Fest, ganz fest klammerte er die Finger um sie. In wilden Schlägen pochte sein Herz.

»Wohin?« frug er, das Kind in den Wagen hebend. Seine Stimme klang rauh, er zitterte wie unter einer ungeheuren Last, als die Wärme des jungen Körpers sich ihm mitteilte.

»Nach dem Wannseebahnhof,« sagte sie.

Unterwegs unterhielten sie sich über das Nächstliegende, den Krieg, da des Kindes Gegenwart jede Berührung dessen, was ihnen im Augenblick das Herz bewegte, unmöglich zu machen schien. Allmählich schwand die Spannung zwischen ihnen. Konrad erzählte, daß er sie gestern habe sprechen hören; die Bewunderung, die er ihr zollte, lehnte sie bescheiden ab, denn ihre Rede sei nicht der momentane Ausdruck einer spontanen Stimmung gewesen, sondern entspräche ihren praktischen Vorschlägen nach den Richtlinien, welche ein großer Teil der organisierten Berliner Frauenbewegung seit dem ersten Auftauchen der Kriegsgefahr als für ihre künftige Tätigkeit maßgebend anerkannt habe.

»Fräulein Dr. Mendel steht offenbar auf anderem Standpunkt?« sagte er, ohne mit einem Gedanken bei seiner Frage zu sein, denn seine Augen hingen verloren an dem Knaben ihm gegenüber, der hartnäckig schwieg, hier und da einen verstohlenen Blick, so erstaunt wie der erste gewesen war, auf ihn werfend.

»Sie gehört zu den Verbitterten und Enttäuschten wie fast alle Frauen, die in ihrem Heiligsten, in ihrer Liebe verraten wurden,« entgegnete Else.

Er wandte sich ihr mit einer raschen Wendung des Kopfes wieder zu, und es lag etwas Gequältes in seinem Ausdruck, als er frug: »Und – Sie?«

Ein helles Lächeln verklärte ihre Züge. »Ich?« Sie sah ihn an, groß und gütig. »Bin ich verraten worden?! Ich wählte freiwillig meinen Weg, und ich habe –« ihre Stimme sank zu fast unhörbarem Flüstern – »unser Kind.«

Sie schwiegen lange. Daß er mit ihr und dem Knaben den Zug bestieg, der nach dem westlichen Vorort hinausfuhr, wo sie wohnten, daß er, dort angekommen, mit ihnen ging, des Kindes Hand nicht aus der seinen lassend, schien wie selbstverständlich. Als sie auf der geraden Straße durch den Ort gingen, – eine jener Niederlassungen, die ihre unorganische Häßlichkeit dem Umstand verdanken, daß sie aus einem abgelegenen Dorf zu einem Außenteil der Weltstadt wurden – erzählte sie von ihrem Leben. Mit einer bewußten Kühnheit, der viele ein böses Ende prophezeiten, hatte sie eine Werkstatt gegründet, in der die Herstellung der Puppen, die ihre Erfindung waren und ihr früher eine Nebeneinnahme sicherten, im großen betrieben wurde. Sie hatte sie, dank der auch aus dem Ausland rasch zunehmenden Bestellungen mehr und mehr vergrößern müssen. »Freilich,« schloß sie lächelnd, »so hübsch wie früher sind meine Puppen nun nicht mehr. Sie sehen einander immer ähnlicher. Sie haben auch Soldaten werden müssen und verteidigten tapfer unser Leben gegen Kummer und Not und eroberten uns Frieden nach innen, Unabhängigkeit nach außen. Nun kann ich sogar für den Buben Prinzen und Prinzessinnen machen – nicht wahr, Konrad?«

Der Kleine nickte. Sie hatten die Straße verlassen. Vor ihnen dehnte sich die gerade, schattige Allee. Da und dort lugte ein anspruchsloses Sommerhäuschen oder ein einstiges Bauerngehöft mit tiefem Dach aus dem Grün der Gärten heraus, dann kamen Felder und Wiesen.

»Noch weiter?« frug Konrad.

»Ein wenig,« sagte Else, »unter freiem Himmel und hohen starken Bäumen wuchs er auf. Darum ist er so gesund!« Und ein zärtlicher Blick umfaßte den Knaben.

Glutrot war die Sonne versunken. Ihr letzter Abendgruß wandelte das weite reife Roggenfeld in ein wogendes Meer flüssigen Goldes, hinter dem der Wald in großen dunklen Konturen feierlich aufstieg. Zwischen den weißen Marmorsäulen junger Birken, die sich nach oben zu lichten Spitzbogen wölbten, führte der Pfad in die mächtige Halle brauner Eichenstämme, die mit großen weitverzweigten geschwungenen Ästen ein Dach wie von durchsichtigem Smaragd gen Himmel hoben.

Hatte sich der Frieden in dieses Heiligtum geflüchtet? Versunken war die Welt für den, der eintrat. »Hier wohnt Gott,« sagte Konrad leise und entblößte unwillkürlich das Haupt. Der Knabe an seiner Seite, der jede seiner Bewegungen aufmerksam verfolgte, jedes seiner Worte einsog, tat desgleichen. Des Mannes Seele aber ward plötzlich erfüllt von großer Sehnsucht. Durch den weißen Winterwald-Dom von Hochseß sah er sich mit Norina wandern. Und nun – sann er darauf, ihr die Treue zu brechen, angesichts der grünen Kirche?!

Wer kann treulos werden, der liebt?!

Aber eine andere Liebe hatte der Krieg, dieses Erdbeben, das so viele verschüttete Keime bloßlegte, so viele morsche Stämme niederriß, im verstecktesten Winkel seines Herzens aufgedeckt und nun in der Treibhausluft der neuen Zeit, die in Tagen wachsen und reifen ließ, wozu die Vergangenheit Jahrzehnte brauchte, zu üppiger Blüte sich entfalten lassen: Die Liebe zur Heimat. Waren die vielhundertjährigen Stämme ihres Waldes nicht gewachsen mit seinem Geschlecht? War es nicht heiliges Korn, das die Väter gesäet und geerntet von je und je? Fester faßte seine Hand des Kindes weiche Finger. »Siehe, ich ziehe das Schwert für dich, meine Heimat,« sprach seine Seele, »damit kein Fremder deinen Boden entweihe; und ich gebe dir den, dessen tiefstes Sein im geheimnisvollen Urgrund allen Lebens mit den Wurzeln deiner Bäume verwachsen ist.«

Sie kamen zu einem kleinen Hause, das zwischen Erlen und Weiden am Rande des Eichenwaldes lag. In seinen niedrigen Fenstern spiegelte sich der helle Abendhimmel, so daß sie waren wie lebendige freudestrahlende Augen. Hohe Malven wuchsen davor, deren Spitzen das weit überhängende graue Dach fast erreichten, und Dahlien, deren bunte Blütenköpfe den Eintretenden freundlich willkommen nickten.

Jetzt riß das Kind sich von Konrad los und lief voran durch den kleinen, wohlig kühlen Flur in das Zimmer mit den alten Birnbaummöbeln. Vor einem Bilde, das an der Wand neben dem Schreibpult hing, stand es, als die Mutter mit dem fremden Manne näher trat.

»Mein Bild!« dachte Konrad überrascht; nach dem Gedächtnis mußte es Else gezeichnet haben. Er wandte sich ihr zu, eine Frage auf den Lippen.

Da öffnete der Knabe zum erstenmal den Mund, der trotz aller kindlichen Weiche schon die herbe Festigkeit des werdenden Mannes verriet, und sagte laut, den Fremden vor ihm mit dem vertrauten Bilde vergleichend:

»Bist du mein Vater?«

»Mein Sohn!« jauchzte Konrad, ihn mit beiden Armen zu sich emporhebend, und seine Küsse bedeckten die runden Wangen, die dunklen Augen, das seidige Haar.

Else hatte sich leise in die dämmernde Tiefe des Zimmers zurückgezogen.

Aber schon sprang der lebhafte Kleine aus den Armen des Gefundenen und stürmte hinaus, wo ihm freudig bellend ein großer Wolfshund entgegenlief; den umfaßte er mit beiden Armen und rief glückselig: »Denk' nur, Rolf: der Vater ist wiedergekommen!« Dann tollte er durch den Flur in die Küche, und wenn er gleich die Türe krachend ins Schloß warf, so drang seine helle Stimme doch bis zu den beiden Zurückgebliebenen, die einander in tiefer Bewegtheit gegenüberstanden: »Marie – Marie – so hör' bloß – welch' ein Glück: Der Vater ist wiedergekommen!«

»Das Kind hat entschieden, Else,« sagte Konrad, ihre Hand ergreifend, »ehe ich bat, und ehe du antworten konntest.«

»Entschieden?!«

Er überhörte die Frage, in der viel Zweifel, viel Ablehnung lag.

»Ich kann nicht zu dir sprechen, wie ich sprechen sollte,« begann er, »und dich einfach bitten: gib mir das Recht, meines Sohnes Vater zu sein. Denn was ich dir bieten kann, ist sehr, sehr wenig: nur meine Bruderliebe – nur meine Freundschaft –, nur mein Name. Und du tauschst deine stolz verteidigte Freiheit dafür ein.«

Sie schwieg, tief in dem alten Sessel zurückgelehnt, und der Abend hüllte barmherzig ihr blasses Antlitz in seine Schleier.

»Ich liebe –« fuhr er leiser fort, »ich liebe mit jener Liebe, die, wenn sie den Menschen begnadete, immer eine einzige ist. Sie ergreift nicht nur das Herz, die Sinne, sie erfüllt nicht nur die Gedanken, die Erinnerung, sie nimmt restlos vom ganzen Sein und Wesen Besitz. Sie ist nicht nur wie ein roter Streifen im Tuch, verwoben mit dem ganzen Geschick, sie ist das Leben, sie ist der rote Saft, der durch die Adern fließt, der Nerv, der das Hirn bewegt. Darum ändert es auch nichts an ihr, ob der Mensch, der sich also dem anderen vermählte, lebt oder ob er gestorben ist. Darum kann solch ein Liebender auch nicht vergessen. Für ihn gibt es keine Untreue, weil es auch keine Treue für ihn gibt. Um den zu überwinden, der in ihm lebt, gibt es nur ein Mittel: Die letzte Vereinigung mit ihm – den Tod.«

Er atmete tief auf; nun mußte sie sprechen. Und ihre Stimme kam aus dem Dunkel wie körperlos:

»Ich weiß das alles, Konrad.«

»Du weißt?« machte er überrascht.

»Von Warburg – ja. Ich traf ihn zuweilen, und mußte doch jemanden haben, der von dir sprach.«

»Und er sagte mir nichts?!«

»Ich bat ihn darum, – es war für dich besser, daß ich nichts als ein Traum für dich blieb,« antwortete sie mit verschleierter Stimme, »übrigens: von unserem Kinde wußte er nichts. Ich nahm ja auch vor der Öffentlichkeit einen anderen Namen an, um mich zu verstecken, und – aus einer letzten, unüberwundenen Schwäche heraus« – die Stimme aus dem Dunkel wurde noch leiser –, »damit das Kind seine Mutter nicht ›Fräulein‹ nennen hörte.«

»Else! –«

Der wiederkehrende Knabe, das Mädchen, das mit der Lampe das einfache Abendbrot brachte, unterbrachen das Gespräch, und des Kindes lebhaftes Geplauder half den beiden über die unausgeglichene Stimmung hinweg. Von all seinen Freuden und Leiden, seinem Spiel und seinen Träumen erzählte es, als habe es für diese Stunde den Schatz seines Erinnerns aufgespeichert, um all seinen Reichtum dem Ersehnten, lange Erwarteten zu Füßen zu legen. Daß Else dem Sohne vom Vater gesprochen, Liebe und Vertrauen zu ihm von früh an in sein Herz gepflanzt hatte, hörte Konrad aus allem mit tiefer Rührung heraus.

»Und nun gehst du nicht wieder fort, nun bleibst du immer bei uns, nicht wahr, Vater?« schloß der Kleine, auf des Mannes überschlanke Rechte sein festes Fäustchen legend, während seine Augen mit ängstlicher Frage auf ihm ruhten. Konrad sah im Augenblick nur die Kinderhand; sein Antlitz strahlte.

»Sieh nur, Else,« sagte er, jedes Fingerchen zärtlich streichelnd, »wie der einmal wird fassen und halten können!«

»Nicht wahr, Vater, du bleibst?« wiederholte dringlicher das Kind.

Konrads Blick umflorte sich. Mußte er dem Sohne gleich beim ersten Begegnen so wehe tun? Er zögerte mit der Antwort.

»Bist du nicht heut in Berlin gewesen?« hörte er Else sagen, »und weißt, daß die Russen und die Franzosen uns heimtückisch überfallen haben, gerade wie der Bussard, wenn er im Eichwald auf die friedlichen, nesterbauenden Vögel stößt?« Der Kleine nickte ernsthaft.

»Ich weiß, Mutti, ich weiß,« sagte er eifrig, »daß jeder Mann ein Soldat sein muß.«

»Und ist dein Vater nicht auch ein Mann?« frug sie, ihm mit der Hand, die so weich und zart war wie einst, über den Blondkopf streichelnd. Sein Blick wandte sich wieder Konrad zu und füllte sich, je länger er ihn ansah, mit Tränen.

»Nicht weinen, mein Junge,« sagte dieser, »einer, der ein Mann werden will, weint nicht, wenn sein Vater tut, was nicht zu tun Schmach und Schande wäre.« Er zog den Kleinen auf seine Knie und drückte sein Köpfchen an seine Brust, wo es still, von dem allzu reichen Tage ermüdet, liegen blieb. »Während ich draußen bin und die bösen Feinde verjage, wirst du mit der Mutter im Hause deines Vaters wohnen, das dein Haus ist. Und aus dem alten Turm über der verwitterten Mauer wirst du die Fledermäuse vertreiben und dafür sorgen, daß die große Fahne darauf feststeht. Wenn dann die Soldaten unten im Tal mit lautem Siegesgesang heimwärts marschieren – dein Vater mitten unter ihnen –, wirst du der erste sein, der sie sieht, und ich werde von der wehenden Fahne wissen, daß du ein treuer Wächter gewesen bist.«

Da legten sich des Knaben Arme um seinen Hals, und sein Stimmchen flüsterte schlaftrunken: »Die Fahne – und die Fledermäuse – Vater, ich paß auf!«

Sie brachten ihn gemeinsam zur Ruhe. Als sie wieder am runden Tisch vor der Lampe saßen, erschrak Konrad vor Elsens verändertem Aussehen. Sie war weiß im Gesicht, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.

»Du bist schon einberufen?« frug sie, das Zittern ihrer Stimme mühsam unterdrückend.

Er sah sie verwundert an: »Einberufen? Nein! Aber ich gehe freiwillig mit – selbstverständlich! Du hast es ja eben statt meiner dem Kinde erklärt.«

»Ich wollte ihm dein Scheiden begreiflicher und – weniger schmerzhaft machen,« murmelte sie, ohne ihn anzusehen.

»So bist du entschlossen, meine Bitte – abzulehnen?« zögernd, angstvoll kam ihm die Frage von den Lippen.

Sie vergrub den Kopf in die Hände und schwieg.

»Ich werde mich fügen müssen, Else,« begann er tief aufseufzend aufs neue, »das Opfer ist doch wohl zu groß für dich, – ich kann nicht verlangen, daß du Nonne wirst um meinetwegen. Ich habe keinerlei Recht auf dich. Aber ich habe es auf meinen Sohn, und vor allem: er hat ein Recht auf seinen Vater und auf sein Erbe. Hochseß ist Majorat; ich kann es ihm nicht einfach hinterlassen; ich muß ihn anerkennen als mein Fleisch und Blut. Nur, daß ihn das, wenn die Mutter Fräulein Gerstenbergk bleibt, früher oder später in schweren Zwiespalt stürzen müßte.« Er sah, daß sie weinte; vielleicht lösten die Tränen ihre Starrheit; und hoffnungsvoller fuhr er fort: »Ich werde fort sein, sehr lange vielleicht, und Hochseß bedarf eines Herrn, der es liebt, so wie ich jetzt – eben jetzt erst – es zu lieben lernte. Weißt du noch, wie du wünschtest, daß auf die kahlen Höhen Wasser geleitet werde, um sie fruchtbar zu machen? Damals schon liebtest du das Land, während ich –« er stockte sekundenlang, und tief, ganz tief stand die Falte zwischen seinen Brauen.

»Wir alle hatten keinen Boden mehr unter den Füßen. Jetzt wirft uns das Schicksal gewaltsam an die Brust der verlassenen Mutter Erde. Und sie – reicht uns in ihrer Allgüte die Nahrung, die wir verschmähten, und an der wir gesunden und erstarken werden.« Er strich sich über die Stirn; Else sah ihn groß an, ihre Tränen waren getrocknet. »Verzeih,« fuhr er fort, über den Tisch hinweg ihre Hand ergreifend, »wenn ich abschweifte. Die Luft ist jetzt so erfüllt von neuen Erkenntnissen! – Das Vaterland wird jeden Fußbreit Boden brauchen. Aus Ödland fruchtbare Erde zu machen, mit gefüllten Scheuern die Dankesschuld an diejenigen einmal abzutragen, die unsere Heimat vor der Brandfackel der Feinde schützten, – wäre das nicht eine Aufgabe, würdig deiner Kraft?! Und ich weiß nicht, ob ich wiederkehre –« Sie fuhr auf. Er machte eine freundlich abwehrende Handbewegung. »Niemand weiß das! – Dann wäre, was von mir bleibt – das Land der Väter – verlassen und würde vielleicht verkommen, bis der kleine Konrad es zu übernehmen vermöchte. Und es würde ihm fremd sein, – nicht lieb haben würde er es.«

Mit einer raschen Bewegung erhob sich Else, ihre Wangen hatten sich gerötet, ihr Körper schien gestrafft. »Ich will, was du willst, Konrad,« sagte sie einfach. Und er küßte sie auf die Stirn: »Nie wirst du dich dessen zu schämen haben.«

* * *

Er ging allein den Weg zurück, den sie zusammen gekommen waren. Durch den nachtdunklen Wald, zwischen seinen feierlichen Baumpfeilern, an dem Felde vorbei, das tief im Schlafe lag. Vorsichtig, als ob er sie zu wecken sich fürchtete, strich er über die vollen, gerade um ihres Reichtums willen demütig gesenkten Ähren am Wege. »Du heiliges Leben!« flüsterte er mit der Inbrunst eines Betenden.

Erst unterwegs fiel ihm ein, daß er für heute abend eine Zusammenkunft mit Warburg verabredet hatte. Für heute?! Und war es denn wirklich gestern, daß sie zuletzt zusammen gewesen waren? Dies Gestern – war es nicht Jahrzehnte alt?!

Er sah nach der Uhr. Bald Mitternacht. Noch hoffte er, ihn zu treffen. Sein Herz war so übervoll, er mußte dem Freunde sagen, was ihm begegnet war, und ihn gleich – dabei lächelte er ein wenig verwundert, als ob man ihm die unwahrscheinliche Geschichte eines anderen erzählte – zum Trauzeugen bitten.

Der niedrige Saal des Cafés mit den vielen kleinen Tischchen war dicht gefüllt. Täuschte ihn sein Ohr oder sprach man wirklich ringsum gedämpfter als sonst? Kein schrilles Schreien, kein Gelächter, das mit frecher Deutlichkeit dem unbeteiligten Hörer seine Ursache verrät, machte sich bemerkbar. Selbst die Mädchen, die ihm begegneten, bewegten sich mit stiller Würde, ihre untermalten Augen suchten nicht einmal mehr.

In einer Ecke fand Konrad den Freund, bei ihm einen Kreis alter Bekannter. Wie belebt sie waren und wie ausgelöscht von der Tafel ihrer Interessen, worüber sie sich früher gestritten, worüber sie sich erhitzt hatten. Man sprach von Kriegsaussichten und Hoffnungen, und allmählich mischten sich alle Umsitzenden in die Unterhaltung. Es war, als ob das mit katastrophaler Plötzlichkeit zum Ausbruch gekommene Zusammengehörigkeitsgefühl in jeder Lebensäußerung nach Ausdruck verlangte; und, so abweichend voneinander auch die Ansichten im einzelnen sein mochten, so entsprangen alle dem gleichen, erdhaft festen Grundgefühl, wie die verschiedenartigsten Pflanzen dem gleichen Boden entspringen: furchtloser Siegeszuversicht.

Als der frühe Sommermorgen zu dämmern begann, wurden die Gesichter ringsum seltsam fahl und die Lippen stumm.

»Erster Mobilmachungstag,« sagte jemand.

Da und dort standen die Gäste auf und gingen schweren Schritts hinaus. »Auf Wiedersehen!« riefen sie. »Auf Wiedersehen!« tönte es vielstimmig nach. Keines der Worte, das zwischen den Kaffeehausgästen noch gewechselt wurde, klang pathetisch.

Und kurz und phrasenlos erzählte Konrad dem Freunde, als sie miteinander durch die Straßen gingen, von seinem Sohn und von Else und dem, was er zu tun beschlossen hatte. Auch Warburg, der zwar im ersten Augenblick ein leises Erschrecken vor neuen Lebenskonflikten für den Freund in sich aufsteigen fühlte, war rasch beruhigt und machte nicht viele Worte. Persönliche Erlebnisse, die sonst erschütternd wie ein Schicksal gewirkt und schwere äußere und innere Kämpfe zur Folge gehabt hätten, waren auf einmal so einfach geworden.

»Auf deine väterliche Freundschaft für meinen Sohn rechne ich auf alle Fälle!« sagte Konrad schließlich mit einem langen, ernsten Blick auf Walter.

»Es bedarf wohl nicht der Versicherung zwischen uns,« antwortete der, dann röteten sich seine Wangen ein wenig, und er fuhr fort, als gelte es etwas Beschämendes einzugestehen: »Ich habe mich auch gestellt. Beim Sanitätskorps. Mein altes begrabenes Ideal ist über Nacht wieder auferstanden: die Wissenschaft. Ich brauche jetzt nicht mehr den einzelnen zu retten für sich selbst, für seine eigene klägliche Lebensmisere – die, weiß Gott, oft genug der ganzen Anstrengung nicht wert war! –, sondern als Glied des Ganzen, als Werkzeug für Deutschlands Existenz. – Ich habe mein Vaterland gefunden, Konrad.«

Statt aller Antwort preßte ihm der Freund bewegt die Hand. Erst nach einer Weile, als sie abschiednehmend vor dem Hotelportal standen, sagte er: »Also trennt uns nichts mehr?«

»Nichts.«

* * *

Konrad warf sich aufs Bett. Aber nur seine Glieder waren müde und schwer wie Blei und erzwangen sich einen kurzen Schlummer. Doch die Seele wachte. Stand nicht Konrad, der kleine, auf dem Turm von Hochseß und winkte mit der Fahne, die nicht nur eine Rose trug, sondern von Hunderten, lebendig blühender, umwunden war? Er hatte wohl gar Norinas Tempel geplündert? Denn er erhob sich, nur im Schmuck der eigenen Schöne leuchtend, in die Luft und wuchs und wuchs; der kleine Raum weitete sich, die Säulen stiegen empor, strahlend wölbte sich die gewaltige Kuppel Über dem lichterschimmernden Altar. Santa Maria del Fiore?

Brausend setzte die Orgel ein. Über ihren tiefen Akkorden schwebten die hellen Stimmen des Knabenchors. Ein Schlachtlied sangen sie statt des frommen Chorals.

Und ein mystischer Glanz erfüllte das mächtige Schiff der Kirche. Er breitete sich aus, er verdichtete sich – von ihm getragen schwebte die Gottesmutter mit dem blauäugigen Kinde lächelnd hernieder. Die Gottesmutter?! Nein! Demeter – Norina – die heilige Mutter der Welt. Und er war ihr Kämpe und trug des Kreuzritters weißen Mantel und beugte die Knie vor ihr. In Scharen folgten ihm seine Gefährten. Er hörte die Hufe der Rosse ihrer Reisigen und den dumpfen, hallenden Tritt ihres Trosses; aus dem blendenden Kreis der Aureole aber grüßte ihn die weiße Hand der Heiligen –

Da schlug er die Augen auf. Hell schien die Sonne ins Zimmer.

Durch die Straßen marschieren Soldaten, traben Reiter, rasseln Kanonen; Trainkolonnen drängen sich dazwischen, Autos, über Nacht in Grau gekleidet wie die Männer, sausen vorbei. Und Hupensignale, Gesang und Geschrei, Gepfeif und Getrommele erfüllen die Luft. Sie treffen sich, von allen Seiten strömend, auf dem Platze, wo die Straßen sternförmig zusammenlaufen. Mit bunten Blumen sind sie geschmückt, die Männer, die Pferde, die Geschütze; aus den Gewehrläufen funkeln die Rosen, von den Spitzen der flatternden Fähnchen grüßen blaue Vergißmeinnicht. Im Takt der Musik, die lauter und lauter schwillt, schieben sie sich ineinander, auseinander, jetzt zum Chaos geballt, dann harmonisch zu Zügen nach dahin, und dorthin entwirrt, als wäre das ganze eine riesige, lang vorbereitete Quadrille.

Es klopfte: ein Telegramm. Vom Regiment, das sich Konrad gewählt hatte: »Angenommen«. »Angenommen!« wiederholte er jauchzend, und der kleine Bote lachte dazu; er verstand, um was es sich handelte und hatte in diesen wenigen Tagen die unerschütterliche Würde der guten Hotelerziehung schnell abgestreift.

Wie der Knabe von einst, der mit den langen schlanken Beinen zwei und drei Stufen auf einmal nahm, stürmte Konrad die Treppe hinunter. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren, jeder Tag, jede Stunde war kostbar. Und so vieles, so wichtiges war noch vorzubereiten und auszuführen: die Nottrauung, die Anerkennung des Kindes und – es durfte nichts versäumt werden, obwohl das Leben ihm plötzlich nicht nur wertvoll, sondern unverlierbar erschien – das Testament.

Er kam auf die Straße. Vergebens versuchte er zwischen dem Schwarm von Menschen, der die Straße bevölkerte, rascher vorwärts zu kommen. Dort blieben sie in Gruppen mitten auf dem Wege stehen, um einem vorüberfahrenden Omnibus, der bis zum Dach hinauf mit Soldaten besetzt war, zuzujubeln. Hier drängten sie sich um einen, der das Neuste, Allerneuste eben erfahren hatte. Und dann kamen sie ihm entgegen in Scharen, und fast überall wiederholte sich das gleiche Bild: der Mann, mit dem Jungen an der Hand, der nie so stolz auf den Vater geblickt hatte wie heute, als er in den Krieg zog, die Mutter, beladen mit all dem Guten, was sie im letzten Moment noch rasch für ihn zusammengekauft hatte; mit fast bräutlicher Zärtlichkeit hing ihr Auge an ihm, vergessen und verwunden war, was der Alltag der Ehe an grauem Staub über ihre Liebe geweht hatte.

Aber trotz aller Hindernisse gelang es Konrad, seine Geschäfte allmählich zu erledigen, denn wohin er auch kam, überbot sich ein jeder in zuvorkommender Hilfsbereitschaft. Er befand sich schon auf dem Rückweg, als ihm Alex begegnete, von einem jungen Mädchen in der Tracht der Rotekreuz-Schwestern begleitet: Hilde. Kaum, daß er sie wiedererkannt hätte, so milde leuchtete ihr Gesicht mit dem schlicht zurückgestrichenen Haar unter dem weißen Häubchen hervor. Sie schien die heitere Frische ihrer ersten Jugend wieder erlangt zu haben und kam ihm freimütig, ganz ohne die Scheu, mit der sie ihm sonst begegnet war, entgegen. Ihr ganzes Wesen schien gehoben. Freudig erregt berichtete sie von der Tätigkeit, die ihr bevorstand.

»Ich habe den längeren Ausbildungskursus gewählt,« erzählte sie, nicht ohne einen Anflug von Stolz auf die Selbständigkeit ihrer Handlungsweise, »das andere kommt mir vor wie Spielerei, und ich möchte doch wirklich nützen können, nachdem ich so alt geworden bin, ohne für irgend etwas in der Welt da zu sein.«

Alex übertraf sie noch in der Gehobenheit seiner Stimmung.

»Man kam sich selbst nachgerade lächerlich vor mit dem ewigen Kriegsgespiele,« sagte er, »darum verfielen auch so viele von uns auf den größten Blödsinn. Man mußte doch mit irgend etwas die Zeit ausfüllen, seine mit allen Mitteln entwickelte Kraft, seinen großgezogenen Wagemut an irgend welche Ziele setzen. Jetzt endlich wissen wir, wozu wir da sind und werden's beweisen, so daß die ältesten Mummelgreise noch kniefällig Abbitte leisten! – Na – und du?!«

In seiner Frage lag eine nicht zu unterdrückende Mißachtung, denn daß der Vetter nicht Offizier geworden war, sich sogar vor dem Einjährigendienst zu drücken gewußt hatte, erschien ihm heute ganz besonders als ein Makel.

Statt aller Antwort reichte ihm Konrad das am Morgen erhaltene Telegramm.

»Angenommen als Kriegsfreiwilliger. Kulmer Infanterieregiment 141. Graudenz«, las Alex laut. Er war zuerst sprachlos. Dann lachte er gezwungen und sagte:

»Wie kamst du nur auf diese verrückte Idee?! Kriegsfreiwilliger bei irgendeinem obskuren tausendneunundneunzigsten Regiment in einem Drecknest der Wasserpolackei, wo die vornehmsten Kavallerieregimenter es sich zur Ehre gerechnet hätten, den Freiherrn von Hochseß als Fahnenjunker aufzunehmen! Unglaublich, unglaublich!«

»Meine Beweggründe«, antwortete Konrad mit kühler Ruhe, »wirst du ja wohl nicht ganz zu würdigen wissen, ich will sie aber trotzdem rückhaltlos aussprechen. Die Infanterie wählte ich, weil sie, wie mir Sachverständige sagten, diejenige Waffe ist, an die der Krieg aller Voraussicht nach die größten Anforderungen stellen wird. Die Stadt suchte ich mir aus – ihr dürft ruhig meiner Phantasterei spotten, sie liegt mir nun einmal im Blut! –, weil vor mehr als einem halben Jahrtausend ein Hochseß gen Preußen zog, um, angetan mit dem weißen Mantel des Kreuzritters, wider Polen, Russen und Tartaren die ferne Ostmark zu verteidigen. Er wurde Komtur der Feste Graudenz und verschwand spurlos, als er an Witort, dem verräterischen Großfürsten, die Schandtaten seiner räuberischen Horden rächen wollte. Die Sage erzählt, er sei gefangen worden und habe sich, als man ihn just im Triumph der schönen Polenkönigin zuführte, die Pulsadern aufgebissen. Ihr seht also –« und Konrad lächelte ein wenig –, »es blieb mir mit den östlichen Nachbarn noch eine alte Rechnung zu begleichen übrig! Und Kriegsfreiwilliger wurde ich –« seine Augen sahen versonnen in die Ferne, und was er sprach, schien nicht mehr an die gerichtet, die neben ihm gingen –, »weil ich untertauchen will, restlos untertauchen in dieser Zeit und in diesem Geschehen. Es gibt Menschen, die wollten Quellen werden, Quellen für dürstende Höhenwanderer, Quellen, die Felsen durchbohren, und sind doch nur Wellen im Meer. Ich will sein, was ich bin.«

Die Geschwister schwiegen zunächst. Dann schob Alex vertraulich seinen Arm in den Konrads und meinte mit einem unsicheren Lächeln:

»Weißt du, im Grunde ist mir das alles zu hoch. Aber – was für sich hat es ja, stramm zum Kommis zu gehen. Eine neue respektable Sorte Verdrehtheit. Und einen Sparren haben die Hochseß ja alle. Wer weiß: vielleicht wirst du sogar noch zu denen gehören, die den Marschallstab im Tornister tragen.«

Ehe sie sich voneinander verabschiedeten, versuchte Alex vergebens, den Vetter zu bewegen, mit ihnen und ihren Eltern den Abend zu verbringen. Konrad schützte eine andere Verabredung vor, war aber außerstande, zu sagen, welcher Art sie war. Hilde schien indessen den Faden ihrer Gedanken leise weitergesponnen zu haben, denn zum Schlusse sagte sie, über den neuen Mut eigene Gedanken zu äußern, dunkel errötend: »Ich verstand Sie vorhin so gut, Vetter. Und mir fiel dabei ein, wie oft man doch solch Wasserwellchen, das nur mit den vielen Gefährten zusammen schäumen und sprudeln kann, in eine Schüssel schöpft, wo es trüb und still wird.«

Sie trennten sich so herzlich wie noch nie nach einem Zusammensein. »Vielleicht sehen wir uns draußen wieder,« meinte Alex. »Da werde ich vor dem Herrn Leutnant stramm stehen müssen,« lachte Konrad. »Oder ich vielmehr vor dem Kreuzritter,« antwortete Alex ernst und beziehungsvoll mit einem festen Händedruck.

* * *

Konrad eilte zum Bahnhof hinauf, um zu erfahren, daß der Zug, den er benutzen wollte, erst mit starker Verspätung abgehen könne, weil ein Militärzug vorher zu expedieren sei.

Schon wollte er den Ausgang wieder erreichen, als der Anblick, der sich ihm ringsum bot, ihn fesselte.

Da standen sie in Scharen, die Reservisten, die Züge erwartend, die sie ihrem Bestimmungsort zuführen sollten; sie waren noch alle in Zivil; selbst der einfachste Mann, dessen derbe Fäuste sein hartes Handwerk verrieten, trug den Sonntagsanzug, und Feiertagsstimmung war in ihnen; keiner sang, niemand lachte mehr; der Ernst der Stunde lag auf allen Gesichtern und vergeistigte auch die ausdruckslosesten. Und nicht einer unter allen war allein; Eltern und Geschwister, Frauen und Kinder, Bräute und Freunde geleiteten sie. Es war sehr still unter ihnen. Aber das Zucken der Lippen, das Zittern der Hände, die blassen Wangen, die krampfhaft aufgerissenen, unnatürlich glänzenden, und die tief gesenkten, verschleierten Augen sprachen jene Sprache des Leids, für die es keine Worte gibt.

Da war ein altes Mütterchen, das unablässig mit der runzligen Hand den Ärmel ihres Sohnes streichelte und immer noch ein Flöckchen und ein Federchen von seinem sauber gebürsteten Kittel ablas; er sah sie nicht an, aber er hielt ganz, ganz still. Da war eine schöne vornehme Frau, die den schlanken Jungen neben sich fest an der Hand hielt wie zur Zeit, da es galt, seine ersten Schritte zu lenken, und mit einer Zärtlichkeit, in der sich die anbetende des Sohnes mit der schützenden des Mannes schon paarte, hingen seine Augen an ihr. Und da war einer mit groben Zügen, – wie roh hatte er wohl höhnen und schimpfen können! –, in dessen heißem flehenden Blick, der das verhärmte Weib vor sich nicht los ließ, eine Welt von Reue und Liebe lag. Ein anderer stand neben ihm, auf jedem Arm ein Kind, und Stolz und Sorge, und Freude und Leid spiegelten sich in seinen Zügen. Dicht aneinander geschmiegt waren zwei, seine Hand spielte mit den blonden Löckchen auf ihrem Nacken, während ihre bebenden Finger ihm noch eine Rose, eine süße, knospige, ins Knopfloch nestelten. Und ein Mann und ein Weib hielten sich fest an beiden Händen und tauchten die Blicke ineinander, sterbensbang und lebensdurstig. Niemand sah sie spöttisch oder gar beleidigt an. In tiefer Andacht verharrte die Menge bei dieser großen Liebesfeier.

Der Krieg ist wie das Senkblei des Seefahrers, das Tiefen ergründet, von denen vorher keiner wußte, und wie die Wünschelrute des Quellensuchers, die sprudelnden Reichtum entdeckt, wo vorher Sand und Felsen war.

Der Zug brauste in die Halle. Bewegung kam in die Erstarrten. In verzweifeltem Aufschrei, in wildem Schluchzen, in leisem Weinen brach sich das herzzerfleischende Weh einer Trennung Bahn, die eine Trennung auf immer sein konnte. Und aus manchem Auge tropfte langsam, widerwillig jene Manneszähre, die an Leid schwerer ist als zahllose Frauentränen. Viele aber weinten nicht. Das alte Mütterchen und die schöne, vornehme Frau waren darunter. »Hab' nur keine Bange, mein Hanseken,« sagte die eine, »ich halt' gut aus, werd' auch den Hühnerstall selber machen und – und deinen Cäsar und deine Karnickel füttern.« – Die andere sagte nichts als: »Lebe – wohl!« in jedem Wort lag ihre ganze Seele.

Und dann setzte sich die lange Kette der Wagen, gefüllt mit der Kraft und der Hoffnung des Volkes, in Bewegung. Von den Zurückbleibenden winkten welche, so lange sie noch einen Schatten von ihnen sehen konnten, andere standen erstarrt auf demselben Fleck, als sie längst verschwunden waren; einige stürzten fort, kaum, daß der Zug anzog, mit beiden Händen vor dem Gesicht. Die Vielen aber schlichen davon wie eine graue Wolke, die schwermütig über den Abendhimmel zieht, den Tag verdunkelnd, noch ehe es Nacht wurde.

»Ja sagen zum Schicksal – auch dann!« sagte Konrad zu sich selbst, gewaltsam die mitfühlende Trauer von sich schüttelnd, »denn der Pflug muß die Erde durchwühlen, damit sie neue Frucht trage.« Wenige Minuten später fuhr er zu Else hinaus.

* * *

Wie eine Alm auf der Höhe, fernab vom Lärm der Welt und von den Nebeln der Tiefe war der Abend bei Else und seinem Sohn. Von Hochseß und dem, was dort ihrer wartete, sprach er mit ihr; von den Vätern und der Burg seines Geschlechts erzählte er dem aufhorchenden Knaben. Als er der Stadt wieder zufuhr, war seine Seele voll Frieden.

Am nächsten Morgen wurden Konrad und Else in der alten Dorfkirche, die geduckt unter den hohen Linden liegt, getraut. Fern waren ihrer beider Seelen vom frommen Kinderglauben dieser Stätte, aber tiefes Bedürfnis war es ihnen gewesen auch unter den Zeichen, die ihnen nur ehrwürdiges Symbol des Heiligsten, stammelnde Laute für das Unnennbare waren, eins zu sein mit ihrem Volke.

Und bedurfte es sonst der feierlichen Worte, des erhebenden Gesangs, um solch einer Stunde die Weihe zu geben, so waren heute die Herzen so erschlossen, die Seelen so erhoben, daß die schlichte Formel zur ergreifenden Predigt wurde.

Für den Abend desselben Tages hatte Else ihre Abreise vorbereitet, der erprobten Dienerin die letzte Regelung ihrer häuslichen Angelegenheiten überlassend. Konrad schien nicht zur Ruhe zu kommen, ehe er den Knaben in der Hut von Hochseß, und Hochseß erfüllt wußte vom Dasein des Sohnes. Und sein unausgesprochenes Empfinden, das Else rasch erriet, kam ihrem Wunsche entgegen. Das Wiedersehen mit ihm hatte den Tempel der Ruhe, den sie in jahrelangem Ringen Stein für Stein um sich errichtet hatte, jäh zusammengerissen. Schwer genug war es ihr geworden, als sie damals von ihm ging, aber gräßlicher als jeder Abschied war diese Trennung im Vereinigtsein. Sie hatte kurze, helle Stunden, in denen die Hoffnung sie beherrschte, ihn wieder zu gewinnen, und lange, immer längere, die es ihr zur Gewißheit machten, daß es unmöglich war. Sie fühlte sich am Ende ihrer Kraft. Und fürchtete doch mit allen Qualen der Verzweiflung den Abschied, – diesen Abschied! Sie war in diesen Tagen blaß und schmal geworden, und in tiefer Bewegtheit küßte Konrad, als er sie aus dem kleinen Hause hinausgeleitete, das ihre Zuflucht gewesen war, ihre müden, übernächtigen Augen.

Des Kindes freudig erregtes Geplauder half ihnen über die letzten Stunden hinweg. Es kannte noch keine Furcht vor den Rätseln der Zukunft, kein Trennungsweh. Und auch Konrads Seele war so erfüllt von starkem Lebensgefühl, daß er von seiner Heimkehr aus dem Kriege wie von etwas sprach, an dem zu zweifeln nicht möglich wäre.

»Daß du mir nicht allein in die Höhlen kriechst,« mahnte er mit scherzend erhobenem Zeigefinger, »denn zum Schlosse des Zwergenkönigs findest du nur mit mir den Weg. Und auch auf dem Fuchs mit der weißen Blässe werde ich dich erst reiten lehren – wenn ich dir nicht lieber ein kleines Russenpferdchen mitbringe. Paß nur auf, wie wir dann über die Felder fliegen!« Jauchzend klatschte das Kind in die Hände.

Else stand dabei; nur mit fest zusammengepreßten Lippen meinte sie den Schrei zurückhalten zu können, der sich immer ungestümer ihrer Seele entreißen wollte.

»Du wirst es sehr schwer haben, Else,« sagte Konrad mit einem warmen mitleidigen Blick auf ihr verhärmtes Gesicht.

»Kann es noch etwas geben, das schwer ist?!« antwortete sie.

Sie reichten einander zum Abschied die Hand, fast wie Fremde. Dann stieg sie ins Coupé. Der Knabe stand allein am Fenster, grüßend und winkend; Konrad verfolgte bis zuletzt mit zärtlichen Blicken sein blondes Köpfchen, – daß der Elsens fehlte, hatte er nicht einmal bemerkt. Und sie, die sich tief in den jenseitigen Sitzwinkel gedrückt hatte, wußte es.

* * *

In der Nacht danach schlief Konrad ruhig und traumlos. Als er erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel; nur langsam kehrte er zur Wirklichkeit zurück, ihm schien, als sei er sehr, sehr weit weg gewesen. Er erinnerte sich, daß dies hier sein letzter Tag war; ein tiefes Gefühl von Andacht kam über ihn. Und als er sich schließlich unten im Strome der Menschen wiederfand, waren sie alle wie Kirchgänger an einem jener seltenen großen Feiertage, wo auch der ärmste Sklave des Alltags den grauen Sträflingsrock von seiner Seele zieht. Aber nicht in die Häuser, in denen die Kirchen den Dienst Gottes gebannt zu haben glaubten, zog es sie; sondern in jenen großen grauen Palast mit der goldenen Kuppel zwischen dem ragenden Siegesdenkmal einstiger Kriege und dem stolzen Triumphtor zur Ewigkeit ihres Gedenkens heimgegangener Sieger.

Die Menge staute sich vor den Türen ohne Ungeduld, drängte die Treppen hinauf ohne Hast und schob in die braunen Bänke hinein so vorsichtig und so leise, als wäre jedes Geräusch Entweihung.

Und nicht wie sonst bei den großen Tagen des Parlaments drang erregtes Stimmengewirr vom Saale herauf zu den Tribünen. Ruhig und ernst schritten die Abgeordneten zu ihren Sitzen. Nur hie und da flüsterte jemand, und wenn einer in Feldgrau erschien, gab es in seiner Nähe ein freundlich grüßendes Gesumme gedämpfter Stimmen.

Unter den Zuhörern frug keiner wie sonst neugierig, als befände er sich im Theater, nach den Namen der bekannten Akteure. Heute galt der einzelne nichts, die Masse alles. Konrad gedachte jener nun ganz historisch gewordenen Zeit des letzten Krieges und all der Großen von damals, der Lenker des Staates, der Führer der Parteien, der Sprecher des Volkes. Ein Gefühl nicht zu bannenden Unbehagens befiel ihn. Warum fehlten sie heute? Wie eine Sphinx mit dem Antlitz der Meduse war das Schicksal vor Deutschland erschienen. Würde es an den Männern fehlen, sein Rätsel zu lösen, seinem todbringenden Blicke stand zu halten?

Der Saal hatte sich ganz gefüllt. Auf der Estrade hinter dem Stuhle des Präsidenten und denen der Minister standen ihrer viele in glänzender Uniform. Aber jede Farbe verschwand im einheitlichen Schwarz ihrer Umgebung, als sollte hier nichts und niemand hervorragen, sich absondern.

Dann kam der Präsident, schlicht, weißhaarig, nur einer von den vielen aus dem Saale. Nüchtern und sachlich, als wäre es ein Tag wie jeder andere, wurden geschäftliche Dinge erledigt.

Und dann kam der Kanzler.

Kein Bismarck mit dem wuchtigen Schritt des an die Reiterstiefel Gewöhnten, mit dem hochmütigen Blick des zum Befehlen Geborenen.

Ein Bürger im schwarzen Rock. Ein Denker mit gefurchter Stirn. Ein Mann. Und ein Preuße.

In knappen Sätzen sprach er. Von der langgenährten Feindschaft, die von Osten und Westen über uns hereinbrach. Und daß Rußland die Brandfackel an unser Haus gelegt habe.

Da brach der erste stürmische Beifall aus. Widerspruchslos.

Er sprach weiter. Ohne Pathos. Doch durchglüht vom Bewußtsein der ungeheuren Stunde.

»Wir haben den Krieg nicht gewollt« – alle Köpfe neigten sich zu feierlicher Bejahung – »aber ein längeres Warten, bis etwa die Mächte, zwischen die wir eingekeilt sind, den Moment zum Losschlagen wählten, wäre ein Verbrechen wider Volk und Vaterland.«

Er setzte sekundenlang aus – nicht wie ein routinierter Redner, der den Beifall dadurch herauszufordern weiß, sondern fast unwillig, weil er ihn brausend unterbrach.

Und ruhig – nur die nervöse Linke krampfte sich zur Faust zusammen – führte er den Nachweis, wie der Krieg mit Lug und Trug über uns heraufbeschworen worden war.

Dann erhob sich seine Stimme. Die hohe, schlanke Gestalt reckte sich auf: »Das ist die Wahrheit!« – Die Faust fiel auf den Tisch.

»Das ist die Wahrheit!« – ein ganzes Volk legte durch seinen Mund den Eid ab.

Und danach bekannte er sich und versuchte mit keinem Wort das Unrecht zum Recht zu machen, zum Bruch der belgischen Neutralität.

Ein tiefes Atemholen, einem Seufzer gleich, ging durch das Haus. Niemand, der nicht mit ihm die schwere Notwendigkeit auf sich genommen hätte.

»Aber wer so bedroht ist wie wir, und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken: wie er sich durchhaut!«

Ein Jubel erhob sich, wie ihn der Saal noch nicht erlebte. Von allen Seiten rauschte er auf. Und das Blatt Papier, das der Kanzler hielt, zitterte unmerklich. Von nun an war es, als spräche die dunkle, geschlossene Masse im Saale mit ihm. Sie wiederholte, sie unterstrich mit nicht endendem Beifall, was er sagte.

»Die große Stunde der Prüfung hat geschlagen, aber mit heller Zuversicht sehen wir ihr entgegen. Unsere Armee steht im Felde, unsere Flotte ist kampfbereit. Und hinter uns steht« – wie durchleuchtet erschien in diesem Augenblick das ernste Antlitz des Kanzlers, und seine Stimme fand einen Ton, wie er dem ruhigen Manne sonst völlig fremd war – »das ganze deutsche Volk.«

Er schwieg, übermannt von der eigenen Bewegung. Und es war, als erschüttere rollender Donner den Saal. Da hob er noch einmal den Kopf, streckte die Hand weit aus zu den Bänken der Linken hinüber und wiederholte emphatisch in die plötzliche feierliche Stille hinein: »Das ganze deutsche Volk . . .«

Kein alles Überragender hatte gesprochen, aber es war die Stimme der Nation selber gewesen. Niemand erhob sich im weithin leuchtenden Glanz des Genies über der Menge, aber sie selbst war gesättigt von Kraft, – fruchtbare Erde, berufen und befähigt, das Große und die Großen hervorzubringen.

Tiefe Andacht erfüllte das Haus.

Das war die große Feierstunde des Vaterlandes, die Weihe der Waffen.

* * *

Am Abend reiste Konrad ab. Der Zug war überfüllt mit Soldaten und Reservisten und schob sich nur langsam aus der lichterstrahlenden Stadt in das dunkle Land. Unterwegs schien er sich unaufhörlich zu vervielfachen. Auf allen Schienensträngen tauchten neue glühende Augen auf, fauchte der heiße Atem der Lokomotiven. Die Räder rollten und rollten durch die Nacht, als speie die Unterwelt ihre Drachenbrut wider die drohenden Feinde aus.

Konrad behielt einen Ton im Ohr wie von fernen Trommeln und Pauken. Dann mischte sich ein anderer anschwellend hinein.

Die Pfade und Wege und Straßen ringsum waren lebendig geworden vom rastlosen Gehen vieler Menschen. Sie schlängelten sich vorwärts wie Flüsse. Sie trugen die vielen den Zügen zu, die an allen Stationen ihrer warteten.

Und die Dörfer in den Tälern, die Hütten auf den Höhen, die Gehöfte im Hag, die Weiler im Wald entließen aus weitgeöffneten Toren und Türen ihre streitbaren Männer.

Es war das Wandern eines Volkes. Die harten Tritte der Millionen hallten dröhnend gen Himmel, daß aller Schlummer die Erde floh.

 


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